Ein Gespenst geht um

Ganz Asunción schien in Weiß gehüllt zu sein. Es war jedoch kein Schnee, sondern eine Vielzahl von Schleifen, Plakaten und Aufklebern, die das Hauptstadtpanorama derart prägten. Geziert mit Schriftzügen wie „Wir alle sind Fidel“, „Kraft für Fidel“ oder „Für ein friedliches Paraguay“ sollten diese Solidarität mit dem Großgrundbeseitzer und Viehzüchter Fidel Zavala demonstrieren. Dieser erlangte dann Mitte Januar seine Freiheit wieder, nachdem er 94 Tage zuvor von einer Guerilla, die sich Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) nennt, entführt worden war. Lösegeld in Höhe von einer halben Million US-Dollar sowie die Übergabe 30 geschlachteter Rinder an arme Gemeinden ließen seine EntführerInnen schließlich einlenken.
Es war nicht das erste Mal, dass die EPP in Erscheinung trat. Doch das meiste, was über sie bekannt ist, bleibt Spekulation, die meisten ihrer aktiven Mitglieder in Freiheit ohne Gesicht. Ihre Zahl wird auf 15 bis 60 geschätzt. Der Kreis der SympathisantInnen und UnterstützerInnen sei um einiges größer. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft, da diese laut EPP auf der extremen Armut der Massen aufbaue.
Die Wurzeln der Gruppe liegen in der linksradikalen Partei Patria Libre. In den 1990er Jahren beteiligte sich die Partei auf legale Weise am politischen Geschehen und wurde geleitet von den Führungsfiguren Juan Arrom und Anuncio Martí. Als der erhoffte Erfolg ausblieb, wechselten sie 2001 die Strategie: Teile der Partei waren in die Entführung von María Bordón de Debernardi verwickelt, der Schwiegertochter des ehemaligen Direktors des Wasserkraftwerks Itaipú, Enzo Debernardi. Die Entführte wurde nach Zahlung von zwei Millionen US-Dollar Lösegeld freigelassen.
Die Staatsgewalt wusste sich damals nicht anders zu helfen, als ihrerseits Arrom und Martí zu entführen und in einer leerstehenden Wohnung in den Außenbezirken von Asunción zu foltern. Dunkle Erinnerungen an die Militärdiktaturen werden hier wach. Beide kamen schließlich auf Druck von Angehörigen und der Presse frei, und flüchteten kurz darauf nach Brasilien.
Doch die Entführungen gingen weiter. Im September 2004 traf es Cecilia Cubas, die Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Verhandlungen blieben erfolglos, und fünf Monate später wurde die tote Cubas nackt und gefesselt in einem Erdloch aufgefunden. Angehörige von Patria Libre bestreiten bis heute ihre Beteiligung an der Tat. Osmar Martínez wurde als Drahtzieher zu 35 Jahren Haft verurteilt, doch er bezeichnet die gegen ihn vorliegenden Beweise als fingiert. Ein angeblich aufgefundenes Instruktionsvideo sowie diverse Emails sollen außerdem die Verwicklung der kolumbianischen FARC beweisen. Doch die ehemalige Guerillera Carmen Villalba widerspricht dem. Nach der Debernardi-Entführung wurde sie verhaftet und zu 18 Jahren hinter Gittern verurteilt und stellt seitdem aus dem Gefängnis heraus eine Art Stimme der bewaffneten Gruppe dar. Sie behauptet, die Verbindung zur FARC sei erfunden worden, um Gelder aus Kolumbien und den USA zur Terrorismusbekämpfung einzuwerben.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um die Gruppe. Im März 2008 trat sie dann unter ihrem heutigen Namen EPP erneut in Erscheinung. Damals zerstörten die gueriller@s mehrere Produktions‑
anlagen einer Sojaplantage, gegen deren Besitzer zuvor Vorwürfe wegen Pestizideinsatzes erhoben worden waren. Einen Monat später folgte ein Überfall auf eine Polizeistation in Hugua Ñandu, bei dem Waffen erbeutet wurden. Im Juli wurde der Großgrundbesitzer Luis Lindstroem entführt, der nach einer Zahlung von 350.000 US-Dollar freigelassen wurde. Ende 2008 attackierte die Gruppe einen Militärposten in Tacuatí und ließ diesen in Flammen aufgehen. Auf massiven Druck der Medien hin wurde von staatlicher Seite der „Plan Jerovia“ (Guaraní für „Glaube“) ins Leben gerufen. Eine Hundertschaft von Polizisten und Spezial‑
einheiten durchpflügte den Norden des Landes. Während es dabei zu Misshandlungen von campesin@s kam, konnten die Sicherheitskräfte keine Spuren der Guerilla finden. Zuletzt war im März 2009 von der EPP zu hören, als ihr ein glimpflich abgelaufener Bombenanschlag auf den Justizpalast von Asunción zugeschrieben wurde.
Das operative Zentrum der Gruppe soll sich im Norden des Landes befinden. In dieser Region im Dreieck der Departamentos San Pedro, Concepción und Amambay ist die ungleiche Landverteilung besonders ausgeprägt, es gibt viele GroßgrundbesitzerInnen, die Wälder abholzen, sich der extensiven Viehzucht und dem Anbau von gentechnisch manipulierten Soja widmen. Präsident Fernando Lugo machte sich vor seinem Wahlsieg in diesem Gebiet als Armenbischof einen Namen. Die Armut der Masse der Kleinbäuerinnen und -bauern stellt einen reichen Nährboden für politische Gruppierungen dar, die Besserung versprechen. Ihre sozialrevolutionäre Rhetorik verschafft der EPP natürlich auch Sympathie von Seiten der Kleinbäuerinnen und -bauern. Manche sprechen gar von einer Symbiose à la Robin Hood. Nach dieser Interpretation steckt die EPP das von ihr erbeutete Geld in Hilfsprojekte und finanziert soziale Proteste. Zu dieser Darstellung der Guerilla passt die Forderung der EPP, die Familie Zavalas solle 30 geschlachtete Rinder an indigene Gemeinden und Armensiedlungen abgeben. Dass es aber erst einer Guerilla für solch ein soziales Engagement bedürfe, spricht Bände über die schwache Zivilgesellschaft des Landes.
Die staatliche Seite spricht der Gruppe dennoch jegliche politische Intention ab. Keine Guerilla, sondern eine verbrecherische Bande treibe ihr Unwesen in einem Land, in dem Entführungen gut betuchter Personen so unüblich ja auch nicht sind. So wird behauptet, die EPP sei in Wirklichkeit eine Drogenmafia, die für ihre kriminellen Machenschaften nur ein politisches Käppchen aufgesetzt habe. Eigentlich legitime soziale Forderungen lassen sich so natürlich leicht kriminalisieren.
Präsident Fernando Lugo bleibt bei all dieser Spekulation auch nicht verschont. Rechte Kreise in Paraguay werfen ihm wegen seiner vermeintlich klassenkämpferischen Rhetorik die Anstachelung sozialer Verwerfungen und eine Mitschuld an der Gewalt vor. Andere sehen seine angebliche Tatenlosigkeit als Beweis für eine Sympathie mit der Guerilla oder meinen gar persönliche Kontakte zwischen ihm und der Gruppe ausmachen zu können, da einige der Beteiligten ehemalige Schüler seines Priesterseminars sein sollen. Arrom, der charismatische, ehemalige Chef von Patria Libre, den viele trotz seines Exils in Brasilien in Verbindung mit den Entführungen sehen, wird ebenfalls eine sehr enge Beziehung zum Präsident nachgesagt. Angeblich soll er auf einer Feier einer der Frauen gesehen worden sein, die den ehemaligen Bischof Lugo als Vater ihres Kindes proklamieren. Der Sinn einer solchen Verbindung dürfte sich allerdings ausschließlich MitarbeiterInnen der Regenbogenpresse erschließen.
Die einzigen Zusammenhänge, die sich zwischen Lugo und der Guerilla ausmachen lassen, liegen in den Stellungnahmen der EPP. Dort wird die sehr unbefriedigend verlaufende Agrarreform als einer der Gründe für die Aktionen genannt. Der Präsident seinerseits distanziert sich von jeglichem gewaltsamen Extremismus.
Die Linke nimmt Lugo dagegen die von dem ihm treuen Innenminister Rafael Fillizola eingeleitete „Operativo Triangulo“ übel, die ähnlich dem „Plan Jerovia“ erneut mehrere hundert Spezialkräfte in den Norden verlagert. Bei vielen weckt dies schlimme Erinnerungen an vergangene Tage. Erst nach der Zahlung des Lösegeldes im Fall Zavalas kam es zur Verhaftung einer Reihe vermeintlicher gueriller@s, welche die EPP logistisch unterstützt haben sollen. Es traf unter anderem die Tochter eines bekannten Funktionärs der Bauernorganisation OCN, die in Kuba studiert hatte.
Mag die Erfolglosigkeit bei der Suche nach den zentralen Aktiven der EPP vielleicht daran liegen, dass die EPP letztlich gar nicht existiert? Ist sie gar eine Fantasiegeburt der Presse und konservativer Kräfte, um Lugo in Verlegenheit zu bringen? Allzu dünn seien die Beweise, die auf die Existenz der Guerilla hinweisen, glauben die VertreterInnen dieser Theorie. Auch wenn diese Version sich einigen Zuspruchs erfreut, scheint sie angesichts des betriebenen Aufwands doch sehr abwegig.
Auf jeden Fall nutzt die Rechte dieses Durcheinander nur allzu gerne aus, um das schon seit einiger Zeit in der Luft schwebende Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo voranzutreiben. Neben dem Wirken der Guerilla – die jedoch schon lange vor Lugo aktiv war – werfen sie Lugo den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Dabei wird unterschlagen, dass Reformen nun einmal Zeit brauchen und Lugo mit der Neuaushandlung des Vertrages mit Brasilien über den Itaipú-Staudamm, sowie den Maßnahmen im Gesundheitsbereich wichtige Schritte gelungen sind. Sein „Programa Abrazo“ brachte außerdem bis heute über tausend Straßenkinder in sozialen Heimen unter.
Trotz der gezielt verzerrten Berichterstattung der mit den UnternehmerInnen des Landes verflochtenen Massenmedien fehlen für das Amtsenthebungsverfahren bisher noch die notwendigen Stimmen. Teile der Liberalen Partei PRLA, die Lugo ursprünglich unterstützte, fahren daher weiterhin schwere Angriffe gegen ihn. Vizepräsident Federico Franco, der als Teil der Exekutive den Präsidenten zwar kontrollieren, aber eigentlich unterstützen sollte, spinnt fleißig Intrigen und sieht sich wohl bereits als Lugos Erbe. Damit will die Colorado-Partei, die wegen Lugo ihre 68 Jahre dauernde Alleinherrschaft beenden musste, nicht leben. Doch mit der Ankündigung ihres Angeordneten Luis Alberto Castiglioni, mit seiner Gefolgschaft künftig das Amtsenthebungsverfahren zu unterstützen, könnte Francos Wunsch bald in Erfüllung gehen.
Offen ist, wie sich das Militär verhalten wird. Die Streitkräfte halten sich zwar seit den verheerenden Ereignissen um ihren damaligen Oberbefehlshaber Lino Oviedo, der 1996 und 1999 beinahe putschte, mit ihrer Einflussnahme auf die Politik zurück. Aber Spannungen zwischen Lugo und den Streitkräften sind offensichtlich. Und seit seinem Amtsantritt besetzte Lugo bereits mehrfach führende Generalsposten in den Streikräften neu.
Gerade die jüngsten Ereignisse in Honduras haben auch gezeigt, wie verfassungswidrige militärische Einflussnahme innerhalb kurzer Zeit per Wahlen nachträglich legitimiert werden kann. Diese Erfahrung könnte die Militärs zusätzlich anstacheln. Mit oder ohne Guerilla, dem Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.

Verloren im Meer voller Lügen

Marinas schön geschwungener Mund bleibt meist geschlossen. Es sind ihre großen dunklen Augen, mit denen sie mit der Welt kommuniziert. Aufmerksam, nachdenklich, aber eben still beobachtet sie alles und jeden um sich herum. Umgekehrt kann niemand in sie hinein gucken. Das, was in ihr vorgeht, hält sie fest in sich verschlossen. Die meisten halten Marina (Paola Baldión Fisher) daher nicht nur für stumm, sondern für dumm und verrückt. Dementsprechend hänseln und schlagen sie sie, wird sie angeschrien und herum gestoßen.
Als Marinas Großvater Nepomuceno (Edgardo Román) bei einem Erdrutsch ums Leben kommt, verlässt Marina ihr von Armut, Alkohol und einer strengen Tante bestimmtes Leben in einem Armenviertel in Bogotá. Zusammen mit ihrem Cousin Jairo (Julián Román) macht sie sich auf zur Karibikküste des Landes, um das Stück Land, von dem ihre Familie einst vertrieben wurde, zurück zu fordern. In einem kleinen klapprigen und quietschroten Renault eingezwängt, winden sie sich durch Serpentinenstraßen in Richtung Küste.
Der Spielfilm Retratos en un Mar de Mentiras („Portraits in a Sea of Lies“) des kolumbianischen Regisseurs Carlos Gaviria ist ein Roadmovie durch die atemberaubenden Landschaften Kolumbiens. Gleichzeitig ist er auch eine Reise in Marinas Vergangenheit sowie ins Innere des bewaffneten Konflikts im Land.
Kurve um Kurve bahnt sich auch Marinas Geschichte ihren Weg an die Oberfläche. Durch äußere, offensichtliche oder eher nebensächliche Eindrücke auf ihrer Reise stimuliert, dringen Fetzen von lange Verdrängtem in Marinas Bewusstsein. Meist wird sie dann ohnmächtig. Denn an was sie sich erinnert, ist nur schwer auszuhalten. Und genau so zaghaft, wie sie sich ihrer Vergangenheit stellt, beginnt sie auch zu sprechen.
Parallel zu Marinas persönlicher Geschichte dringen die ZuschauerInnen in die Gewaltspirale des kolumbianischen Bürgerkriegs ein, bei dem die Zivilbevölkerung seit Jahrzehnten zwischen die Fronten von Guerilla, Militär und Paramilitärs gerät. Marina und Jairo kommen auf ihrem Weg nach La Ceiba wiederholt mit diesem Konflikt in Kontakt. Am Straßenrand stehen ärmliche Hütten, Kinder betteln um etwas Geld. Es sind intern Vertriebene, die der Bürgerkrieg zwang, ihre Häuser zu verlassen und sich woanders niederzulassen. Auch die beiden Protagonisten werden unterwegs von Militärs kontrolliert. Einmal geraten sie sogar mitten in ein Gefecht zwischen den Regierungstruppen und der Guerilla. Carlos Gaviria macht hier deutlich, wie sehr neben den persönlich Betroffenen, das Leben und der Alltag Aller durch die Gewalt bestimmt ist. Ein einfaches Fortbewegen oder Reisen ist nicht möglich.
Marinas heftige Reaktionen auf die Soldaten deuten die Ursache ihres Traumas bereits an. Am Ziel ihrer Reise angekommen, überschlagen sich die Ereignisse und die Geschichte droht, sich zu wiederholen. Carlos Gaviria lässt seiner Hauptdarstellerin Paola Baldión Fisher viel Raum sich und ihr grandioses Minenspiel zu entfalten. Die Kamera begleitet sie von ganz nah, ruht immer wieder auf ihrem ebenmäßigen Gesicht. Eindrucksvoll bringt Paola Baldión, die vor dem Film hauptsächlich in Fernsehserien und Telenovelas mitspielte, mit minimalen Veränderungen ihrer Mimik eine große Bandbreite an Gefühlen zum Ausdruck.
Retratos en un Mar de Mentiras erzählt eine Geschichte von Trauma und Gewalt, vom Zustand einer Gesellschaft inmitten des Krieges. Er kritisiert sowohl die verschiedenen Konfliktparteien, die die Zivilgesellschaft zwischen ihren Interessen aufreiben, als auch das „Meer von Lügen“, also die gezielte Propaganda, die die Vertriebenen zu Ausgestoßenen stigmatisiert. Der Rest der Gesellschaft begegnet deren Schicksal oftmals mit Gleichgültigkeit. So sind die über vier Millionen Vertriebenen in Kolumbien die wahren ProtagonistInnen von Gavirias Film.

