Ein Meilenstein der argentinischen Literatur

Rodolfo Walsh könnte heute noch leben. Er wäre mit seinem Jahrgang 1927 fast genauso alt wie Gabriel García Márquez oder Carlos Fuentes, die unter uns sind, und 16 Jahre jünger als Ernesto Sabato, der soeben, am 30. April, im Alter von fast 100 Jahren gestorben ist. Walsh wurde nur fünfzig – am 25. März 1977 lauerte ihm mitten in Buenos Aires ein bewaffnetes Kommando der Militärdiktatur auf. Zeugen haben ausgesagt, sie hätten seine von Gewehrkugeln durchsiebte Leiche gesehen. Die lange Zeit behauptete Version vom Selbstmord im Angesicht der Militärs dürfte damit hinfällig sein.
Das Buch “Operación Masacre”, mit dem ihm 1957 der Durchbruch als Schriftsteller gelang, hat mit seiner Ermordung zumindest indirekt viel zu tun. Denn hier kam ein Autor zu seinem Stoff, hier konnte er seine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen. Fähigkeiten, die er bereits vorher zu erkennen gegeben hatte: als Verfasser knapper, poetischer Kriminalerzählungen (siehe die Besprechung eines kürzlich erschienenen Auswahlbandes in LN 435/36), aber auch investigativer Zeitungsbeiträge. Im “Massaker von San Martín”, wie es in der nun vorliegenden Neuübersetzung im Rotpunktverlag heißt, findet Walsh für seine penible Recherche über einen politischen Mordfall eine vollendete sprachliche Form: klar, rhythmisch, kraftvoll. Eine Sprache, die er in den zwanzig Jahren, die ihm verbleiben sollten, immer wieder gebraucht hat und mit der er dann die Militärjunta frontal angriff.
Der Fall im “Massaker von San Martín” ist heute eine kleinere Episode in der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und wäre nur noch SpezialistInnen bekannt, hätte Walsh nicht darüber geschrieben. Er gehört in die Zeit, nachdem Juan Domingo Perón 1955 unter Gewaltandrohungen der Armee ins Exil gegangen war. Die sogenannte “Befreiungsrevolution” unter Präsident Aramburu wurde zunächst von vielen positiv aufgenommen, gerade von vielen Intellektuellen, unter ihnen Rodolfo Walsh, die Gegner Peróns gewesen waren.
Eine peronistische Verschwörergruppe unter den Generälen Tanco und Valle rief allerdings für die Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1956 zum Umsturz auf. Der Putsch scheiterte. Polizei- und Militäreinheiten griffen überall rabiat durch, unter anderem auf einem Grundstück, auf dem General Tanco vermutet wurde. Ihn fand man nicht, nahm aber die Anwesenden, ein Dutzend Personen, kurzerhand fest. Sie wurden auf eine Polizeistation verbracht und in den frühen Morgenstunden des 10. Juni auf einem offenen Gelände außerhalb von Buenos Aires erschossen.
Im Vorwort zum “Massaker von San Martín” erzählt Walsh von seiner Beziehung zu diesen Ereignissen. Auch in La Plata hatte es gegen Mitternacht Schießereien gegeben, die ihn am Kaffeehaustisch überraschten, an dem er Schach zu spielen pflegte. Als alles vorbei war, schien sich für ihn nichts verändert zu haben, bis er ein halbes Jahr später an eben diesem Tisch erfuhr, dass ein Mann, Juan Carlos Livraga, die Erschießung überlebt habe. Was nun folgt, ist die Wandlung eines Autors im Prozess der Recherche und der Niederschrift. Er beginnt Livraga nachzuforschen, erfährt, dass es noch weitere Überlebende gegeben hat – am Ende werden es von den Zwölfen sogar sieben sein, die entkommen konnten -, und erkennt vor allem, dass der gesamte Vorgang geltendes Recht missachtet hatte. Zwar war in jener Nacht das Standrecht verkündet worden, wonach Erschießungen ohne Prozess möglich gewesen wären. Die Verhafteten waren jedoch vor Inkrafttreten des Standrechts aufgegriffen worden. Und die meisten von ihnen hatten mit dem Aufstand nicht das geringste zu tun. Ein Massaker an Zivilisten also.
Zunächst in einer Folge von Zeitungsartikeln, im Dezember 1957 dann als Buch, hat Walsh die Vorgänge akribisch an die Öffentlichkeit gebracht, einen Prozess gegen die Verantwortlichen begleitet und schließlich erschüttert feststellen müssen, dass nicht einmal nachträglich dem Recht zur Geltung verholfen wurde. Während das juristische Resultat gleich Null war, war das politische für die Person Walsh und das literarische immens groß. Walsh wurde schon 1959 Gründungsmitglied der revolutionären kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina – sogar die Entschlüsselung der CIA-Geheimcodes für den Angriff auf die Schweinebucht 1961 ging auf ihn zurück -, und Anfang der siebziger Jahre nahm er an der Montonero-Guerilla in Argentinien teil.
Literarisch besteht die Leistung von Walsh darin, ein neues Genre entwickelt zu haben: den Tatsachenbericht. Angesiedelt zwischen Sachbuch, Reportage und historischem Roman, “verzichtet er … auf die Fiktion als Mittel künstlerischer Wahrheitssuche”, wie der Übersetzer und Herausgeber Erich Hackl es im Nachwort definiert: “Der Fiktionalist haftet nicht für seine Fabel, er begreift die von ihm erfundene Welt als Versuchsanordnung, er spielt mit den Versatzstücken der Realität und bleibt mit seinem Spiel im Rahmen des Zulässigen. Der politische Dokumentarist hingegen lässt, was ernst ist, ernst sein. Er denunziert, er attackiert, er bringt was an den Tag. Aber er ist in den Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung stärker eingeschränkt – durch die Verantwortung gegenüber seinen Personen, die keine Figuren sind, und durch die Notwendigkeit, den überlieferten Tatsachen treu zu bleiben.”
Die Schwierigkeiten dieses Genres liegen auf der Hand. Die Geringschätzung von allen, nach deren Überzeugung Literatur fiktional sein muss, ist schon mal garantiert. Aber auch wer dokumentarisch schreiben will, braucht eben beides, das literarische Können und den analytischen Blick für den Gegenstand.
Gerade deswegen ist die Neuübersetzung dieses Buches von so herausragender Bedeutung. Das liegt vor allem an Erich Hackl, der Idealbesetzung für die Vermittlerrolle. Hackl ist davon überzeugt, dass ein übersetzter Text nur dann gut ist, wenn er so flüssig und stimmig gelesen werden kann, als sei er in dieser Sprache geschrieben. Diesen Anspruch löst er auf mitreißende Weise ein, schwer übersetzbare Gerichtsdokumente und Zeitungsauszüge inklusive. Denn nicht nur Walsh ist ein guter Schriftsteller, Hackl ist es auch, dazu noch einer, der sich selbst ebenfalls als Dokumentarist versteht und sich in Romanen wie “Abschied von Sidonie”, “Sara und Simón” oder “Als ob ein Engel” der Aufgabe gestellt hat, “Verantwortung gegenüber seinen Personen” zu übernehmen, “die keine Figuren sind”.
Schließlich ist es die sorgfältige Zusammenstellung einiger aufschlussreicher Vorworte und Anhänge, die Walsh für die diversen Ausgaben von “Operación Masacre” verfasst hat, sowie das pointierte Glossar, das dieses bedeutende Buch auch zu einem Meilenstein der argentinischen Literatur in deutscher Übersetzung werden lässt.

Rodolfo Walsh // Das Massaker von San Martín // Aus dem Spanischen von Erich Hackl // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 253 Seiten // 19,50 Euro // www.rotpunktverlag.ch

Fünf Jahre nach Atenco

Barbara Italia Méndez Moreno:
Politische Aktivistin aus Mexiko-Stadt und Mitglied der Anderen Kampagne. Sie gehört zu den elf Frauen, die bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eine Klage wegen Folter und sexueller Gewalt gegen den Staat Mexiko eingereicht haben.
Jaqueline Sáenz Andujo:
Rechtsanwältin und juristische Leiterin des Menschenrechtszentrums Miguel Augustín Pro Juárez (Centro Prodh) in Mexiko-Stadt, das die Frauen juristisch vertritt.

Wer trägt für die in Atenco begangenen Menschenrechtsverletzungen die Verantwortung?

Sáenz Andujo: Der Fall Atenco ist für uns ein Beispiel dafür, wie der Justizapparat gegen den „inneren Feind” eingesetzt wird, also zur Abstrafung sozialer und politischer AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und MigrantInnen. Die Justiz hat einen Pakt mit den polizeilichen Behörden und der Politik geschlossen. Erst der massive und anhaltende Protest von vielen Seiten hat dazu geführt, dass das Oberste Gericht im Februar 2009 als Ergebnis einer Sonderermittlung massive Menschenrechtsverletzungen in Atenco feststellte. Zugleich erlegte sich das Gericht durch eine interne Anweisung eine Beschränkung auf, durch die es keine individuelle juristische Verantwortung aussprechen konnte. Es kann keine Schuldigen benennen. Es spricht von behördlicher Zuständigkeit, kann aber keine Namen geben.

Wie hat sich dabei die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) verhalten?

