Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

“Ureinwohner gab es nicht”

Nun war es also raus. Im historischen Jahr des 500. Jahrestag der Conquista legte Calderón ein Geschichtswissen an den Tag, vor dem als Historiker promovierte Staatsoberhäupter anderer Länder erblassen könnten. Merkwürdig nur, daß besagte Ausführungen dann im Lande selbst auf heftigen Widerspruch stießen – und vor allem bei Costa Ricas UreinwohnerInnen machte sich Unmut breit.
Natürlich klärte sich dann alles als Mißverständnis auf. Er hatte es ja gar nicht so gesagt und ganz anders gemeint, und er sei falsch interpretiert worden. Auch wenn es wohl niemals völlig geklärt werden wird, ob Calderón tatsächlich eine derartige Äußerung gemacht hatte – ins Bild gepaßt hätte es allemal. In absolutem Kontrast zum Bild des demokratischen Landes wurden die Indígenas im Laufe der Geschichte in Costa Rica ebenso unterdrückt wie in anderen Staaten, und sollte der überwiegende Teil der weißen Bevölkerungsmehrheit auch nicht die Existenz der costaricanischen UreinwohnerInnen bestreiten, so darf getrost unterstellt werden, daß deren Lebenssituation nur den wenigsten bekannt ist.
Etwa 30.000 Indígenas leben in Costa Rica, was einem Anteil von einem Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht. Sie leben in 22 gesetzlich geschützten Reservaten von 320.650 Hektar Fläche, d.h. ungefähr sechs Prozent des Nationalterritoriums. Diese Zahl muß jedoch relativiert werden, da einige der Reservate in der Realität zu 90 Prozent von Nichtindígenas genutzt werden; es wird geschätzt, daß die Indígenas nur etwa 60 Prozent der Reservatsflächen tatsächlich für sich in Anspruch nehmen können. Die acht in Costa Rica vertretenen Völker sind die BriBris, Cabécares, Guaymíes, Malekus (Guatusos), Térrabas (Teribes), Borucas, Huetares und Chorotegas.

Geschichtlicher Überblick

Die Spanier, die ab 1502 das Land erreichten, trafen auf ein schätzungsweise von 400.000 Personen bewohntes Gebiet. Für die indigenen Völker Costa Ricas hatte diese Ankunft ebenso katastrophale Auswirkungen wie für die BewohnerInnen anderer amerikanischer Länder: Von Raubzügen der spanischen Eroberer, Zwangschristianisierungen und Tributeintreibungen bis zu großflächig praktizierten gewaltsamen Umsiedlungen der Indígenas ins von den Eindringlingen als ideales Wohngebiet ausgewählte, jedoch nur kärglich besiedelte Valle Central. Die hier lebenden Huetares wurden als Arbeitskräfte benutzt, wobei besonders das von der Krone bereits 1542 offiziell verbotene “Encomienda”-System (hierbei überwacht der Conquistador die “Evangelisation” der Indígenas und hat dadurch Anspruch auf deren Arbeitskraft und Tributzahlungen) oft angewendet wurde – und zwar erst ab 1569, also 27 Jahre nach dem königlichen Verbot. Die ständige Unterdrückung führte nahezu zu einer Auslöschung des Volkes der Huetar. Nur noch wenige ihrer Nachkommen leben heute im Land, die alten Traditionen sind größtenteils vergessen. Ein ähnliches Schicksal ereilte die Chorotegas, die im Nordwesten des mittelamerikanischen Landes angesiedelt waren.

Widerstand gegen die Spanier

Die undurchdringlichen, regenreichen Urwaldgebiete von Chirrippó im Osten des Landes dagegen erschwerten das Vordringen der Conquistadoren und ermöglichten es ihren BewohnerInnen, weite Teile ihrer Kultur zu bewahren. Auf die härteste Gegenwehr allerdings stießen die Spanier in Talamanca.
Trotz der gewaltigen Rückschläge wurden immer neue Anstrengungen unternommen, weiter in das von BriBri und Cabécar bewohnte Gebiet vorzudringen, als es die außerhalb liegenden Missionar- und Militärstationen zuließen. Erklärbar ist dies nur durch die irrige Annahme der Spanier, ausgerechnet in diesem unzugänglichen Stück Land jene Reichtümer finden zu können, die schon Cristóbal Colón veranlaßt hatten, das Land “Costa Rica” zu nennen.
Die Männer und Frauen Talamancas machten alle Versuche der Europäer zunichte. Santiago de Talamanca, die einzige jemals von den Spaniern in Talamanca errichtete Stadt, fiel im Jahre 1610 nach nur fünfjährigem Bestehen. Als herausragendes Ereignis in der Geschichte des Widerstands der Indígenas gilt der Aufstand unter Pablo Presbere im Jahre 1709, bei dem sämtliche Missionarstationen und Militärbasen im Gebiet zerstört wurden, und der von Talamanca aus auch auf andere Regionen des Landes übergriff. Die Gegenwehr der Talamanqueños ging so weit, daß die eigenen Felder und Vorräte verbrannt wurden, wenn ein Rückzug unvermeidlich erschien.
1821 erlangte Costa Rica im Zuge der Loslösung Zentralamerikas von Spanien ohne eigenes Hinzutun die Unabhängigkeit. Von diesem Zeitpunkt an führte die wirtschaftliche Entwicklung zu der verschärften Herausbildung sozialer Klassenunterschiede, wozu vor allem der Kaffeeanbau beitrug. Für die Indígena-Bevölkerung bedeutete dies konkret den Verlust weiteren Landes, das Kaffeeplantagen weichen mußte.

Eindringling United Fruit

Die Tatsache, daß zum Ende des 19. Jahrhunderts auch die Talamanca-BewohnerInnen die Tür für die Spanier öffneten, ist mit der Wahl des Kleineren von zwei Übeln zu erklären. Zermürbt von Zweifrontenkämpfen einerseits gegen die Conquistadoren, andererseits gegen feindliche Völker, vor allem die “Zambos-Mosquitos” aus Nicaragua, akzeptierten sie die Hegemonie des Staates und ließen Expeditionen in ihr Gebiet zu.
Noch stärkere Auswirkungen für die UreinwohnerInnen als der Kaffee sollte der Bananenanbau mit sich bringen. Als Gegenleistung für die Finanzierung des Baus einer Eisenbahnlinie zur Atlantikküste und die Begleichung costaricanischer Auslandsschulden erhielt der US-Amerikaner Minor Keith 1884 große Landgebiete im Tal von Talamanca übereignet. Dies war der Beginn der Zeit der United Fruit Company (UFCO) bzw. ihrer Tochterfirma Chiriqui Land Company in Costa Rica. Der Bananenanbau verdrängte die Indígenas in die abgelegenen Bergregionen und brachte das gesamte soziale Gefüge in Talamanca durcheinander. Als die UFCO sich nach 30jähriger Präsenz aufgrund des “Panamá-Virus” aus Talamanca zurückzog, kehrten die früheren BewohnerInnen in ein ausgelaugtes, ökologisch schwer geschädigtes Land zurück.
Gerade in Talamanca sollten damit die Versuche Dritter, Profit aus den Böden zu schlagen, noch lange nicht beendet sein – auch in späteren Zeiten, als Gesetze solche Unternehmungen bereits verboten hatten, kam es immer wieder zu Okkupationsbestrebungen.

Erste Gesetze über das “brachliegende” Land

1939 hatte ein Gesetz erstmals die “brachliegenden Regionen” – gemeint sind die von den Indígenas bewohnten Gebiete – als “unveräußerlich” erklärt. 1956 entstanden die ersten vom Staat bestimmten drei Reservate; als 1961 ein Gesetz jene Territorien als ausschließlich den UreinwohnerInnen gehörend bestimmte, wurde den in anderen Gebieten lebenden Indígenas damit automatisch das Recht an ihrem Land abgesprochen, das zum Staatseigentum erklärt wurde. Im Laufe der Zeit entstanden weitere Reservate, die jedoch immer wieder beschnitten und zerstückelt wurden, was einen traurigen Höhepunkt 1982 in der Auflösung des seit Jahren bestehenden Reservates China Kicha fand.
Andere Gesetze fügten sich in das Bild nahtlos ein. 1973 war das Geburtsjahr der Comisión Nacional de Asuntos Indígenas (CONAI). Zum einen bedeutete dies einen klaren Affront gegen die Selbstbestimmung der Völker, da sie laut Gesetzestext “in den allgemeinen Entwicklungsprozeß eingeordnet werden” sollten; zum anderen setzte sich CONAI aus Weißen zusammen, die im Laufe der Jahre nicht durch Projekte, sondern durch Unfähigkeit und Korruption von sich reden machten.

Bedrohung von außen

1977 erklärte das “Indígena-Gesetz” die Reservate für exklusives, unveräußerliches Eigentum der Gemeinden und stellte die Gebiete ausdrücklich als Co-Eigentum von Staat und Indígenas dar. Als künstliche repräsentative Organe wurden die Asociaciones de Desarrollo Integral (ADI) geschaffen, um die Rechte der BewohnerInnen gegenüber Interessenten an Erforschung und Ausbeutung der Böden zu verteidigen. Trotzdem führte die staatliche Ölförderungsgesellschaft RECOPE ab 1980 Erforschungen in der Region Talamanca durch, was allgemein mit Bestechung der Menschen in den ADI erklärt wird.
1981 schließlich wurde der “Código de Minería” verabschiedet, ein Gesetz, das die im “Ley Indígena” festgelegte Miteigentümerschaft der Indígenas an dem von ihnen bewohnten Land handstreichartig abschaffte – ab sofort mußte ein Antrag von der Asemblea Legislativa des Landes in ein Spezialgesetz umgearbeitet werden, um die Förderung von Bodenschätzen zu genehmigen; die Interessen der Indígenas sollten lediglich “berücksichtigt” werden.
Einmalig in der Geschichte des Landes war die Definition des im Süden lebenden Volkes der Guaymí als AusländerInnen – obgleich letztere seit Jahrhunderten auf costaricanischem Boden wohnen, mußten sie sich plötzlich langwierigen bürokratischen Prozessen unterziehen, um die costaricanische Staatsangehörigkeit zu erhalten. 1991 wurde dieser historische Fehler von einem weiteren Gesetz korrigiert.
1992 unterzeichnete Präsident Calderón das Abkommen 169 der Vereinten Nationen, das den Schutz der indigenen Völker über die nationalen Rechte stellt. Ausdrücklich wird dort in einem der Artikel bestimmt, daß der Staat die Gebiete der Indígenas schützen und diese vor Konzessionen an Mineros konsultieren muß.

Aktuelle Situation

Wenn etwas den Indígenas in Costa Rica Hoffnung geben kann, so ist es ihr eigenes Engagement. Längst gibt es Organisationen, die nicht von außen her gesteuert werden und die den Anspruch auf Selbstbestimmung untermauern. Im Vordergrund stehen hierbei landwirtschaftliche Projekte zur Selbstversorgung und zur Ausfuhr sowie Bildungsprogramme.
Kein einfacher Prozeß: Unterschiedliche Strukturen in den einzelnen Reservaten erschweren eine breite Zusammenarbeit. Am weitesten sind die aufgrund ihrer Geschichte mit dem größten Selbstbewußtsein und einer vollständig bewahrten Kultur lebenden BewohnerInnen von Talamanca, die ihre Politik durch Organisationen wie SOSWAK oder CODEBRIWAK vertreten. Konflikte zwischen Talamanca-Indígenas und der Organisation SEJEKTÖ (La Voz del Indio), die seit Mitte der achtziger Jahre versucht, über verschiedene Unterorganisationen eine Kooperation aller Indígena-Völker zu erreichen, sind jedoch ein offenes Geheimnis.
Die Durchführung von Projekten gestaltet sich besonders schwer in Gebieten wie Chirrippó, wo sich die schlechte Infrastruktur sowie Einflüsse Dritter wie der Kirche oder ausländischer Gruppen stärker bemerkbar machen. Wenn in den Dörfern der Cabécar, wo das letzte Haus oft einen Tagesmarsch entfernt liegt, fremde Kräfte einen Keil zwischen die Indígenas treiben, ist es kaum möglich, daß alle an einem Strang ziehen. Und gerade hier ist die Armut groß, leiden vor allem Kinder unter der unzureichenden Ernährung und sind medizinische Versorgungsstationen oftmals nur nach mehreren Stunden Fußweg erreichbar.