Retratos en un mar de Mentiras // Spielfilm von Carlos Gaviria // 90 min. // Kolumbien 2009 // Spanisch, engl. UT // Berlinale Sektion Generation 14plus

Dampfkochtopf Oaxaca

Das Gute vorweg: Trotz der nicht verheilten Wunden, die der Konflikt 2006/2007 mit ungefähr 500 Festgenommenen, 380 Folterfällen, 26 Ermordeten und sieben „Verschwundenen“ hinterlassen hat, besteht die soziale Bewegung in Oaxaca immer noch. So ist auch ihr 2006 gegründetes organisatorisches Dach, die Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO), weiterhin existent. Allerdings ist die APPO tief gespalten durch einige ihrer Gruppen, die sich mit Hingabe internen Kämpfen widmen. Auch die Regierung des Bundesstaats hat ihren Teil dazu beigetragen. Einerseits ist es ihr gelungen, Zwietracht unter den Gruppen zu säen, andererseits hat sie durch die massive Repression, die Folterfälle und selektiven Verhaftungen Angst bei den AktivistInnen geschürt. Doch trotz aller Probleme ist die soziale Bewegung in Oaxaca nicht am Ende, im Gegenteil: Sie ist lebendiger als zuvor. Doch hat sie ihre Lektion von 2006, dem Jahr ihrer gewaltsamen Niederschlagung, gelernt und agiert nicht mehr so sichtbar. Stattdessen arbeitet jeder Sektor auf seinem Gebiet weiter. Um es mit den Worten des Intellektuellen Gustavo Esteva zu sagen: „Mit der Repression von 2006 haben die Bundes- und die Bundesstaatsregierung nur einen Deckel auf den Dampfkochtopf gepresst, der weiterhin kocht und kurz vor der Explosion steht.“
In der Tat konzentrieren sich in Oaxaca soziale Elemente von höchster Explosivität, die detonieren könnten, falls sich der derzeitige Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) entscheiden sollte, bei den Gouverneurswahlen 2010 Jorge Franco Vargas als Kandidaten aufzustellen. Vargas, in Anspielung auf die Hollywood-Mörderpuppe „El Chucky“ genannt, war als damaliger Innenminister der direkt Verantwortliche für die gewaltsame Räumung des Protestcamps der LehrerInnen im Juni 2006, die die soziale Revolte auslöste.
Inzwischen hat sogar der Oberste Gerichtshof Mexikos SCJN die Schuld von Ruiz Ortiz an der Repression festgestellt. In seinem Gutachten vom 14. Oktober heißt es, der Gouverneur habe die Menschenrechte schwer verletzt. Allerdings hat das Gutachten nur einen Empfehlungscharakter für andere Institutionen, was de facto bedeutet, dass es keinerlei Konsequenzen hat. Es ist es nur ein weiterer Fall, der die Straflosigkeit beweist.
So wird Ruiz Ortiz nicht nur auf seinem Gouverneursposten bleiben, sondern auch künftig keinerlei strafrechtliche oder politische Verantwortung übernehmen müssen. Zu verdanken hat er dies den bestehenden gesetzlichen Leerstellen, aber vor allem der Komplizenschaft, die immer noch zwischen der Exekutive, Legislative und Judikative besteht.
Um das Ausmaß der Ungerechtigkeit in der Strafverfolgung zu begreifen, muss man sich vor Augen führen, dass in Mexiko und speziell in Oaxaca verschiedene Indígenas ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie aus Hunger Leguane gejagt oder Schildkröteneier gegessen hatten.
Die Gouverneure hingegen können sich totaler Straffreiheit erfreuen. Ulises Ruiz ist da kein Einzelfall. Nehmen wir nur den Gouverneur von Puebla, Mario Marín, der erwiesenermaßen Kinderschänder schützt und die in diesen Fällen recherchierende Journalistin Lydia Cacho festnehmen ließ (siehe LN 380). Oder Enrique Peña Nieto, der als Gouverneur des Estado de México für die Repression im Fall Atenco verantwortlich ist (siehe LN 384). Schlimmer noch, diesen Politikern scheint eine große Karriere bevorzustehen. Peña Nieto gilt als aussichtsreichster Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012, unterstützt vom Mediengiganten Televisa und der alten Garde seiner Partei PRI. Ulises Ruiz hingegen strebt den Parteivorsitz der PRI an, sobald sein Mandat 2010 endet.
Nein, die Bedingungen unter denen die MexikanerInnen momentan leben müssen, sind alles andere als vorteilhaft. Ihr Leben ist geprägt von der Gewalt, der politischen, der sozialen und der, die von der organisierten Kriminalität ausgeht und das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Im Fall von Oaxaca gilt zudem die Fortführung eines politischen Systems, das der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einst auf den Punkt brachte: „Mexiko, das ist die perfekte Diktatur“. Damit gemeint ist die Fähigkeit des politischen Systems unter der PRI, sich selbst immer wieder neu zu erfinden und sich so seit fast 80 Jahren an der Macht zu halten. So passt auf Oaxaca auch nach wie vor der Titel der Kurzgeschichte des Schriftstellers Augusto Monterroso: „Und als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da.“
Und der Dinosaurier namens PRI will immer noch weiter machen. Die Bundesstaatswahlen in Oaxaca rücken näher und Ulises Ruiz und die Parteiführung konzentrieren all ihre Kräfte und die öffentlichen Mittel darauf, an der Macht zu bleiben, um so bei den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder ganz das Land zu übernehmen.
Dabei wird Ulises Ruiz allerdings den Überdruss der Bevölkerung Oaxacas umschiffen müssen, angesichts eines politischen Systems, das die Armut verwaltet, statt sie zu bekämpfen. In Oaxaca konzentrieren sich 49 der 100 ärmsten Gemeinden Mexikos. Laut einer Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen sind die Bedingungen in einigen dieser Gemeinden mit denen im subsaharischen Afrika vergleichbar. Verschärft wird die Armutssituation durch einen deutlichen Rückgang der remesas, den überlebenswichtigen Geldtransfers der in die USA emigrierten Oaxaqueños. Deren Summe sank im ersten Halbjahr 2009 um ca. 78,5 Millionen US-Dollar, im Vergleich mit dem Vorjahr bedeutet das einen Rückgang um 6,2 Prozent.
Ein weitere Hürde für die PRI könnte sein, dass fast alle oppositionellen politischen Kräfte in Oaxaca ihre Bereitschaft erklärt haben, sich zu einer großen Allianz zusammenzuschließen, um das fast 80 Jahre währende autoritäre Regime der PRI zu beenden, das den Bundesstaat in einer beleidigenden Armut belassen hat.
Die Explosivität dieser Gemengenlage erhöht sich zudem durch einen weiteren Akteur, die Guerilla Revolutionäres Volksheer EPR. Im Mai 2007 „verschwanden“ in Oaxaca-Stadt zwei ihrer Mitglieder, Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz Sánchez. Nach Angaben der EPR sind sie verhaftet worden (siehe LN 401). Seitdem forderte die EPR in mehreren Kommuniqués einen Beweis von Ulises Ruiz dafür, dass sie noch am Leben sind. Im Falle einer Verweigerung kündigte sie weitere militärische Aktionen an. Ihre Schlagkraft hat die EPR mit ihren Bombenanschlägen auf Erdgas- und Erdölleitungen in mehreren Bundesstaaten bereits bewiesen.
Währenddessen setzen viele AktivistInnen auf den historischen Zyklus, der sich Jahr 2010 im schließen soll. Nach der mexikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1810 und dem Beginn der Revolution 1910 erwarten sie Großes für das nächste Jahr: „Wir sehen uns 2010“ ist an vielen Wänden zu lesen. Angesichts all dieser Umstände nimmt auch die Unruhe bei der Bundes- und der Bundesstaatsregierung zu. Sie reagieren mit der Intensivierung ihrer Strategien der Aufstandsbekämpfung und der Repression: Selektive Festnahmen, Strafmaßnahmen gegen die sozialen KämpferInnen und Einschüchterung der VerteidigerInnen der Menschenrechte. Oaxaca steht ein heißes Jahr bevor.

Übersetzung: Manuel Burkhardt

Wasser predigen und Wein saufen

„Wir leiden unter einer politischen Verfolgung, die sich gegen die Agrarreform, den Kampf der Menschen für ihre Rechte und gegen die Demokratie in Brasilien richtet.“ Mit diesen Worten rechtfertigte João Paulo Rodrigues, Führungsmitglied der Bewegung der Landlosen (MST), eine Klage, die seine Organisation Anfang November bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf einreichte. Anlass war der Beschluss des brasilianischen Kongresses im Oktober, eine parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) gegen die MST ins Leben zu rufen.
Kurze Zeit nach der Entscheidung des Parlaments für die CPI wandte sich die Landlosenorganisation an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Die Beschwerde bei dieser Kommission, die der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angehört, richtet sich gegen den brasilianischen Staat. Es geht um den von rechten Parteien und der Agrarlobby betriebenen Untersuchungsausschuss und mehr: Die Kriminalisierung sozialer Bewegungen und aller Menschen, die sich organisieren und für ihre Rechte stark machen.
Es ist bereits der dritte parlamentarische Untersuchungsausschuss innerhalb von vier Jahren gegen die Landlosenbewegung. Ins Parlament getragen hat den Antrag der so genannte Agrarierflügel, die bancada ruralista, eine Vereinigung von PolitikerInnen, die selbst GroßgrundbesitzerInnen sind oder solchen nahe stehen. Stets geht es darum, den Aktivitäten der Landlosen, Kleinbauern und -bäuerinnen Steine in den Weg zu legen und ihren Kampf für eine Agrarreform zu diskreditieren. Anlass sind zumeist die Aktionsformen des MST: Die Landlosen besetzen brach liegendes Land und siedeln sich darauf an. Dabei kommt es oft zu Auseinandersetzungen mit lokalen Sicherheitsunternehmen oder der Polizei. Rechte PolitikerInnen und Organisationen stellen dies als kriminellen Landraub dar. Dabei geht jeder Besetzung stets eine intensive juristische Arbeit voraus, um nachzuweisen, dass der betreffende Landbesitz illegal ist und schon längst dem bestehenden aber unzureichenden Landreformprogramm hätte unterzogen werden müssen.
Dieses Mal begann die Kriminalisierungskampagne der Agrarlobby mit dem Vorwurf, der MST nahe stehende Nichtregierungsorganisationen würden öffentliche Gelder veruntreuen oder nicht wie vereinbart für soziale Maßnahmen verwenden. Die Reportage, die Anfang September in der Zeitschrift Veja erschien, sprach auch von Steuerhinterziehung bei ausländischen Spenden und beschwor einen Komplott zwischen der regierenden Arbeiterpartei PT und der Bewegung mit dem Ziel, den großen Agrarunternehmen das Leben schwer zu machen. Auch die Agrarreformbehörde INCRA soll an den Unregelmäßigkeiten beteiligt gewesen sein.
Rolf Hackbart, Präsident der INCRA, wies diese Vorwürfe weit von sich. Zuletzt am 17. November erklärte er vor der Presse, dass alle Abrechnungen bezüglich der Verwendung von Bundesgeldern korrekt und veröffentlicht seien. „Ich sehe keinerlei Notwendigkeit für diesen Untersuchungsausschuss“, erklärte Hackbart.
Mit diesen Vorwürfen allein gelang es der Agrarierfraktion nicht, genügend ParlamentarierInnen auf ihre Seite zu ziehen. So startete die verbündete Presse Ende September eine weitere Offensive: Überall waren Bilder von MST-AktivistInnen zu sehen, die eine Orangenplantage besetzen und Obstbäume fällen. Die Empörung war groß und wurde weiter geschürt, zumal der Hintergrund der Aktion konsequent verschwiegen wurde: Der Orangensaftproduzent Culturale hatte das betreffende Land illegal erworben und ist bekannt dafür, mit undurchsichtigen Methoden Land in Brasilien zu erwerben. Doch dies war egal, nach dieser Pressekampagne kamen genug Stimmen zur Einsetzung der CPI zustande.
Die Rechte hat einen Punktsieg errungen, die sozialen Bewegungen, vor allem der internationale Dachverband Vía Campesina, mobilisieren gegen diese Form der staatlichen Kriminalisierung. Und die Regierung unter Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva sowie die teilweise MST-nahen Koalitionspartner stecken in einer Zwickmühle. Sie versuchen, die Kontrolle im Untersuchungsausschuss zu übernehmen, um so eine Vorverurteilung des MST und deren SympathisantInnen in Regierung und Behörden zu verhindern. Dies aber kostet viel Mühe und Feilschen im politischen Geschäft und bedeutet Zugeständnisse an anderen Fronten. Bis Ende November ist es noch nicht gelungen, alle Namen der Mitglieder zu bestimmen und die CPI einzurichten.
„Es wird nicht die CPI des MST, sondern die CPI der Barbarei sein,“ kommentiert der Theologe und Professor Claudemiro Godoy de Nascimento in einem Beitrag für die alternative Presseagentur Adital. „Mit Sicherheit werden nicht die Massaker, die Morde und die illegale Landaneignung thematisiert (Landraub ist erlaubt, Orangenbäume fällen nicht). Es wird nicht um die pistoleiros gehen, die Milizen in Händen der GroßgrundbesitzerInnen und nicht um die Agrarreform. Es geht schlicht und einfach darum, den MST zu verurteilen.“ (siehe Kasten Seite 42 bis 43).
Das Tauziehen um die schlagkräftige Landlosenbewegung hat allerdings noch einen ganz konkreten Hintergrund. Im August hatte Präsident Lula angekündigt, den Produktivitätsindex zu aktualisieren. Dieser Index definiert, ob ein Agrarbetrieb als produktiv gilt oder nicht. Wird er angesichts großer Ländereien und geringer Produktivität pro Hektar als unproduktiv eingestuft, können Teile des Landbesitzes enteignet und an Landlose verteilt werden.
Laut Verfassung muss dieser Produktivitätsindex alle fünf Jahre angepasst werden. Doch in der Praxis geschah dies zuletzt 1980. Dabei ist die durchschnittliche Produktivität in den vergangenen 30 Jahren um jährlich drei bis sechs Prozent angestiegen. Bei einer Anpassung des Index würden laut Schätzungen der Landpastorale CPT 400.000 beziehungsweise zehn Prozent der Besitztümer als unproduktiv eingestuft werden. Kein Wunder, dass die Agrarlobby mit allen Mitteln versucht, dieses Vorhaben zu verhindern. Und die Kriminalisierung derjenigen, die vom Einhalten der Rechtsgrundsätze profitieren würden, ist ein wirksames Mittel, von diesem Missstand abzulenken.
Wie dramatisch dieser ist, verdeutlichen Zahlen zur Landkonzentration und Repression in Brasilien. Laut offiziellen Statistiken von 2006 nennen 15.000 LandbesitzerInnen 98 Millionen Hektar ihr Eigen. Ein Prozent der Großgrundbesitzer verfügt über 46 Prozent des bebaubaren Landes. Ein Großteil dieser Ländereien wurde über Jahrzehnte hinweg illegal angeeignet – in Brasilien wird dies grilagem genannt –, mittels Bestechung, juristischen Tricks oder schlicht Raub, nicht selten unter gewaltsamer Vertreibung der dort lebenden Menschen. Nach Angaben des MST wurden in den vergangenen Jahren über 1.500 Landarbeiter ermordet. In gerade mal 80 Fällen mussten sich die Täter oder die Anstifter vor Gericht verantworten.
Obwohl Präsident Lula sich eine gerechtere Landverteilung auf die Fahnen geschrieben hat, ist von einem Fortschritt der Agrarreform nichts zu spüren. Zwar wurden mehrfach schöne Zahlen veröffentlicht, denen zufolge hunderttausende landlose Familien auf fruchtbaren Böden angesiedelt wurden. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich vieles als Augenwischerei. Etliche der gezählten Familien lebten bereits seit Jahren auf dem Land, das ihnen angeblich kürzlich zugeteilt wurde. Zudem gab es finanzielle Kürzungen in den Programmen, die die Agrarreform sozial unterstützen sollen.
All dies geschieht vor dem Hintergrund einer strukturellen Veränderung der industriellen Landwirtschaft, die in den letzten Jahren begann. Die wichtigsten Akteure sind nicht mehr private GroßgrundbesitzerInnen, sondern transnationale Unternehmen, die das Agrobusiness in Brasilien vorantreiben. Sie sind für einen Großteil der Abholzungen der Urwälder verantwortlich und haben erfolgreich durchgesetzt, dass gentechnisch verändertes Saatgut bei Soja, Mais und anderen Pflanzen zum Einsatz kommt. Monokulturen setzen sich im ganzen Land durch und drängen die arbeitsintensivere kleinbäuerliche Landwirtschaft an den Rand. Diese High-tech-Agrarwirtschaft ist eines der Zugpferde der brasilianischen Exportwirtschaft und wird von der Regierung in jeder Hinsicht gefördert, ohne Rücksicht auf ökologische und soziale Bedenken.
So kommt es in Brasilien nach wie vor zu Landkonflikten, und die Interessen der modernen Agrarier werden von konservativen PolitikerInnen, korrupten JustizbeamtInnen, uniformierten und selbsternannten Sicherheitskräften zumeist mit Gewalt durchgesetzt. Ein Beispiel ist der südliche Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo seit 2005 die lokale Polizeieinheit namens Militärbrigade in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Justiz brutal gegen die Landlosen vom MST vorgeht. Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf AktivistInnen und Vertreibungen von ganzen Ansiedlungen, auch wenn diese teilweise längst legalisiert sind. Parallel dazu versucht die Justiz, im Einklang mit der Gouverneurin Yeda Crusius, die Landlosenbewegung als Guerilla beziehungsweise kriminelle Vereinigung zu verfolgen.