Sáenz Andujo: Auch die Rolle der CNDH ist in diesem Fall zu kritisieren, denn sie handelt nicht als unabhängige Institution, wie es eigentlich sein sollte. Ihre Mitarbeiter haben zwar versucht, die Anzeigen wegen Folter und sexueller Gewalt zu untersuchen und verfassten mehrere Gutachten. Dabei stellten sie schwere Menschenrechtsverletzungen fest, benannten aber ebenfalls keine Verantwortlichen. Die von ihr ausgesprochenen Empfehlungen ergingen an das Innenministerium, die Bundesregierung, die Regierung des Bundesstaates Mexiko und die Migrationsbehörde INM. Das Ministerium akzeptierte die Empfehlungen jedoch nicht und stritt jegliche Menschenrechtsverletzungen ab. Stattdessen gründet seine Argumentationslinie auf der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und der Angemessenheit des Einsatzes der Staatsgewalt. Die Regierung des Bundesstaates hingegen strengte formal eine Untersuchung der Folter an. Nach einem Jahr erklärte sie allerdings, keine gültigen Beweise gefunden zu haben und legte den Fall bis auf weiteres zu den Akten. Auch die Migrationsbehörde, die die internationalen AktivistInnen abgeschoben hatte, kam den Empfehlungen nicht nach.

Wurde denn gar niemand zur Verantwortung gezogen?

Sáenz Andujo: Bis heute mussten sich nur sechs Polizeibeamte in einem Prozess wegen geringfügiger Vergehen verantworten. Sie mussten diese Zeit nicht in Untersuchungshaft verbringen und wurden schließlich freigesprochen. Die Sonderstaatsanwaltschaft für Gewaltdelikte gegen Frauen stellte vor zwei Jahren fest, dass sie für die Klage nicht zuständig sei und gab sie an die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates ab.

Was geschah mit den zwölf Gefangenen, die Freiheitsstrafen zwischen 30 und 100 Jahren erhalten hatten und dann im letzten Jahr freikamen?

Sáenz Andujo: Das oberste Gericht wertete die Anklage wegen Entführung von Staatsbeamten als Strategie zur Kriminalisierung der sozialen Proteste und erklärte sie für nicht statthaft. Auch die Macheten der Protestierenden wurden von dem Gericht nicht als Waffenbesitz interpretiert, sondern als symbolisches Mittel des Protests. Es ordnete die sofortige Freilassung der Gefangenen an. Das geschah nach vier Jahren, kurz nach ihrer Inhaftierung in Hochsicherheitsgefängnissen. Zwar wurden die Angeklagten freigesprochen, es existiert jedoch kein juristisches Mittel, Entschädigung der von ihnen erlittenen Bedingungen einzufordern.

Wie versuchen Sie, auf das Thema aufmerksam zu machen?

Sáenz Andujo: Anlässlich des fünften Jahrestages von Atenco wollen wir das Thema öffentlich machen. Atenco ist nicht abgeschlossen, trotz der Freilassung der politischen Gefangenen. Einige Verfahren sind noch anhängig. Eine Gruppe von Compañeras hat ihrerseits die sexuelle Gewalt und die Folter in Atenco angezeigt. Nach fünf Jahren hat sich dabei kaum etwas getan und das ist beunruhigend. Das Centro Prodh begleitet die Frauen seit 2006. Wir haben einen Weg gesucht, ihre Anzeige voranzubringen und sexuelle Gewalt und Folter gegen Frauen in einem Kontext unkontrollierbarer staatlicher Gewalt zu dokumentieren. Deshalb entschieden wir uns dafür, die Interamerikanische Menschenrechtskommission anzurufen. Es soll der mexikanische Staat mit seinen verschiedenen Institutionen verklagt werden, und nicht einzelne Personen und Beamte.

Warum haben Sie den Fall der Kommission zur Überprüfung vorgelegt?

Méndez Moreno: Wir wollten damit deutlich machen, dass wir den Staat für den verantwortlichen Akteur halten und dies auch öffentlich machen. Wir wollten zeigen, dass es sich nicht um einen einzelnen Exzess polizeilicher Gewalt handelte, sondern um eine gezielte Strategie gegen politische und soziale Bewegungen.

Was ist bisher mit der Klage vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission geschehen?

Sáenz Andujo: Die Klage vor der Kommission enthält als Sammelklage mehrere Punkte, darunter willkürliche und unrechtmäßige Freiheitsberaubung, Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, sexuelle Folter, Verweigerung des Zugangs zu Rechtsmitteln sowie Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die Klage wurde im April 2008 präsentiert. Das sind jetzt fast schon drei Jahre und die Phase der Überprüfung zur Annahme der Klage dauert immer noch an. Wenn die Kommission nach Annahme des Falles keine befriedigende Lösung finden kann und die von ihr ausgesprochenen Empfehlungen durch Mexiko nicht eingehalten werden, wird sie den Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen. Zur Erinnerung: Mexiko ist in den letzten Jahren bereits in fünf Fällen durch den Gerichtshof verurteilt worden. Bei Inés Fernández und Valentina Rosendo ging es beispielsweise um von Militärs begangene sexuelle Folter, mit einer ganz klaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Auch bei dem Campo-Algodonero-Fall zu den Frauenmorden in Ciudad Juárez wird die institutionalisierte Gewalt des Staates gegen die Frauen deutlich. Mexiko hat die bisherigen Anfragen nicht beantwortet, die Regierung zögert den Prozess hinaus.

Welche Rolle hatte und hat die internationale Unterstützung für Sie?

Méndez Moreno: Die internationale Solidarität war sehr wichtig. 2006 kamen die ersten 160 Gefangenen aufgrund der breiten Mobilisierung der Proteste bereits nach vierzehn Tagen frei. Die nationale und internationale Unterstützung hat über die Jahre angehalten und bis zur Freilassung der letzten zwölf politischen Gefangenen geführt. Und sie war auch der Grund, weshalb der Staat sie letztendlich freisprechen musste, weil er ihre Haft nicht länger rechtfertigen konnte. Mein Besuch hier in Europa gibt mir viel Kraft. Die öffentlichen Veranstaltungen und die Möglichkeit, über unsere Erfahrungen zu sprechen, ist Teil unserer Heilung. Das hilft uns dabei, uns als Frauen und Menschen wiederherzustellen, unser Bewusstsein und unsere Körper wiederzuerlangen. Für uns bietet das die Chance, nach vorn zu schauen und weiterzumachen.

Wie hat sich die Lage für AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen mit dem Krieg gegen die Drogenkartelle und der einhergehenden Militarisierung verändert?

Sáenz Andujo: Die Situation ist sehr schwierig. Das lässt sich schon an den Übergriffen und Morden ablesen. Wenn einE MenschenrechtsaktivistIn ermordet wird, sagt die Regierung: „Das war die organisierte Kriminalität.“ Und rechtfertigt damit die Militarisierung des Landes. Jedes Mal benutzt die Regierung dieses Argument und bezeichnet die Kartelle als Verantwortliche. Die Militarisierung ist in vielen Regionen sehr schwerwiegend.
Gleichzeitig werden Stellungnahmen von Behörden veröffentlicht, in denen MenschenrechtsaktivistInnen, MigrantInnen und die organisierte Kriminalität als Gefahr für das Land fungieren. Angeblich tragen sie alle zur Instabilität der Ordnung bei. Ein Beispiel für diese Haltung ist eine Stellungnahme des mexikanischen Geheimdienstes CISEN vom letzten Dezember. Danach sind jene eine Gefahr, die gegen die Staatsmacht protestieren. Darin zeigt sich die gleiche Logik, mit der in den 1970er Jahren die Guerilla bekämpft wurde. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die staatliche Politik lebt mit dem Bild des „inneren Feindes“.

INFO-KASTEN:
Repression und Straflosigkeit in Atenco
Am 3. und 4. Mai 2006 mündeten die Proteste von BlumenhänderInnen in Texcoco und San Salvador Atenco im Bundesstaat Mexiko in Auseinandersetzungen mit den Gemeindeverwaltungen. Daraufhin marschierten 2.500 Beamte der bundesstaatlichen und nationalen Polizeieinheiten ein. Während des Einsatzes wurden Protestierende und Unbeteiligte angegriffen, zwei Jugendliche erschossen, unzählige Personen verletzt. Es fanden mehr als 200 Verhaftungen statt. Es folgten Misshandlungen, Demütigungen, Vergewaltigungen. Einige der AktivistInnen erhielten hohe Gefängnisstrafen wegen angeblicher Entführungen. Nur der anhaltende Protest im In- und Ausland führte zu ihrer Freilassung. Bis heute ist kein Polizist, Beamter oder Politiker für die begangenen Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden.

Politik in der Krise

Walter Palacios war Studentenführer, Gründungsmitglied und Anführer der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR). Er ist einer der wenigen Überlebenden des bewaffneten Kampfes, den die MIR 1965 in den peruanischen Anden um Cuzco und Junin führte. Im Jahre 1992, während der Fujimori-Diktatur, setzte sich Walter Palacios ins Exil nach Mexiko ab. Dort lebte er bis 2002 als politischer Flüchtling. Als er nach Peru zurückkehrte, wurde er verhaftet. Wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA) saß er bis 2006 im Hochsicherheitsgefängnis Castro Castro in Lima. Nach seiner Entlassung setzte Walter Palacios seine politische Arbeit fort. Aktuell sammelt, systematisiert und analysiert er Dokumente und Zeugenaussagen der revolutionären peruanischen Linken der 1960er Jahre, die er in einem Buch zusammenstellen möchte.

Sie zählen zu den Veteranen der revolutionären Linken. Was waren wichtige Momente in ihrem politischen Leben?