Quelle: Guevara Berger, Marcos/Chacón Castro, Rubén: Territorios Indios en Costa Rica: Orígenes, Situación Actual y Perspectivas; Costa Rica 1992

Abschied vom selbstgewählten Image

Kein Interesse an Zentralamerika

Während die vier Länder Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua im Juni in Guatemala einen Vertrag zur zentralamerikanischen Einigung unterzeichneten, der einige Zoll- und Handelsschranken beseitigte und Migrationskontrollen lockerte, blieb Costa Rica ebenso wie Panamá in der Rolle des stillen Beobachters. Statt auf Gemeinsamkeiten blicken die costaricanischen PolitikerInnen eher mißtrauisch auf Unterschiede zu den Nachbarstaaten; so zum Beispiel der neugewählte Parlamentspräsident Danilo Chaverri von der konservativen Regierungspartei Partido Unidad Social Cristiana (PUSC). In einem Zeitungsinterview erklärte er: “Wir haben ein Land mit 40 % Arbeitslosigkeit (gemeint ist der Nachbarstaat Nicaragua, der Verf.), und eine Öffnung der Grenzen würde eine Flut von Immigranten auslösen, die in sehr starkem Maße an unserer kulturellen Identität rütteln würde.” Abgesehen von der verblüffenden Geistesverwandtschaft einiger costaricanischer PolitikerInnen zu ihren KollegInnen in der BRD wird hier eine interessante Frage aufgezeigt: Was soll denn Costa Ricas “kulturelle Identität” bedeuten?

Identität durch Abgrenzung

Gehen wir einmal davon aus, daß es so etwas tatsächlich gibt: Mit einer gemeinsamen Identität der Länder Mittelamerikas, einer gemeinsamen Rolle in der Geschichte und gleichen aktuellen gesellschaftlichen Merkmalen, hat es offenbar nichts zu tun. Wer eine eigene Identität so sehr an die Notwendigkeit zur Abschottung knüpft, gibt damit zu, daß er Angst hat, sie sehr leicht verlieren zu können. Eine Angst, die sich politisch seit Jahren durch eine Das-geht-mich-nichts-an-Haltung ausdrückt, oder höflicher: durch eine Neutralitätspolitik. Und wenn das Land mit den Problemen anderer in speziellen Fällen ganz besonders wenig zu tun haben wollte (wie in den 80er Jahren mit Nicaragua), dann gab es sich einfach so extrem neutral, daß die ein-und ausgehenden Contras gar nicht bemerkt werden konnten.
Was aber ist für die CostaricanerInnen die eigene Kultur? Marimbaklänge und Volkstanzgruppen aus Guanacaste – vielleicht. Die Tradition der Schwarzen von der Atlantikküste schon weniger. Und was die Indígena-Kultur betrifft, so galt diese vielen schon immer als etwas Fremdes im eigenen Land. Die Conquistadoren bewirkten hier gemeinsam mit der Gesetzgebung der jüngeren Vergangenheit etwas, was anderswo mordende Soldaten nicht schafften: Die ohnehin zahlenmäßig nie sehr große Indígena-Bevölkerung Costa Ricas konnte große Teile ihrer natürlichen Lebensform und ihrer Traditionen nicht bewahren.

Falsches Bild vom “grünen Land”

Der Tourismus tut ein übriges. Längst sind unter den 610.000 TouristInnen, die im letzten Jahr kamen, nicht mehr nur die üblichen Gringo-RentnerInnengruppen, sondern fast ebenso viele junge, “individuelle” “Alternativ”-Reisende aus Europa.
Ob Gruppe oder Einzelreisende/r; für ein Land mit etwas über drei Millionen BewohnerInnen hat der Tourismus, der allen Prophezeiungen zufolge demnächst die Bananen als Devisenquelle Nummer eins ablösen wird, eine Größenordnung erreicht, die eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für die Natur des Landes darstellt. Im Falle des Nationalparks Manuel Antonio an der Pazifikküste wird längst überlegt, ähnlich wie schon im Naturreservat Monteverde, täglich nur eine begrenzte BesucherInnenzahl in den Park zu lassen. Manuel Antonios Pendant an der Karibikküste ist der Nationalpark Cahuita, der bevorzugt von all jenen aufgesucht wird, die sich ihr Klischee vom relaxten Leben der schwarzen KüstenbewohnerInnen zwischen Reggae und Marihuana bestätigen lassen wollen – und sich wundern, daß sie dort auf immer größere Ablehnung stoßen.

“Öko-Teufel” für den Präsidenten

Die geschützten Nationalparks drohen an den TouristInnenströmen zu ersticken; darüber hinaus wird außerhalb der Reservate weiterhin Tropenwald gerodet, und es steht zu befürchten, daß in nicht zu weiter Ferne außer den Parks die Grünflächen Costa Ricas praktisch verschwunden sein werden.
Nicht gerade rühmlich für die Regierung des “grünen Landes”; Präsident Rafael Angel Calderón mußte dann kürzlich auch von Robin Wood den “Öko-Teufel ’92” hinnehmen – für die “scheinheiligste Öko-Politik”. Konkreter Anlaß hierzu war allerdings der umstrittene 400-Betten-Hotelkomplex der spanischen Barceló-Gruppe am Strand von Tambor, einem Mammutprojekt, für das unter anderem Wagenladungen weißen Sandes über den imageunfreundlichen dunklen Strand gekippt wurden. Gesetzesverletzungen bei der Errichtung des Hotels Las Palmas an der Atlantikküste veranlaßten die costaricanische Schriftstellerin Anacristina Rossi dazu, einen Roman über den Skandal zu schreiben (der sich in Costa Rica hervorragend verkauft).

“Grundwerte” Religion und Familie
Wer schließlich versucht, die kulturelle Identität durch bestimmte gesellschaftliche Werte oder Normen zu definieren, darf davon ausgehen, von den CostaricanerInnen auf die ungemein wichtige Bedeutung solcher Begriffe wie Religion oder Familie in ihrem Lande hingewiesen zu werden. Auch das ist freilich mit Vorsicht zu genießen. In einem Staat, in dem 60 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren bereits mindestens eine Schwangerschaft hinter sich haben, scheint es mit der Einhaltung katholischer Verhaltensmaßregeln nicht allzu weit her zu sein. Und die Tatsache, daß später 41 Prozent jener Mädchen als alleinstehende Mütter einen Haushalt führen müssen, weist nicht gerade auf ein intaktes Familienbild in Costa Rica hin.
So wäre es vielleicht korrekter, anstatt von einer kulturellen Identität von einer nationalen Identität zu sprechen, und zu deren Umschreibung müssen immer wieder zwei abgenudelte Begriffe herhalten: “Demokratie” und “Frieden”.

Eine Musterdemokratie?

Die costaricanische Demokratie weist eindeutige Parallelen zu der US-amerikanischen auf. Die Macht wird mittlerweile abwechselnd von zwei programmatisch kaum variierenden Parteien, PLN (Partido Liberación Nacional) und PUSC, ausgeübt. Besonders einig sind sich die VolksvertreterInnen immer dann, wenn es um die Erhöhung ihrer Diäten geht. Der neue PLN-Fraktionsvorsitzende Federico Vargas etwa ist stolz, durch ein neues Gesetz, das die jährliche Erhöhung der Bezüge um fünf Prozent im voraus festlegt, die zukünftigen ParlamentarierInnen vor dem “schrecklichen Trauma” bewahrt zu haben, sich selbst immer neue Profite genehmigen zu müssen. Parlamentspräsident Chaverri hält Rechtfertigungen sowieso nicht für nötig: “Die Abgeordneten sind die Funktionäre, die am meisten in der öffentlichen Kritik stehen, vor allem deshalb, weil in diesem Jahr fast jeder der drei Millionen Costaricaner Abgeordneter sein möchte.”
Daß das Land erstmals seit sieben Jahren wieder im Jahresbericht von Amnesty International genannt wird, trägt neben derartigen Äußerungen ebenfalls nicht gerade zum Image der costaricanischen Demokratie bei. Zielscheibe der Vorwürfe ist die ohnehin keinen besonders guten Ruf genießende Polizei, der Morde an vermeintlichen Drogendealern und Mißhandlungen von Transvestiten in San José zur Last gelegt werden.
Kandidat unter Mordverdacht
Ob von einer PLN-Regierung neue Impulse für die Politik zu erwarten wären, ist fraglich. Wenn es nämlich einen der parteiinternen KandidatInnen der sozialdemokratischen Partei gab, dem getrost einige Schwierigkeiten beim Umgang mit der Demokratie bescheinigt werden konnten, so war dies José Maria Figueres Olsen. Weniger wegen der etwas verworrenen Vorwürfe gegen seine Person, nämlich dem Mordverdacht an einem kleinen Drogendealer Anfang der siebziger Jahre (“Caso Chemisse”) und dem des Betruges als Repräsentant einer Minenfirma, als vielmehr wegen seiner teilweise sehr eigenen Art, darauf zu reagieren: So verweigerte Figueres dem TV-Kanal 7 ein einstündiges Interview zu den offenen Fragen, wollte aber stattdessen eine (von seinem Team hergestellte) “Reportage” ins Programm rücken. Dies war kurz vor den Vorwahlen im Juni. Inzwischen haben die WählerInnen gesprochen: Der PLN-Herausforderer um die Nachfolge von PUSC-Präsident Rafael Angel Calderón (Sohn des Staatspräsidenten 1940-44) ist der mit 57,4 Prozent aller Stimmen berufene José Maria Figueres (Sohn des Staatspräsidenten 1953-58 sowie 1970-74). Und dem PUSC-Kandidaten, dem eifrigen Neoliberalismus-Verfechter Miguel Angel Rodríguez, kommt nun zugute, im Wahlkampf auf die Argumente der Figueres-Gegner aus dessen eigenen Reihen zurückgreifen zu können; da ist dann vielleicht nicht ganz so schmerzlich, daß er selbst kein Präsidenten-Sohn ist.

Wer rettet den sozialen Frieden?

Zu tun gibt es für den kommenden Präsidenten einiges. Vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Bereich liegen die Probleme. Die Zahl verarmter Familien liegt bei 22,2 Prozent; nach Berichten der Weltgesundheitsorganisation nahm unter der amtierenden Regierung die Unterernährung in der Bevölkerung stark zu – kein Wunder, wo doch der Preis für die “Canasta Básica”, die Grundnahrungsmittel, sich innerhalb von sechs Jahren verdreifachte, ein Sprung, den die Gehälter nicht vollzogen. Die Arbeitslosigkeit sank zwar auf offizielle 4,1 Prozent (1992), doch ging dies zu Lasten eines explodierenden informellen Sektors (ambulante VerkäuferInnen, “Piraten”-Taxis etc.) Mit der Pro-Kopf-Verschuldung (März’93: 1.114 US-$) liegt Costa Rica schon seit Jahren auf einem Spitzenplatz in der Welt.
Ein sozialer Friede läßt sich bei solchen Zahlen kaum aufrechterhalten. In Costa Rica äußert sich dies in einem Anstieg der Raub-und Diebstahldelikte, bevorzugt gegen unvorsichtige TouristInnen. Rafael Guillén, Chef der Kriminalpolizei OIJ, sieht das ganze so: “Wenn ein Land, das in der Entwicklungsphase ist, sich nach vorne bewegt, bleiben Personen auf der Strecke, die sich nicht auf die neue Situation einstellen können.”
Verbrechen ganz anderer Art waren es jedoch, die das Bild von der Friedensinsel Costa Rica endgültig umstießen – und das Land einmal in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken ließ.

Drei Geiseldramen in sieben Monaten

Wurde die eintägige Entführung des obersten Hüters über die innere Sicherheit, des Innenministers Luis Fishman durch den Honduraner Ordonez noch als einmaliger Ausrutscher ins Kuriositätenkabinett eingeordnet, so war die 13tägige Besetzung der nicaraguanischen Botschaft samt Geiselnahme in der Hauptstadt San José im März diesen Jahres ein Schlag von ganz anderem Kaliber. Zwar besaß das ohne Blutvergießen beendete Geiseldrama durchaus kabarettistische Züge, beispielweise wenn Terroristenboß Urbina Lara in selbstdarstellerischer Manier ein Dekret nach dem anderen über die Lautsprecher schickte, oder wenn das benachbarte “Pizza Hut” Opfer und Täter mal schnell mit seinen Köstlichkeiten versorgte; von der Berichterstattung der in solcherlei Dingen unerfahrenen Medien gar nicht zu reden. Der Versuch der costaricanischen Regierung jedoch, das ganze als rein nicaraguanische Angelegenheit abzutun, wirkte kläglich.
Es gelang aber, noch eins draufzusetzen: Die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit Geiselnahme von 24 Angestellten (26. – 29. April). Anders als wie zuvor verbreitet (und wohl auch gehofft), handelte es sich bei den Geiselnehmern nicht etwa um kolumbianische Drogenmafiosi, sondern um ehemalige costaricanische Justizangestellte. Da half dann auch nichts mehr, daß Kommandoführer “Charlie” in seinem Bekennerbrief dreimal “Verzeih’ mir, Costa Rica” schrieb und nach seiner Gefangennahme (kurz vor dem Einstieg in den Fluchthubschrauber übergaben die Gangster ihre Waffen freiwillig (!) der Polizei und wurden daraufhin überwältigt) erklärte, er hätte sich mit dem Lösegeld nur eine dringende Lebertransplantation finanzieren wollen – wobei die Ärzte versicherten, “Charlie” stünde nicht auf der Dringlichkeitsliste.