Die Verbrechen der anderen
Interamerikanischer Gerichtshof verurteilt Brasilien – Mordversuch gegen Zeugin im Prozessfall Dorothy Stang
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat am 10. November den brasilianischen Staat wegen Missachtung der juristischen Rechte und der Verpflichtung zum juristischen Schutz im Falle des Kleinbauers Sétimo Garibaldi verurteilt. Garibaldi wurde vor elf Jahren ermordet. Er starb bei Auseinandersetzungen auf einem Camp der Landlosenbewegung MST auf der Farm São Francisco in Querência do Norte im südlichen Bundesstaat Paraná. Das Gericht sieht den Fall als ein Beispiel für die Parteilichkeit der brasilianischen Gerichte bei der Behandlung von Gewalt auf dem Land und für das Versagen der Gerichte im Kampf gegen Milizen der GroßgrundbesitzerInnen.
Der Interamerikanische Gerichtshof verlangt nun eine Wiedergutmachung für die Hinterbliebenen. Zudem wird der brasilianische Staat verpflichtet, auf eigene Kosten das Gerichtsurteil im offiziellen Nachrichtenblatt des Bundes und in Zeitungen mit hoher Auflage, die national und in Paraná vertrieben werden, zu publizieren. Zudem muss das Urteil auf den Homepages im Internet des Bundesstaats Paraná und des Bundes für ein Jahr publiziert werden. Die Familie Garibaldis muss außerdem für materielle und moralische Schäden entschädigt werden; der brasilianische Staat muss für die Prozesskosten aufkommen.
Am 27. November 1998 erschienen Vermummte mit Waffen auf der Besetzung der MST und begannen, auf die Landlosen zu schießen, wie der Sohn von Garibaldi der Lateinamerikanisch-Karibischen Kommunikationsagentur ALC erzählte. Einige der Vermummten bekannten freimütig, dass sie Polizisten außer Dienst seien.
Später fand der Sohn seinen Vater Sétimo Garibaldi zusammengesunken vor seinem Zelt; er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Es handelt sich um die dritte Verurteilung Brasiliens auf dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Am 26. November wurde eine Hauptzeugin im Prozess zum Mordfall Dorothy Stang niedergeschossen, wie die brasilianische Tageszeitung Folha de São Paulo berichtete. Obwohl sie mehrfach von Kugeln in Beinen, Mund und Kopf getroffen wurde, starb Roniery Bezerra Lopes nicht und wird in einem Krankenhaus versorgt. Der Anschlag erfolgte drei Stunden nachdem Lopes eine gerichtliche Aufforderung, im Prozess gegen Regivaldo Pereira Galvão auszusagen, erhielt.
Dabei soll untersucht werden, ob sich Galvão das Grundstück 55 der Gemeinde Anapu (Bundesstaat Pará) illegal angeeignet hat. Galvão wird beschuldigt, im Rahmen eines Landkonflikts um das Grundstück 55, im Jahr 2005 den Mord an der Nonne Dorothy Stang in Auftrag gegeben zu haben. Im Mordprozess sagte Galvão aus, nichts mit diesem Grundstück zu tun zu haben.
Allerdings sagte Galvão bereits 2008 aus, Besitzer des Grundstücks 55 zu sein. Auf diesem Grundstück wurde die US-amerikanischstämmige Nonne, die die brasiliansiche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, ermordet; der Fall sorgte weltweit für Aufsehen. Nach Aussagen einer anderen Nonne, sollen bei Morden Schüsse in den Mund die Bevölkerung einschüchtern und signalisieren, dass jeder ermordet wird, der Aussagen vor Gericht macht. Währenddessen bat am 8. Dezember der geständige Mörder von Dorothy Stang, seinen Fall erneut aufzurollen. Seine Verteidigung erhofft sich eine Milderung der Haftstrafe, falls er aussagt, dass er keinen Lohn für den Mord bekommen habe. Sollte das Gericht diese Aussage annehmen, würde dies bedeuten, dass die Verfahren gegen Regivaldo Pereira Galvão und Vitalmiro Bastos de Moura, denen vorgeworfen wird, den Mord an Stang in Auftrag gegeben zu haben, eingestellt werden müssen. Sowohl Galvão als auch de Moura sind derzeit auf freiem Fuß.
// TFP

Spannungen an der Grenze

Die aktuellen Auseinandersetzungen begannen während eines Fußballspiels. Am 11. Oktober wurde eine Gruppe von kolumbianischen Straßenhändlern entführt, die sich zu einem Fußballturnier auf der venezolanischen Seite der Grenze getroffen hatte. Während das Amateur-Derby lief, fuhren Kleintransporter auf den Platz und 25 Bewaffnete in schwarzen Uniformen umstellten die Spieler. Mit Namenslisten wurden zwölf Männer, darunter acht Kolumbianer, ausgesondert, auf die Autos geladen und mitgenommen. Die Entführung machte zu diesem Zeitpunkt nur in den lokalen Medien Schlagzeilen. Erst als die Entführten zwei Wochen später in der venezolanischen Ortschaft Chururú erschossen aufgefunden wurden, beachtete auch die internationale Presse den Fall. Am schnellsten äußerte sich der kolumbianische Präsident Álvaro Uribe. Er behauptete, die Mörder seien Mitglieder der kolumbianischen Guerilla Heer der Nationalen Befreiung (ELN) und Venezuela biete den Aufständischen Unterschlupf. Ihm sekundierte der Gouverneur Tachiras, César Pérez Vivas. Der Oppositionspolitiker der christlich-sozialen Partei COPEI hatte vor wenigen Wochen Schlagzeilen gemacht, als er behauptete, der venezolanische Innenminister sei ein Kommandant der ELN.
Inzwischen steht Pérez Vivas selber im Mittelpunkt der Ermittlungen. Der Gouverneur hat in seinem Bundesstaat ein Gesetz erlassen, dass paramilitärische Sicherheitsinitiativen legalisiert und soll sich laut Informationen der Bundesregierung in Kolumbien mit Vertretern der dortigen Paramilitärs getroffen haben. „Wir werden nicht zulassen, dass Pérez Vivas die Souveränität des venezolanischen Staates untergräbt“, hatte Vizepräsident Ramón Carrizales schon im September angekündigt. Auch Iris Varela, in Sicherheitsfragen stets gut informierte Parlamentarierin der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (Psuv), beschuldigt den Gouverneur, die Paramilitärs zu unterstützen. Es würden Foto- und Tonaufnahmen existieren, die Funktionäre der Landesregierung Tachira zusammen mit Paramilitärs zeigen. „César Pérez Vivas ist dabei, informelle Sicherheitsstrukturen aufzubauen und den Privatunternehmen zur Verfügung zu stellen.“ Dabei würde die Regionalregierung auf die selben kolumbianischen Paramilitärs zurückgreifen, die in der Region zu sozialen Säuberungen aufgerufen hätten.
Varela bezog sich dabei auf die Flugblätter, die Paramilitärs unmittelbar nach dem Mord an den Straßenhändlern verteilt hatten. Darin drohten sie Menschen, die „mit den Streitkräften kollaborieren“, mit „sozialen Säuberungen“ – ein Begriff, der in Kolumbien für die Ermordung sozial unerwünschter Personen verwendet wird. Außerdem forderten die anonymen VerfasserInnen die LadenbesitzerInnen, Unternehmen und Schulen in der Region auf, am 30. Oktober zu schließen. Wer der Forderung nicht nachkomme, müsse die Konsequenzen tragen. Die Drohung wirkte: Etwa tausend und damit rund 90 Prozent der Läden blieben nach Schätzungen lokaler Medien in den Orten an der Grenze zu Kolumbien geschlossen. Laut der örtlichen Nationalgarde ist dies ein einmaliger Vorgang. Zwar habe es in den letzten Monaten immer wieder Drohungen gegeben, aber niemals hätten sie eine solche Wirkung gehabt. Das Militär verstärkte am Wochenende die Präsenz in drei der betroffenen Gemeinden und verhaftete acht Kolumbianer sowie zwei Venezolaner. Unter den Verhafteten befindet sich ein bekannter Führer der Paramilitärs.
Bereits zwei Tage später kam es zum nächsten Zwischenfall: In der Gemeinde Pedro María Ureña schossen unbekannte Motorradfahrer auf einen Kontrollpunkt der Nationalgarde. Die Kugeln trafen zwei der Gardisten in den Rücken. Sie starben an den Verletzungen. Der für die Region zuständige Brigadegeneral, Franklin Márquez, bezeichnete die Täter als Angehörige von „irregulären Gruppen, die Angst und Unsicherheit in der Region verbreiten wollen“ – ein deutlicher Hinweis, dass er damit Paramilitärs meinte. Dieser Überfall brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Präsident Hugo Chávez forderte César Pérez Vivas auf, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken und riet dem Oppositionspolitiker, sich um ein Asyl in Peru zu kümmern. Dort sind mehrere venezolanische Oppositionspolitiker untergetaucht, gegen die in Venezuela Strafverfahren laufen.
Die Vorgänge weisen darauf hin, dass sich irreguläre rechte Milizen an der Grenze zu Kolumbien so fest etabliert haben, dass sie die sozialistische Regierung in Caracas offen herausfordern können. Damit rückt das Problem des Paramilitarismus nun ins Zentrum der venezolanischen Politik. Untrennbar verbunden ist der Konflikt mit dem Nachbarland Kolumbien. Die venezolanischen Behörden sprechen zwar von „irregulären Kräften“, „Bandenkriminalität“ oder „Paramilitärs“, gemeint sind aber die Nachfolgeorganisationen der Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC), die dort nach einer aktuellen Bilanz der Staatsanwaltschaft für mindestens 25.000 Morde verantwortlich sind. Als scheinbar unabhängiger Kriegsakteur haben sie im Auftrag der Regierung Uribe den Konflikt mit Guerilla entscheidend beeinflusst. BeobachterInnen fühlen sich unterdessen an die 1980er Jahre in Nicaragua erinnert. Dort hatten mit den Contras ähnliche informelle Verbände, die mit Hilfe der USA von den rechts regierten Nachbarländern aus agierten, die sozialistische Regierung der FSLN in einen zermürbenden Kleinkrieg verwickelt. Auch aktuell kann die rechte Regierung in Kolumbien mit Unterstützung der USA rechnen. Erst Ende Oktober unterzeichneten Barack Obama und Alvaro Uribe eine Vereinbarung über sieben neue Militärstützpunkte für die USA in Kolumbien.
Ein weiteres Indiz für die zunehmenden Spannungen zwischen den Nachbarländern ist die Verhaftung von drei Kolumbianern Ende November, die als Mitarbeiter der kolumbianischen Geheimpolizei (DAS) in Venezuela spioniert haben sollen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Verhafteten zahlreiche Unterlagen sichergestellt, welche die Tätigkeit der mutmaßlichen Agenten belegen. Ihr Ziel sei gewesen, Informationen über die venezolanische Armee zu beschaffen. Die kolumbianische Regierung dementierte umgehend die Zugehörigkeit der Verhafteten zur Geheimpolizei. Die kolumbianische Seite hatte auf ähnliche Vorwürfe immer wieder geantwortet, dass Mitarbeiter der DAS ein „ausdrückliches Verbot“ hätten, sich nach Venezuela zu bewegen.
Die jüngsten Ereignisse bedeuten eine weiteren Tiefpunkt in den diplomatischen Beziehungen beider Länder, die seit Monaten auf Eis liegen, nachdem die kolumbianische Regierung behauptet hatte, die Chávez-Regierung habe Waffen an die kolumbianische Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbien (Farc) verkauft. Die mutmaßlichen Beweistücke entpuppten sich zwar tatsächlich als venezolanische Waffen. Sie waren allerdings bereits vor Chávez‘ Amtszeit durch die andere Guerilla ELN bei einem Angriff auf das venezolanische Militär erbeutet worden.

Unklares Profil

Das kolumbianische Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) hat Ende September in öffentlichen Vorwahlen über seinen Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im Mai 2010 abstimmen lassen. Dabei hat der eigentliche Favorit und ehemalige Verfassungsrichter Carlos Gaviria mit 201.115 Stimmen gegen Gustavo Petro mit 220.912 Stimmen verloren. Der dritte Kandidat, Edison Lucio Torres, spielte nur eine Nebenrolle. Die Beteiligung blieb äußerst niedrig. Wahlberechtigt waren nicht nur Parteimitglieder, sondern alle der 28,7 Millionen ins Wahlregister eingetragenen KolumbianerInnen. Der Sieg Petros war überraschend, die folgenden Spannungen innerhalb der Partei allerdings vorhersehbar.
Gaviria gab seinen Parteivorsitz noch am Wahlabend ab und gab zu verstehen, er werde die Kampagne von Petro nicht aktiv unterstützen. Das PDA befindet sich nun in einem Spannungsverhältnis: In der Partei unterstützte man bisher mehrheitlich Gaviria, Petro ist nun aber offizieller Kandidat. Es geht dabei nicht nur um Personen, sondern um miteinander unvereinbare Programme. Auf eine/n neue/n Vorsitzende/n konnte sich die Partei bisher nicht einigen. Man unterstütze Petros Kandidatur aber einstimmig, ließ das Exekutivkommittee verlauten.
Gustavo Petro ist Ex-Mitglied der Guerilla M-19, die 1991, ermöglicht durch die neue Verfassung, ihre Waffen ablegte und als Partei ins Parlament einzog. Sie ist heute als sogenannte Vía Alterna (etwa Alternativer Weg) Teil des Bündnisses PDA.
Petros Projekt der convergencia (in etwa: Übereinstimmung, Zusammengehen) mit allen, die eine erneute Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Uribes bei den Präsidentschaftswahlen 2010 verhindern wollen, wird in der kolumbianischen Presse denn auch als das einer moderaten, demokratischen Linken bezeichnet. Sie könne eine tatsächliche politische Alternative zur Uribe-Koalition darstellen, ist der Tenor.
Die „Rechte“ innerhalb des PDA wird als fragmentiert bezeichnet und scheint von einzelnen bekannten PolitikerInnen abhängig zu sein, die des öfteren auch gegeneinander vorgehen. Dennoch hat diese Strömung seit Anfang des Jahres 2009 an Stärke gewonnen. Unter anderem hat sich dadurch die Zusammensetzung des Exekutivkommittees der Partei zu ihren Gunsten verändert. Ein traditioneller Klientelismus macht sich zudem auch in der PDA immer mehr bemerkbar.
Die „strategischen Allianzen“, die Petro vorschlägt, beziehen auch den Präsidentschaftskandidaten der Liberalen Partei, Rafael Pardo, und den ehemaligen Bürgermeister von Bogotá, Lucho Garzón, mit ein. Pardo hatte bis 2004 den rechtsgerichteten Präsidenten Uribe unterstützt, war danach aber in die Liberale Partei zurückgekehrt. Garzón war bis Mai 2009 Mitglied des PDA und hat mit zwei anderen ehemaligen Bürgermeistern im September die Grüne Partei „übernommen“, die Ende der 1990er Jahre vom prominenten Entführungsopfer Ingrid Betancour gegründet worden war. Er tritt ebenfalls als Präsidentschaftskandidat gegen Uribe an. Sogar uribistische Sektoren, die den Paramilitarismus ablehnten, sollten laut Petro unter Umständen als „demokratische Rechte“ Teil des Bündnisses sein. Vielen SenatorInnen, die Uribe unterstützen, werden aber gerade Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen vorgeworfen; gegen über 60 wird seit letztem Jahr strafrechtlich ermittelt. Heftige Diskussionen hat es deshalb bereits zwischen den Organisationen der Opfer des Paramilitarismus und Staatsterrorismus und Teilen der Partei gegeben, wenn auch Petro die bekannten Verbindungen zwischen PolitikerInnenn und Paramilitärs immer verurteilt hat. Die Frage, wie stabil und kohärent eine solche Koalition des Polo mit dem „traditionellen Sektor der Politik“ sein könnte, ist also angebracht.
Der ursprüngliche Favorit des PDA, Carlos Gaviria, warnte vor Bündnisverhandlungen ohne jede Vorbedingung: „Wir können nicht alles über Bord werfen, was wir aufgebaut haben, wenn wir Uribe wirklich schlagen wollen“. Man brauche auf jeden Fall einen eigenen Kandidaten des PDA mit klarem Profil, und dies war auch auf dem Parteikongress im Februar mit der Parteibasis diskutiert und beschlossen worden. Ohne die Forderung nach strukturellen Veränderungen in der Politik unterscheide sich der Polo nicht mehr von den traditionellen Parteien.
Gaviria war noch im Februar auf dem Zweiten Parteikongress zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 hatte er als Gegenkandidat zu Uribe mit 20 Prozent der Stimmen immerhin das beste Ergebnis der kolumbianischen Linken überhaupt erzielt. Er repräsentiert den linken Flügel innerhalb des Bündnisses, wie zum Beispiel die Unabhängige und Revolutionäre Arbeiterbewegung (MOIR) oder die Kommunistische Partei Kolumbiens und wird von Gewerkschaften und großen Teilen der sozialen Bewegungen unterstützt. Sie hoffen, dass mit dem PDA tiefgreifende gesellschaftlichen Veränderungen möglich werden, die mit den heutigen Herrschaftsverhältnissen in Kolumbien ausgeschlossen sind. Die kolumbianische Presse bezeichnet diese Strömungen in der Partei gern als „radikal“.
Das PDA jedenfalls hat an Glaubwürdigkeit verloren und es scheint nicht einmal sicher, ob sich die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen überhaupt überwinden lassen. Konnte man in den letzten Jahren noch feststellen, dass die kolumbianische Linke erstmals gemeinsam auftrat und damit als Alternative zur Rechtsregierung Uribes Erfolg hatte, ist dies jetzt ganz offensichtlich nicht mehr der Fall.
Das PDA gruppiert sich als Partei nicht mehr klar um ein gemeinsames politisches Programm mit klar definierten Zielen, sondern um eine Vielzahl verschiedener Tendenzen mit eigenen Interessen. Die politische Entwicklung der kolumbianischen Linken, die mit dem „Projekt“ PDA gestärkt werden sollte, wird dadurch gebremst. Der Elan, der angesichts der Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und bei den Regionalwahlen 2007 noch spürbar war, scheint verloren. Eher lässt sich von einer Krise des „linken Projekts“ sprechen. Besonders die Gewerkschaften und andere soziale Gruppen, die das Bündnis bisher mittragen, werden sich in einer „pragmatischen“ Neuausrichtung des PDA nur schwer wiederfinden.
Von der sozialen Basis hat sich die Parteispitze ohnehin entfernt. Indigene und andere soziale Organisationen hatten unabhängig vom PDA für den Oktober eine landesweite „MINGA popular“ mit Demonstrationen und Protestmärschen gegen die Regierung angekündigt, denen sich Studierende und SchülerInnen anschlossen. In Bogotá gingen circa 15.000 Menschen auf die Straße. Themen waren unter anderem der immer noch geplante Freihandelsvertrag mit den USA und die Assoziierungsabkommen mit der EU sowie die Politik der Regierung gegenüber den drei bis vier Millionen internen Flüchtlingen, die nicht in ihre Regionen zurückkehren können.
Währenddessen wird eine Wiederwahl Uribes im Jahr 2010 immer wahrscheinlicher. Schon die geringe Wahlbeteiligung bei den Vorwahlen der Opposition war für die Uribe-Koalition ein sehr positives Zeichen. Weder die Wirtschaftskrise und die steigenden Arbeitslosenzahlen, noch der Abhörskandal um den Geheimdienst DAS, der JournalistInnen, GewerkschafterInnen und MenschenrechtlerInnen ausspioniert hatte, konnten ihm etwas anhaben. Auch die bestürzenden Zahlen von bis zu 25.000 in den letzten 20 Jahren von Paramilitärs verübten Morden, die am 30. September von der Staatsanwaltschaft veröffentlicht wurden, waren in Kolumbien kaum eine Meldung wert. Da wird in den großen Medien eher die negative Berichterstattung über die venezolanische Regierung intensiviert. Noch weniger scheint das Abkommen über die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärbasen durch die USA ein Problem zu sein oder der wieder aufgenommene Prozess gegen den Vizepräsidenten Francisco Santos, dem vorgeworfen wird, paramilitärische Todesschwadronen in der Hauptstadt mit aufgebaut zu haben.
Bisher hat das Oberste Gericht allerdings nicht das Referendum zur Verfassungsänderung anerkannt, das Uribe eine dritte Kandidatur ermöglichen soll. Das Gericht wird die Entscheidung wohl erst im Januar veröffentlichen; danach soll das Referendum stattfinden. Außerdem wird im Kongress über Änderungen am Wahlgesetz diskutiert; zum Beispiel über die Offenlegung der Herkunft von Wahlkampfgeldern. Interessanterweise wurde diese Diskussion von denselben SenatorInnen angestoßen, die sich eigentlich schon im Wahlkampf befinden. Sie verhielten sich so „wie Fußballspieler, die die Spielregeln ändern, wenn das Spiel schon angefangen hat“, urteilte die Wochenzeitung Semana. Dennoch scheinen die Wahlen so gut wie entschieden.