Ich bin seit fast 60 Jahren politisch aktiv, also seit meiner frühen Jugend. In dieser langen Zeit hatte ich die Gelegenheit, viele Ereignisse in meinem Land und international zu erleben. Es ist nicht leicht für mich aufzuzeigen, was die wichtigsten Momente waren, aber ich versuche, einige zusammenzufassen: Ich lernte mit Luís de la Puente Uceda einen revolutionären peruanischen Anführer kennen. Er war mein Vorbild. Mit ihm gründeten wir 1959 die Bewegung der Revolutionären Linken MIR, er war unser Generalsekretär und Oberster Kommandant. 1965 fiel er an der Guerilla-Front in den Bergen von Cusco. Ein anderes Ereignis, das ich miterlebte, war der Triumph der kubanischen Revolution 1959. Ich lernte mit Fidel und Ché Guevara zwei ihrer wichtigsten Anführer kennen, ich erlebte den heroischen Kampf und Sieg des vietnamesischen Volkes und ich sprach mit Ho Chi Minh. Dem gegenüber stehen schwierige, traurige und schmerzhafte Erlebnisse wie der Tod von Genossen, Revolutionären und sozialen Kämpfern, erlittene Niederlagen oder das Verschwinden des sozialistischen Lagers.

Was waren die Visionen der MIR in den 1960er Jahren?

In meinem Land litt die große Mehrheit der Bevölkerung unter der Ausbeutung der herrschenden Klassen, die unsere Naturreichtümer dem ausländischen Kapital übergaben. Die Bauern waren abhängig vom Großgrundbesitz, die Rechte der Arbeiter wurden mit Füßen getreten. In dieser Situation entstand die MIR. Wir wollten auf revolutionäre Weise für soziale Gerechtigkeit und Sozialismus kämpfen. Die Gründung der MIR war auch eine Kritik an den traditionellen Parteien der Linken. Wir sahen uns als guevaristische lateinamerikanische Organisation, die sich nicht blindlings zu einem der internationalen Pole des sozialistischen Lagers bekannte. Diese Pole waren in jenen Jahren Moskau und Peking.

Wie ist die Situation der heutigen Linken in Peru? Es heißt, sie sei sehr zersplittert. Welche sind die wichtigsten Akteure?

Die repräsentative Politik befindet sich in meinem Land in einer Krise. Die Parteien sind geschwächt, es mangelt ihnen an neuen Führerungsfiguren. Davon ist auch die Linke betroffen. Sie ist in verschiedene Organisationen aufgeteilt, es fehlt ihr an Ansehen. Einige Organisationen sind verschwunden, andere versuchen jedes Mal dann aktiv zu werden, wenn Präsidentschafts- und Kongresswahlen anstehen. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die sich links und progressiv nennen und sich Ollanta Humala, dem Anführer der Nationalistischen Partei, angeschlossen haben. Er ist ein Ex-Militär und präsentiert sich als Opposition zur peruanischen Rechten. Aber es gibt auch eine wichtige soziale Bewegung, die radikal die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung Alan García und deren Korruption zurückweist. Das drückt sich in Mobilisierungen und Kämpfen auf dem Land, in den Regionen und im Inneren des Landes aus.

Wie charakterisieren Sie die Bewegung Land und Freiheit mit ihrem Anführer, dem Ex-Priester Marco Arana? Ist sie Teil der Linken?

Marco Arana wurde vor allem bekannt durch seine Anklagen gegen große ausländische Bergbaugesellschaften im Bezirk Cajamarca, die sich über die Rechte der Bevölkerung, der Arbeiter und den Umweltschutz hinwegsetzen. Seine Parteigänger nennen Marco Arana den Ökologen der Armen. Vor kurzem erhielt er den Aachener Friedenspreis in der BRD. Tierra y Libertad kann man als linke Bewegung bezeichnen. Sie wollten an den Wahlen teilnehmen, haben ihr Ziel jedoch vorerst nicht erreicht.

Wie sind die Perspektiven der Linken bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen am 10. April dieses Jahres und welche Rolle spielt dabei Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori?

Die Linke beteiligt sich, aufgeteilt in drei oder vier Listen, an den Wahlen. Sie hat im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas keine guten Chancen. Momentan führt Ex-Präsident Alejandro Toledo vom rechten Zentrum bei den Wahlumfragen. Keiko Fujimori, die Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori (nach aktuellen Umfragen: an zweiter bis vierter Stelle, Kopf an Kopf mit Alejandro Toledo, Luís Castañeda und Ollanta Humala, die Red.), will ihren Vater aus dem Gefängnis befreien. Das ist nicht akzeptabel. Wahrscheinlich wird es zu einer zweiten Wahlrunde der beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen kommen. Aufgrund der Millionen–Wahlkampagne Keiko Fujimoris und der anderen rechten Parteien besteht die Gefahr, dass Keiko Fujimori in die Stichwahl einzieht.

Wie viele politische Gefangene des MRTA gibt es derzeit? Was wissen Sie über ihre Situation und die Situation der Ex-Gefangenen?

Erinnern wir uns, dass ein Kommando der MRTA im Jahr 1996 – als die Fujimori-Diktatur am stabilsten war – die Residenz des japanischen Botschafters besetzte und die Freilassung von 480 Gefangenen forderte. Diese Operation scheiterte, und das MRTA-Kommando wurde bei der Erstürmung der Botschaftsresidenz durch das peruanische Militär liquidiert. In den letzten Jahren wurden die Gerichtsurteile gegen die politischen Gefangenen aus der Zeit der Fujimori-Diktatur revidiert, viele Gefangene kamen im Laufe der Jahre frei. Heute sitzen in den verschiedenen Gefängnissen meines Landes noch etwa 40 politische Gefangene des MRTA. Es ist mir wichtig, speziell auf die Situation von Jaime Ramirez Pedraza hinzuweisen, der sich in einem sehr kritischen Gesundheitszustand befindet. Er leidet an einer seltenen neuro-degenerativen Krankheit und ist schwer behindert. Wir wollen bei der peruanischen Regierung eine Haftbefreiung aus humanitären Gründen erreichen und benötigen dafür dringend internationale Solidarität. Jaime könnte im Ausland eine geeignete Therapie erhalten. Andere Gefangene sind frei gekommen und integrieren sich ins Familienleben aber auch ins politische Leben. Sie beteiligen sich an den Wahlen auf der Liste „Despertar Nacional“ („Nationales Erwachen“).