…und nun auch noch Dinosaurier!

Wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Februar ’94 ist es also endgültig vorbei mit dem so liebevoll gepflegten Image des “Paradieses” Costa Rica. Neben politischen Entscheidungen scheint aber auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der “kulturellen” oder “nationalen” Identität vonnöten, bei der davon abgegangen werden sollte, sich weiterhin hinter leeren Floskeln zu verschanzen.
Übrigens: Ob der Film “Jurassic Park”, den Regisseur Spielberg “auf einer Insel vor Costa Rica” spielen läßt (in Wirklichkeit wurde auf Hawaii gedreht), sich imagefördend auf das mittelamerikanische Land auswirkt? Zumindest die Darstellung der Hauptstadt San José war im Lande recht umstritten. Im Film zeigte man ein Kaff am Karibikstrand, das offenbar zur Gänze aus einem Open-Air-Café bestand. In der Version, die in der costaricanischen Hauptstadt (etwa eine Million Einwohner und 100 bzw. 160 Kilometer von Pazifik- und Karibikküste entfernt) in den Kinos gezeigt wurde, befand sich dann auch ein schwarzer Balken über dem eingeblendeten Wort San José, der jedoch leider etwas verrutscht war – was gemischte Reaktionen des Publikums hervorrief.

Wer zerstört, wer rettet Amazonien?

Der folgende Beitrag von Thomas W. Fatheuer ist einer Publikation der brasilianischen Nicht-Regierungsorganisation FASE entnommen, die kürzlich unter dem Titel “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” auf deutsch erschienen ist.

Amazonien der große Wald

Amazonien wird in der internationalen Wahrnehmung fast immer und ausschließlich mit dem Regenwald identifiziert. Damit wird die Region zum primären Objekt der Ökologie. Tatsächlich hat die Analyse des Ökosystems Regenwald wichtige Ergebnisse zu Tage gebracht. So ist es heute fast Allgemeinwissen, daß die tropische Fülle des Regenwaldes nicht mit einer hohen Bodenfruchtbarkeit korrespondiert. Der bekannte Biologe und Vorstandsmitglied des WWF J.Reichholf konfrontiert die Welt des Überschusses, aus der die Siedler kommen, mit der Realität des Regenwaldes: “Diesen Überschuß gibt es im Regenwald nicht. Das gesamte System ist auf geschlossene Kreisläufe eingestellt. Jede Öffnung, um Überschuß zu erreichen, schädigt und zerstört das System. Nur das Sicheinfügen in ein ökologisches Großsystem mit ‘Nullwachstum’ gäbe dem Menschen einen Platz im tropischen Regenwald. Dieser Wald befindet sich in einem umfassenden Gleichgewicht.” (Reichholf 1990, S.181f) Die Konsequenz ist klar: “Die landwirtschaftliche Erschließung der tropischen Regenwälder lohnt sich nicht.” (Reichholf 1990, S.184) Gnade finden allenthalben Indios mit an den Wald angepaßter Wirtschaftsweise bei geringer Besiedlungsdichte. Ansonsten sind die Regenwälder “weder mittel- noch langfristig nutzbar” (Reichholf 1991, S.20). Diese Ausführungen Reichholfs werden illustriert durch eine Karte über die “ökologische Großgliederung Amazoniens” (Reichholf 1990, S.183). Die gesamte Region, größer als Europa, wird aus drei Teilen gebildet: (1.) dem extrem nährstoffarmen zentralamazonischen Bereich, durchzogen von der (2.) fruchtbareren Várzea (zeitweise überschwemmtes Land), die an Bodenfruchtbarkeit mit dem Andenvorland gleichzusetzten ist und (3.) die ebenfalls recht mineralstoffarmen Zonen des nördlichen und südlichen Randgebietes. Demonstrieren soll diese Karte, daß in Amazonien lediglich eine “Flußoasenkultur” inmitten einer grünen Wüste entstanden und tragfähig ist.

Die “soziale Leere”

Auf dieser Karte verschwinden sowohl Städte wie Gebiete, die seit hundert Jahren landwirtschaftlich genutzt werden – was natürlich bei einer Illustration der ökologischen Großgliederung verständlich ist. Das Problem aber ist, daß Städte und Landwirtschaft in der Diskussion einer Lösung für den Regenwald/Amazonien überhaupt nicht auftauchen. Genau das ist es, was die schon zitierte Äußerung von H. Acselrod meint, wenn sie die “soziale Leere” Amazoniens in solchen Diskursen kennzeichnet. Die totale Ökologisierung Amazoniens entleert die Region ihrer sozialen Gestaltung. Es ist leicht einzusehen, warum: In dem ökologischen Gleichgewichtsmodell sind alle menschlichen Eingriffe als Schädigungen (s.o.) klassifiziert. Zugespitzt: der Mensch erscheint, sei er denn nicht ein Indio, als Zerstörer, als Schädling. Er kann gar nicht anders. Die Kritik an der Entwicklung Amazoniens bezieht sich somit nicht auf ein bestimmtes historisches, ökonomisch und sozial determiniertes Aneignungsmodell, sondern auf menschliche Nutzung schlechthin.
Was bedeutet aber eine solche Analyse für Amazonien? Über die Hälfte der etwa 17 Millionen Einwohner Amazoniens leben in den Städten, bei der ländlichen Bevölkerung beträgt die Anzahl der Indios etwa 170 000. Mag man noch zu den Indios andere Gruppen zählen, die auf traditionelle Weise den Wald nutzen, bei großzügiger Rechnung bleibt doch eine Bevölkerung von etwa 15 Mio, für die in den öklogischen Konzepten kein Platz ist. Was soll mit diesen 15 Mio Waldschädlingen geschehen? Nein, niemand schlägt vor, diese umzusiedeln oder Ähnliches. Vor solch offensichtlichem Unsinn schützt doch in der Regel der gesunde Menschenverstand. Das Problem sind nicht absurde Vorschläge, sondern ist das Schweigen. Es wird einfach nicht diskutiert. Amazonien ist der Wald. Die soziale Vielfalt, die Geschichte der Region, ihre Wandlungen und Dynamik, all das tritt nicht ins Bild – oder nur, um Zerstörung und Sinnlosigkeit der Nutzung anzuklagen. Die Bilder vom nicht-florestalen Amazonien (“Hohe Schornsteine am Amazonas”) dokumentieren nur den zerstörerischen Charakter all dessen, was nicht Wald ist. Sinnbildlich ist diese Ikonografie auf dem Titel des “Regenwaldbuches” (Niemetz 1992): In einen wunderschönen Moosregenwald auf Zentralsulavesi ist das Kleinfoto von Hochspannungsleitungen des Wasserkraftwerkes Balbina hineinmontiert. Was gut und was schlecht ist, bedarf keines Kommentares.
Die auf einer Ökologie des Regenwaldes (die hier nicht kritisiert werden soll) beruhende Ökologisierung Amazoniens wird fatal durch Ausblendung. Die ökologische Kritik hat sich als äußerst wertvoll darin erwiesen, den Unsinn der bisherigen Entwicklungsstrategien in Amazonien aufzuzeigen, sie hat aber – jenseits der Propagierung der indianischen Wirtschaftsweise – keine Perspektiven für die Mehrheit der Bevölkerung entwickeln können. Das Pilotprogramm (der G-7 für Amazonien) reflektiert dieses Dilemma. Es ist Ausdruck der florestalen Wahrnehmung Amazoniens und setzt das Schweigen über den “Rest” fort.

Rettet indianisches Wissen den Regenwald?

Der Umschlag des Regenwaldberichts der deutschen Bundesregierung zeigt das Foto einer Brandrodung: ein brennendes Stück Land und ein Mann auf dem Maultier. Das stammt, so werden werden wir aufgeklärt, aus dem Bildarchiv des WWF und zeigt “shifting cultivation” in Brasilien. Gleich in der Einleitung des Berichtes wird zu den Ursachen der Tropenwaldprobleme festgestellt: “Der größte Teil der weltweiten Zerstörung tropischer Wälder ist durch Brandrodung verursacht. Diese Methode beruht insbesondere auf Armut, Überbevölkerung und ungünstiger Landverteilung.”(S.14) Später wird diese Aussage auf 60% präzisiert und kein Zweifel gelassen, wer hier abbrennt: “lokale Bevölkerung und Siedler aus anderen Gebieten” (S.32). Auf das Konto von Viehzucht und Großprojekten soll nur 30% der Waldzerstörung gehen. Eine auf portugiesisch verfasste Informationsbroschüre über die deutsche Tropenwaldpolitik wiederholt diese Angaben.
Als diese Zahlen auf dem Seminar in Belém zitiert wurden, haben sie einen Empörungssturm und eine hitzige Debatte hervorgerufen. Verständlicherweise. Ikonografie und Zahlen definieren eindeutig die Kleinbauern als die Hauptgefahr für den Wald, im Drama der Waldzerstörung sind sie die “Bösen”. Natürlich gibt es auch die “Guten”. “Der Schlüssel für Amazonien liegt im indianischen Wissen.” (Gawora 1992, S.21). Diese Aussage dürfte einen weiten Konsens unter Regenwaldgruppen darstellen.
Die Wiederentdeckung und Aufwertung indianischen Wissens – dies wurde bereits gesagt – ist eine äußerst positive Entwicklung, die viel zur Kritik am herrschenden Entwicklungsmodell beigetragen hat. Insbesondere die Forschungen von Darrell Posey haben gezeigt, mit welch differenzierten Strategien Indios, in diesem Fall die Kayapo, den Urwald nutzen. Sie haben auch gezeigt, daß der “Urwald” Amazoniens viel mehr durch menschliche Eingriffe beeinflußt worden ist, als wir bisher angenommen haben. “Die Unterscheidung in Urwald und Kulturland ist nicht mehr möglich…Der Regenwald sollte nicht mehr als undurchdringlicher Dschungel betrachtet werden, sondern als indianische Kulturlandschaft” (ebd.:20). In dieser Sichtweise wird den Kleinbauern zumindest eine Perpektive eingeräumt: “Übernahme indianischer Landnutzungssysteme” (ebd). Beispiel für eine zumindest partielle Übernahme indianischer Techniken, sind die Kautschukzapfer, Paranußsammler, oder seit längerem im Urwald lebende Flußanwohner (ribeirinhos). Dennoch ist die Konsequenz klar: konventionelle kleinbäuerliche Nutzungsformen sind gescheitert, Kleinbauern haben nur eine Chance, wenn sie quasi zu Indios werden. Es herrscht eine klare Dichotomie. Die Kleinbauern sind eindeutig als Teil des Problems definiert, die Indios hingegen als Teil der Lösung. Für die Bestimmung sozialer Akteure in Amazonien ist dies natürlich eine folgenreiche Feststellung.

Die Waldvernichter No. 1

Die erste Grundannahme dieser Konstruktion, daß die Kleinbauern die Hauptverursacher der Waldvernichtung sind, ist zumindest für Amazonien eindeutig falsch. Francisco Costa kommt aufgrund einer Analyse der für den Bundesstaat Pará vorliegenden Zahlen zu einem eindeutigen Schluß: 67% der durch landwirtschaftliche Nutzung verursachten Entwaldung geht auf Kosten der Anlage von Viehweiden. Zu nicht weniger als 80,7% sind dafür landwirtschaftliche Betriebe mit einer Fläche von über 200 ha verantwortlich (alle Zahlen für 1985). Bäuerliche Betriebe mit einer Fläche bis zu 200 ha sind insgesamt mit 38% an der Entwaldung beteiligt, ein sicherlich nicht geringer Anteil, der aber eine sinkende Tendenz aufweist (vgl. Costa 1992, S.64f). Diese Zahlen widersprechen jedenfalls völlig den Behauptungen des Tropenwaldberichts, zumal wenn man bedenkt, daß hier die Waldzerstörungen durch Großprojekte (Staudämme, Carajás) nicht einbezogen sind.
Dennoch bleibt die Feststellung, daß auch Kleinbauern den Wald zerstören. Diesen aber das indianische Wissen als Alternative anzubieten, ist illusorisch. Indianische Produktionssysteme haben eine lange Geschichte, sie sind in eine spezifische Kultur integriert und – das ist der entscheidende Punkt – sie sind nicht auf eine Marktproduktion ausgerichtet. Gawora gibt auch als Voraussetzung für die Übernahme indianischen Landnutzungssysteme durch Bauern “eine gewisse Teilautonomie vom Markt” an. Außerdem haben indianische Lebensformen nur da eine Chance, wo viel Land in gesicherten Verhältnissen zur Verfügung steht. Dies unter den gegebenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen Kleinbauern als einzige Alternative anzubieten, heißt ihnen keine Alternative anzubieten.