„Der Krieg gegen die Drogen zerstört die Demokratie!“

Laura Restrepo wurde 1950 in Bogotá geboren und schrieb mit 36 Jahren ihr erstes Buch. Seitdem hat sie bedeutende Literaturpreise in verschiedenen Ländern gewonnen. Sie gilt als eine der wichtigsten kolumbianischen AutorInnen unserer Zeit. Sie gehört der 68er Generation an und engagiert sich im sozialen und politischen Bereich. Sie war Mitglied der Handelskommission des Friedens zwischen der Regierung und der Guerilla Gruppe M-19 und Direktorin des Kultur- und Tourismusinstituts in Bogotá. In ihrem neuesten Buch Demasiados Héroes (Zu viele Helden) geht es um die emotionale Suche eines Jugendlichen nach seinem Vater.

Wegen seines Drogenproblems spricht man in Mexiko häufig von einer „Kolumbianisierung“ des Landes. Glauben Sie an diesen „Effekt“?
Ich glaube das Problem Kolumbiens und Mexikos ist nicht die Droge an sich, sondern die Prohibition. Dieses Verbot ist sowohl Schuld an dem Geschäft als auch an dem Leiden, welches die Droge hervorbringt. Wenn Drogen einmal legalisiert würden und die Prohibition durch Erziehungskampagnen ersetzt werden würde, um die Einstellung der Jugendlichen zu Drogen zu verändern, würden sich viele Probleme Kolumbiens und Mexikos von ganz alleine lösen. Das soll nicht heißen, dass das Drogenproblem damit aus der Welt geschafft ist. Doch die Menge an Geld, die durch das Drogengeschäft in unser Land kommt, ist so groß, dass sich jeder interne Konflikt bis ins Unermessliche steigert und sich der Kontrolle egal welcher Regierung entzieht.
Es wäre leicht, einfach zu sagen, dass diese beiden Länder der Kern allen Übels sind. Das Problem ist jedoch vielmehr ein internationales – der Konsum der Drogen findet nicht in unseren Ländern, sondern vor allem in denen der sogenannten Ersten Welt statt. Schließlich ist es allseits bekannt, dass nur an die vier Prozent des Profits aus dem Drogenhandel nach Kolumbien und Mexiko zurückkehren, 96 Prozent bleiben außerhalb. Solange das Problem nicht aus globaler Sicht betrachtet wird und man sich darauf beschränkt, zwei lateinamerikanische Länder zu stigmatisieren, werden wir das Problem weiterhin mit uns herumschleppen. Der sogenannte Krieg gegen die Drogen bekämpft alles Mögliche, aber nicht das Drogenproblem – im Gegenteil, die Einnahmen durch das Drogengeschäft steigen stetig an. Diese Doppelzüngigkeit über Kolumbianisierung und Mexikanisierung soll in meinen Augen nur die Gewissheit verschleiern, dass das Verbot der Droge die eigentliche Ursache für die fürchterliche Gewalt ist – und das nicht nur in unseren Ländern.

Wie erklären Sie sich die religiöse Hingabe, mit der sich Drogendealer und Mörder ihren Heiligen hingeben? In einigen Ihrer Bücher behandeln Sie dieses Thema.
Es ist interessant zu sehen, wie in Kolumbien die Mafiosi „magisch“ genannt werden. Wenn eine Person ohne Geld am nächsten Tag mit einem Mercedes auftaucht, und fünfzehn Bodyguards mit UZI-Maschinenpistolen mitbringt, dann hat diese Person einen magischen Akt vollbracht. Die ganze Heuchelei darüber, wie der Drogenhandel entsteht, lässt das ganze Geschäft wie eine Geldbewegung mit magischer Eigenschaft erscheinen. Die Lügen über den Drogenhandel verbinden ihn mit dieser ganzen dunklen Welt, die nichts mit Rationalität zu tun hat. Und so haben die jugendlichen Kriminellen, die die Drogen in Kolumbien herstellen, einen Heiligen – den heiligen Ju- das – und in Medellín haben sie einen heiligen Ort. Allerdings wird dieser heutzutage weniger besucht, da die Zeit der plebejischen Mafia unter Pablo Escobar längst vorbei ist.

Sie haben einmal gesagt, dass Kolumbien wegen des Drogenproblems von der Landkarte verschwindet. Was meinen Sie mit „verschwinden“?
Immer wenn ich in die USA reise und die Möglichkeit haben, mit der Presse zu sprechen, sage ich: „Die Vereinigten Staaten werden Drogen früher oder später legalisieren müssen, genau so, wie sie es auch mit dem Alkohol getan haben“. Wenn das einmal geschieht, wird man sich an Mexiko und Kolumbien als Länder zurück erinnern, die an genau diesem Problem zu Grunde gegangen sind. Ich spreche deshalb vom Verschwinden als Nation, weil Territorien und Wahlen allein nicht ausreichen, damit ein Land existieren kann. Eine Nation ist ein Ort, an dem der Staat das Leben seiner Bewohner beschützt. In Kolumbien beschützt jedoch niemand das Leben der Bürger – im Gegenteil: In diesem Land gilt die Verteidigung den Tätern, nicht den Opfern. In Mexiko finden ähnliche Prozesse statt. Unter diesen Umständen droht die Demokratie zu verschwinden.

Wohin wird der Gebrauch von Milizen im Kampf gegen die Drogen Ihrer Meinung nach noch führen? Handelt es sich hier wirklich darum, gegen den Drogenhandel vorzugehen, oder den Milizen eine machtvollere Position zu verleihen?
Das Drogenproblem lässt sich nicht mit dem Militär beziehungsweise einer generellen Militarisierung lösen Im Gegenteil: Je mehr Hindernisse man erschafft, je mehr Truppen ins Feld geschickt werden, um den Drogenhandel zu verhindern, desto mehr Wert gewinnt damit auch die Droge und die Drogenhändler verdienen mehr. Und dabei sprechen wir noch nicht von den Militärs, die selbst in Drogengeschäfte verwickelt sind. In Kolumbien hat sich ein gewaltiger Militärapparat entwickelt, der tausende Opfer verschuldet hat und gleichzeitig das zentrale Drogenkartell darstellt.
Auch wenn keiner es offen sagt, denke ich, dass niemand in der Welt daran zweifelt, dass die eigentlichen Großhändler im Drogengeschäft in Kolumbien die Paramilitärs sind. Der Krieg gegen die Drogen funktioniert als Projektionsfläche. Nicht um das Problem zu lösen, sondern zur Kontrolle über das militärische Aufgebot.

In Mexiko passieren seit vielen Jahren grausame Frauenmorde. Glauben Sie, dass diese Frauenmorde Teil der Gewalt sind, die in Südamerika nun mal existiert oder ist das ein Geschlechterproblem?
Frauenmorde gibt es überall auf diesem Planeten. Vor Kurzen war ich in Jemen. Ich wurde von der NRO Ärzte ohne Grenzen eingeladen, um mir die somalischen Flüchtlingslager anzusehen. Gerade was die Gewalt gegen Frauen angeht, war diese Erfahrung sehr prägend. So sind die Vergewaltigungen von Frauen, die ihr Dorf verlassen, um woanders ein neues Leben zu beginnen, schon als systematisch zu bezeichnen. Es gibt praktisch keine weiblichen Flüchtlinge, die nicht missbraucht wurden. Wer also vorhat, einen weiblichen Flüchtling zu vergewaltigen, weiß, dass er es mit einer Unbekannten zu tun haben wird, die keine Papiere besitzt. Bei dieser Art von Verbrechen herrscht absolute Straflosigkeit. Damit erklären sich meiner Meinung nach viele der grausamen Morde an Frauen, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA stattfanden. Ich denke, es handelt sich um ein weit verbreitetes Problem, das überall in der Welt existiert und viel tiefgründiger ist, als wir bisher glauben.

// Interview: Gabriela Salmón
Übersetzung: Jenny Genzmer

Vorsicht mit den fremden Mächten

„Vorsicht walten lassen und Suppe essen hat noch niemandem geschadet!“ Der brasilianische Präsident Luis Inácio „Lula“ da Silva liebt es, seine politische Position in der Form von Sprichwörtern auszudrücken. Und so erklärte er auch seine Skepsis gegenüber dem „Abkommen über Kooperation in militärischen Fragen“ zwischen Kolumbien und den USA vom 14. August mit einer so genannten Volksweisheit. Grund für die Vorsicht sieht Lula in der langen Grenze im Amazonasgebiet, die Brasilien mit Kolumbien teilt. Er wies darauf hin, dass Industrienationen an den natürlichen Ressourcen in der Region interessiert sein könnten.
Mit dem Abkommen bekommt das US-Militär Zugang zu drei Luftwaffenstützpunkten der kolumbianischen Luftwaffe, zwei Stützpunkten der Armee, sowie zu zwei Marinestützpunkten. Offiziell ist es „nur“ eine Ausweitung des Plan Colombia aus dem Jahr 2000, mit dem die USA Kolumbien bei der Bekämpfung von Drogenhandel und der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) helfen wollten. Doch schon der Plan Colombia hat vehemente Kritik aus allen Teilen der Welt, insbesondere natürlich in Lateinamerika, hervorgerufen.
So verwundert es nicht, dass die Skepsis gegenüber der militärischen Kooperation zwischen den USA und Kolumbien nicht nur von Lula ausging. Auf dem außerordentlichen Gipfel der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), der am 28. August in San Carlos de Bariloche tagte, äußerten sich fast alle anwesenden Regierungschefs kritisch über die wachsende Präsenz US-amerikanischer Militärs in Kolumbien.
Insbesondere die Präsidenten Ecuadors und Boliviens, Rafael Correa und Evo Morales, verurteilten das Kooperationsabkommen. Evo Morales verlangte, dass die UNASUR generell den Aufbau von fremden Militärbasen in Südamerika unterbinden solle. „Wenn hier niemand eine Militärbasis will, warum können wir nicht einfach hier und jetzt ein Dokument unterschreiben, das besagt, dass die südamerikanischen Präsidenten keine ausländischen Basen akzeptieren?“ fragte er. Wohl um Kolumbien nicht zu eindeutig zu verärgern, einigte man sich im Abschlussdokument der Konferenz auf die diplomatischere Formel, dass Südamerika eine „Friedenszone“ bleiben solle und fremde Basen zu verurteilen seien, die den Frieden der Region gefährden könnten.
Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe verteidigte auf dem Treffen in Bariloche den Deal mit den USA. Er richte sich ausschließlich gegen Drogenhändler und die FARC-Guerilla. Und schließlich sei nichts Besonderes dabei. Immerhin seien seit 1952 US-Truppen in Kolumbien anwesend. Darauf fragte Lula, wie effizient denn dann diese Militärhilfe sei: „Wenn uns unser Kollege Uribe zeigt, dass die US-Basen bereits seit 1952 in Kolumbien existieren, dann will ich – ganz liebevoll – sagen, dass, wenn die Basen seit 1952 existieren und es noch immer keine Lösung für die Probleme gibt, wir über eine andere Möglichkeit nachdenken sollten, um die Probleme zu lösen.“
Uribe verwies auch darauf, dass laut dem Abkommen zwischen den USA und Kolumbien die Kontrolle der Basen bei den kolumbianischen Streitkräften verbleiben würde. „Was auch immer der Inhalt des Vertrags zwischen den USA und Kolumbien besagt, die kolumbianische Verfassung erlaubt nicht, dass [von diesen Basen aus] Truppenverschiebungen getätigt werden“, erklärte er weiter. Es gehe also, so Uribes Schlussfolgerung, keine Gefahr für die anderen südamerikanischen Ländern von der US-Militärpräsenz in Kolumbien aus.
Dagegen hielt Rafael Correa, dass Kolumbien dies nicht kontrollieren könne. Er verwies auf eine Klausel im Abkommen zwischen den USA und Kolumbien, wonach Mitglieder der US-Streitkräfte nicht von einem kolumbianischen Gericht verurteilt werden dürften. Wenn ein US-Militär gegen geltendes Recht verstoße, müsse er, nach dem Vertrag vom 14. August, in den USA verurteilt werden. So sichert sich das US-Militär – trotz der so sehr betonten kolumbianischen Kontrolle der Stützpunkte – extraterritoriale Gerichtsbarkeit für ihre Angehörigen. Wenn nun, so spekulierte Correa, von den US-Basen in Kolumbien Ecuador oder ein anderes Land angegriffen werden sollte, könnten die Militärs ebenfalls nicht von einem lateinamerikanischen Tribunal verurteilt werden.
Ebenso sieht der venezolanische Präsident Hugo Chávez sich von der wachsenden US-Militärpräsenz bedroht. Er fühle sich „im Blickpunkt der Basen“, sagte er, als am 14. August die Nachricht über das neue Abkommen veröffentlicht wurde. Er glaube, dass die Basen der Auslöser für einen Krieg in Südamerika sein könnten.
Die Spannungen zwischen Venezuela und Kolumbien haben sich zusätzlich verstärkt, als Kolumbien Venezuela beschuldigte, die Guerilleros von der FARC mit schwedischen Waffen ausgestattet zu haben. Daraufhin rief Caracas seinen Botschafter in Bogotá zurück – inzwischen veröffentlichte der südamerikanische Fernsehsender Telesur Videoaufnahmen, die belegen, dass kolumbianische Guerilleros von dem Nationalen Befreiungsheer ELN die Waffen von venezolanischen Grenztruppen erbeutet hätten. Wie sie danach zur FARC gekommen sind, ist aber immer noch ungeklärt.
Die anderen südamerikanischen Staatschefs haben durchaus Recht zu hinterfragen, ob sich die US-Militärpräsenz nur gegen die Guerilla FARC und den Drogenhandel in Kolumbien richtet. Insbesondere der venezolanische Präsident Hugo Chávez verwies auf eine veröffentlichte Studien des Aerial Mobility Command der USA. In diesem Papier werden die kolumbianischen Stützpunkte als wichtige Posten für strategische Flugzeuge genannt. Zwar seien die Basen gar nicht für größere Truppenverschiebungen ausgelegt, aber auf dem Weg nach Afrika und in andere Regionen Südamerikas könnten strategische Transportflugzeuge des Typs C 17 von den Basen aus aufgetankt werden. Und solche Tankstellen brauchen die USA derzeit. Im November läuft nämlich das Nutzungsabkommen zwischen Ecuador und den USA über den Militärstützpunkt Manta aus und wird nicht verlängert, da die neue ecuadorianische Verfassung ausländische Militärbasen in dem Andenstaat verbietet. Wollen die USA nicht ihre militärische Mobilität auf der Südhalbkugel verlieren, brauchen sie also dringend Ersatz. Kleinere „Expeditionsbasen“ wie die in Kolumbien, können dabei also von Nutzen sein. Überhaupt plant das US-Militär eine Verschiebung ihrer Strategie, weg von großen Basen überall auf der Welt, hin zu mehr Mobilität. Dadurch wächst gerade die Bedeutung kleinerer Basen wie der in Kolumbien.
Solche Veröffentlichungen aus den Führungskreisen des US-Militärs selbst verstärken natürlich die Skepsis der südamerikanischen Staatschefs, ob die Basen wirklich nur für den Gebrauch innerhalb Kolumbiens gedacht sind. Deshalb forderten mehrere Staatschefs, darunter Lula und Correa, dass Präsident Obama sich mit den Präsidenten der UNASUR treffen und seine Pläne für die Lateinamerikapolitik erklären sollte. Zusätzliche Spannung in das Thema bringt die Tatsache, dass Uribe regelmäßig die Regierungen Ecuadors und Venezuelas beschuldigt, die Guerilla FARC zu unterstützen. Auf dem Gipfel in Bariloche behauptete er erneut, dass zwei hochrangige FARC-Funktionäre sich in Venezuela aufhalten würden. Die Nachbarn Kolumbiens befürchten nun, dass die vorgebliche Unterstützung der FARC den USA als Anlass dienen könnte, sie von den kolumbianischen Basen aus anzugreifen. Deshalb wies auch Rafael Correa die Vorwürfe, Ecuador biete der FARC einen sicheren Hafen, vehement zurück: Die Präsenz der FARC in der Grenzregion sei ein kolumbianisches Problem, sagte er auf dem Gipfel. Er verlangte dagegen, dass Kolumbien gefälligst die Grenzen besser bewache.
Obwohl die Staatschefs sich über sieben Stunden in Bariloche austauschten, blieb es am Ende bei dem besagten Abschlussdokument, dass nur indirekt das Abkommen zwischen USA und Kolumbien verurteilte. Schuld daran, dass keine endgültige Lösung für den Konflikt gefunden wurden, sei die Tatsache, dass die Verhandlungen im südamerikanischen Fernsehen direkt übertragen wurde, meinte Lula. Alle Staatschefs wären zu sehr darum bemüht gewesen, in ihren jeweiligen Ländern den richtigen Eindruck zu hinterlassen, anstatt wirklich auf eine Lösung hinzuarbeiten. „Wenn alles übertragen wird, sagen die Leute nicht, was sie wirklich denken“, meinte der brasilianische Staatschef.
Doch auch ohne verschlossene Türen zeigte sich, wie isoliert der engste Verbündete der USA in Lateinamerika, Álvaro Uribe, inzwischen auf dem Subkontinent ist. Seine Stimmung wird sich bestimmt nicht verbessert haben, als er kurz nach dem Treffen an der Schweinegrippe erkrankte. Vielleicht hört er ja auf Lulas Rat: Hühnersuppe soll sehr gut bei grippalen Infekten helfen.