Neue politische Kraft

Soziale Bewegungen hatte es in Honduras selbstverständlich auch vor dem Putsch gegeben, wenn auch weniger stark ausgeprägt als in den umliegenden zentralamerikanischen Ländern. Dort wehrten sich seit den 1970er Jahren organisierte Guerilla-Bewegungen gegen die US-gestützten Militärregimes. In Honduras wurden währenddessen die Land- und Gewerkschaftsbewegungen meist mit Kompromissen oder direkter Gewalt kleingehalten. Ab Anfang der 1990er Jahre begann sich aber auch dort verstärkter Widerstand gegen die einsetzenden neoliberalen Strukturanpassungsprogramme zu regen. Aufgrund des tiefgreifenden Wandels im Wirtschaftsmodell und der daraus resultierenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse wurde – und blieb – jedoch vor allem die Gewerkschaftsbewegung sehr geschwächt. Ab der Jahrtausendwende kam neuer Schwung in die sozialen Proteste und es entstanden vermehrt Frauen- oder Umweltbewegungen sowie Widerstand gegen neue Freihandelsabkommen. Diese Gruppen agierten jedoch hauptsächlich getrennt voneinander, wenn auch mit der Gründung des Bloque Popular (Volksblock) der Coordinadora Nacional (Nationale Koordination) in den Jahren 2000 und 2003 Fundamente für eine Vernetzung gelegt wurden.
Parlamentarisch weitgehend isoliert, suchte Manuel Zelaya ab seiner Amtszeit 2006 Rückhalt in der Zivilbevölkerung. Die Annäherung wurde aufgrund seiner progressiven Reformen, dem Beitritt zum linken lateinamerikanischen Staatenbündnis ALBA und dem gemeinsamen Einsatz für die, von ihm vorgeschlagene Umfrage über eine partizipative Verfassunggebende Versammlung (VV) auch erwidert. Die herrschende Elite im Land sah somit die recht stabilen Kräfteverhältnisse in Gefahr. Der Staatsstreich sollte eigentlich die Stabilität wiederherstellen und den wachsenden Einfluss der Zivilgesellschaft verhindern. Tatsächlich konnte die nationale Elite ihr Fortbestehen durch ihr aggressives Eingreifen auch erst einmal sichern. Dies jedoch auf einem fragileren Fundament als zuvor, da die sozialen Bewegungen durch ihre gemeinsame Kraft in der Widerstandsbewegung Frente Nacional de Resistencia Popular (FNRP) erst an Schwung gewannen. Dass nach dem Putsch also eine so massive Bewegung entstand, lag einerseits an der Allianz mit Zelaya, der Zunahme der sozialen Proteste im letzten Jahrzehnt, der Existenz von schon bestehenden Organisationsstrukturen und dem gemeinsamen Feindbild: den „Putschisten“, beziehungsweise dem gemeinsamen Ziel: der Verteidigung der Demokratie, der Rückkehr Zelayas und der Einberufung einer VV.
„Der Putsch war wie ein Aufwachen für die Zivilbevölkerung und der Protest wie eine Schule auf den Straßen“, beschreibt Edgar Soriano, Historiker und Delegierter der FNRP. Die wenigen alternativen Medien klärten auf über die „zehn Familien“, die das Land besitzen. Treue KirchgängerInnen waren geschockt von der Komplizenschaft des katholischen Kardinals. Die großen Zeitungen entpuppten sich als Putsch-Medien und wurden links – oder eher rechts – liegen gelassen. Antreibende Kraft war somit vor allem die aufkommende Erkenntnis darüber, dass der formaldemokratische Staat vielmehr Projekt einer abgehobenen Elite ist und weite Bevölkerungsteile ausschließt.
Auf den Putsch folgten mehrere Monate mit täglichen friedlichen Massenmobilisierungen, Straßenblockaden, Boykotts und Streiks in den Städten und auf dem Land. Ausgangssperren, gewaltsame Auflösung der Demonstrationen, willkürliche Festnahmen, Militarisierung und Vergewaltigungen von Frauen durch Polizisten waren die Antwort des Putschregimes unter Roberto Micheletti. Auch die Zensur der wenigen kritischen Medien, Bedrohung von MenschenrechtsaktivistInnen und eine steigende Anzahl politischer Morde standen auf der Tagesordnung.
Nach der Wahlfarce im November 2009 und dem sinkenden internationalen Interesse schwand auch die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr zur demokratischen Ordnung mit Zelaya im Lande. Die Repression, finanzielle Schwierigkeiten und die Notwendigkeit der Rückkehr zum Arbeits- und Schulalltag ließen die FNRP ihre Strategie ändern. Zum Widerstand gegen den Putsch kamen langfristigere Forderungen hinzu und es wurde vermehrt auf die Stärkung der internen Strukturen und Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung durch den Aufbau alternativer Medien und politische emanzipative Bildung gesetzt.
Nach dem Amtsantritt Lobos Anfang 2010 hat sich die Situation für den Widerstand keineswegs verbessert. Vielmehr stellt die internationale Anerkennung des Regimes und das Ignorieren sämtlicher Menschenrechtsverletzungen ein Hindernis für die FNRP dar. Trotz allem ist sie im Land weiterhin eine sehr wichtige soziale und politische Kraft und wird laut Statistiken von über 30 Prozent der Bevölkerung als solche anerkannt. Die FNRP selbst beschreibt sich als eine offene, demokratische, anti-kapitalistische, anti-hierarchische, anti-imperialistische, anti-patriarchale und anti-rassistische Bewegung. Studierende, indigene und bäuerliche Gemeinschaften, Umweltgruppen, Gewerkschaften, feministische, lesbische und homosexuelle Bewegungen, KünstlerInnen und MusikerInnen, Teile von Parteien, Hausfrauen, Maquila-ArbeiterInnen, AnwältInnen, Lehrende, Menschenrechtsorganisationen und vor allem auch viele zuvor nicht organisierte Einzelpersonen sind darin repräsentiert – im Ganzen über 60 Organisationen.
Durch die Pluralität an AkteurInnen nahm die FNRP viele neue Konzepte auf, die selbst in den linken Kreisen noch ignoriert worden waren. So wurde klar, dass ausschließende Praktiken nicht nur auf die Beziehung Kapital-Arbeit zutreffen, sondern auch auf ethnische Herkunft, Gender und sexuelle Orientierung. Die Beschränkung auf die „Arbeiterklasse als einzigen sozialen Akteur“ wurde damit erweitert auf einen heterogenen sozialen Block. Vor allem Frauen, Feministinnen, Homo- und Transsexuelle konnten sich innerhalb der FNRP neue Freiräume eröffnen. „Dass heute bei Versammlungen gendergerechte Sprachweise verwendet wird, war vorher in unserer „Macho-Gesellschaft“ unmöglich“, begeistert sich Sara Eliza Rosales, Delegierte der FNRP, Schriftstellerin und Feministin.
Ziel der Basisorganisation ist ein grundlegender Wandel der Gesellschaftsform, des politischen Systems und des Wirtschaftsmodells. Ähnlich wie andere Transformationsprozesse der „Neuen Linken“ in Lateinamerika stellen sie eine VV ins Zentrum ihres Kampfes. Dabei geht es keinesfalls nur um eine rein formale Gesetzesänderung. Vielmehr soll es sich um einen emanzipatorischen Diskussionsprozess in allen Sektoren der Bevölkerung handeln, in dem sich Basisgruppen gemeinsam überlegen, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind und welche Forderungen sie stellen. „Eine neue Verfassung in Honduras muss zum Ziel haben, ein neues und alternatives Lebensmodell zu entwerfen“, betont Jesus Antonio Chavez, Aktivist der FNRP. Und Berta Cáceres von COPINH erklärt: „Wir wären erstmals in der Lage, einen Präzedenzfall für die Emanzipation der Frauen zu schaffen. Die aktuelle Verfassung erwähnt Frauen an keiner einzigen Stelle.“ Außerdem würde die erhoffte Magna Charta eine Grundlage für den endgültigen Bruch mit dem neoliberalen System, ein Verbot von Privatisierungen, den Austritt aus Freihandelsabkommen und die Förderung regionaler Integration darstellen. Auch eine neue Agrarreform stünde auf dem Plan. Für die Einberufung sammelte die FNRP im Jahr 2010 über 1,4 Millionen „Souveräne Erklärungen für eine VV“, was über 55 Prozent der WählerInnenschaft entspricht. Diese haben zwar keinen bindenden Charakter, dennoch zeigen sie, wie sehr der Wunsch nach grundlegenden Veränderungen in der Bevölkerung verankert ist.
Von 26. bis 27. Februar 2011 fand in Tegucigalpa die bisher größte Generalversammlung mit über 1.500 VertreterInnen aus allen Departamentos und sozialen Sektoren statt. Lange hatten alle darauf hingefiebert, sollten in ihr doch die zukünftigen Strategien zur Erreichung einer VV beschlossen werden.
Die Monate davor hatten viele interne Diskussionen darüber stattgefunden. Erkennbar waren hauptsächlich zwei Fraktionen: Die eine Seite plädierte für die Teilnahme an den nächsten Wahlen 2013, um schließlich mit einer Mehrheit im Parlament eine partizipative VV einberufen zu können. Andere Gruppen setzten sich für den weiteren Boykott der illegitimen Regierung Lobo und eine eigenständige Einberufung einer VV ein, die einen stärkeren Bewusstseinsbildungsprozess und eine Basisorganisierung in der Bevölkerung erreichen könnte.
In der Versammlung wurde entschieden, dass eine Wahlbeteiligung erst geplant werden kann, wenn die „Voraussetzungen dafür stimmen“. Dazu gehören die bedingungslose Rückkehr von Zelaya und anderen politisch Exilierten sowie das Durchführen einer selbst einberufenen VV. Erst danach und mit einem geänderten Wahlgesetz könnte die FNRP als soziale und politische Kraft direkt an Wahlen teilnehmen.
Bis jetzt erlaubt das Gesetz nur Parteien oder unabhängige Kandidaturen. Somit konnten eine Trennung in eine politische Partei und eine soziale Bewegung, sowie die immer größer werdende Dominanz der liberalen Partei innerhalb der FNRP verhindert werden. Die VV soll am zweiten Jahrestag des Putsches, am 28. Juni 2011, einberufen werden. Auch wird weiterhin auf die Destabilisierung des Regimes gesetzt, unter anderem durch einen nationalen Generalstreik.