Die Kleinbauern wirtschaften effizienter

All dies zeigt erst einmal nur, daß in den gängigen Vorstellungen über Amazonien für Kleinbauern kein Platz ist. Natürlich ist damit keineswegs die Annahme widerlegt, daß landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien aus ökologischen Gründen prinzipiell nicht bzw. nur in der indianischen Variante möglich ist. Die prinzipielle Leugnung einer landwirtschaftlichen Nutzung übersieht die geografische und ökologische Diversität Amazoniens – auch die regional und lokal äußerst unterschiedlichen Bodenqualitäten. Tatsächlich zeigen Erfahrungen zum Beispiel in der Region Bragantina, zwischen Belém und dem Meer, und in der Region der Transamazônica, daß eine landwirtschaftliche Nutzung in Teilen Amazoniens auf Dauer möglich ist. In der Bragantina wird seit 100 Jahren Landwirtschaft betrieben. Wer meint, alle Erfahrungen mit der landwirtschaftlichen Entwicklung in Amazonien mit einem (ökologischen) Federstrich abtun zu können, wird nicht in der Lage sein, Strategien zu entwickeln, die an den sozialen Gegebenheiten der Region ansetzen. Erste Erhebungen des Instituts für Amazonasstudien (NAEA) an der Universität Belém und der FASE weisen darauf hin, daß es positive Erfahrungen im Bereich der kleinbäuerlichen Produktion gibt, Tendenzen der Nutzung, die sich als erfolgversprechend erweisen.
Zwei Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Statistiken zeigen, daß der Anteil der Dauerkulturen am Wert der landwirtschaftlichen Produktion von Kleinbauern steigt. 1980 betrug er 14 Prozent gegenüber 22 Prozent 1985 (Costa 1992, S.58). Auf den entwaldeten Flächen produzieren die Kleinbauern einen 3-5 mal höheren Wert als Großbetriebe (Costa 1992, S.61). Während die Großbetriebe eine flächenver(b)rauchende, extensive Viehwirtschaft bei geringem Einsatz von Arbeitskräften privilegieren, tendieren die Bauern zu einer kapitalintensiven Dauerkultur. Es besteht also eine deutliche Differenz zwischen den Nutzungsmethoden der Kleinbauern auf der einen und den Großgrundbesitzern auf der anderen Seite. Es zeigt sich damit auch, daß die “shift cultivation keineswegs eine natürliche Technik ist und daß der Wanderbau nicht der bäuerlichen Produktionsweise inhärent ist.” (Costa 1992, S.65)
Die bäuerliche Landwirtschaft in Amazonien leidet unter dem Fehlen angepaßter Technologien und der Unterordnung unter die Ausbeutung durch das Handelskapital, das die Vermarktung der Produkte erschwert. Erste Analysen weisen darauf hin, daß Kleinbauern dort Erfolg haben, wo sie angepaßte Produktionsmethoden entwickeln, den Anbau durch agroforstwirtschaftliche Techniken diversifizieren, Zugänge zu Vermarktung und Krediten erlangen und die Eigentumsverhältnisse gesichert sind. Dies ist genau die Richtung, in die die Organisationen der Kleinbauern (Gewerkschaften) und Unterstützergruppen in Amazonien arbeiten. Unter solchen Voraussetzungen ist eine kleinbäuerliche landwirtschaftliche Entwicklung in Teilen Amazoniens möglich. Wer meint, dies sei nicht möglich, kann diese Erfahrungen nicht mit einer roten Karte oder einem Handschlenker abtun, sondern muß sich mit den realen Entwicklungen in Amazonien konfrontieren lassen.

Das Problem ist die Agrarindustrie

Das Verschwinden(lassen) der Kleinbauern in den ökologischen Konzepten hat eine fatale Konsequenz: Es differenziert nicht zwischen der zerstörerischen Aneignung durch die landwirtschaftlichen Großprojekte und der kleinbäuerlichen Produktion. Beide erscheinen als Momente des gleichen zerstörerischen Prozesses. Damit werden die Kleinbauern als Bündnispartner ausgegrenzt und politisch in die Hände der Großgrundbesitzer getrieben. Nicht die landwirtschaftliche Nutzung in Amazonien ist das Problem, sondern die vorherrschend praktizierte Form durch Großgrundbesitz und Agroindustrie, die, wie hier gezeigt wurde, erheblich mehr Flächen bei ungleich geringerer Produktivität als die bäuerliche Wirtschaft verbraucht. Kleinbauern sind an eine ökologische Entwicklung in Amazonien ankoppelbar, die großen Viehfarmen nicht. Großgrundbesitz und Agroindustrie sind in den letzten beiden Jahrzehnten durch Subventionen massiv begünstigt und die Kleinbauern marginalisiert worden. Nur eine Änderung dieser (Macht-) Verhältnisse wird eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung ermöglichen – und nicht eine erneute Marginalisierung der Kleinbauern durch ihre ökologisch begründete Ausgrenzung.
“Die Rettung Amazoniens erfordert es, das Rückgrat der Latifundienwirtschaft zu brechen. Um den Migrationsfluß nach Amazonien zu stoppen, ist die grundlegende ökologische Forderung in Brasilien heute die Agrarreform in den Landesteilen mit längerer landwirtschaftlicher Tradition.” (Costa 1992, S.75) Auf dieser Grundlage kann das Bündnis der “Völker des Waldes” durch eine Zusammenarbeit mit den Kleinbauern erweitert werden. Demarkierung und Schutz der Indianergebiete, Einrichtung von Sammelzonen und eine nachhaltige kleinbäuerliche Produktion wären dann die Grundpfeiler ländlicher Entwicklung und Waldschutz in Amazonien. In ihrer Gegnerschaft zum Latifundium, zu zerstörerischen Großprojekten, zur industriellen Fischerei haben Indios, Sammler und Kleinbauern eine gleiche Interessenlage.

Costa, Francisco (1992) – “Ecologismo e questâo agrária na Amazônia”, Belém.
Gawora, Dieter (1992) – “Indianisches Wissen in Amazonien. Landnutzung und Heilwissen: Chance und Gefahr” in: Entwicklung und ländlicher Raum Nr. 1.
Niemetz, Carsten (1992) – “Das Regenwaldbuch”, Berlin, Hamburg.
Reichholf, Josef (1990) – “Der Tropische Regenwald”, München.

Die Broschüre von Thomas W. Fatheuer (FASE) – “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprogramm der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien” ist gegen DM 5.- in Briefmarken, Scheck oder bar erhältlich bei:
Lateinamerika Nachrichten – Vertrieb, Gneisenaustr. 2a, 10 961 Berlin, Tel. 030 – 694 61 00.

Kasten:

Hauptursachen der Waldvernichtung

Philip Fearnside, Forscher am Instituto Nacional de Pesquisa da Amazônia (INPA) in Manaus, ist vielleicht der Forscher, der sich in den letzten Jahren am kontinuierlichsten und intensivsten mit der Frage nach den Ursachen der Entwaldung in Amazonien beschäftigt hat. Er sieht die Hauptursachen in einem kombinierten Entwicklungsprozeß, der die Migration nach Amazonien forcierte, verbunden mit einem Entwicklungsmodell, das die negativen Auswirkungen des Migrationsflusses auf den Wald maximierten. Dabei spielt die Viehwirtschaft eine herausgehobene Rolle: “Die Rinderwirtschaft macht den größten Teil der entwaldeten Flächen in Amazonien aus” (Fearnside 1992, S.207). Die Anlage von Viehweiden dient nicht nur der Produktion von Fleisch, sondern ist auch durch Immobilienspekulation begünstigt. Die Entwaldung zur Anlage von Viehweiden gilt in der Gesetzgebung als “Verbesserung”, schützt vor Enteignung wegen unterlassener Nutzung und erhöht den Wert des Grundstückes. Weitere Hauptursachen der Waldvernichtung sind:

– Staudammbauten und die damit verbundene Entwicklung der Aluminiumindustrie in Amazonien.
– Die Holzgewinnung, die historisch kein wichtiger Faktor war, in den letzten Jahren aber an Bedeutung gewann.
– Herstellung von Holzkohle
– die Anpflanzung homogener Wälder (Eukalyptus)

Der Wanderfeldbau, den traditionelle Waldbewohner praktizieren, ist für Fearnside in Brasilien “ein minimaler Faktor”. Über diese Feststellungen hinaus ist es schwierig, die einzelnen Momente der Waldvernichtung genau zu quantifizieren. Fearnside läßt aber keine Zweifel daran aufkommen, daß es die landwirtschaftlichen und industriellen Großprojekte sind, die die Hauptverursacher darstellen.
Als wichtigste Problemfelder, an denen eine Gegenstrategie ansetzten müßte, sieht er: “Entscheidungen über Bau und Verbesserung von Straßen; die Politik der Anerkennung des Landbesitzes auf der Grundlage von Weiden, deren Anlage als ‘Verbesserung’ akzeptiert wird; die Politik der ländlichen und industriellen Entwicklungen in den Herkunftsgebieten der Migranten, außerhalb Amazoniens.

Fearnside, Philip (1992) – “Desmatamento e desenvolvimento agrícola na Amazônia Brasileira”, in: Philippe Lena/ Adéla Oliveira – “Amazônia: a fronteira agrícola 20 anos depois”, Belém.