Nicaragua von der Revolution bis heute

1979 // Unter Führung der 1961 gegründeten FSLN (Sandinistische Front der Nationalen Befreiung) wird im Juli die jahrzehntelange Diktatur der Somozas in einem Volksaufstand gestürzt. Am 17. Juli flieht Anastasio Somoza Debayle ins Ausland. Ein breites Bündnis von konservativen Kräften bis zur FSLN übernimmt die Regierung, wobei die FSLN bald tonangebend ist und sich die wichtigsten Machtpositionen sichert. // Zu den ersten Maßnahmen der neuen Regierung gehören die Enteignung des Besitzes der Familie Somoza, die Verstaatlichung der Banken und Minen, die Abschaffung der Todesstrafe, die Etablierung der Meinungsfreiheit, umfangreiche Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie eine Agrarreform zu Gunsten landloser Bauern.

1980 // Der „Nationale Kreuzzug der Alphabetisierung” (CNA) startet. Durch diese und weitere Kampagnen wird die Analphabetenrate bis 1985 von 50 auf 13 Prozent gesenkt. // Anastasio Somoza wird im September in Paraguay von einem Kommando der argentinischen Guerilla ERP getötet.

1981 // US-Präsident Ronald Reagan sperrt Darlehen Nicaraguas. Die CIA beginnt mit dem Aufbau der sogenannten Contra.

1982 // Mit logistischer und finanzieller Unterstützung durch die USA beginnt die Contra von Honduras und Costa Rica aus den bewaffneten Kampf gegen die sandinistische Regierung. Der Contra-Krieg kostet rund 30.000 Menschenleben und richtet die nicaraguanische Wirtschaft bis zum Jahr 1988 fast vollständig zu Grunde. // Wegen der wachsenden Zahl der Contra-Anschläge verhängt die Revolutionsregierung den Ausnahmezustand und führt die allgemeine Wehrpflicht ein. // Zwangsumsiedlung von 8.500 Miskito-Indianern durch die sandinistische Regierung. Sie müssen die atlantische Küstenregion verlassen und werden im Landesinneren neu angesiedelt.
1983 // Die erste westdeutsche Solidaritätsbrigade fliegt im Dezember nach Nicaragua, um bei der Kaffeeernte zu helfen. In den folgenden Jahren kommen zehntausende BrigadistInnen nach Nicaragua.

1984 // Erste Wahlen nach der Revolution. Mit 67 Prozent der Stimmen gewinnt der sandinistische Präsidentschaftskandidat Daniel Ortega die Wahlen. // Die CIA vermint die wichtigsten Häfen Nicaraguas. // Die Bundesrepublik Deutschland friert ihre Entwicklungshilfe für Nicaragua ein.

1985 // Die USA verhängen ein vollständiges Handelsembargo. // Die DDR baut in Managua das Krankenhaus „Carlos Marx” und kommt in der Folge für den Betrieb auf.

1986 // Die USA werden vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu Schadensersatz in Milliardenhöhe verurteilt, den sie allerdings niemals zahlen.

1988 // Die Wirtschaft gerät immer stärker in die Krise. Die Inflationsrate steigt auf bis zu 36.000 Prozent. // Die sandinistische Regierung nimmt Verhandlungen mit der Contra auf. Das Abkommen von Sapoa bringt schließlich einen Waffenstillstand zwischen Regierung und Contra.

1990 // Die FSLN verliert überraschend die Wahlen im Februar. Die Kandidatin der „Unión Nacional Opositora“ (UNO), Violeta Barrios de Chamorro, wird mit 55 Prozent der Stimmen zur Präsidentin gewählt. Sie steht einem äußerst heterogenen Bündnis von 14 konservativen und antisandinistischen Parteien vor. // In der sogenannten Piñata sichern sandinistische Kader ihre eigenen sowie die Pfründe der FSLN. // Der Sandinist Humberto Ortega, bis zu den Wahlen Verteidigungsminister, wird Oberster Befehlshaber der Armee, womit sich Präsidentin Chamorro deren Loyalität sichert. // Die neue Regierung beschließt ein umfassendes Stabilisierungs- und Sparprogramm: Die Währung wird abgewertet, der Staatsapparat verkleinert, soziale Einrichtungen werden geschlossen, das Gesundheitssystem privatisiert, Schulgeld erhoben, die Agrarreform teilweise rückgängig gemacht und in den 1980er Jahren verstaatlichte Betriebe größtenteils wieder privatisiert.

1991 // Die Entwaffnung der Contra ist offiziell beendet. // Es gibt zahlreiche Streiks gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Sandinisten und Regierung lähmen sich gegenseitig.

1993 // Kredite der OPEC und des IWF helfen, eine drohende wirtschaftliche Krise abzuwenden.

1994 // Beim Kongress der FSLN zeigt sich deutlich die interne Zerstrittenheit der Partei. Die „demokratische Linke” um Daniel Ortega und Tomás Borge setzt sich klar gegen die sogenannten „Erneuerer” um Sergio Ramírez durch.

1995 // Die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS) unter Führung des ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez und der Comandante Dora María Tellez entsteht.

1996 // Der Liberale Arnoldo Alemán wird Präsident. // Auf Kosten der innerparteilichen Demokratie baut Daniel Ortega seine Vormachtstellung in der FSLN immer weiter aus.

1998 // Zoilamérica Narváez, die Stieftochter von Daniel Ortega, beschuldigt diesen öffentlich, sie jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Ortega genießt Immunität, es werden keine Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. // Der Hurrikan Mitch richtet in Nicaragua schwere Zerstörungen an. Präsident Alemán bereichert sich an internationalen Hilfsgeldern.

1999 // Daniel Ortega schließt mit dem Parteichef der Liberalen Partei PLC, Arnoldo Alemán, einen Pakt, der FSLN und PLC langfristig die Macht in Nicaragua sichern soll. Alle wichtigen staatlichen Institutionen werden zwischen den beiden Parteien aufgeteilt.

2001 // Der Liberale Enrique Bolaños wird zum Präsidenten gewählt.

2003 // Die Immunität des ehemaligen Präsidenten Alemán wird aufgehoben. Er wird wegen massiver Korruption inhaftiert und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, die allerdings nach 20 Tagen Haft in einen Hausarrest umgewandelt wird.
2006 // Im April tritt das Zentralamerikanische Freihandelsabkommen mit den USA (CAFTA) für Nicaragua in Kraft. Vorher hat im Parlament auch die FSLN dem Abkommen zugestimmt. // Mit Unterstützung der FSLN wird das Abtreibungsrecht verschärft. Nun ist Abtreibung unter allen Umständen, also auch im Falle der Bedrohung des Lebens der Mutter, verboten. // Daniel Ortega von der FSLN wird im November zum Präsidenten gewählt.

2007 // Unter der Regierung Ortega werden die politischen Kontakte zu Venezuela und Kuba wichtiger. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gewährt umfangreiche Wirtschaftshilfe in Höhe von 520 Millionen US-Dollar jährlich. Damit werden unter anderem ambitionierte Sozialprogramme wie „Cero hambre“ (Null Hunger) bezahlt. Das Geld wird jedoch intransparent und am Parlament vorbei ausgegeben, obwohl es sich bei diesen Hilfen zur Hälfte um einen Kredit handelt, der in 25 Jahren aus dem Staatshaushalt zurückgezahlt werden muss.

2008 // Der von FSLN und Liberalen dominierte Oberste Wahlrat schließt die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) und die Konservative Partei von den Kommunalwahlen aus. // Der Streit zwischen Frauenbewegung sowie weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen und der FSLN-Regierung nimmt an Schärfe zu. // Bei den Kommunalwahlen im November kommt es zu massiven Manipulationen. Unabhängige WahlbeobachterInnen sind nicht zugelassen. Zahlreiche BeobachterInnen sprechen von Wahlfälschung seitens der FSLN, die offiziell in etwa 70 Prozent der Gemeinden gewinnt. Nach den Wahlen kommt es zu teils gewaltätigen Auseinandersetzungen zwischen AnhängerInnen der FSLN und der Opposition.

2009 // Das Oberste Verfassungsgericht, dessen RichterInnen allesamt von PLC und FSLN nominiert wurden, hebt im Januar die Verurteilung Arnoldo Alemáns wegen Korruption “aus Mangel an Beweisen” auf.

„Eine nachhaltige Produktion von Palmöl gibt es nicht“

Gibt es Ihrer Meinung nach eine nachhaltige Produktion von Palmöl?
Nein. Um rentabel zu produzieren, und das wollen die Unternehmen schließlich, sind Monokulturen nötig. Dadurch wird immer Umwelt zerstört und werden immer Bauern und Bäuerinnen gewaltsam vertrieben werden. Und damit wird auch die Produktion von Nahrungsmitteln beendet, mit denen sich die Kleinbauern selbst und das ganze Land ernähren könnten. Das bedeutet für Kolumbien: Anstatt einen Großteil für den Eigenbedarf zu produzieren, müssen wir nun importieren. Wir glauben weder daran, dass eine nachhaltige Produktion möglich ist, noch an die Sozialverantwortlichkeit der Unternehmen. Deren Kriterien übergehen immer die Bedürfnisse und das Leben der Gemeinschaften, die die eigentlichen „Besitzer“ des Landes sind.

Von ihrem Land wurden die Gemeinschaften bereits mehrfach vertrieben, oder?
Ja. Nach der ersten Vertreibung von 1996 versuchten einzelne Grüppchen in die Region zurück zu kehren. Doch 2001 wurden sie erneut vertrieben. Von Curvaradó sind alle geflohen, dort wurde dann damit begonnen, Palmölplantagen zu errichten. Die Vertreibung fällt genau mit dem Beginn der Pflanzungen zusammen. Sie fingen am Fluss Curvaradó an und setzten sich fort bis zum Gebiet des Jiguamiandó.
Die Firmen haben immer behauptet, dass sie Besitztitel für dieses Land hätten. Doch wir haben beweisen können, dass sich die Plantagen auf dem Land der afrokolumbianischen Gemeinschaften befinden. Die Palmölunternehmen haben auch behauptet, tausende Hektar gekauft zu haben. Auch hier konnte bewiesen werden, dass notarielle Dokumente und Unterschriften gefälscht worden sind, so dass die Unternehmen das Land zurück geben müssten, was jedoch bislang nicht geschehen ist.

Gab es auch Menschenrechtsverletzungen im Verlauf der Vertreibungen?
Wir haben seit 1996 an die 120 Fälle von Ermordungen und Verschwindenlassen dokumentiert. Als letztes wurde vergangenes Jahr Wilberto Hoyos in der so genannten Humanitären Zone von Caño Manso ermordet. Die Menschen an diesen beiden Flussläufen haben 15 Vertreibungen erlitten: für 13 sind Paramilitärs und Armee verantwortlich, für eine die Guerilla und eine geschah durch Gefechte.

Gibt es Verbindungen zwischen den Palmölunternehmen und Paramilitärs und der Armee?
Seit Beginn der Aussaat der Ölpalmen haben Armee und Paramilitärs die Plantagen bewacht. Die Zugangswege zum Gebiet des Curvaradó wurden von den Paras versperrt. Außerdem haben wir herausgefunden, dass in Caño Manso die Vereinigung ASOPROBEBA aktiv ist, deren Vertreterin Sor Teresa Gómez ist. Diese hat enge Verbindungen zur Familie Castaño [führende Paramilitärs; Anm. d. A.]. Zurzeit wird gegen sie wegen der Ermordung einer Bauernführerin in der Provinz Córdoba im Januar 2007 ermittelt. Außerdem ist sie die legale Vertreterin von FUNPASCOR, einer Organisation, die schon in den 1980er Jahren von der Familie Castaño gegründet wurde. Darüber hinaus sind auch einige Familien, zum Beispiel die Familie Zúñiga Caballero, hier aktiv, die mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht werden.

Und was haben die PalmölproduzentInnen damit zu tun?
Die Familie Zúñiga Caballero ist im Vorstand der zwei Unternehmen Urapalma und Palmado. Sie sind auch an der Ölmühle in Bajirá beteiligt, wo das Palmöl gepresst wird. Es gibt Indizien dafür, dass hier Drogengeld gewaschen wurde. Wenn Du in der Region bist, siehst Du ständig Leute mit Motorrädern, die von den Menschen hier als Paramilitärs wiedererkannt werden. Oft sind sie die Vorarbeiter in den Plantagen.

Wird gegen diese Leute ermittelt?
Seit Dezember 2007 wird gegen 23 Unternehmer wegen Vertreibung und Mord ermittelt. Doch das läuft sehr langsam, obwohl es mehr als 100 Zeugen gibt. Gegen die Vertreter der afrokolumbianischen Gemeinschaften wird auf der anderen Seite aber sehr wohl ermittelt. Sie werden als Terroristen der FARC-Guerilla (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) angeklagt.

Was ist mit der Verantwortung der Militärs?
Gegen Rito Alejo del Río wird gerade prozessiert. Der Fall betrifft die Gemeinschaft am Fluss Cacarica und die Ermordung von Marino López. Es wäre ein erster Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit, wenn Rito Alejo für die Verbrechen verurteilt würde, für die er als Kommandant der 17. Brigade verantwortlich war. Und es ist wichtig, die paramilitärischen Strukturen zu zerschlagen, die weiterhin operieren. Nicht mehr in Tarnuniformen und mit automatischen Gewehren, sondern in zivil, mit Pistolen bewaffnet. Sie verbreiten weiterhin Angst und Schrecken und bedrohen die Leute.