Historischer Überblick

1502 // Christoph Kolumbus betritt zum ersten Mal das Territorium des heutigen Honduras. Dabei soll er gesagt haben: „Gracias a Dios que hemos salido de estas honduras.“ – „Gott sei Dank, dass wir diesen Tiefen entkommen sind“. Dieser Ausruf gibt dem Land seinen Namen.
1537 // Der Krieger Lempira des Lenca-Stammes führt die erste Widerstandsbewegung gegen die spanische Kolonialmacht an. Dafür vereint er 200 zuvor verfeindete Stämme und führt bis zu 30.000 Krieger gegen die Spanier ins Feld.
1539 // Bei vorgetäuschten Friedensverhandlungen wird Lempira hinterrücks von den Spaniern ermordet. Der indigene Widerstand bricht auseinander.
1821 // Die honduranische Oligarchie erklärt das Land für von Spanien unabhängig und schließt es kurzzeitig dem Kaiserreich von Mexiko an. Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht bedeutet allerdings nicht die Befreiung von Knechtung und Unterdrückung. Vielmehr festigen die machthabenden Schichten ihren Status und nehmen verstärkt Einfluss auf Politik und Wirtschaft.
1823 // Die Länder Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Honduras gründen die „Vereinigten Provinzen von Zentralamerika“. Eine der wichtigsten Personen sowohl der Unabhängigkeit als auch des Staatenbündnisses ist Francisco Morazán (1792-1842). Er stammt aus Honduras und ist zwischen 1829 und 1838 Präsident des zentralamerikanischen Zusammenschlusses. Unter seiner Führung wird die Sklaverei abgeschafft und die erste Verfassung erarbeitet.
1839 // Aufgrund von internen Machtkämpfen und Bürgerkriegen zerfallen die Vereinigten Provinzen von Zentralamerika. Seit der Unabhängigkeit kämpfen mehrere Fraktionen der Oligarchie um die Macht in Honduras. Zwischen 1821 und 1876 gibt es insgesamt 85 Regierungen.
1876 // Marco Aurelio Soto wird Präsident von Honduras und setzt liberale Reformen durch. Er säkularisiert den Kirchenbesitz, führt die Zivilehe und ein staatliches Bildungswesen ein. Seine Gegner, darunter die Kirche und Großgrundbesitzer, gründen später die Nationale Partei. Seine Befürworter, das städtische Bürgertum, die Liberale Partei. Diese beiden Parteien sind bis heute die wichtigsten des Landes. Soto öffnet Honduras für den Weltmarkt und lockt mit großzügigen Konzessionen vor allem US-amerikanische Früchte-Unternehmen. Honduras entwickelt sich zur „Bananenrepublik“.
1913 // Die US-Konzerne Standard Fruit Company, Cuyamel Fruit Company und United Fruit Company beherrschten den weltweiten Bananenmarkt und sind zusammen im Besitz von 75 Prozent aller honduranischen Plantagen.
1929 // Die Cuyamel Fruit Company fusioniert mit der United Fruit Company. Damit wird die United Fruit Company zur einflussreichsten politischen Macht der Region, mit weitreichenden Verbindungen zu den verschiedenen Diktaturen.
1933 // Die Diktatoren Tiburcio Carías Andino und Juan Manuel Gálvez Durón, die von 1933 bis 1948 beziehungsweise 1949 bis 1954 an der Macht sind, fühlen sich der United Fruit Company verpflichtet. Mit Hilfe der Staatsgewalt unterdrücken sie Gewerkschaften und Streiks der PlantagenarbeiterInnen.
1954 // Rund 25.000 ArbeiterInnen bestreiken die US-amerikanischen Bananenplantagen. Zum ersten Mal verliert die United Fruit Company an Einfluss. In Guatemala wird Präsident Jacobo Àrbenz durch einen von den USA unterstützten Putsch gestürzt. Zuvor waren einige Reformen auf den Weg gebracht worden, die unter anderem die Vormachtstellung der United Fruit Company bedrohten.
1975 // Die United Brands Company (vormals United Fruit Company, heute Chiquita) besticht Präsident Oswaldo López Arellano mit 1,25 Millionen US-Dollar, um die Senkung von Exportzöllen zu erreichen.
1979 // Die SandinistInnen stürzen den Diktator Anastasio Somoza Debayle in Nicaragua. Um gegen die linke FSLN sowie gegen die Guerilla-Bewegungen in El Salvador und Guatemala anzugehen, bauen die USA in Honduras eine konterrevolutionäre Streitmacht auf. Mitte der 1980er Jahre befinden sich zwischen 12.000 und 17.000 Contras auf honduranischem Territorium.
1982 // Der Kandidat der Liberalen Partei, Roberto Suazo Córdova, übernimmt nach Jahrzehnten der Militärdiktaturen als erster Zivilist die Präsidentschaft. Auch in den folgenden Jahren kehrt in Honduras kein Frieden ein. Oppositionelle werden von Contras und Todesschwadronen des berüchtigten Bataillons 3-16 gefoltert und ermordet.
1990 // Rafael Leonardo Callejas von der Liberalen Partei wird Präsident von Honduras. Er setzt neoliberale Strukturanpassungsrefomen um, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Schuldenabbau auferlegt wurden.
1993 // Der Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung Leo Valladares beziffert die Zahl der „Verschwundenen“ der 1980er Jahre in einem Report auf 184 und nennt die USA und Argentinien als Komplizen der Täter.
2006 // Manuel Zelaya Rosales von der Liberalen Partei wird Präsident. Im selben Jahr tritt das Freihandelsabkommen mit den USA in Kraft.
2008 // Honduras tritt dem linken und US-kritischen Staatenbündnis ALBA bei.
2009 // Anfang des Jahres erhöht Manuel Zelaya den Mindestlohn der Angestellten im öffentlichen Dienst und plant eine unverbindliche Volksbefragung zu einer Verfassunggebenden Versammlung.
28 Juni // Militärs nehmen Zelaya fest und fliegen ihn nach Costa Rica aus, Roberto Micheletti über nimmt de facto die Präsidentschaft.
02 Juli // Die Länder der Europäischen Union ziehen ihre BotschafterInnen aus Tegucigalpa ab. Die Putschregierung ruft den Ausnahmezustand aus.
05. Juli // Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert die Mitgliedschaft Honduras‘. Zelaya versucht, auf dem Flughafen in Tegucigalpa zu landen. Die Putschregierung erteilt keine Landeerlaubnis.
20. Juli // Die EU suspendiert Finanzhilfen an Honduras in Höhe von 90 Millionen US Dollar.
28. Juli // Die USA suspendieren Visa von vier Mitgliedern der Putschregierung.
08. September // Der IWF sperrt 163 Millionen US-Dollar, die für Honduras bestimmt waren.
21. September // Manuel Zelaya taucht überraschend in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. In den darauffolgenden Tagen setzt die Putscharmee Schallkanonen und Tränengas gegen die Botschaft ein.
26. September // De-facto-Präsident Roberto Micheletti erlässt ein Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte. Das Dekret soll bis zu den Wahlen in Kraft bleiben.
05. Oktober // Aufgrund vielfältigen Drucks muss Micheletti das Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte wieder aufheben.
29. November // Porfirio Lobo von der Nationalen Partei gewinnt dubiose Wahlen, die unter starker Militarisierung des Landes stattfanden. Das Oberste Wahlgericht spricht zunächst von über 60 Prozent Wahlbeteiligung, später korrigierte es den Wert auf nur noch 49 Prozent. Die Widerstandsbewegung kommt nach ihren Beobachtungen und Berechnungen auf Werte zwischen 25 und 35 Prozent.
2010, 27. Januar // Amtsantritt von „Präsident“ Porfirio Lobo. Am selben Tag geht Manuel Zelaya ins Exil in die Dominikanische Republik.
14. April // Porfirio Lobo unterzeichnet ein Abkommen, welches landlosen Kleinbauern und –bäuerinnen der Vereinten Bauernbewegung des Aguáns (MUCA) 11.000 Hektar Land zuspricht.
19. Mai // Die Europäische Union und die Staaten Mittelamerikas, darunter auch Honduras, unterzeichnen ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen.
15. September // Die Widerstandsbewegung hat über 1,3 Millionen Unterschriften für eine Verfassunggebende Versammlung gesammelt.
2011, 12. Januar // Das honduranische Parlament beschließt eine Verfassungsänderung. Damit dürfen Artikel, die die Wiederwahl des Präsidenten betreffen durch einen Volksentscheid geändert werden. Genau dies hatten die Gegner Zelayas zum Grund für den Putsch 2009 genommen.
26. Februar // Generalversammlung der Widerstandsbewegung findet statt. Im Vordergrund steht die Frage nach der politischen Beteiligung der Bewegung. Eine Wahlbeteiligung kommt erst in Frage, wenn Zelaya und andere politisch Exilierte ins Land zurückkehren dürfen, eine selbst einberufene Verfassunggebende Versammlung zustande kommt und das Wahlgesetz dahingehend geändert wird, dass auch die Widerstandsbewegung als soziale und politische Kraft teilnehmen kann.
30. März // In großen Teilen des Landes kommt es zu Demonstrationen von Lehrerverbänden und der Widerstandsbewegung gegen die Regierung Lobo. Die Polizei geht mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Menschen vor. Zahlreiche Personen werden verletzt und verhaftet.