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

gez. P. Gonzalo

Die Vermutungen, wie der Brief von Guzmán und Iparraguirre zustandegekommen sein kann, haben eines gemeinsam: niemand weiß Genaues außer denen, die daran beteiligt waren. Und die schweigen.
Eine beliebte Interpretation bei Fujimori-Fans ist die vom durch Einzelhaft psychisch gebrochenen Guzmán. Besonders die Zeitung Expreso vertritt offen triumphalistisch die spöttische These, ein Jahr Gefängnis hätten wohl ausgereicht, um den großen Führer zur völligen Kapitulation zu bewegen. Die AnhängerInnen Senderos dagegen hatten schon nach den Gerüchten vom Juli vorsorglich die Version verbreitet, Guzmán werde unter Drogen und Folter gegen seinen Willen zu solchen Äußerungen gezwungen, eine Meinung, die zum Teil auch außerhalb des Sendero-Spektrums ernstgenommen wird.
Andere suchen nach Gründen, die Guzmán zum Verfassen der Briefe bewegt haben könnten. Bei der Betrachtung des Wortlautes lassen sich dafür Indizien finden, wenn auch die Einschätzung zum jetzigen Zeitpunkt notwendigerweise spekulativ bleibt.
Die Briefe enthalten eine militärische Kapitulation, aber keine ideologische Kapitulation. Mit derselben wissenschaftlich-analytischen Kühle, mit der Guzmán die Notwendigkeit von einer Million Toten im Volkskrieg vertritt, stellt er fest, daß die Regierung es geschafft hat, militärisch entscheidende Erfolge zu erzielen. In seinem Brief vom 6. Oktober schreibt er: “Wir denken, daß sich die Kommunistische Partei Perus (Sendero Luminoso) in letzter Zeit mit neuen, ernsten und sehr komplexen Problemen bezüglich ihrer Führung konfrontiert sieht, und in diesem Bereich hat unsere Partei ihre schwerste Niederlage erlitten. Die Führungsfrage ist … entscheidend und wird in unserem Fall auf längere Sicht nicht zu lösen sein, was vor allem auf den weiteren Verlauf des Volkskrieges Auswirkungen hat.” Guzmán kommt nicht umhin, die Kohärenz der Strategie Fujimoris anzuerkennen: ” …seit diesem Datum (dem 5.April 1992, dem Selbstputsch Fujimoris) haben Sie unter ihrer politischen Führung eine systematische, kohärente Strategie auf verschiedenen Ebenen entwickelt, besonders auf dem Gebiet der geheimdienstlichen Tätigkeit und konnten reale Erfolge erzielen… Auf diese Weise haben Sie den Weg, der von ihnen vorgeschlagen wurde und unter Ihrer Führung vorangetrieben wird, gangbarer gemacht.”
Der Intellektuelle Guzmán analysiert die Situation und kommt zu dem Schluß, daß Fujimori sein Projekt in jeder Hinsicht mit großem Geschick in die Tat umgesetzt habe, militärisch, geheimdienstlich und politisch, aber auch, was die öffentliche Zustimmung angehe. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, Guzmán habe seine Überzeugungen aufgegeben – im Gegenteil. Die Wortwahl zeigt lediglich, daß ihn im Gegensatz zu vielen seiner AnhängerInnen die Fähigkeit zum klaren Nachdenken über die Realität nicht verlassen hat.
Wenn Guzmán auf der Grundlage solcher Gedankengänge Friedensverhandlungen vorschlägt, versucht er zu retten, was zu retten ist. Wenn der Volkskrieg Senderos wieder eine Chance haben soll, und von seiner Notwendigkeit ist Guzmán weiterhin überzeugt, braucht die Partei Zeit, um die eigenen Kader und das sogenannte Volksheer wieder aufzubauen. Ein Friedensabkommen könnte den notwendigen Raum schaffen. Guzmán kann dabei nur von der Hoffnung ausgehen, daß für einen Wiederaufbau der Strukturen Senderos unter anderer Führung noch genügend Kader in Freiheit sind. Vorausgesetzt, seine Isolation im Gefängnis ist effektiv, kann er über diese Hoffnung hinaus kein konkretes Bild über den aktuellen Zustand der Partei haben. Aber er ist offenbar entschlossen, diesen möglicherweise letzten Weg zur Rettung des Projektes Sendero zu gehen.
Die Gelegenheit dazu war günstig, denn Fujimori brauchte im Vorfeld des Referendums dringend die wahlkampfwirksamen Briefe aus dem Gefängnis von Callao. Daß Fujimori sie der Öffentlichkeit als völlige Kapitulation präsentieren würde, muß Guzmán nicht stören. In seinem geschlossenen ideologischen Konzept ist es nur logisch, daß die Gegensätze sich zuspitzen. Daß der seit dreizehn Jahren geführte Krieg gescheitert ist, wird in dieser Denkweise zu einer Etappe, ohne den Gedanken aufzugeben, daß sich weiterhin die Weltgeschichte mit zwangsläufiger Notwendigkeit auf die Revolution zubewegt. Die Gewißheit des Endsieges auf Seiten der Regierung und im öffentlichen Bewußtsein könnte die Bedingung dafür darstellen, den nächsten Anlauf zum revolutionären Kampf zu unternehmen.
Daß Fujimori als halb-demokratisch legitimierter Diktator de facto weiterregiert, paßt in das Bild. Ein erfolgreicherer Schlag gegen die ideologische Gewißheit der Senderisten wäre es, würde sich in Peru nach den Jahren des Krieges nicht ein autoritäres Präsidialregime, sondern eine leidlich funktionierende zivile Demokratie entwicklen. Guzmán weiß, daß das nicht die Vorstellungen Alberto Fujimoris sind. Und so unterzeichnet er seine Briefe weiter mit “Presidente Gonzalo”.

Kasten:

Der erste Brief Guzmáns im Wortlaut

Señor Presidente:
Acudimos a Usted en su condición de jefe del Estado Peruano para solicitarle celebrar conversaciones que conduzcan a un Acuerdo de Paz cuya aplicación lleve a concluir la guerra que por más de trece años vive el país. Damos este paso de gran transcendencia partiendo de nuestra ideología y principios de clase, cabalmente seguros de la necesidad histórica insoslayable del mismo y con la clara comprensión de que refleja lo que ha devenido una necesidad del pueblo, la nación y la sociedad peruana en su conjunto.
Sírvase, Señor Presidente, prestar atención a nuestra solicitud y acceder a ella.

Penal militar naval del Callao, 15 de setiembre de 1993
Abimael Guzmán Reinoso (P.Gonzalo)
Elena Albertina Iparraguirre Revoredo (C.Miriam)

Herr Präsident,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Eigenschaft als Staatschef Perus, um Ihnen Gespräche hinsichtlich eines Friedensabkommens vorzuschlagen, dessen Anwendung den seit mehr als dreizehn Jahre dauernden Krieg beenden würde. Wir unternehmen diesen Schritt von großer Transzendenz ausgehend von unserer Ideologie und unseren Klasseninteressen, in fester Überzeugung seiner historischen Unausweichlichkeit und in völliger Klarheit darüber, daß er ein Bedürfnis des Volkes, der Nation und des peruanischen Staates in seiner Gesamtheit widerspiegelt.
Wir überlassen es Ihnen, sich mit unserem Vorschlag zu beschäftigen und auf ihn einzugehen.

Marinegefängnis Callao, 15. September

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Die Revolution ist von jeglichem Idealismus geheilt

LN: Am 26. Juli wurde der Dollarbesitz für Kubaner offiziell erlaubt. Fidel Castro sprach bei der Verkündigung dieser Maßnahme nicht mehr von der Rettung des Sozialismus und des Vaterlandes, sondern nur noch von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution. Können nur kapitalistische Maßnahmen Kuba aus der schwersten Krise seiner Geschichte retten?
Abel Prieto: Diese Änderung des politischen Diskurses hat selbstverständlich etwas mit den derzeitigen Umwandlungen zu tun, und mit dem sozialen Preis, den einige unserer Maßnahmen mit sich bringen werden. Fidel hat in seiner Rede vom 26. Juli einen Begriff benutzt, den es bisher in der kubanischen Revolution nicht gegeben hat, das Wort Konzession. Die Devisenfreigabe ist eindeutig auf die Leute ausgerichtet. Das ist eine der Ursachen für die Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses der Revolution, daß offen mit den Leuten geredet wird, daß offen gesagt wird, daß es sich dabei um ein Zugeständnis handelt. Und das ist gleichzeitig das Drama im Augenblick. Wir haben nur einen Weg: entweder wir kapitulieren oder wir versuchen, mit Zugeständnissen, Tricks und kapitalistischen Rezepten die Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichheit so weit wie möglich zu bewahren.

Wie können also die Errungenschaften der Revolution bewahrt werden, wenn die Mittel, die Kuba derzeit zur Verfügung stehen, derart beschränkt sind? Es gibt viele Ärzte, aber es fehlt an Medizin. Womit sollen die Schulbildung und die Gesundheitsversorgung für alle finanziert werden?
Wir wollen auf den Gebieten weitermachen, auf denen wir angefangen haben und die bekannt sind: Tourismus, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie, Nickel, Suche nach eigenen Ölvorkommen, traditionelle Exportgüter wie Zucker, Tabak usw. Durch eine möglichst gerechte Verteilung der Einnahmen aus den herkömmlichen wie aus den neuen Wirtschaftsbereichen wollen wir erreichen, daß eben diese Errungenschaften am wenigsten Schaden nehmen. Das ist unsere Idee, und das widerspricht natürlich einer Schocktherapie oder einer drastischen Anhebung der Preise. Wenn wir das Problem des öffentlichen Personenverkehrs dadurch lösen, daß wir in Übereinstimmung mit dem Ersatzteil- und Benzin
mangel die Preise erhöhen – wen treffen wir damit? Das Problem ist z.B. auch, daß es auf der Straße viel Geld gibt, das aber nicht gleichmäßig verteilt ist. Es wird von 11 Monatslöhnen gesprochen, die auf der Straße zirkulieren und für die es kein Angebot gibt. Das ist aber überhaupt nicht gleichmäßig verteilt, es gibt Leute mit sehr niedrigem Einkommen. Es ist also große Vorsicht geboten. Die Unterstützung der politischen Führung beruht im wesentlichen darauf, daß die Leute merken, daß das Wenige, was es in diesem Land z.Zt. gibt, gerecht verteilt ist.

Aber wird nicht gerade das Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, eins der Grundprinzipien der kubanischen Revolution, durch die neue Dollarpolitik unterhöhlt?
Der Dollar war ja illegal bereits im Umlauf. Durch die Legalisierung des Dollarbesitzes kannst du erreichen, daß die Leute mehr schicken. Die Gleichheit, ein Campesino lebt beispielsweise nicht
genauso wie jemand in der Stadt. Es gibt Campesinos, die ½ Million Pesos auf der Bank haben, zwei oder drei Autos, einen LKW, sie haben immer Benzin, denn sie kaufen es auf dem Schwarzmarkt, wo sie alles kaufen können. Wir haben bereits mit einer gewissen Ungleichheit gelebt. Ich bin mit der Einschätzung einverstanden, daß die jüngsten Maßnahmen größere Unterschiede hervorrufen werden. Unsere Herausforderung ist, entweder zu kapitulieren bzw. alles, was wir geschafft haben, dem Sturm der Revanchisten in Miami zu überlassen, den Faschisten, die es auch gibt und deren Ziele in ihrem Diskurs offensichtlich werden, oder mit diesen Zugeständnissen zu leben: Oder glaubst du, der Tourismus ist unter diesen Bedingungen nicht hochgradig schädlich für die Bevölkerung? Glaubst du, das hat nicht seinen Preis? Die ganzen Auslandsinvestitionen, all das hat seinen Preis.

Das bedeutet letztlich, daß zwar einige Errungenschaften des Sozialismus zu retten sind, aber der Sozialismus als System kaum Überlebenschancen hat. Heißt das, zu einem möglichst sozialen Kapitalismus zurückzukehren?
Wir werden beispielsweise nicht auf den Staatsbesitz an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Wir gründen zwar joint-venture-Unternehmen, aber wir werden keinen Ausverkauf des Landes zulassen. Wir werden Privatisierungen vornehmen, das Gesetz des Marktes anwenden, wir werden andere Wege im vorgegebenen Rahmen suchen. Die andere Alternative wäre die Kapitulation. Die Dichotomie, die sich uns bietet, ist so einfach, daß sie brutal, hart, extrem hart ist. Entweder wir retten ein Projekt, das abgeschliffen werden kann, das an einigen Stellen entarten kann, oder wir kapitulieren. Mit der zweiten Alternative würden wir alles verlieren, die Alternative der Kapitulation bedeutet einen abhängigen Kapitalismus in diesem Land.

Bis jetzt haben wir über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen geredet. Nun kommen wir zur rein politischen Ebene. Manche Beobachter vergleichen Kuba mit China, weil es sehr wohl eine ökonomische Liberalisierung gibt, die allerdings nicht von einer gleich schnellen politischen Liberalisierung begleitet ist. Stimmt dieser Vergleich zwischen beiden Ländern, abgesehen von den unübersehbaren Unterschieden, die es natürlich gibt?
Ich war in China. Das war eine hochinteressante Erfahrung, was die Chinesen machen. Sie sind auf wirtschaftlichem Gebiet nicht wesentlich weiter. Ich glaube, der Vergleich hinkt aus vielen Gründen. U.a. gibt es in Kuba noch eine historische Führung, nämlich die der Revolution, während es in China nur noch ein paar Überlebende der historischen Führung gibt. Wir führen alle Veränderungen mit der historischen Führung durch, mit einer Partei, deren Vorstand aus mehreren Generationen zusammengesetzt ist. Es ist interessant zu sehen, wie hier in Kuba versucht wurde, die Präsenz verschiedener Generationen in der Führung der Staatspartei zu gewährleisten.

Trotz dieser aus mehreren Generationen zusammengesetzten poltischen Führung hat einer großer Freund der kubanischen Revolution, Eduardo Galeano, vor kurzem gesagt: “Die kubanische Revolution erlebt eine zunehmende Spannung zwischen den in ihr enthaltenen verändernden Energien und ihren versteinerten Machtstrukturen.” Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Diese Kritik kommt zwar von einem großen Freund der kubanischen Revolution, aber ich glaube nicht, daß die Machtstrukturen versteinert sein können. Das hat sich zum Beispiel gerade in der Nationalversammlung gezeigt, in den Veränderungen, die dort stattgefunden haben, in ihrem neuen Arbeitsstil.