Auch Justicia y Paz wurde schon massiv bedroht. Nützen internationale Proteste etwas?
Wir glauben, dass sie sehr geholfen haben. Bei den Treffen mit der Regierung wurden internationale Protestbriefe erwähnt und kurze Zeit später sank das Niveau der Repression und der Bedrohung. Deshalb konnten wir im Curvaradó weitermachen, wir mussten die Region nicht verlassen. Ohne den internationalen Druck wäre es für uns sehr schwer, die Gemeinschaften weiter zu begleiten.

Und ist mittlerweile schon Land zurück gegeben worden?
Im Februar 2009 haben sie einen Teil des Landes der Gemeinschaften El Cetino und Camelia an das Landwirtschaftsministerium übergeben, das wiederum die Rückgabe regeln müsste. Doch auch das ist bislang nicht geschehen. Außerdem gibt es ein Problem mit den Plantagen auf diesem Land, die teilweise an einem Parasit erkrankt sind. Die Gemeinschaften wollen das Land mit den erkrankten Palmen und den damit verbundenen Kosten nicht übernehmen oder womöglich sogar für die weitere Ausbreitung der Plage verantwortlich gemacht werden. Das Ministerium muss dieses Problem lösen, da es nicht von den Gemeinschaften verursacht wurde.

Was genau sind die Forderungen der Gemeinschaften?
Dass ihnen das Land „gesund“ zurück gegeben wird. Ich bin keine Expertin in dieser Frage, aber man müsste die Palmen wohl fällen. Das ist die Erfahrung aus anderen Landesteilen, wo sich diese Plage ausgebreitet hat. Generell wollen die Leute aber überhaupt keine Palmölpflanzungen. Doch die Palmölunternehmen schlagen „strategische Allianzen“ vor. Die Leute sollen die Palmen behalten und ins Geschäft einsteigen. Wir kennen das aus anderen Regionen. Die Leute verlieren ihr Land wieder, weil sie diese Art des Anbaus nicht kennen und nicht beherrschen. Es sind ja keine Nahrungsmittel. Und die großen Unternehmen beherrschen den Markt und bestimmen den Kaufpreis. Aber das Palmölprojekt schreitet immer weiter voran, anstatt gestoppt zu werden. Bagger, Laster und Arbeiter tun weiterhin ihre Arbeit. Richtung Süden, im Gebiet des Jiguamiandó wird weiter der Urwald abgeholzt und es gibt eine neue Baumschule. Soweit wir wissen, hat der Unternehmer Jaime Sierra von Urapalma sie angelegt.

Was ist mit der Frage nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung?
Die Gemeinschaften fordern Gerechtigkeit für all die Verbrechen, die seit 1996 geschehen sind. Für die Leute bedeutet das in erster Linie, dass sie wieder so leben können wie früher, dass sie Bildung bekommen und auf ihrem Land säen und ernten können. Wir versuchen gerade einen Bewusstseinsprozess anzustoßen, dass die Leute sich darüber klar werden, was alles zerstört wurde, um eine „integrale“ Wiedergutmachung zu erreichen. Denn für die Regierung heißt Wiedergutmachung lediglich eine monatliche Zahlung an die Betroffenen. Doch die Leute wollen ein würdevolles Leben leben, auf ihrem Land, wo sie selbst entscheiden, was und wie sie dort anbauen.

Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für die Zukunft, um den Konflikt zu lösen?
Es ist wichtig zu begreifen, dass die Agrokraftstoffe weder für den Klimawandel noch für die Energieproduktion eine Lösung sind. In einer Diskussion hat einmal ein Experte erklärt, dass wir drei Planeten bräuchten, um die Masse an Energie aus Agrokraftstoffen zu produzieren, wenn wir das aktuelle Modell des Energieverbrauchs beibehalten wollten. Das ist also nicht die Lösung! In Kolumbien bedeutet die Produktion von Agrokraftstoffen eine große Zahl an Menschenrechtsverletzungen, viele Menschen werden ermordet oder verlieren ihre Lebensgrundlage. Es sollte nichts gekauft werden, durch das die Menschenrechte verletzt werden, wie das bei Agrokraftstoffen geschieht.

// Interview: Jochen Schüller

Kampf um Land
Die afrokolumbianischen Gemeinschaften an den Flüssen Curvaradó und Jiguamiandó im Nordwesten Kolumbiens besitzen kollektive Landtitel. Im Fall Curvaradó sind es offiziell 46.084 Hektar und im Fall Jiguamiandó 54.973 Hektar kollektiver Gemeindebesitz. Doch trotz offizieller Landtitel werden auf dem Land illegal Ölpalmen angebaut. Ein großer Teil des Palmöl ist für den Export nach Eruopa bestimmt. Die Gemeinden wurden mehrmals vertrieben. Der Urwald, die kleinen Felder und Weiler der afrokolumbianischen Kleinbauernfamilien wurden zerstört. Der Staat setzt die Landrechte der Gemeinden nicht durch, im Gegenteil, die Plantagen werden von den staatlichen Streitkräften geschützt. Die Kleinbauernfamilien haben sich organisiert und fordern ihr Land zurück. Bislang haben sie jedoch keinen Zentimeter Land zurück bekommen.

Freiheit für Miguel Beltrán

Dr. Miguel Angel Beltrán, Soziologe an der UNAM in Mexiko, wurde am 22. Mai unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der kolumbianischen Guerilla FARC nach Kolumbien abgeschoben und dort inhaftiert. Die wenigen Informationen, die in Deutschland zu diesem Fall bekannt geworden sind, zeigen eine weitere skandalöse Kriminalisierung von kritischen Wissenschaftler/innen im Namen des angeblichen „Kampfes gegen den Terrorismus“.
Die Abschiebung und Verhaftung von Dr. Miguel Angel Beltrán erfolgte auf der Basis einer selbst von internationalen Polizeibehörden umstrittenen Auswertung von Computerdaten, die einem FARC-Kommandanten zugeschrieben werden. Der konkrete Vorwurf gegen ihn ist die angebliche Infiltration akademischer Zirkel in Lateinamerika, um diese unter die Führung der FARC zu stellen. Dass dabei seine wissenschaftlichen Arbeiten zu einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg in Kolumbien als Indizien herbeigezogen werden, zeigt, dass hier eine kritische und für den Staat unliebsame Forschungsarbeit kriminalisiert werden soll.
Auch in Europa wurden in den vergangenen Jahren mehrere Wissenschaftler wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten festgenommen. Im Mai 2008 wurden zwei Wissenschaftler der Universität Nottingham unter Anwendung des britischen „Terrorism Act“ festgenommen und mit Abschiebung bedroht. Anlaß war der Ausdruck von legal erhältlichem Material für die Forschung über Al-Quaida. Im November 2008 wurden im französischen Tarnac 10 Personen im Rahmen von sogenannten Anti-Terrorermittlungen festgenommen. Unter ihnen der Philosoph Julien Coupat, der über 6 Monate in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Begründung war in seinem Fall unter anderem eine vermutete Herausgeberschaft eines als linksextremistisch eingeschätzten Buches „L“insurrection qui vient“ (Der kommende Aufstand) sowie die nicht bewiesene Beteiligung an einer Unterbrechung des Schienenverkehrs .
Julien Coupat musste inzwischen wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden. Ich selbst wurde im Juli 2007 als angeblich „intellektueller Kopf“ einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Indizien auch hier meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen sowie eine nie verborgene linke Gesinnung. Der Bundesgerichtshof hat den Haftbefehl gegen mich inzwischen aufgehoben und den ‚dringenden Tatverdacht‘ verneint.
In all diesen Verfahren gerieten Wissenschaftler/innen und ihre Arbeitsweisen in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Kritische Wissenschaft darf nicht auf dem Altar des internationalen „War on Terror“ geopfert werden.
Die von der mexikanischen Regierung vollzogene Abschiebung in dass immer noch von Menschenrechtsverletzungen geprägte Kolumbien erfolgte ohne jede Rechtsgrundlage. Ich protestiere gegen diese illegale Abschiebung durch die mexikanische Regierung und fordere die unverzügliche und unversehrte Rückkehr von Dr. Miguel Angel Beltrán nach Mexiko.

// Dr. Andrej Holm,
Universität Frankfurt am Main, 04. Juni 2009
Weitere Informationen finden sich unter
http://libertadmiguelangelbeltran.blogspot.com/ und http://colombiasolidarity.net/?q=node/141.

Gefährliches Engagement

In Guerrero, Hauptschauplatz des so genannten schmutzigen Krieges der 1970er Jahre, werden MenschenrechtsverteidigerInnen wieder verstärkt Opfer staatlicher Repression. Der Bundesstaat ist wegen der Präsenz aufständischer bewaffneter Gruppen und wegen seiner Eigenschaft als bedeutendes Drogenanbaugebiet stark militarisiert, doch die Sicherheitsbehörden gehen nicht nur gegen Kriminelle und Aufständische vor, sondern verstärkt auch gegen kritische zivilgesellschaftliche Organisationen.
Fehlende Infrastruktur, extreme Armut, Analphabetentum und unterernährte Kinder prägen die ländlichen Regionen Guerreros. Bei den ärmsten Gemeinden handelt es sich meist um Regionen mit überwiegend indigener Bevölkerung. Soziale Basisorganisationen und lokale MenschenrechtlerInnen, welche diese Zustände und die fehlenden Antworten der staatlichen Institutionen kritisieren, stehen unter enormem Druck. Die Menschenrechtssituation ist äußerst angespannt und die Sicherheit für lokale AktivistInnen keinesfalls garantiert. Diffamation, Drohungen, Verhaftungen sowie Attacken bis hin zur Tötung können die Folgen ihres Engagements sein. Gerade indigene Organisationen werden von den Sicherheitsbehörden unter den Verdacht gestellt Guerillagruppierungen zu unterstützen und werden damit zum Ziel staatlicher Repression.
Im Bundesstaat Guerrero regiert die Mitte-Links-Partei PRD (Partei der Demokratischen Revolution). Als diese Anfang 2005 die Regierung übernahm wurde sie durch eine große Bandbreite sozialer Basisbewegungen unterstützt, die ihre Hoffnung auf einen neuen Politikstil und wirkliche Veränderungen durch den damaligen Kandidaten Zeferino Torreblanca Galindo gesetzt hatten. Sie wurden bitter enttäuscht. Maribel Gutiérrez, Journalistin der regierungskritischen Zeitung El Sur de Acapulco sagt: „Vor den Wahlen gab es zumindest die Hoffnung auf Veränderung. Die Regierungsübernahme Torreblancas lehrte die Menschen, dass eine neue Person in der Regierung nicht zu Veränderungen führt, dass sich die Situation ebenso verschlechtern kann.“
Nach vier Regierungsjahren von Torreblanca hat sich die Armut nicht verringert, die Gewalt ist allgegenwärtig. „Wir haben 2008 in Guerrero 204 strafrechtliche Verfahren gegen MenschenrechtsverteidigerInnen oder soziale AktivistInnen dokumentiert“, berichtet Vidulfo Rosales, Anwalt beim lokalen Menschenrechtszentrum Tlachinollan, besorgt. Aufgrund des ineffizienten Justizsystems ist es in Mexiko nicht unüblich, dass Angeklagte auch ohne Verurteilung Jahre im Gefängnis verbringen. Staatlichen Behörden bedienen sich eines Diskurses, der Oppositionelle direkt mit dem Organisierten Verbrechen oder der Guerilla in Verbindung bringt. Die starke Präsenz der Drogenkartelle und EntführerInnenbanden sowie von Guerillagruppen in verschiedenen Regionen Guerreros machen den Behörden die Kriminalisierung leicht. Torreblanca äußerte 2008 mehrfach, eine Vielzahl sozialer Organisationen in Guerrero seien nur Fassade für das Organisierte Verbrechen.
Das marode Justizsystem wird dazu genutzt den politischen Interessen der Exekutive Nachdruck zu verleihen. Indem Beweise gefälscht und Delikte konstruiert werden, haben staatliche Behörden ein effektives Werkzeug zur Kontrolle und Zerschlagung sozialer Protestbewegungen. Die Kriminalisierung des Protests wird mit anderen Formen staatlichen Drucks gegenüber den Protestbewegungen gepaart.
Ein exemplarisches Beispiel für die Verknüpfung verschiedener Repressionsformen ist der Fall der Organisation des indigenen Volks der Me´phaa (OPIM). Die OPIM setzt sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein. Sie dokumentiert und klagt Menschenrechtsverletzungen gegen ihr Volk an, fordert den Rückzug des Militärs aus ihrer Region, das Ende der Straflosigkeit und die sinnvolle Verwendung öffentlicher Gelder, die nachweislich allzu oft in den Taschen von lokalen Politikern hängen bleiben. Lokalen Machthabern sowie dem Militär bereitet die Arbeit der OPIM Unannehmlichkeiten, wodurch die Organisation zur Zielscheibe von Verfolgung geworden ist. Die Bedrohung und Verfolgung der Organisation nahm zu, als diese anfing, sich für zwei Fälle einzusetzen, die sie zusammen mit den Anwälten von Tlachinollan erst vor die mexikanischen Gerichte und dann vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) brachten. Bei einem Fall handelt es sich um 14 Männer des Volkes der Me´phaa, die mit falschen Versprechen und massivem Druck durch das Gesundheitsministerium zwischen 1998 und 2001 dazu bewegt wurden, sich sterilisieren zu lassen. Beim anderen Fall handelt es sich um zwei Me´phaa-Frauen, die von Militärs in ihren Gemeinden verhört und vergewaltigt wurden. Der Fall der vergewaltigten Inés Fernández wurde im Mai dieses Jahres von der CIDH an den Interamerikanischen Gerichtshof in San José, Costa Rica, weitergeleitet. Es handelt sich um den zweiten Fall, auf Grund dessen Mexiko wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen des Militärs vor dem internationalen Gericht angeklagt wird. Inés berichtet: „Ich lebe in Angst um meine Kinder und mich. Mein Bruder wurde vergangenes Jahr umgebracht und zwei meiner Neffen waren zu Unrecht im Gefängnis. Ich weiß, dass viele der vergewaltigten Frauen die Vergewaltigung aus Angst nicht anzeigen.“ Die Präsidentin der OPIM, Obtilia Eugenio Manuel, klagte die Fälle immer wieder auf öffentlichen Veranstaltungen und Foren an. Aufgrund ihrer mutigen Arbeit hat sie im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Todesdrohungen erhalten, die zum Teil direkt Bezug auf ihren Einsatz in den oben genannten Fällen nehmen. Sieben waren es allein in diesem Jahr. Sie wird beschattet, bedroht, eingeschüchtert, verfolgt und überwacht. „Sie wollen mir Angst machen, damit ich nicht noch mehr Menschen organisiere. Die Regierung hat das gut geplant“, berichtet Obtilia Manuel. Doch sie ist nicht als Einzige Ziel von Bedrohung und Verfolgung. Im Februar 2008 wurde ein Mitglied der OPIM tot aufgefunden. Lorenzo Fernández Ortega, Bruder des Vergewaltigungsopfers Inés Fernández, wurde gefoltert und ermordet. Die staatlichen Behörden bestreiten einen Zusammenhang zwischen den politischen Aktivitäten Lorenzos und seinem gewaltsamen Tod. Lorenzo hatte Tage vor seinem Tod berichtet, Mitglieder einer paramilitärischen Gruppe hätten in den Gemeinden nach ihm gesucht. Der Mord an ihm geschah unmittelbar nach einem Besuch der damaligen Hochkommissarin für Menschenrechte der UNO, Louise Arbour, in Guerrero, bei dessen Gelegenheit die OPIM ein weiteres Mal öffentlich die kritische Situation angeprangert hatte.
Indes sind bei den Ermittlungen zur Aufklärung des Mordes an Lorenzo auch nach mehr als einem Jahr keine Fortschritte zu sehen. Ähnlich wie in anderen Fällen, in denen Gewalt gegen MenschenrechtlerInnen angezeigt wurde. Auch die Anzeigen der Todesdrohungen gegen Obtilia haben zu keinen strafrechtlichen Folgen geführt. Das Problem der Straflosigkeit ist allgegenwärtig und bietet den TäterInnen von Menschenrechtsverletzungen Schutz.
Am 17. April 2008 wurden fünf Mitglieder der OPIM in einer Straßensperre von Militär, Bundes- und Lokalpolizei verhaftet. Gegen sie wie gegen zehn weitere Mitglieder der OPIM wurde ein Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Die Anklage berief sich auf zwei Zeugen, die als Militärspitzel bekannt sind. Die Ermittlungen und die Anklageschrift waren so voller Widersprüche und Unregelmäßigkeiten, dass eine Bundesrichterin im November 2008 in einer ersten Revision die Freilassung der Häftlinge anordnete. Daraufhin legte die Bundesstaatsanwaltschaft ein weiteres Mal Revision ein, um die Entscheidung der Bundesrichterin zu prüfen. Die AnwältInnen des Menschenrechtszentrums Tlachinollan wiesen darauf hin, dass eine Revision eines Bundesrichters nur in den seltensten Fällen durch die Bundesstaatsanwaltschaft einer weiteren Revision unterzogen wird. Für die AnwältInnen war dies ein klares Indiz, dass die Arbeit der OPIM nicht nur lokalen Machthabern ein Dorn im Auge ist, sondern auch bundesstaatliche Institutionen, die der Arbeit der Organisation ein Ende setzen möchten. Vier der fünf Häftlinge wurden im März dieses Jahres entlassen, sicherlich auch aufgrund des internationalen Drucks, der mit Hilfe verschiedener Menschenrechtsorganisationen aufgebaut werden konnte. Amnesty International hatte die inhaftierten Mitglieder der OPIM zu „gewaltlosen politischen Häftlingen“ erklärt und verschiedene Mitglieder der OPIM werden von der Menschenrechtsorganisation Peace Brigades International (pbi) begleitet.
Der mexikanische Staat hat, im Rahmen des Prüfverfahrens vor dem UN-Menschenrechtsrat am 13. Februar 2009, zugesagt, die Umsetzung der Schutzmaßnahmen für MenschenrechtsverteidigerInnen effektiver zu gestalten, um möglichen Übergriffen zuvor zu kommen. Trotz der angeordneten Schutzmaßnahmen durch die CIDH haben die Drohungen gegen Obtilia und andere AktivistInnen in diesem Jahr weiter zugenommen. Im Februar dieses Jahres wurden zwei Vorsitzende einer benachbarten indigenen Organisation verschleppt, gefoltert und ermordet. Das Menschenrechtszentrum Tlachinollan hat aufgrund zunehmender Drohungen sein Regionalbüro in der Region Ayutla geschlossen und Obtilia Eugenio und ihr Mann haben wegen der berechtigten Befürchtungen um ihr Leben die Region vorerst verlassen. Unter vielen der bedrohten AktivistInnen herrscht Wut, Enttäuschung und große Besorgnis. Von den vielen Fortschritten im Bereich der Menschenrechte, die im offiziellen Bericht Mexikos für das Überprüfungsverfahren vor dem UN-Menschenrechtsrat genannt wurden, spüren sie nichts.