Der lange Weg zur Gerechtigkeit

Die Gesichter der Männer sind von Müdigkeit und Entbehrung gezeichnet. Seit zwölf Jahren bewegt sich ihr Leben jenseits der Normalität. Damals, im Jahr 1999, wurden die Bauern und Umweltschützer Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera von Militärs im mexikanischen Bundesstaat Guerrero verhaftet und gefoltert. Die spätere Anklage sprach von illegalem Waffenbesitz und Drogenanbau. Heute leben beide im Exil. Im Dezember 2010 erhielt ihre Hoffnung auf Rehabilitierung und Entschädigung wieder Nahrung, als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica über ihren Fall entschied und den mexikanischen Staat wegen Menschenrechtsverletzung schuldig sprach.
Die Geschichte dieses Falls erzählt ein Dokumentarfilm, den das mexikanische Menschenrechtszentrums Miguel Agustín Pro Juárez (Centro Prodh) jüngst vorgestellt hat. Das Zentrum hat die Umweltaktivisten juristisch bis auf die internationale Ebene begleitet. Wie Luis Arriaga, Direktor des Prodh, im Gespräch klarstellt, ist dieser Fall jedoch keine individuelle Geschichte von Übergriffen, sondern gehört zur täglichen Realität in Mexiko. Er zeichnet ein Bild von politischen Missständen, von systematischen Menschenrechtsverletzungen, Kriminalisierung sozialer Proteste und der Rechtlosigkeit. „Die Bedrohungssituation für MenschenrechtsaktivistInnen, die sowohl Behinderung ihrer Arbeit als auch Übergriffe beinhaltet, gehören zu diesem Panorama dazu“, so Luis Arriaga.
Die Bauern Montiel und Cabrera gehörten in den 1990er Jahren zu denjenigen Campesinos, die sich in der Sierra von Petatlán im Südwesten von Guerrero gegen die Abholzung der Wälder zusammenschlossen. Verantwortlich für die Abholzung waren transnationale Unternehmen wie die US-amerikanische Boise Cascade mit Billigung der Regierung des damaligen Gouverneurs Rubén Figueroa sowie der Unterstützung der lokalen Kaziken und ihrer Mörderbanden. Greenpeace zufolge wurden zwischen 1992 und 2000 insgesamt 226.203 Hektar, also 38 Prozent der Waldbestände, illegal abgeholzt. 1998 gründeten die Bäuerinnen und Bauern die Organisation ökologischer Campesinos der Sierra de Petatlán und Coyuca de Catalán (OCESP). Ihr Protest erhielt relativ große Beachtung in den Medien und erzeugte einen öffentlichen Druck, der schließlich den internationalen Konzern zwang, sich aus dem Geschäft in Guerrero zurückzuziehen. Doch die UmweltschützerInnen hatten zu viele Interessen gestört und damit begann eine Jagd auf die Bäuerinnen und Bauern, die von ihren GegnerInnen unter anderem der Kontakte zur Guerilla bezichtigt wurden. Daran beteiligte sich auch die Armee. Sie hatte die Region nach dem Schmutzigen Krieg der 1970er Jahre nie wirklich verlassen und war seit der wieder erstarkenden Organisierung der ländlichen Bevölkerung in den 1990er Jahren und dem Massaker von Aguas Blancas 1995 an Mitgliedern einer Bauernorganisation erneut massiv präsent.
Montiel und Cabrera erhielten Gefängnisstrafen von sechs Jahren und acht Monaten sowie zehn Jahren. Der juristische Beistand und nationale sowie internationale Solidaritätskampagnen wie von Amnesty International verhinderten jedoch, dass sie für Jahre im Gefängnis verschwanden, wie viele andere AktivistInnen. Gleichzeitig verfolgte die Regierung des damaligen Präsidenten Vicente Fox (2000 bis 2006) eine außenpolitische Strategie der Weltoffenheit und Propagierung der Menschenrechte zur Aufbesserung des internationalen Images Mexikos. Die beiden Umweltschützer konnten im November 2001 das Gefängnis aus „humanitären Gründen“ verlassen. Doch nach Hause konnten sie nicht zurückkehren.
Denn bis heute ist die Region von Unsicherheit, Bedrohung und Repression geprägt, die ihre Ursachen in der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Konflikten um Landkontrolle haben. Die Sierra war und ist Anbaugebiet für Marihuana und liegt an der Route des interregionalen und internationalen Drogenhandels. Die Macht der lokalen Kaziken scheint nach wie vor ungebrochen und das Militär präsent. Ein anderer Ökobauer, Felipe Arreaga, starb 2009 unter ungeklärten Umständen, die Behörden sprechen von einem Verkehrsunfall. Auch dies kein Einzelfall, wie Luis Arriaga vom Centro Prodh feststellt.
Arriaga zufolge hat das Rechtssystem in Mexiko versagt. Und dies habe einen systemischen Charakter. Opfer von unrechtmäßigen Verhaftungen, Folter, illegalen Hausdurchsuchungen und Hinterbliebene von Exekutierten könnten nur sehr schwer ihr Recht einklagen. Daran haben laut Arriaga auch kleine Reformen in den vergangenen Jahren nicht viel geändert. „Das System beruht weiterhin auf Modellen der Verwaltung, Exekutive und Justiz, die darauf ausgerichtet sind, jegliche Form von sozialer Unzufriedenheit zu unterdrücken. Oder anders gesagt, eine Kriminalisierung des sozialen Protests.“ Die Gewalt der Polizeieinheiten und ihre Koordination mit anderen Behörden in Atenco und Oaxaca im Jahr 2006, Schauplätze der schwersten Menschenrechtsverletzungen seitens des Staates der jüngeren Zeit, hätten dafür genügend Beweise erbracht.
Montiel und Cabrera riefen das Interamerikanische System für Menschenrechte an, um Recht zu erhalten. 2009 ging der Fall an den Interamerikanischen Gerichtshof in Costa Rica. Der Tatbestand umfasste die Verletzung der persönlichen Freiheit und Integrität, zu denen die willkürliche Verhaftung und Folter gehörten. Auch wurde das Recht auf ein rechtmäßiges Verfahren verletzt, indem die Geständnisse, die unter Folter erzwungen wurden, als Beweismittel im damaligen Prozess zugelassen waren. Hinzu kommt die damalige Untersuchung der Foltervorwürfe vor einem Militärgericht – für den Interamerikanischen Gerichtshof ein Beweis des mangelhaften Zugangs zum Rechtssystem und ein wesentlicher Grund für Straflosigkeit. Dieser Missstand verweist auf mehrere Problemfelder, die Menschenrechtsorganisationen in Mexiko seit Langem bemängeln – die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen, Schutzlosigkeit von MenschenrechtsverteidigerInnen, das Fehlen staatlicher Mechanismen von Prävention und Schutz sowie eine unabhängige Justiz. Der Prozess vor dem Interamerikanischen Gerichtshof war ein großer Erfolg. „Er ist sehr wichtig, weil er offen die Rolle des Militärs im Bereich der Öffentlichen Sicherheit sichtbar werden ließ und die damit verbundenen Folgen für die Zivilbevölkerung anhand der Menschenrechtsverletzungen thematisierte“, so Luis Arriaga.
Die Situation der MenschenrechtsaktivistInnen sieht besorgniserregend aus. Ein Bericht des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte in Mexiko von 2009 enthält 128 registrierte Attacken auf MenschenrechtsverteidigerInnen zwischen 2006 und 2009 von denen nur zwei zu Verfahren führten. Gravierend sind auch Straftaten, die von Militärangehörigen an ZivilistInnen verübt und anschließend vor Militärgerichten verhandelt werden. Das Militär gilt als heilige Kuh des mexikanischen Staates und kann kaum zur Rechenschaft gezogen werden. Das gilt auch für Verbrechen der Vergangenheit. Für Luis Arriaga zeigt sich darin eine offensichtliche Ablehnung der Aufarbeitung der Vergangenheit und ihrer Verbrechen: „Das hat bewirkt, dass die grundlegenden Strukturen und Akteure des Staates straflos ausgehen und weiterhin bestehen bleiben. Es gibt Gesetze und eine Praxis, die aus dem autoritären Regime stammen und weiter wirken, ohne dass sie in Frage gestellt werden. Ein Prozess der Reinigung von diesem autoritären Regime der 1970er, 80er und 90er Jahre fand nicht statt. Und darin liegt der Grund für die tiefe Verwurzelung der Straflosigkeit im mexikanischen Staat.“
Im vorliegenden Fall von Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera verpflichtete der Interamerikanische Gerichtshof in seinem Urteil im Dezember 2010 den mexikanischen Staat zur Untersuchung der Vergehen und insbesondere der Folter durch ein ziviles Gericht, Entschädigung der Kläger, Sanktionierung der Täter, und zum Entzug der Zuständigkeit von Militärgerichten für alle Vergehen, die als Menschenrechtsverletzungen deklariert sind.
Der mexikanische Staat hat mit der Unterzeichnung und Ratifizierung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention auch die interamerikanischen Instanzen akzeptiert und ist zur Umsetzung des Urteils verpflichtet. Ein Recht auf Berufung ist ausgeschlossen. Jedoch existieren keine internationalen Sanktionsmittel. Der Gerichtshof hat als juristische Instanz vor allem eine politisch-moralische Bedeutung. Und so sendet die mexikanische Regierung regelmäßig kleine Signale der Kooperationsbereitschaft an die internationale Gemeinschaft wie zum Beispiel die Ankündigung, einen Dialog mit den mexikanischen Menschenrechtsorganisationen zu initiieren und verbindliche Kontroll- und Schutzmechanismen von MenschenrechtsaktivistInnen und JournalistInnen zu etablieren. Oder der Reformentwurf vom vergangenen Oktober, der drei Delikte aus der bisherigen Militärjurisdiktion herauszunehmen beabsichtigt, darunter Vergewaltigung, gewaltsames Verschwinden und Folter. Für Luis Arriaga ist dieser Entwurf unzureichend. Auch hätten die Urteile und Empfehlungen vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Jahre 2009, die unter anderem auch eine Reform der Militärjustiz für unabdingbar erachteten, kaum nennenswerte Resultate hervorgebracht. Mexiko müsse die internationalen Standards einhalten, so Arriaga. Deshalb bedarf es aus seiner Sicht des Drucks von internationalen Instanzen und der solidarischen Bewegung im Ausland. „Der mexikanische Staat vermittelt auf internationaler Ebene ein anderes Gesicht, als jenes, das er im Land selbst zeigt. Deshalb ist es wichtig, das wahre Gesicht Mexikos mit konkreten Fällen, Zahlen und Daten zu präsentieren. Wir müssen die internationale Bühne mit ihren Institutionen nutzen, damit Mexiko angehalten ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.“
Die Beanstandung der Zuständigkeit von Militärgerichten stellt auch kein Novum in der Rechtsprechung des Gerichtshofes in Costa Rica dar. Bereits in zwei früheren Fällen wurde die Verantwortlichkeit des mexikanischen Militärs für schwere Menschenrechtsverletzungen festgestellt und eine Justizreform in Mexiko angemahnt. Es handelt sich um den Fall des gewaltsamen Verschwindens von Rosendo Radilla, der 1974 an einem Militär-Checkpoint ebenfalls im Bundesstaat Guerrero von Soldaten verhaftet wurde und verschwand. Er gilt als exemplarischer Fall der mehr als fünfhundert Verschwundenen in Guerrero während des Schmutzigen Krieges (siehe LN 427). Der zweite Fall betrifft Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú, zwei Frauen vom Volk der Me‘phaa, die 2002 im Bundesstaat Guerrero von Soldaten bedroht und vergewaltigt wurden. Auch dieser Fall trägt emblematischen Charakter, da er auf die systematische Repression und Gewalt gegen die indigene Bevölkerung und insbesondere gegen Frauen und AktvistInnen durch staatliche Institutionen und das Militär hinwies. Doch trotz dieser Urteile ist in Mexiko in den letzten Jahre keine Kehrtwendung der Rolle des Militärs feststellbar, im Gegenteil.
Denn der Regierungsdiskurs über innere Sicherheit und den Krieg gegen die Drogenkartelle prägt die innenpolitische Situation und führt die militärische Logik fort. Dazu gehören die Entsendung von mehr als 50.000 Soldaten und die Militarisierung verschiedener Regionen mit einer Etablierung des Ausnahmezustands. Selbst die mexikanische Regierung spricht von über 36.000 Toten seit 2006, dem Jahr des Amtsbeginns von Präsident Felipe Calderón und dem damit verbundenen Beginn des „Krieges gegen die Drogen“.
Als Lösung in diesem aussichtslos scheinenden Szenario sieht Luis Arriaga nur einen Ausstieg aus dieser Logik vom inneren Feind und militärischer Konfrontation: „Die Erfolglosigkeit des Krieges ist eine deutliche Antwort. Weder ist die Produktion von und der Handel mit Drogen zurückgegangen, noch sind die Drogenkartelle geschwächt worden.“ Für Arriaga können nur eine klare Menschenrechtspolitik als Priorität und strukturelle Reformen einen Wandel bringen. Der Abzug der Armee aus dem Bereich der öffentlichen Sicherheit und die Abschaffung der Militärjustiz wären erste unabdingbare Schritte. Vielleicht werden eines Tages Rodolfo Montiel und Teodoro Cabrera endlich ihr Recht auch in Mexiko erlangen und nach Hause zurückkehren können. Der Weg bis dahin ist aber noch weit.