Was bisher eher ein Versprechen denn die Realität ist.
Ich denke, das ist schon Wirklichkeit. Die Nationalversammlung wird natürlich kein Erdöl finden. Wenn die Nationalversammlung schließlich Öl finden würde, wäre das vielleicht eine solche Realität? Es ist kein Wunder geschehen, aber es handelt sich um einen neuen Arbeitsstil, die Führungs- und Arbeitsstile haben sich auf Regierungs- und Kommunalebene sehr wohl gewandelt. All dies, diesen veränderten Arbeitsstil, sieht man deutlicher auf kommunaler Ebene und v.a. außerhalb von Havanna als in der globalen Politik. Ich glaube nicht, daß man da nicht von einer versteinerten Macht- und Regierungsstruktur sprechen kann. Unter den jetzigen Bedingungen des Drucks und der Feindseligkeiten von außen können wir allerdings, und ich glaube, Galeano weiß das sehr genau, die Einheit nicht opfern, das können wir nicht auf’s Spiel setzen. Jede Veränderung zur Verbesserung des politischen Systems in Kuba, damit es besser läuft, damit es eine wirksamere Mitbestimmung gibt, muß erfolgen, ohne diese Einheit zu gefährden. … Wir müssen sehr vorsichtig agieren, sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet. Wir können uns keine Krise erlauben.

Aber die wirtschaftliche Krise ist schon da …
Ja, wir dürfen uns keine politische Krise erlauben. Wir dürfen den Amerikanern keinen Vorwand liefern, sonst drücken sie uns eine humanitäre Invasion auf. Wir müssen hart daran arbeiten, daß die Leute die Situation verstehen, unsere Maßnahmen nachvollziehen können. Die Leute werden zu dem Schluß kommen, daß sich einige tatsächlich bereichern können, aber in dem Maße, wie sich die Wirtschaft erholt, auch die große Mehrheit der Bevölkerung Nutzen davon haben wird. Um auf die Frage zurückzukommen, man muß mit Vorsicht, Intelligenz, Weisheit vorgehen, denn wir dürfen keine Anarchieäußerung zulassen, hier darf es keine Anarchie geben. Dieser Prozeß muß sehr vorsichtig und umsichtig erfolgen.

Die erste Konzession der kubanischen Revolution seit 1959!
Nein, sie wird nur zum ersten Mal im politischen Diskurs angewendet.

Dann zumindest das weitestgehende Zugeständnis, das die kubanische Revolution jemals gemacht hat.
Es ist zumindest eins der deutlichsten, der schmerzhaftesten Zugeständnisse, weil damit offiziell – inoffiziell war das ja schon so – zwei Klassen von Kubanern anerkannt werden. Es gibt jetzt zwei Kategorien von Kubanern. Das bewirkt einen moralischen Schaden, dafür müssen wir einen moralischen Preis bezahlen. Es entsteht eine neue Form der Ausrichtung, einerseits auf den Konsum und andererseits auf den Mangel. Das führt dazu, daß sich die Leute auf ganz verschiedene Arten prostituieren, nicht nur so wie die Prostituierten auf der Va Avenida, es gibt auch eine Art intellektueller ‘jineteros’, die auch die Hotelhallen belagern, um an Einladungen heranzukommen, um aus dem Land herauszukommen oder ein paar Dollars zu verdienen. Der einzige Ausweg ist die Überwindung der Krise.

Carlos Lage sagt, er sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Können Sie Licht erkennen?
Wir wissen bisher noch nicht, wie lang der Tunnel ist. Ich glaube sehr wohl, daß wir aus ihm herauskommen werden. Ich weiß weder wann, noch auf welchem Weg. Aber wir werden wieder herauskommen. Zunächst ist die kubanische Revolution von jeglichem Idealismus geheilt. Wir wissen nun, daß der neue Mensch bedauerlicherweise in weiter Ferne ist.

Bei den Wahlen vom Februar, die eher ein Plebiszit waren, zeigte sich, daß es eine Gruppe von DissidentInnen im Land gibt, die z.B. für keine/n der KandidatInnen und damit gegen das System gestimmt haben. Welche Rolle kann diese Gruppe in der kubanischen Gesellschaft spielen? Wenn die Kommunistische Partei die nationale Partei ist, was geschieht dann mit denjenigen, die nicht innerhalb dieser Partei sein möchten oder können? Welchen Spielraum haben die DissidentInnen in Kuba?
Im Augenblick keinen, sie haben keinen Spielraum.

Das bedeutet aber, daß ein Teil der Bevölkerung, wenn auch ein kleiner, nämlich rund 10%, ausgeschlossen bleibt.
Erstens bieten diese Leute keine Lösung. Zweitens ist es eine kleine Minderheit, die es aber sehr wohl gibt.

Bei den letzten Wahlen in Deutschland stimmte ein ähnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich rund 10%, für systemkritische Parteien, d.h. Kommunisten, Sozialisten, Grüne, der ganze Rest wählte die Parteien, die uneingeschränkt für das System stehen.
Diese Leute haben dieselbe Chance wie ein Kommunist, der in den USA Präsident werden will. Was hätte er für eine Chance mit einem kommunistischen Projekt? Keine! Diese Gruppe hat die reelle Chance, sich als Kandidat für die Delegierten der Basis aufstellen zu lassen. Diesmal haben sie sich nicht einmal aufstellen lassen. Wenn diese Minderheit einen politischen Spielraum fordert, dann müssen sie es nach unseren Spielregeln tun. Und unter diesen Spielregeln werden sie schwerlich Chancen haben. Es ist eben nicht alles darauf vorbereitet, daß Elizardo in die Nationalversammlung einzieht. Dazu muß er viele Hindernisse überwinden, denn unser politisches System ist ausgehend von der Vorstellung entworfen worden, daß die Revolutionäre die Situation beherrschen.

Capoeira – Die Kultur des Widerstandes

Capoeira veio daqui Capoeira kam von hier
do quilombo de Zumbi aus dem quilombo von Zumbi
como Angola ela chegou als Angola kam sie her
e aqui luta formou und hier formte sie den Kampf
Negro fugia da senzala die Neger flohen aus den Sklavenhütten
perseguido stets verfolgt
e se escondia do alarido und versteckten sich vor dem Geschrei
pra lutar bereit zu kämpfen
olha armada, meia lua schau, die Armada, die Meia Lua
cabeçada die Cabecada
a rasteira e a queixada die Rasteira und die Queixada
pra matar bereit zu töten
capoeira dizia die capoeira sprach
capoeira fazia die capoeira handelte
liberdade pro negro Freiheit für die Neger
liberdade pra vida Freiheit für das Leben
capoeira hoje em dia capoeira heutzutage
é a vida alegria ist eine Lebensfreude
vem pra roda vamos jogar komm zur roda, laß uns spielen

So der Text eines capoeira-Liedes, das gemeinsam im Kreis, der “roda”, gesungen wird. Das Lied drückt fast alles aus, was mit der capoeira in Verbindung steht und im Buch als geschichtlicher Hintergrund beschrieben wird.
Erzählt wird die Geschichte von Zumbi de Palmares, dem König der quilombos. Von der Entstehung der quilombos, den versteckten Siedlungen entflohener Sklaven im 16. Jahrhundert. Von der Ausbreitung einer Kampfform der befreiten und angeketteten afrikanischen Sklaven im Nordosten Brasiliens, die mit dem Streben der Schwarzen nach Freiheit einhergeht. E a capoeira. Das ist die capoeira. Sie hat die Kanonen der Portugiesen überlebt, auch wenn Palmares nach langjährigem Befreiungskampf dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen niedergemetzelt wurden.
Der espirito – der Geist von Palmares – findet sich wieder in Liedern, Tänzen und Erzählungen und damit in der capoeira als Symbol für den Kampf gegen die Unterdrückung.
Was bei der Befragung von vier capoeiristas über den Begriff der capoeira herauskommt, sind fünf Meinungen. Der verstorbene Mestre Bimba vertrat die Meinung, capoeira sei die Kunst und Tücke, die einen Menschen befähigt, den Unwägbarkeiten des Lebens zu begegnen. Andere sehen die capoeira als Spiel, Kampf, Rhythmus, Poesie…
Mit der Abolicao, der Abschaffung der Sklaverei 1888 in Brasilien, gab es ein gesetzliches Verbot der capoeira. Die capoeira ging in den Untergrund. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der ehemaligen Sklaven verschärften sich. Jetzt spielte die capoeira als wichtiges Mittel im Überlebenskampf eine große Rolle.
Hier kommt die “Macht der Götter” (und Göttinnen!) ins Spiel, denn unter dem Deckmantel der aus der afrikanischen Kultur mitgebrachten religiösen Riten konnte die capoeira in den Candomble, Umbanda und Macumba eingeflochten werden. Bei der Ausübung dieser Riten konnte die capoeira trainiert werden, ohne als Kampf sondern als religiöser Tanz angesehen zu werden. Aber anders als beim Candomble wird der/die capoeirista in der roda nicht in einen Trancezustand versetzt. Der Rhythmus bildet den Rahmen und bestimmt die Dynamik, mit der die KämpferInnen einander langsam, schnell, spielerisch, akrobatisch, ausdrucksstark, listig… begegnen. Die Ginga, der Grundschritt der capoeira, bildet einen von der Musik unabhängigen, eigenen inneren Rhythmus.
Außer der Geschichte im Leseteil des Buches sind im Übungsteil einerseits die in der “roda” benutzten Elemente, nämlich der Eigenbau des “Berimbau”, das Hauptmusikinstrument der capoeira, die capoeira-Musik, Toques (Rhythmen), Gesang und Texte zum Nachmachen gut beschrieben. Das Erlernen der Ginga, und der wichtigsten Techniken mit Abbildungen von meia lua (Halbmond), queixada, bensao, meia lua de compasso… macht einen weiteren großen Teil der Übungen aus. Mit der Unterscheidung der capoeira in die zwei Stilrichtungen capoeira angola und capoeira regional werden hauptsächlich Kampftechniken der Richtung angola gut erklärt. Für AnfängerInnen in der capoeira zum Nachlesen und Ausprobieren eine gute Hilfe.
Im Anhang finden sich sowohl weitere Literatur-Angaben und Bezugsadressen von capoeira-Schallplatten und CD’s sowie Adressen von capoeira-LehrerInnen, die allerdings nicht ganz auf dem neuesten Stand sind!
Insgesamt bietet das Buch eine anschauliche Einführung in die Grundtechniken der capoeira und viele Hintergründe über eine Kultur des Widerstandes in Brasilien.
Auffallend ist, daß es trotz weiblicher capoeiristas nach Dirk Hegemanns nur den männlichen “capoeirista” gibt, denn im gesamten Buch ist außer bei den Abbildungen nicht zu erkennen, daß dieser Kampftanz auch von Frauen betrieben wird, und dementsprechend Frauen auch verbal angesprochen werden sollten.
Aber “man” muß Capoeira leben, (sagte Mestre Sapo aus Olinda zu seinem Schüler, dem Autor) um zu erfahren und zu verstehen, was sich hinter “ihr” verbirgt.
Für einen Einstieg in die brasilianische Widerstandskultur capoeira trotzdem sehr zu empfehlen.

Dirk Hegemanns, Capoeira – Die Kultur des Widerstandes: ein Lese- und Übungsbuch, Schmetterling Verlag, 1993.

Wenn die Rede von Machos ist…

Wenn die Rede von Machos ist, sind sich die meisten darüber bewußt, daß sie ein Fremdwort aus dem Spanischen benutzen. Der “Machismo” ist eins der verbreitetsten Klischees über Lateinamerika. Darauf spielen Kampmann und Koller-Tejeiro vermutlich an, wenn sie als Untertitel zu ihrem Buch “Madre Mía” die Frage stellen, ob Lateinamerika der Kontinent der Machos sei.(Wer so etwas thematisiert, sollte mir einen Kontinent ohne Machos nennen, da würde ich nämlich sehr gerne hingehen!). Leider war eine Antwort darauf anscheinend nicht so einfach zu formulieren wie die Frage selbst, denn auf sie geht keine der Autorinnen ein, die zu dem Buch beigetragen haben.
Im Buch sind Aufsätze von verschiedenen Autorinnen über den Frauenalltag und die Frauenbewegung in Lateinamerika gesammelt. Themen wie Verhütung, sexuelle Aufklärung, Geschlechterrollen, Identität, Arbeitswelt und der Kampf ums Überleben und um Anerkennung werden oft aus der Perspektive der betroffenen Frau gezeigt, entweder in Interviews oder durch ihre Biographien, was die Lektüre lebendig und leicht macht. Dabei werden Frauen aus unterschiedlichen Schichten dargestellt: Von der Karrierefrau in Mexiko über das Dienstmädchen in Kolumbien bis zur “Indiofrau” in Ecuador. Allerdings wird dem/r LeserIn nicht klar, welche Repräsentativität die Fallbeispiele haben und nach welchen Kriterien die Auswahl verlief.
Es wird gezeigt, wie die Frauen ein neues Bewußtsein entwickeln, indem sie sich selbst organisieren und verwalten, sei es in Volksküchen, in Betrieben oder in BäuerInnenprojekten, und wie sie nach neuen Wegen suchen, um voranzukommen, da sich die Männer von jeder Verantwortung fernhalten.
Das Buch gibt einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Frauen in Lateinamerika, da die Berichtenden die Rolle passiver Beobachterinnen einnehmen und im Reportagestil (begleitet von großen und künstlerisch schönen Bildern) schreiben. Wer also befürchtet, durch diese Lektüre seine eigene Lebensweise in Frage stellen zu müssen, kann unbesorgt sein, erzählt wird nur über “das Fremde”.