Die Archive der Erinnerung

Im Verlauf des 36 Jahre dauernden internen Krieges verübten die staatlichen Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverbrechen an der Zivilbevölkerung Guatemalas, unter dem Vorwand der Bekämpfung der bewaffneten Guerilla. So wurden Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen aber vor allem indigene Gemeinden Opfer von Gräueltaten. Dem Staat werden nach internationalem Recht Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angelastet.
Der Kampf für die Aufklärung dieser Menschenrechtsverletzungen und für die Erinnerungsarbeit stützte sich bisher auf zwei Fundamente: die ZeugInnenaussagen von Überlebenden und Familienangehörigen der Opfer sowie die Ausgrabungen der Skelette von Opfern von Massakern, die in geheimen Massengräbern verscharrt wurden, und deren forensisch-anthropologische Analyse. Sie dienten als Grundlage zur Erarbeitung der zwei Wahrheitsberichte Guatemalas, des Berichts des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros Guatemala – Nunca Más (Guatemala – Nie Wieder, 1998) sowie des Berichts der UNO-Wahrheitskommission Guatemala. Memoria del Silencio (Guatemala. Erinnerung des Schweigens, 1999). Während der Recherchen zu Letzterem forderten VertreterInnen  dieser Kommission mehrmals Zugang zu Archiven der staatlichen Sicherheitskräfte, dessen Existenz die Regierung bis vor wenigen Jahren systematisch negierte.
Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge 1996 und vor allem nach der Präsentation der Wahrheitsberichte wurden die Forderungen der zivilen Bevölkerung und der sozialen Bewegungen für die Öffnung der Militär-, Polizei- und Geheimdienstarchive konkreter und stärker. Der Ruf nach Justiz und Aufklärung der zu tausenden verübten Menschenrechtsverletzungen während des Krieges wurde laut.Erste Hoffnung kam mit dem Fund der historischen Archive der ehemaligen Nationalpolizei vor knapp vier Jahren auf. Der Ombudsmann der Menschenrechte in Guatemala erhielt eine anonyme Anzeige über Sprengstofflagerungen in einem scheinbar stillgelegten Gebäude der Polizei inmitten eines ungeordneten Autofriedhofs in einem Randviertel der Hauptstadt. Beim Verifizierungsbesuch vom 5. Juli 2005 fand man nicht nur Sprengstoff vor, sondern auch fast 15 Räume gefüllt mit Akten und Papieren: das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei in Guatemala. Verwahrlost, verfault – vergessen? Nicht ganz. Im Widerspruch zur systematischen Verneinung des Archivs von Seiten des Staates, ist dieses bis heute in den polizeilichen Verwaltungsapparat eingebunden und der Sitz des aktuellen Zentralarchivs der Polizei. „Das war eine große Überraschung, niemand von uns hätte geglaubt, dass diese Archive tatsächlich existierten, und das sogar an einem Ort, der auf den ersten Blick gar nicht so schwer zugänglich zu sein scheint“, erklärt Carla Villagrán, ehemalige Beraterin des Ombudsmannes.
Dieser handelte schnell. Einige Tage nach dem historischen Fund gab ihm ein Gericht ausschließlichen und unbegrenzten Zugang zu den Beständen um eine Untersuchung über Verletzungen von Menschenrechten durchzuführen. Aufgrund des extrem schlechten Zustandes des Archivs war es notwendig, mit der Sicherung und archivarischen Aufarbeitung der Dokumente und auch der Restaurierung des Gebäudes zu beginnen.
Tausende von Akten, Büchern und Papieren waren der absoluten Verwahrlosung ausgesetzt. Fledermäuse, Ratten, Insekten, Wasser und Feuchtigkeit hatten die Dokumente stark beschädigt und teilweise oder ganz zerstört. „Ich habe schon viele Archive dieser Art kennen gelernt, in Argentinien, in Paraguay, aber nichts hat mich auf den Schock vorbereitet, als ich diese Archiv das erste Mal betrat“, meint Kate Doyle vom National Security Archive (USA).
Die Größe der Bestände wurde mit Laufmetern berechnet, somit wären die geschätzten 7.900 Meter Dokumente umgerechnet 80 Millionen Akten. „180 Personen arbeiten in Vorgängen zur Reinigung, Identifizierung, Archivierung, Konservierung und Digitalisierung nebst den eigentlichen Forschungsarbeiten. Digitalisiert wurden bisher knapp 10 Prozent der Dokumente. Hier gibt es noch Arbeit für unsere Enkelkinder“, erklärt Gustavo Meoño, Koordinator des Projektes zur Aufarbeitung des historischen Archivs der Nationalpolizei.
Das Archiv ist das größte bis jetzt aufgefundene dieser Art in Lateinamerika. Doch was gibt es her? „Erstens lassen sich Struktur und Funktionieren der Nationalpolizei exakt nachverfolgen, dazu gehört auch deren Unterordnung unter das Militär während der Jahre des Bürgerkriegs. Neben alltäglichen verwaltungstechnischen Kommunikationen, Personallisten und Diensteinteilungen findet man hier aber auch viele Berichte bezüglich der Überwachung und Kontrolle der meist linken Opposition. Immer wieder tauchen aber auch Daten auf zu Verhaftungen von bisher als verschwunden geglaubten Personen und in manchen Fällen deren Übergabe ans Militär“, erklärt ein Mitglied des Forschungsteams des Archivprojektes. Diese und andere Informationen wurden vom Ombudsmann im März dieses Jahres in einem Bericht der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Fund des Archivs erweckte Hoffnung bei tausenden von Familienangehörigen von Opfern der Repressionspolitik in Guatemala. Während des bewaffneten Konfliktes war die Polizei – vor allem in der Hauptstadt – ein verlängerter Arm des Militärs. Obwohl Armeeinstanzen strategische Planungen zur Bevölkerungskontrolle erarbeiteten, wurden oft spezifische Aktionen dazu von Polizeieinheiten ausgeführt oder unterstützt. Zum Beispiel Hausdurchsuchungen, Razzien ganzer Viertel, Kontrollpunkte auf Straßen und auch systematische Überwachung von politisch oder gewerkschaftlich aktiven Persönlichkeiten und Infiltrierung in zivile Bewegungen. Oft endeten diese Aktionen mit der Gefangennahme oder Entführung von Personen, deren Folterung und oft auch außergerichtlichen Hinrichtung. Man nimmt sogar an, dass das heutige Archivgebäude einst zu solch menschenunwürdigen Zwecken diente.
Die wenigen laufenden gerichtlichen Prozesse gegen Verantwortliche von Menschenrechtsverbrechen stützen sich ausschließlich auf Zeugenaussagen und Resultate forensischer Ausgrabungen. „Die Öffnung der verschiedenen Staatsarchive ist ein wichtiger Schritt in der Erinnerungsarbeit, aber auch für die Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Erforschung der Verbrechen in den Archiven und die Ergänzung bisheriger Untersuchungen mit Archivmaterial hat eine besondere Bedeutung und bringt aktuelle und zukünftige gerichtliche Prozesse in eine andere Dimension“ erklärt Héctor Soto, Direktor des Zentrums für forensische Analyse und angewandte Wissenschaft (CAFCA).
Dies zeigt sich im Fall von Fernando García, einer von 45.000 verschwundenen Personen und Ehemann der Menschenrechtsaktivistin und Kongressabgeordneten Nineth Montenegro. Der Gewerkschafter García wurde 1984 von Polizeibeamten im Rahmen einer Straßenkontrolle verhaftet. Trotz intensiver Suche und gerichtlichen Verfügungen wurde seine Inhaftierung immer bestritten, bis zu dem Tag, als diese mit Archivdokumenten bestätigt werden konnte. Aufgrund der Dokumente ordnete ein Gericht Haftbefehle gegen vier teils immer noch aktive Polizeiagenten an und beschuldigt sie des Verbrechens des gewaltsamen Verschwindenlassens. Zwei dieser Agenten sind Anfang März dieses Jahres verhaftet worden.
Doch nicht nur die Polizeiarchive sind von großer Wichtigkeit. Im Februar 2008, einen Monat nach Amtsantritt, kündigte Präsident Álvaro Colóm im Rahmen des „Tages der Opfer des bewaffneten internen Konfliktes“ an, die Militärarchive zu öffnen und beauftragte den Friedenssekretär Orlando Blanco mit dem Aufbau einer Abteilung zur Bearbeitung und Analyse dieser Dokumente. Genau ein Jahr darauf wurde der Sitz der Friedensarchive des Sekretariats für Frieden eröffnet, mit dem Ziel, Dokumente aus der Zeit zwischen 1954 bis 1996 zu systematisieren, konservieren und analysieren. Doch bis heute weigert sich das Militär seine Archive abzugeben, mit dem Argument, dass es sich bei diesen um Dokumente der nationalen Sicherheit handle. Das kürzlich in Kraft getretene Gesetz für den öffentlichen Zugang zu Information staatlicher Institutionen hebt jedoch in seinem Artikel 24 hervor: „In keinem Fall kann Information bezüglich Untersuchungen von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als vertraulich oder mit Vorbehalt klassifiziert werden“.
Eine spezielle Kommission soll nun darüber entscheiden, welche Dokumente freigegeben werden und welche nicht. Auch wenn die dazu nötigen Richtlinien erst erarbeitet werden müssen, ist die Kommission bereits im Besitz von drei Militärplänen, während die Armee versucht, die Freigabe weiterer Dokumente so lange wie möglich hinauszuzögern. „Wir wissen nicht, um welche Menge von Dokumenten es sich handelt und wo sie sich befinden“, erklärt Marco Tulio Álvarez, Direktor des Friedensarchivs und Mitglied dieser Kommission. Es bestehe auch die Gefahr, dass Material vernichtet werden könnte. Die Armee selbst gibt als Argument gegen die Herausgabe der Dokumente deren frühere Vernichtung vor.
Obwohl der Schwerpunkt der Friedensarchive auf den Archiven des Militärs liegen sollte, werden auch Dokumente anderer staatlicher Behörden systematisiert und analysiert. So werden derzeit zum Beispiel Dokumente des sozialen Wohlfahrtssekretariats bezüglich der durchgeführten Adoptionen zur Zeit des bewaffneten Konfliktes bearbeitet. „Wir nehmen an, dass die Freigabe von Kindern zur Adoption zwischen 1976 und 1986 mit dem Verschwinden von tausenden von Kindern in Verbindung steht. In mindestens einem Fall können wir dies auch nachweisen“, erklärt Álvarez.
Doch die Erforschung von Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges ist nach wie vor keine ungefährliche Tätigkeit. Davon zeugt der Angriff auf einen mit dem Fall von F. García betrauten Mitarbeiters des Ombudsmannes, der schwer verletzt wurde oder die vorübergehende Entführung und ebenfalls schwere Verletzung der Frau des Ombudsmannes am Tag nach der Veröffentlichung seines ersten Berichtes über das Polizeiarchiv. Ebenso die phasenweise Überwachung des Personals des Archivprojektes und auch die Todesdrohungen gegen MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Freigabe der Militärbestände einsetzen.
Vielleicht ist dies eine Erklärung dafür, warum eines der wichtigsten Archive Lateinamerikas zur Aufklärung der jüngsten Geschichte vom guatemaltekischen Staat weder unterstützt noch geschützt wird, dieser jedoch dem Friedensarchiv, dessen klägliche Bestände nicht vergleichbar sind mit jenen des Polizeiarchivs, institutionelle Förderung gewährt.

Dritte Amtszeit für Uribe?