WACHSTUMSRAUSCH IM WAHLJAHR

Was haben Boxweltmeister im Schwergewicht mit peruanischen Präsidenten gemein? Nicht viel. Denn ein inzwischen zwar gebrochenes, aber lange Zeit gültiges Gesetz im Boxsport lautete: „They never come back.“ Wer seinen Titel als Weltmeister aller Klassen einmal verlor, der konnte ihn nie wieder zurückerobern. Für das peruanische Präsidentenamt gilt diese Regel mitnichten. Selbst Amtsinhaber, die sich im Stile eines angezählten Faustkämpfers mit viel Glück an das Ende ihres Mandats retteten, schaffen ohne Probleme ein Comeback.
Zum Beispiel Alan García. Auf die weitere politische Karriere des gegenwärtigen Präsidenten hätte am Ende seiner ersten Amtsperiode im Jahre 1990 kein Mensch mehr einen Cent gesetzt. García war damals in schwere Menschenrechtsverbrechen und zahlreiche Korruptionsskandale verwickelt. Seinem Nachfolger hatte er ein wahres Inferno hinterlassen: Über 7.000 Prozent Inflation und eine kriegerische Auseinandersetzung mit der maoistischen Guerilla Leuchtender Pfad, die pro Jahr Tausende PeruanerInnen das Leben kostete. Doch García kam zurück. 16 Jahre nach seinem schmählichen Abtritt gewann er 2006 zum zweiten Mal die Wahlen.
In diesem Jahr läuft Garcías Amtszeit ab, im April finden Wahlen statt. García darf sich nicht zur Wiederwahl stellen. Dafür kandidiert sein Vorgänger Alejandro Toledo. Wer sich an dessen Präsidentschaft erinnert, denkt an Massendemonstrationen, Streiks, Straßenblockaden und nicht eingehaltene Wahlversprechen. Die Zustimmung zu Toledos Politik war während seines Mandats auf acht Prozent gesunken – damals ein Negativrekord im lateinamerikanischen Vergleich. Toledos Partei Perú Posible errang bei den letzten Wahlen zum Kongress ganze zwei Sitze. Nach einem politischen Comeback sah das nicht aus. Doch seit Anfang Januar liegt der Ex-Präsident in allen Wahlumfragen überraschend an der Spitze. Mit neuen Wahlversprechen.
Und dann ist da noch ein Ex-Präsident. Ein Wahlbetrüger, der sich während seiner Amtszeit mit Erpressung und Bestechung die Medien, die Justiz und das Parlament gefügig machte. Der Chef und Auftraggeber einer Todesschwadron. Ein Mann, der wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen, Amtsanmaßung und Korruption zu mehr als 30 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Dennoch wäre der Ex-Diktator Alberto Fujimori vermutlich der schärfste Konkurrent Toledos, wenn er bei den Wahlen kandidieren dürfte. Weil er seinen Alltag aber hinter Gefängnismauern verbringt, kandidiert an seiner statt die 35-jährige Keiko Fujimori, seine Tochter. Und die liegt in den Meinungsumfragen gleich hinter Toledo, Kopf an Kopf mit Limas Ex-Bürgermeister Luís Castañeda.
Allen WählerInnen ist bekannt: wer für Keiko Fujimori stimmt, wählt ihren Vater Alberto, den Präsidenten der Jahre 1990 bis 2000. Keiko Fujimoris Parlamentsliste ist gespickt mit ehemaligen MitstreiterInnen und MinisterInnen ihres Vaters, die in dessen Straftaten verstrickt waren oder diese gedeckt haben. Wer sich nicht unter Vater Alberto bewährt hat und auf die Liste will, muss tief in die Tasche greifen. Laut einem abtrünnigen Parteimitglied kostet ein vorderer Listenplatz für die Parlamentswahl etwa 200.000 US-Dollar. Keiko Fujimori ließ nie einen Zweifel daran aufkommen, dass sie als Präsidentin ihren Vater aus dem Gefängnis befreien wird.
Auch die anderen Präsidentschaftskandidaten sind keine Unbekannten. Luís Castañeda, bis Oktober 2010 Bürgermeister Limas, galt noch Ende letzten Jahres als klarer Favorit. Doch ihm wird vorgeworfen, bereits als Bürgermeister mit öffentlichen Geldern die Werbetrommel für den Wahlkampf gerührt zu haben. Dabei ist Castañeda ohnehin durch Korruptionsskandale in der Hauptstadt angeschlagen. In der Presse wird er el mudo, „der Stumme“, genannt, weil er zu den Vorwürfen gegen ihn beharrlich schweigt. Hinter Castañeda und Fujimori hält Ollanta Humala den vierten Platz in den Umfragen – allerdings schon mit deutlichem Abstand. Humala hat vor fünf Jahren die Stichwahl gegen Alan García verloren.
Wer auch immer sein Nachfolger wird: Alan García hat in diesem Jahr, wie er selbst sagt, keine „Zeitbombe“ hinterlassen. Die peruanische Wirtschaft wuchs während der Präsidentschaft trotz zwischenzeitlicher Krise durchschnittlich um 7,2 Prozent pro Jahr, die Investitionen aus dem Ausland stiegen seit 1997 um 250 Prozent. Der peruanische Sol ist härter als der US-Dollar, der Konsum zieht an, die Bauwirtschaft boomt und der Anteil derjenigen, die in Armut oder in absoluter Armut leben, geht zurück. Geschafft hat García das mit einer Wirtschaftspolitik, die der Soziologe Julio Cotler nicht marktfreundlich, sondern unternehmerfreundlich nennt. Eben mit der gleichen Politik, die auch Garcías Vorgänger Fujimori und Toledo ausgezeichnet hat.
Angesichts der Wirtschaftszahlen kleckert García nicht. Neben dem Abbau von Mineralien, Gas oder Öl und der Produktion von Biodiesel in landwirtschaftlichen Großbetrieben fördert der Präsident vor allem so genannte Mega-Projekte: Megakraftwerke, Megahäfen für große Containerschiffe und eine transozeanische Megastraße quer durch das Amazonasgebiet bis an die brasilianische Grenze. Alles ist Mega bei García, und das Wirtschaftswachstum ist heilig. In Majaz, Tía María oder La Zanja wurden Bergbaukonzessionen gegen den Widerstand der Bevölkerung vergeben. Auf dem Gebiet der indigenen Gemeinde Awajún soll ohne Einwilligung der Eigentümer geschürft werden, ein geplantes Stauseeprojekt in Pakitzapango wird vermutlich 14 indigene Ashaninka-Gemeinden überfluten. Umweltschäden werden als begleitendes Übel hingenommen: Als im Juni 2010 aus einem leck geschlagenen Schiff der Firma Pluspetrol 300 Barrel Rohöl in den Rio Marañon flossen und sich 30.000 Tonnen giftiger Abfälle des Unternehmens Caudalosa Chica in den Rio Opamayo in Huancavélica ergossen, überließ die Regierung Tausende von Betroffenen weitgehend ihrem Schicksal.
Mit dem Bruttoinlandsprodukt wuchsen in den letzten Jahren auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich, obwohl das Wirtschaftsministerium das Gegenteil behauptet. Die Statistiken des Ministeriums enthalten aber nicht die Gewinne transnationaler Unternehmen. Diese Gewinne stiegen von durchschnittlich 239 Millionen US-Dollar pro Jahr in der Periode zwischen 1998 und 2002 auf etwa acht Milliarden US-Dollar im Jahr 2010. Damit verdienten diese Unternehmen im letzten Jahr in etwa so viel wie die ärmsten zwölf Millionen EinwohnerInnen des Landes zusammen. Außerdem stagnieren seit fast 20 Jahren die Ausgaben für Bildung bei drei Prozent und die für Gesundheit bei zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Damit bleibt Peru selbst im lateinamerikanischen Vergleich auf den hinteren Positionen. In einer weltweiten Pisa-Studie belegt Peru unter 65 Ländern nur den 62. Rang.
Die Folge von Garcías Politik: Allein im Jahr 2010 zählte die Menschenrechtsorganisation APRODEH mehr als 250 soziale Konflikte im Land. Doch García unterdrückt den Widerstand gegen seinen Wirtschaftskurs brutal. Während seiner Amtszeit wurden laut APRODEH etwa 70 DemonstrantInnen von der Polizei getötet und mehr als tausend angeklagt. Überdies hat García mit einem Gesetzesdekret dafür gesorgt, dass PolizistInnen und SoldatInnen nicht mehr strafrechtlich belangt werden können, wenn sie im Rahmen ihres Einsatzes Menschen töten. StraßenblockiererInnen und gewalttätige DemonstrantInnen können dagegen bis zu 25 Jahre ins Gefängnis geschickt werden.
Bei der Wahl stellt die Regierungspartei APRA keine Kandidatin. Die ehemalige Wirtschaftsministerin Mercedes Aráoz zog Mitte Januar ihre Kandidatur zurück, weil Jorge del Castillo, langjähriger Intimus und Anwalt des Präsidenten, von der Partei als Nummer eins auf die Liste der Parlamentskandidaten gesetzt wurde. Del Castillo ist in einen Abhör- und Korruptionsskandal verstrickt, der ihn schon seinen Posten als Ministerpräsident kostete. Alan García wird den Rückzug seiner Parteigenossin Aráoz eher verschmerzen als die diversen Korruptionsskandale in seiner Amtszeit, derentwegen er schon häufiger MitarbeiterInnen opfern musste. Im Übrigen braucht sich García um sein politisches Erbe nicht zu sorgen: Alejandro Toledo, Luís Castañeda oder Keiko Fujimori setzen allesamt auf die Fortsetzung des aktuellen Wirtschaftskurses.
So prahlt Castañeda mit mindestens acht Prozent Wachstum pro Jahr bis 2016, Toledo verspricht sechs Prozent. Wirtschaftskrisen sind während der Wahlperiode nicht vorgesehen. Fast alle Kandidaten sprechen sich für strukturelle Veränderungen aus. „Ich werde mit meiner rechten Hand die Wirtschaft lenken und mit meiner linken die Umverteilung!“ kündigt etwa Toledo an. Anders als während seiner ersten Amtszeit werde er den Bildungsetat verdoppeln und den Gesundheitsetat um mindestens 50 Prozent hochfahren. Castañeda und Keiko Fujimori versprechen nicht ganz so hohe Investitionen. Doch die Kandidaten verraten nicht detailliert, woher sie so viel Geld für Umverteilung, Bildung und Gesundheit nehmen wollen. Die höheren Steuereinnahmen aufgrund des Wachstums reichen dafür nicht aus. Alejandro Toledo hatte bereits fünf Jahre lang die Chance, seine jetzigen Ideen umzusetzen. Er ließ diese Chance verstreichen.
Allein Ollanta Humala plant eine höhere Besteuerung der transnationalen Konzerne, deren Gewinne in den letzten Jahren wegen der hohen Preise für Mineralien Rekordwerte erreichten. Nach Berechnungen des Ökonomen Pedro Francke könnte allein eine Steuer auf besonders hohe Gewinnmargen pro Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar zusätzlich in die Staatskassen spülen. Doch Toledo, Castañeda und Fujimori trauen sich an dieses Thema nicht heran.
Auf Humalas Liste mit dem Namen Gana Perú, „Peru gewinnt“, kandidieren auch Politiker aus der Sozialistischen Partei um den langjährigen Kongressabgeordneten Javier Díez Canseco. Anderen linken Gruppierungen ist der ehemalige Oberst Humala zu autoritär. Möglicherweise haben sie auch nicht vergessen, dass Humala früher einmal gegen Schwule hetzte und die Überlegenheit einer sogenannten „kupferfarbenen Rasse“, einer raza cobriza, propagierte. Außerdem steht Humala im Verdacht, während des Bürgerkriegs mit dem Leuchtenden Pfad in Menschenrechtsverbrechen der Armee verwickelt gewesen zu sein. Wie dem auch sei: Ollanta Humala bleibt eine Wundertüte, die sich erst im Falle eines Wahlsiegs öffnet.
Ein weiteres Linksbündnis ist nicht zustande gekommen. Marco Arana, Vorsitzender der Bewegung Tierra y Libertad („Land und Freiheit“) aus Cajamarca, hat seine eigene Kandidatur zurückgezogen, Alberto Pizango, Chef der Indigenen-Bewegung AIDESEP, ebenfalls. Beide wären völlig chancenlos gewesen. Die Neuauflage eines Bündnisses wie der vereinten Linken, Izquierda Unida, das in den 80er Jahren durchaus erfolgreich bei Wahlen war, ist kläglich gescheitert und auch künftig nicht in Sicht.
Egal ob Toledo, Castañeda oder Fujimori die Wahlen gewinnt. Die einseitig kapitalfreundliche Politik Alan Garcías wird vermutlich bis 2016 fortgesetzt. Es sei denn, Alejandro Toledo, der Mann an der Spitze der Umfragen, löst dieses Mal seine Wahlversprechen ein. Für 2016 hat bereits ein weiterer bekannter Politiker seine Kandidatur angemeldet: Alan García, der unbedingt zum dritten Mal peruanischer Präsident werden möchte. Das hat seit fast 150 Jahren niemand mehr geschafft. Wenn García nicht in der Zwischenzeit wegen Korruption angeklagt wird, ist ihm das durchaus zuzutrauen. Immerhin hat der noch amtierende Präsident vorgesorgt. Um Rechtsstreitereien mit Gerichten zu vermeiden, versuchte er in den vergangenen Jahren weitgehend erfolgreich, wichtige Posten in der Justiz mit Gefolgsleuten zu besetzen. So funktioniert Politik in Peru.