Martina Kampmann, Yolanda M. Koller-Tejeiro (Hrg.) – Madre Mía! Kontinent der Machos? Frauen in Lateinamerika. Elefanten Press, Berlin 1991.
ISBN 3-88520-387-1.

Unser Leben ist kein Kinderspiel

Dieser Kommentar stammt von einem Kind auf dem 1. Straßenkinderkongreß Nicaraguas 1992 als Reaktion auf die relativ spärliche Resonanz bei JournalistInnen und PolitikerInnen.
Ähnlich wie in Nicaragua gibt es bereits in Peru, Mexico und Brasilien (vgl. LN 227) eigene Organisationen, in denen Kinder ihre Interessen und Ansprüche selbständig artikulieren. Dies wird deutlich im dritten Schwerpunkt einer Broschüre der Christlichen Initiative Romero e.V., die jetzt zum Thema Straßenkinder in Lateinamerika erschienen ist.
Zuvor werden in einigen Aufsätzen die Situation und die Problemlage der Kinder, vornehmlich aus Mittelamerika und Brasilien, ausführlich beschrieben. Es geht um Kinderarbeit, Kinderprostitution und um die Ausmaße des Elends der Straßenkinder. Mittlerweile lebt schon die dritte Generation Kinder auf der Straße. Kaum 14jährige Mädchen sind die Mütter dieser “Asphaltenkel”.
Dieses Leben auf der Straße ist geprägt von Arbeit, bzw. der Suche danach, unter Umständen der eigenen “Elternrolle” und, besonders wichtig, der gesellschaftlichen Diskriminierung. Von Kindheit im europäisch verstandenen Sinn sind die Kinder in Lateinamerika weit entfernt. Dazu kommt die alltägliche lebensbedrohliche Verfolgung durch die Polizei und private, durch Geschäftsleute angeheuerte Sicherheitsdienste, die die Straßenkinder zu Freiwild werden lassen.
Den Verfasserinnen dieser Broschüre ist es, trotz aller Differenz zur Lage in Europa, auch wichtig gewesen, auf die Situation von Kindern hier hinzuweisen. In den Texten wird deutlich, daß es die weltweiten Strukturen der Ungerechtigkeit sind, die die Kinder zwingen, auf der Straße zu leben. So haben die Erfüllung der strengen Auflagen des IWF, vor allem die Kürzungen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich, die Zahl der Straßenkinder in den 80er Jahren spürbar anwachsen lassen.
Im letzten Teil des Heftes werden Aktionsvorschläge, Lernspiele, Material- und Literaturhinweise sowie weiterführende Adressen für die Arbeit im Unterricht und in Gruppen bzw. für Aktionen zum Thema aufgeführt. Die Broschüre ist eine gelungene Zusammenstellung von Materialien und sowohl zur eigenen gebündelten Information als auch für MultiplikatorInnen geeignet. Das sehr gute Lay-out wird durch ansprechende Photos und durch einzelne Graphiken ergänzt.

Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. 1993 herausgegeben von und zu bestellen bei: Christliche Initiative Romero e.V., Kardinal-von-Galen-Ring 45, 48149 Münster.

Geschichten vom transplantierten Intellektuellen

“Der Markt in den Köpfen” ist das Hauptthema des diesjährigen Lateinamerika-Jahrbuchs. Ein Thema, das den HerausgeberInnen wohl auf den Nägeln brannte, ,sind sie doch “verblüfft oder enttäuscht, wenn wir langjährige Weggefährten, Kolleginnen, Forschungspartner ganz unvermutet im neoliberalen Gewande wiedertreffen”, in Lateinamerika, versteht sich. Um die lateinamerikanischen Intellektuellen also geht es, und um die Frage, wie es zu erklären ist, daß so viele, die noch vor wenigen Jahren als schärfste KritikerInnen der kapitalistischen Ausbeutung auftraten, heute die “Marktgesetze” uneingeschränkt gelten lassen. Daß dies das Thema sei, verheißen jedenfalls Titel und Einführung, doch nicht alle Texte halten, was die Ankündigung verspricht.
Urs Müller-Plantenberg beschreibt in seinem Text die Wandlungen der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika. Die CEPAL “hat sich in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg mit der offensiven Vertretung einer wirtschaftspolitischen Strategie für die lateinamerikanischen Länder einen solchen Namen gemacht, daß es noch heute schwerfällt, sich unter Cepalismo etwas anderes vorzustellen als eben jene Entwicklungsstrategie einer binnenmarktorientierten, importsubstituierenden Industrialisierung.” Das aber muß man wohl, denn nach Jahren der konzeptionellen Abstinenz wartet die CEPAL nun mit einem Programm auf, das, wie Müller-Plantenberg eindringlich schildert, mit allen wesentlichen Grundprinzipien des Neoliberalismus voll in Einklang zu bringen ist. Aber die CEPAL leistet einen eigenen Beitrag damit, “daß sie zusätzlich zur Forderung nach Markteffizienz und Eingliederung in den Weltmarkt weitere Ziele formuliert (..), die nicht im Mittelpunkt des Interesses des Neoliberalismus stehen, gleichwohl aber von ihm akzeptiert werden können.” Namentlich geht es um die soziale Abfederung der Härten neoliberaler Programme. Daß die CEPAL auf neoliberalem Kurs schwimmt, nimmt nicht wunder, denn nach Meinung des Autors konnte sie erst dann überhaupt ein neues Konzept vorlegen, als sie sich wieder auf eine einheitliche Denkströmung in den lateinamerikanischen Ländern stützen konnte -und das ist heute der Neoliberalismus.

Wie kommt der Markt in die Köpfe?

Wieso das so ist, das erfahren wir deutlicher aus dem Aufsatz von Juan Gabriel Valdes “Die Chicago-Schule: Operation Chile”. Haargenau -und im Jahrbuch doch nur in einem Ausschnitt aus einem Buch Valdes’ -belegt der Autor den “Ideologietransfer von Chicago nach Santiago”, der in der Zeit der Pinochet- Diktatur stattgefunden hat. Die ideologische Diktatur der “Autorität der ökonomischen Wissenschaft” hat sich bis heute fortgesetzt. Der Autor braucht keine Verschwörungstheorie zu konstruieren, er beschreibt schlicht anhand von Personen und Vorgängen, wie eine ganze Reihe Hochschulabsolventen der University of Chicago die wesentlichen Positionen der staatlichen Wirtschaftspolitik und der Ideologiebildung in Chile übernahmen. Ziel: Das Ersetzen von Politik durch Technologie, von Politikern durch Ökonomen. Mit der Machtübernahme der Militärs wurde die kontrollierte Zerstörung des Alten -unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung des neoliberalen Denkens in allen lateinamerikanischen Ländern -rasant vollzogen. “Nirgendwo wandte man die neoklassische Theorie in größerer Reinheit und mit mehr Radikalismus an als hier. Und was noch wichtiger ist: In keinem anderen Fall hatte man die Kühnheit, mit ihr die Gründungsphilosophie einer neuen Gesellschaft verfassen zu wollen.” Wohl diese “Kühnheit”, dieses nicht durch vorgebliche “Sachzwänge”, sondern mit einem positiv formulierten Gesellschaftsmodell vermittelte Programm, ist es, was Chile zum “Modell” werden ließ -und was letztendlich auch die CEPAL-Strategie maßgeblich beeinflußt hat.
In seinem Beitrag “Die Intellektuellen und der mexikanische Staat im verlorenen Jahrzehnt” beschreibt Sergio Zermeño den allmählichen Wandel der Intellektuellen. Er geht von einer Spaltung der Gesellschaft in drei Teile aus: Den “harten Kern”, die “Integrierten” und die “Ausgegrenzten”. Seiner Ansicht nach hat es der harte Kern im Falle der Intellektuellen geschafft, sie durch diverse Mechanismen zu korrumpieren, ihre Kommunikation mit dem Volk zu brechen, und in den Kreis der “integrierten Minderheit” mit einzubeziehen, unter Ausnutzung des intellektuellen Frusts über die Entwicklung. “Es ist vielleicht der Kontrast zwischen den modernen Konzepten, mit denen wir.aufgewachsen sind, und einer Zukunft, die immer weniger mit ihnen übereinstimmt, der dazu führt, daß Wissenschaft und Technik (die Universität) sich immer weiter von der Gesellschaft (und der Natur) entfernten und sich der Macht annähern, vor allem, wenn diese eine Zukunft der Modernisierung verspricht.” Und: “Die Organisationen und die Führungsspitzen der Integrierten vollziehen eine Wende zum Parlamentarismus, zu den Gemeinderäten, zu den Parteivorständen und Leitungsposten in den Ministerien, Universitätsinstituten und Fakultäten, zu Beraterverträgen, Fernsehauftritten und festen Kommentarspalten. Der Sog wirkt von unten und von oben: Politbürokratisierung oder Verelendung.” Nach Zermeño müssen sich die Intellektuellen “die Rekonstruktion der sozialen Identitäten zum Ziel setzen und die fieberhafte Aktivität in den Bereichen des politischen Systems, wo es um Einfluß, um Repräsentation, kurz »politische Demokratie« geht, ein wenig drosseln, die den Ausgegrenzten nur spärlichen Nutzen bringt (…)”
Die anderen Beiträge des ersten Teiles konzentrieren sich auf die -zweifelsohne sehr kompetente -Beschreibung der Auswirkungen neoliberaler Politik in den verschiedenen Ländern. Wolfgang Gabbert beschreibt mit dem mexikanischen PRONASOL-Programm sicherlich eines der wichtigsten Modelle sozialpolitischer Schein-Abfederung neoliberaler Politik. Die Hauptfragestellung der mexikanischen Regierung war nach Gabbert: “Wie läßt sich eine Wirtschaftspolitik, die zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich führt, politisch absichern?” Vor dem Problem stehen nun alle lateinamerikanischen Regierungen, und PRONASOL “hat in seiner fünfjährigen Laufzeit seine stabilitätssichernden Kapazitäten bewiesen und ist mittlerweile zum Exportschlager avanciert.” Gerade deshalb ist der Beitrag von Wolfgang Gabbert so wichtig.

Und wie kommt er wieder heraus?

Franz Hinkelammert beschreibt in seinem essayistischen Aufsatz die Parallelität zwischen Stalinismus und Neoliberalismus: Beide stellen sich als einzig gangbare, beziehungsweise einzig rationale Alternative gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Wer es auch nur wagt, Alternativen zur derzeitigen Wirtschaftsweise anzudenken, wird ins Reich des Irrationalen verbannt, als Utopist und Träumer aus der Gesellschaft ausgeschlossen -der Totalitarismus des Marktes.
Hinkelammerts Schlußfrage ist so weniger: Wie ist der Markt in die Köpfe gekommen? Sondern: Wie kommt er wieder heraus? “Zunächst einmal sich weigern, verrückt zu werden, wenn unsere Gesellschaft den Wahnsinn zur Rationalität erklärt. (…) Dann aber kommt der Widerstand.” Und dieser müsse nicht immer legal sein, sondern legitim. Das klingt erfrischend revolutionär, aber die Ratlosigkeit, mit der man den Ausführungen Hinkelammerts zustimmt, führt die eigene längst vollzogene Vereinzelung erschreckend vor Augen.
Der Themenschwerpunkt des Buches hält nicht völlig, was er verspricht. Taz- Japan-Korrespont Georg Blume soll beschreiben, wie Japan als “Vorbild auf Lateinamerika wirkt, erklärt aber eher, wie Japan als Handelspartner Anteil an der lateinamerikanischen Entwicklung hat. Enzo del Bufalo kritisiert die neoliberale venezolanische Wirtschaftspolitik als idiotisch und inkohärent -doch die zentrale Fragestellung des Buches berührt er kaum. Und Rainer Dombois schreibt in seinem Artikel über “Arbeitswelt und neoliberale Wende in Kolumbien” zwar, wie sich die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen vollzogen haben und die Privatwirtschaft darauf reagiert hat, auch hier aber bleibt die Frage ausgespart, warum es von intellektueller Seite aus so wenig Gegenvorstellungen oder wenigstens Kritik gibt.
Ausgespart, und dies ist ein deutliches Manko, bleiben auch jene Länder, wo neoliberale Anpassungsprozesse zu großen politischen Konflikten geführt haben. Nicaragua, wo sich die Gewerkschaften der Überführung ehemals staatlichen in Belegschaftseigentum verschworen haben und dabei selbst zu Unternehmern werden; Uruguay, wo ein Referendum gegen die Privatisierung nicht nur durchgesetzt, sondern gewonnen wurde -keine Themen im Jahrbuch.
Das ist schade, soll aber von der uneingeschränkten Leseempfehlung nicht abhalten. Der siebzehnte Band, gerade erschienen, lohnt sich allemal. Und daß inhaltliche Konzepte nicht immer bis ins letzte durchgehalten werden können, sollten wir als LN-Redaktion ohnehin besser nicht zu laut kritisieren…
Erstmals erscheint das Jahrbuch nun beim Horlemann-Verlag aus Bad Honnef, endlich wieder im gewohnten Design, von dem man in der zweijährigen Eskapade zum Lit-Verlag hatte abweichen müssen. Erleichternd ist, daß die Länderberichte, die wie immer den zweiten Teil des Buches füllen, diesmal noch nicht völlig veraltet sind -elf AutorInnen berichten mit längerem Atem, aber aktuell, aus ebenso vielen Ländern Lateinamerikas. Erfreulich für die HerausgeberInnen: Das Buch erscheint pünktlich zur Buchmesse -marktgerecht.