Offen ausgesprochen hat er es nicht. Es sind sein diesbezügliches Schweigen und seine mehrdeutige Anspielungen, die den Verdacht nähren, dass der rechte Präsident Álvaro Uribe Vélez vorhat, für eine weitere Amtszeit zu kandieren. Nach aktueller Gesetzeslage dürfte der Präsident kein weiteres Mal kandidieren und in der ursprünglichen Fassung sah sie überhaupt nur eine Amtszeit vor. Doch die Vorzeichen für eine erneute Kandidatur Uribes mehren sich. In Sondersitzungen ließ Uribes Innenminister Valencia Cossio den Kongress über eine Volksbefragung abstimmen, die durch eine Verfassungsänderung eine dritte Legislaturperiode zulassen will. Dazu präsentierten im September letzten Jahres die OrganisatorInnen der geplanten Volksabstimmung über vier Millionen Unterschriften, die sich für ein Referendum aussprachen, und brachten das Vorhaben dadurch in den Kongress. Ende 2008 stimmte das Repräsentantenhaus zu und nun im Mai passierte es den zustimmungspflichtigen Senat trotz heftiger Vorwürfe der Opposition. Diese sprach von Stimmenkäufen und beanstandete die Einflussnahme des Innenministers, der bis zuletzt die Abgeordneten der Regierungskoalition auf das Vorhaben einschwor.
Überhaupt hat das Referendum von Beginn an für Aufsehen gesorgt. So sind der Finanzierung derartiger Initiativen gesetzliche Obergrenzen gesetzt, die die OrganisatorInnen jedoch zu umgehen wussten. Eigentlich liegt die Obergrenze bei 335 Millionen Peso (ca. 110.000 Euro) und einzelne Spenden dürfen nicht mehr als ein Prozent dieses Volumens ausmachen. Allerdings erhielten die Referendum-OrganisatorInnen von einer Asociación Colombia Primero (Vereinigung Kolumbien Zuerst) einen so genannten Kredit von 1.900 Millionen Peso. Dieser Kredit wurde wiederum überwiegend durch Spenden von Unternehmen aufgebracht, darunter zahlreiche Konzessionäre öffentlicher Infrastrukturmaßnahmen, welche ebenfalls ein Vielfaches über dem erlaubten Limit lagen. Pikanterweise sitzen die OrganisatorInnen des Referendums zudem teilweise im Vorstand von Colombia Primero. Alles deutet auf eine nur notdürftig durch das Gebilde zweier Vereinigungen verdeckte Einflussnahme kolumbianischer Wirtschaftskreise zugunsten des Präsidenten hin, unter offenkundiger Missachtung geltender Gesetze.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Recht gebrochen wird. Vieles erinnert an den so genannten Yidispolítica-Skandal, der fünf Jahre zuvor Uribe Vélez seine zweite Amtszeit ermöglichte. Im Juni 2008 wurde die einstige Senatorin Yidis Medina wegen Bestechung verurteilt, weil sie 2004 ihre Zustimmung für die damalige Verfassungsänderung verkauft hatte. Gegen die von ihr benannten Urheber, die damaligen Minister Diego Palacio und Sabas Pretelt, laufen dagegen noch die Ermittlungsverfahren. Bis heute ist daher umstritten, ob die erste Wiederwahl Uribes überhaupt rechtmäßig gewesen ist.
Doch derlei Bedenken interessiert die Mehrheit des kolumbianischen Kongresses wenig. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Volksbefragung rechtzeitig in den verbleibenden Sitzungen zu beschließen. Ganz einfach ist das nicht, denn anscheinend ist den OrganisatorInnen der Unterschriftensammlung ein Formulierungsfehler unterlaufen. Nach der ursprünglichen Fassung müsste der Präsident eine Amtsperiode lang pausieren und könnte erst 2014 wieder antreten. Das widerspricht natürlich dem eigentlichen Ansinnen, die Kontinuität der Regierung von Uribe zu gewährleisten. Deswegen werden zurzeit zwei unterschiedliche Versionen eines Referendums debattiert. Das Repräsentantenhaus beschloss den ursprünglichen Text, während ihn der Senat dagegen modifizierte, um eine sofortige Wiederwahl zu ermöglichen. Jetzt hat zunächst der Vermittlungsausschuss beider Kammern das Sagen darüber, welche der Versionen zugelassen wird. Dann entscheidet das Verfassungsgericht, ob das Referendum überhaupt abgehalten wird.
Die Zustimmung des Verfassungsgerichtes ist durchaus fraglich, denn eigentlich hatte es bei seiner positiven Entscheidung über eine zweite Amtszeit von Uribe eine dritte nachdrücklich ausgeschlossen. Aber damit ist bereits die derzeitige Problematik des Machtgleichgewichts im politischen System Kolumbiens aufgeworfen. Der Präsident hat das Recht, KandidatInnen für das Verfassungsgericht sowie den so genannten Procurador, zuständig für die Aufsicht von StaatsfunktionärInnen, vorzuschlagen. Für das Amt des Generalstaatsanwalts oder der Generalstaatsanwältin, dem staatlichen Ombudsamt und dem Vorstand der Zentralbank hat er sogar das alleinige Vorschlagsrecht. Im Verein mit einer Kongressmehrheit hat der Präsident damit Gelegenheit, diese Posten an loyale AnhängerInnen zu vergeben und je länger er im Amt bleibt, desto stärker kann die Regierung die Kontrolle ihrer eigenen Politik aushebeln.
Ein anschauliches Fallbeispiel ist die Besetzung des Verfassungsgerichtes selber. Im August 2007 wurde Mauricio González in den Magistrat berufen, der vorher als juristischer Sekretär für Präsident Uribe tätig war. Damit scheint die regierungsfreundliche Fraktion im Gericht gestärkt. Zumindest ist es seither in den Beziehungen zur Regierung auffällig ruhig geworden, denn in der Vergangenheit hatte das Gericht etliche Gesetze aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken für ungültig erklärt. Besonders in der ersten Amtszeit von Uribe war es heftigen Anfeindungen ausgesetzt als es die geschnürten Antiterrorismuspakete für ungültig erklärte, welche die Guerilla mithilfe von massiven Grundrechtseinschränkungen zu bekämpfen suchte, und dem autoritären Gebaren der Regierung somit Grenzen setzte.
Gegenwärtig macht der Regierung eher der Oberste Gerichtshof zu schaffen. Hintergrund ist der so genannte Parapolítica-Skandal, die systematische Zusammenarbeit von ParlamentspolitikerInnen und Paramilitärs, mit dessen Untersuchung das Gericht befasst ist und dessen Ende nicht absehbar ist (siehe LN 408). Er verdeutlicht zudem, was für eine politische Elite zusammen mit dem Präsidenten an die Macht kam: politische Kartelle, die ihre VertreterInnen mithilfe regionaler Abkommen mit den rechten Paramilitärs in den Kongress entsenden konnten.
Aber der Parapolítica-Skandal ist nicht Uribes einziges Problem. Während er seine erste Amtszeit strahlend mit Verweis auf seine Erfolge in der Guerillabekämpfung beenden konnte, ist seine Regierung nun immer mehr mit der eigenen Verteidigung beschäftigt. Im Februar, kam heraus, dass der direkt dem Präsidentenamt unterstehende Inlandgeheimdienst DAS jahrelang in illegaler Weise OppositionspolitikerInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen überwachte sowie Richter des Obersten Gerichtes, genau dem Gremium, das mit dem Parapolítica-Skandal befasst ist. Das Verhältnis zur Regierung ist grundsätzlich erschüttert und der Besuch eines UN-Sonderberichterstatters zur Überprüfung der Unabhängigkeit der Justiz ist im Gespräch. Inzwischen lud die Generalstaatsanwaltschaft vier ehemalige Direktoren des DAS vor und ermittelt ebenfalls gegen drei Mitarbeiter des Präsidentenpalastes. All diese Untersuchungen finden immer wieder im nächsten Umfeld von Uribe statt und oftmals scheint es als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis er selber belangt wird. Darüber hinaus gerät er in einem seiner zentralen Anliegen unter Druck: der Sicherheit. Nachrichten über extralegale Hinrichtungen durch das Militär, dem Wiedererstarken paramilitärischer Gruppen und die zunehmende Mordrate in den Großstädten Kolumbiens schmälern die Bilanz seiner Regierungspolitik. So kritisiert inzwischen selbst die traditionell regierungsfreundliche El Tiempo, die als größte Tageszeitung Kolumbiens durchaus Einfluss besitzt, eine mögliche erneute Kandidatur Uribes.
Allerdings muss für die Perspektive Kolumbiens gefragt werden, was der eigentliche Kern des Problems ist: Ein Verbleib von Uribe oder des Uribismus an der Regierung? Zahlreiche NachfolgekandidatInnen haben sich bereit erklärt, seine Politik ganz oder mit Abstrichen weiterführen zu wollen. Da PräsidentschaftskandidatInnen in Kolumbien bis zu den Wahlen ein Jahr lang kein politisches Amt ausüben dürfen, legte der Landwirtschaftsminister Andrés Felipe Arias, auch bekannt als „Uribito“, seine Geschäfte nieder. Drei Monate später folgte ihm der Verteidigungsminister Juan Manuel Santos. Ersterer profilierte sich mit heftigen Äußerungen gegen eine demilitarisierte Zone um Verhandlungen mit der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) aufzunehmen, letzterer war für die Bekämpfung dieser Guerillaorganisation zuständig. Sie hätten Gelegenheit in einem Umfeld zu regieren, in dem Gerichte und andere Kontrollorgane bereits mit loyalen Anhängern besetzt sind. Zudem wären sie von den Skandalen um die Person Uribe befreit. Ein neues Gesicht hätte also durchaus Vorteile. Ob die jüngste Kritik an Uribe von El Tiempo, die im Besitz des oligarchischen Santos-Clans ist, im Zusammenhang mit der Kandidatur des Clansprösslings Juan Manuel steht, ist allerdings unklar. Laut Umfragen liegt die WählerInnengunst jedoch deutlich beim gegenwärtigen Präsidenten, was durchaus verständlich ist, da Uribe einen personalisierten Regierungsstil pflegt. Eventuell hat er sich aber damit keinen Gefallen getan, denn nur er selbst kann mit Sicherheit die Fortdauer seiner Politik garantieren. Im Falle eines Wahlsieges der Opposition müsste er zumindest mit ernsthaften Untersuchungen der Verbindung seiner Regierung zum Paramilitarismus rechnen, ein Unterfangen, was er sicherlich verhindern möchte.
Doch ein optimistischer Blick auf die parlamentarische Opposition Kolumbiens fällt zurzeit schwer. Die Liberale Partei ist selber vom Parapolítica-Skandal betroffen. Zudem tendieren einige ihrer Abgeordneten immer wieder dazu, Uribe zu unterstützen. Einer ihrer aussichtsreichsten Kandidaten ist Rafael Prado, der anfänglich selber ein Anhänger des Uribismus war, sich jedoch später von ihm lossagte. Der linke Polo Democrático Alternativo scheint hingegen von internen Machtkämpfen geschwächt. Die Kommunistische Partei, die Fraktion des Senators Gustavo Petro sowie die des Bürgermeisters von Bogotá, Samuel Moreno, streiten in ihm um Einfluss und vernachlässigen darüber ihre Oppositionsarbeit. Etwas mehr Erfolg scheint laut Umfragen die unabhängige Kandidatur des ehemaligen Bürgermeisters von Medellín, Sergio Fajardo, zu versprechen; zumindest wenn er nicht gegen Uribe antreten müsste. Dabei gäbe es für eine neue Regierung in Kolumbien viel zu tun. Nach Jahren der Usurpation der politischen Macht gilt es den Einfluss der uribistischen Eliten zurückzudrängen, den Friedensprozess mit der Guerilla wiederaufzunehmen, die Rechte der Opfer des paramilitärischen Terrors zu verteidigen und einen sozialen Ausgleich im Land herbeizuführen. Diese Punkte eines oppositionellen Wahlprogramms geraten jedoch durch die personifizierte Debatte um eine Wiederwahl des Präsidenten in den Hintergrund.

Informalisierung des Ausnahmezustands

Debatten über den Krieg in Kolumbien basieren in vielen Fällen auf einem Missverständnis. Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge konkurrierten spätestens seit den 1990er Jahren verschiedene Banden um die Einnahmen aus der Schattenökonomie von Drogenhandel, Entführungen und Auftragsmorden. Zwischen den Gräueltaten rechter Paramilitärs und linker Guerillas sei der Staat in seiner Fähigkeit, ein Gewaltmonopol durchzusetzen, merklich geschwächt worden. Kolumbien drohe zu einem failed state, einem gescheiterten Staat, zu verkommen.
Der Autor und Kolumbien-Experte Raul Zelik mischt sich mit seinem neuen Buch Die kolumbianischen Paramilitärs in die Debatte um „Neue Kriege“ und failed states ein. Insbesondere beschäftigt er sich mit einigen Thesen des in Berlin lehrenden Politologen Herfried Münkler. Dieser geht davon aus, dass etablierte Staatlichkeit historisch den Krieg gebändigt habe, während der Zerfall von Staaten eine „vormoderne“ Enthegung der Gewalt befördere, für die Aufständische und Warlords in der Peripherie verantwortlich seien.
Diese und andere Thesen über „Neue Kriege“ widerlegt Zelik am Beispiel des Krieges in Kolumbien eindrücklich. Er zeigt auf, dass der kolumbianische Paramilitarismus aufs Engste mit der Durchsetzung staatlicher Souveränität verknüpft ist und eine für den Staat funktionale Auslagerung von Repression, eine Informalisierung des Ausnahmezustands, darstellt. Der von Paramilitärs ausgehende Terror gegen oppositionelle politische Strukturen habe in Kolumbien maßgeblich zur Etablierung eines weltmarktorientierten Entwicklungsmodells beigetragen. Als Beispiele beschreibt Zelik unter anderem die gewaltsame Umverteilung von Land, die gezielte Tötung von Gewerkschaftsmitgliedern und Vertreibungen rund um geplante Staudammprojekte. Da sich die Aktionen der Paramilitärs stets gegen Angehörige der Unterschicht richten, stellen sie laut Zelik eine Art „Klassenterrorismus“ dar.
Bereits Anfang der 1960er Jahre hatte die reguläre kolumbianische Armee damit begonnen, die Zivilbevölkerung sukzessive in das Zentrum ihrer militärstrategischen Überlegungen zu stellen. Anhand zahlreicher Beispiele weist Zelik nach, dass der Paramilitarismus, der sich in den 1980er Jahren massiv ausbreitete, trotz einiger autonomer Tendenzen „aus dem Staatsapparat hervorgegangen ist, von wichtigen Institutionen gestützt und von keiner Abteilung des Staates ernsthaft bekämpft wurde“. Die staatliche Unterstützung reichte von der militärischen Ausbildung von Paramilitärs bis zu logistischer und militärischer Hilfe bei der Verübung von Massakern. Das häufig als grausame, exzessive Inszenierung zelebrierte Gemetzel an wehrlosen ZivilistInnen wirke dabei nur auf den ersten Blick als „vormodern“, wie Münkler es sehen würde. Tatsächlich stecke dahinter rationales Kalkül. „Die Verbreitung von Angst und Schrecken soll die Bevölkerung einschüchtern, die Bewohner strategisch oder ökonomisch wichtiger Regionen disziplinieren oder aber zur Flucht bewegen“.
In den 1990er Jahren bemühten sich neue paramilitärische Gruppen darum, als „dritter Kriegsakteur“ politisch wahrgenommen zu werden. Der 1997 gegründete paramilitärische Dachverband AUC (Kolumbianische Selbstverteidigungskräfte) kopierte das Auftreten und die interne Organisationsform der Guerilla. Laut Zelik handelte es sich dabei um eine Inszenierung, „mit der eine Symmetrie von ‚rechten‘ und ‚linken Rebellen‘ hergestellt, Verwirrung gestiftet und politische Positionen insgesamt entwertet werden sollten“. Ökonomisch seien die Paramilitärs durch die seit Jahrzehnten engen Verbindungen zum Drogenhandel zwar unabhängig. Der Zerfallsprozess der AUC seit 2002 zeige jedoch deutlich, dass der eigene politische Auftritt nur rein rhetorisch stattgefunden habe. Durch das Auftauchen eines „dritten Akteurs“ konnte der Staat sich als Opfer extremer Gewalt darstellen, wodurch nicht zuletzt die massive US-Militärhilfe im Rahmen des Plan Colombia begründet wurde und wird. Der kolumbianische Staat sei keineswegs gescheitert, sondern durch hochmoderne Sicherheitstechnik und umfassende Kontrolle der Bevölkerung äußerst präsent, auch wenn es nicht um gesellschaftlichen Interessenausgleich, sondern die Durchsetzung von Klasseninteressen gehe. Eine reine Marionette des Staates seien die Paramilitärs dennoch nicht, da auch der kolumbianische Staat als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Nicos Poulantzas) ein Feld von Auseinandersetzungen darstelle. Zudem verwandelten sich die Führer der Paramilitärs durch ihr „Gewaltunternehmertum“ zunehmend selbst in politische und ökonomische Führungsfiguren und trugen somit zu einer „Mafiotisierung des Staates“ bei. Dass die AUC ausgerechnet unter Präsident Álvaro Uribe demobilisiert wurden, der in seiner gesamten politischen Karriere mit DrogenhändlerInnen und Paramilitärs kooperiert hatte, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Im Zuge des so genannten Parapolitik-Skandals wurde 2006 bekannt, dass ein Großteil von Uribes Umfeld Bündnisse mit den Paramilitärs geschlossen hatte. Nachdem eine Legalisierung der AUC fehlgeschlagen war, ließ Uribe deren Führer an die USA ausliefern. Da sie dort ausschließlich wegen Drogenhandels angeklagt werden, bleiben ihm weitere unangenehme Enthüllungen vorerst vermutlich erspart. Anders als die Regierung es darstellt, ist der Paramilitarismus jedoch keineswegs demobilisiert. Auch wenn er derzeit nicht mehr die Dimensionen wie vor einigen Jahren annimmt, sind die AUC längst durch neue Gruppen wie die Águilas Negras (Schwarze Adler) ersetzt worden. Diese begehen weiterhin politische Morde, werden von der Regierung jedoch schlicht als „aufstrebende Banden“ der Organisierten Kriminalität bezeichnet.
Zuletzt zeichnet Zelik die Strategie der USA nach, die Kolumbiens „Kampf gegen die Drogen“ Jahr für Jahr mit dreistelligen Millionenbeträgen unterstützen und Konzepte der Aufstandsbekämpfung nachweislich nach Lateinamerika „exportiert“ haben. Zelik beschreibt, wie die USA mittels eines Zusammenspiels an Techniken auf Kriegssituationen und Rahmenbedingungen einwirken, ohne direkt militärisch zu intervenieren. Diese Strategie zur Bewahrung der globalen kapitalistischen Ordnung sei spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieges dominant, wie Zelik an vielen Beispielen aufzeigt. Eine Enthegung von Gewalt und Irregularisierung von Krieg, die Folter, Todesschwadronen und Parallelarmeen, aber auch private Militärfirmen, einschließt, werde somit explizit von Staaten vorangetrieben.
Für die Debatte über failed states und „Neue Kriege“ stellt Zeliks Buch einen enorm wichtigen Beitrag dar, weil er zentrale Annahmen der florierenden Sicherheits- und Terrorismusforschung in Frage stellt. Mit einem bisher kaum beachteten Fallbeispiel schließt er eine Forschungslücke. Vom wissenschaftlichen Wert abgesehen ist das Buch aber auch ein Standardwerk über den kolumbianischen Paramilitarismus. Zelik arbeitet dessen Geschichte, sein komplexes Wesen sowie den politischen und wirtschaftlichen Kontext umfassend und kenntnisreich heraus und bemüht sich immer wieder um eine theoretische Einordnung des Phänomens, etwa anhand militärstrategischer oder staatstheoretischer Konzepte.
Dem durchgehend pessimistischen Gefühl bei der Lektüre des Buches tritt der Autor zumindest auf der letzten Seite entgegen. Er betont, dass es in Kolumbien noch immer vielseitige soziale Bewegungen gibt. „Trotz aller Massaker, Vertreibungen, Folterungen und Morde ist es also offensichtlich nicht gelungen, die Vorstellung einer alternativen Gesellschaft vollständig auszulöschen“.

Raul Zelik // Die kolumbianischen Paramilitärs. „Regieren ohne Staat?“ oder terroristische Formen der Inneren Sicherheit // Westfälisches Dampfboot // Münster 2009, // 352 Seiten // 29 Euro // www.dampfboot-verlag.de

Newsletter abonnieren