Markt in den Köpfen. Lateinamerika -Analysen und Berichte 17, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Unkel/Rhein; Bad Honnef: Horlemann 1993; ISBN 3-927905-80-1

Zwei Jahre Pilotprogramm für Amazonien

Wie sieht die erstmalig (!I erfolgte Integration von “Betroffenen” (Indios, KautschukzapferInnen, UmweltschützerInnen) in ein multinationales Entwicklungskonzept in der Praxis aus? Wie brauchbar für die Region Amazonien ist der scheinbar progressive Ansatz tatsächlich? Welche Probleme ergeben sich bei der Umsetzung? Wie verhalten sich ökologische und soziale NGOs, Indios, KautschukzapferInnen, Kleinbauern und -bäuerinnen, Gewerkschaften? Welche Chancen eröffnen sich für die brasilianische “Zivilgesellschaft”? -Über all diese Fragen schreibt Thomas W. Fatheuer in einer verhalten optimistisch gehaltenen Publikation “Hoffnung für den Regenwald?” umfassend und detailliert. Ausgehend von einem kurzen Abriß über die bisherige “Entwicklung” Amazoniens stellt er zunächst die Vorgeschichte, sowie die Ziele und Strukturen des Pilotprogramms dar. Das anschließende Kapitel über die sogenannten “Demonstrationsprojekte” und die Beteiligung der NGOs ist leider etwas trocken und formalistisch geraten, speziell die Vielzahl der durch Abkürzungen vertrete-nen Gruppen, Arbeitskreise und Kommissionen erfordert einige Mühe beim Lesen. Dafür entschädigt das anschließende zentrale Kapitel, in dem eine kritische Bilanz von zwei Jahren Pilotprogramm gezogen wird. Dazu bezieht sich Fatheuer auf ein Seminar der brasilianischen NGOs, das im Februar dieses Jahres in Belém stattfand und auf dem die verschiedenen Organisationen der zivilen Gesellschaft zusammen gekommen sind, um ihrerseits eine Einschätzung des Pilotprogramms vorzunehmen und gemeinsame künftige Vorgehensweisen zu diskutieren. Obwohl die Einschätzungen sehr unterschiedlich waren, gab es jedoch weder totale Zustimmung noch völlige Ablehnung des Pilotprogramms.
Laut Fatheuer haben sich sieben zentrale Kritikpunkte in der Diskussion heraus-kristallisiert:

* -Das Pilotprogramm sieht Arnazonien praktisch ausschließlich als Wald und reduziert damit einen komplexen sozialen Raum auf eine seiner Hauptkomponenten.
* -Das Pilotprogramm privilegiert die traditionellen ‘Völker des Waldes” (Indios, Kautschukzapfer) und vernachlässigt damit andere Teile der Bevölkerung (Kleinbauern, städtische Bevölkerung).
* -Es besteht für die beteiligten Gruppen die Gefahr einer zu großen Fixierung auf das Pilotprojekt.
* -Das Programm ist ohne Beziehung zu nationalen Entwicklungspolitiken, d.h. ohne Landwirtschafts-oder Energiekomponente.
* -Das Pilotprogramm ignoriert die durch das internationale Wirtschaftssystem auferlegten Zwänge (z.B. Strukturanpassungsprogramme des IWF)
* -Eine qualifizierte Beteiligung der Zivilgesellschaft an den strukturellen Programmen ist bisher nicht gewährleistet; diese findet lediglich in den Randbereichen (Demonstrationsprojekte)statt.
* -Es herrscht Unklarheit über die institutionelle Form der Beteiligung (Auswahl der VertreterInnen, Umfang des Mandats) der NGOs am Pilotprogramm.

Es wird klar, daß die idealisierte Sicht Amazoniens als großer Wald mit wenigen “guten” Indios und KuautschukzapferInnen zum Haupthindernis eines umfassenden partizipativen Entwicklungsmodells wird. Bei der Diskussion des Pilotprogramms darf allerdings nicht vergessen werden, daß der überwiegende Teil der strategischen Projekte (Straßenbau, landwirtschaftliche Großprojekte, Stau-dämme und Kraftwerke, Bergbau) im Rahmen der nationalen Entwicklungspolitik für Amazonien durchgeführt werden -ohne die partizipativen Ansätze des Pilotprogramms. Für diese auf vier Jahre angelegte Entwicklungsprojekte seien 11,6 Mrd. Dollar angesetzt, also ein Vielfaches des Volumens des internationalen Pilotprojekts für Amazonien, wurde auf dem Seminar in Belém herausgestellt. Das relativiert die Bedeutung des Pilotprojekts innerhalb des nationalen Rahmens.
Im abschließenden Kapitel, “Wer zerstört, wer rettet Amazonien?, nimmt Fatheuer noch einmal die Frage auf, wessen Wald Amazonien ist bzw. wessen Entwicklung das Pilotprogramm dienen soll. “Das Problem [aber] ist, daß Städte und Landwirtschaft in der Diskussion einer Lösung für den Regenwald/Amazonien überhaupt nicht auftauchen”, schreibt er und liefert im Anschluß einige, speziell für die internationale Diskussion wichtige Klarstellungen über die soziale Realität Amazoniens.
Die Stärke der Darstellung des Pilotprogramms der G-7 und der Amazonien-Problematik liegt speziell in der Tatsache, daß Fatheuer zum einen kenntnisreich die Diskussionen innerhalb der brasilianischen NGOs nachzeichnet, er aber andererseits als Außenstehender die Entwicklung des Pilotprogramms mit einer gewissen Distanz kritisch analysiert. So ist das Buch von einem “insider” geschrieben (Fatheuer arbeitet für den ded bei der brasilianischen Nichtregierungsorganisation FASE), aber ausgezeichnet für ein europäisches Publikum aufbereitet. Die ausführliche Aufschlüsselung der einzelnen Instrumente für die Umsetzung des Pilotprogramms, sowie die Betrachtung der jeweils damit verbundenen Implikationen für die soziale und ökologische Bewegung machen die Broschüre darüberhinaus interessant für andere Regionen, die ebenfalls multinationalen westlichen Entwicklungsprogrammen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel Osteuropa.

Thomas W. Fatheuer: “Hoffnung für den Regenwald? Das Pilotprojekt der G-7 und Ansätze für eine neue Politik in Amazonien”‘, FASE, Rio de Janeiro 1993.

-Die Broschüre (70 Seiten) ist für 5,-DM in bar, gegen Scheck oder Briefmarken bei den LATEINAMERIKA NACHRICHTEN, Im Mehringhof, Gneisenaustr. 2, D-10961 Berlin zu bestellen.

Gefüllte grüne Pfefferschoten in Walnußsoße

Zutaten: 25 frische Poblano-Pfefferschoten
8 Granatäpfel
100 Walnüsse
100 g Parmesankäse
250 g saure Sahne
1 kg Rinderhack
100 g Rosinen
1/4 kg Mandeln
1/4 kg Pekan-Nüsse
1 kg Fleischtomaten
2 mittelgroße Zwiebeln
2 Tassen Zitronat
1 Pfirsich, 1 Apfel
Kümmel, weißer Pfeffer
Salz, Zucker

Mit diesem bzw. ähnlich aufwendigen Rezepten delikater Gerichte der traditionellen mexikanischen Küche beginnt jedes Kapitel des Romans “um Kochrezepte, Liebe und bewährte Hausmittel in monatlichen Fortsetzungen”, wie es im Untertitel heißt.
Die Handlung ist eingebunden in die minuziöse Beschreibung der Fertigstellung dieser Gerichte (was zum Nachkochen animiert), und daneben erfahren wir weitere nützliche Dinge über das Kastrieren von Hähnen, Hausmittel gegen Blähungen und schlechten Mundgeruch, die Herstellung von Streichhölzern sowie über die Hausgeburt ohne Hebamme.
Die Heldin der Geschichte ist Tita, eine junge Frau, die zur Zeit der mexikanischen Revolution, gegen alte Traditionen rebellierend, um ihr Liebesglück kämpft. Als jüngste von drei Töchtern der Familie ist sie verpflichtet, unverheiratet zu bleiben, um ihre Mutter im Alter zu pflegen. Nun entbrennt Tita aber in Liebe zu einem jungen Mann namens Pedro, der den Mut aufbringt, trotz der widrigen Umstände bei Titas Mutter um ihre Hand anzuhalten. Doch das Herz Mama Elenas, der verwitweten Gutsbesitzerin, die mit strenger Hand über Familie und Hof herrscht, läßt sich nicht erweichen. Sie bietet Pedro zum Ausgleich die ältere Tocher Rosaura an. Um wenigstens in der Nähe der Angebeteten zu leben, willigt Pedro in diesen Handel ein. Tita, die Höllenqualen erleidet, bleibt zunächst nur die Liebe zur Kochkunst, die sie von Nacha, der alten Köchin, übernommen hat.
Was diesen Roman zu einem Lesevergnügen macht und von einer schnulzigen Allerweltliebesgeschichte unterscheidet, sind die in der Handlung wie selbstverständlich eintretenden magischen, märchenhaften Begebenheiten, die zumeist in Zusammenhang stehen mit Titas Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten. So lösen Titas Tränen im Hochzeitsessen des Geliebten eine tiefe Schwermut unter den Gästen aus. Wachteln in Rosenblättern entfesseln bei Gertrudis, der anderen Schwester Titas, eine ekstatische Leidenschaft, so daß sie mit einem Hauptmann des Revolutionsheeres nackt auf einem Pferd durchbrennt.
Tita, die aufgrund verschiedener unglücklicher Ereignisse beinahe wahnsinnig wird, wendet sich zwischenzeitlich dem sich auf indianische Heilkunst verstehenden Dr. Brown zu. Dieser hilft ihr, die Lebensfreude zurückzugewinnen. Doch auch von Pedro kann sie nicht lassen. Erst als seine Gattin ihren anhaltenden Blähungen erliegt, ebnet sich ein neuer Weg für die Liebenden unter Mitwirkung der anfangs erwähnten Pfefferschoten in Walnußsoße.
Wer eine tiefergehende politische Message sucht, wird diese nicht finden. Doch wenn frau das seltene Genre “witziger Frauenroman” sucht, wird sie es finden. Und ihr Lachen ist mindestens so tiefgehend wie eine politische Message. Ähnlich wie bei Isabel Allende und Gioconda Belli ist es diese Mischung aus sprudelnder Lebendigkeit, Leidenschaft und Magie, die auch den Reiz dieses ersten Romans von Laura Esquivel ausmacht.

Laura Esquivel. Schäumend wie heiße Schokolade. Mexikanischer Roman um Kochrezepte, Liebe und bewährte Hausmittel in monatlichen Fortsetzungen. Insel Verlag. Frankfurt/M. 1992. Als TB im gleichen Verlag 1993 unter dem Titel “Bittersüße Schokolade” (Titel des derzeit laufenden Kinofilms), Preis 24,80 DM

Originaltitel: Como agua para chocolate. Novela de entregas mensuales con recetas, amores y remedios caseros

Newsletter abonnieren