Tod des tatic

Samuel Ruiz wurde als unermüdlicher Verfechter der Menschenrechte weltweit bekannt. Er hatte die Friedensgespräche zwischen den Zapatisten und der mexikanischen Regierung in den 1990er Jahren begleitet, sich für die guatemaltekischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den 1980er Jahren eingesetzt sowie ein eigenes Menschenrechtszentrum begründet. Mehrmals wurde er als Kandidat für den Friedensnobelpreis gehandelt. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Simón Bolivar Preis der Unesco und 2001 mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis geehrt.
Mit nur 37 Jahren wurde Samuel Ruiz zum Bischof der besonders verarmten und indigenen Diözese San Cristóbal ernannt. In Chiapas war es den Indigenen damals noch verboten, den Bürgersteig zu benutzen, viele Fincabesitzer hielten ihre ArbeiterInnen als Leibeigene. In diesem Klima begann der zunächst sehr konservative und paternalistisch agierende Bischof Samuel Ruiz seine Arbeit.
In den 1960er Jahren begann jedoch der Wandel Ruiz‘ zu einem Advokat der Befreiungstheologie und einer indigenen Pastoral. Er nahm am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) teil, sowie an den wegweisenden Bischofskonferenzen 1968 in Medellín, Kolumbien, und 1979 in Puebla, Mexiko. Bald entsandte er indigene Diakone und Nonnen mit priesterlichen Funktionen, bildete indigene KatechetInnen zu religiösen und politischen FürsprecherInnen ihrer Gemeinden aus, unterstützte politische Gruppierungen und nutzte kirchliche Strukturen und Ressourcen zur Organisation der Indigenen.
Nach dem zapatistischen Aufstand wurde ihm die Unterstützung der Guerilla vorgeworfen. Ruiz, der den gewaltsamen Weg stets abgelehnt hatte, entgegnete diesem Vorwurf: „Wenn ich 30 Jahre versucht habe, ein Bewusstsein zu schaffen und meine Katecheten immer noch nicht Wege zur Rückeroberung ihrer seit langem geschändeten Würde suchten, würde ich mich als Bischof in meiner Pastoral gescheitert fühlen.“ Die Zapatisten äußerten sich in einem Abschiedsbrief nach seinem Tod so: „Auch wenn die Differenzen, Uneinigkeiten und Distanzen weder selten noch oberflächlich waren, wollen wir heute den Weg und das Engagement nicht nur einer Person, sondern einer ganzen Strömung in der katholischen Kirche hervorheben.“
Aufgrund seines Engagements und seiner Kirchenpolitik wurde er vielfach angefeindet und Opfer von Attentaten und Verleumdungen. Der Vatikan stand seiner Arbeit offen feindlich gegenüber. Jedoch ist sein Tod für die progressive, katholische Kirche, viele Gläubige und die politische Linke gerade in der aktuellen Situation Mexikos ein schmerzlicher Verlust.

Imagemaschine

nd bringende Lokomotiven hat sich Präsident Juan Manuel Santos für Kolumbien ausgedacht: Infrastruktur, Landwirtschaft, Wohnraum, Bergbau und Innovation. Der Staat ist die Maschine, die die Lokomotiven koordiniert. Dieses Bild nutzt der Präsident seit seiner Amtsübernahme im August immer wieder – in einem Land, in dem es seit Jahrzehnten keinen Eisenbahnverkehr mehr gibt. Es ist ein sehr aktiver Staat, der da Infrastrukturinvestitionen und formelle Arbeitsverhältnisse verspricht: „In jedem kolumbianischen Haushalt soll wenigstens eine Person einen richtigen Arbeitsvertrag haben. Wir wollen bis 2014 zweieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze schaffen“.
Die Zustimmung der Bevölkerung zum Regierungskurs liegt in offiziellen Umfragen denn auch bei um die 80 Prozent. Santos hat es geschafft, das gesamte bürgerliche Lager um sich zu scharen. Er kommt aus der traditionellen politischen Elite Bogotás, anders als sein Vorgänger Álvaro Uribe, dem engere Verbindungen zu regionalen Caudillos und zum Drogenhandel nachgesagt werden.
Vom Image des wütenden Uribe, der auf TerroristInnen schimpft, wenn er kritische JournalistInnen meint, hat Santos den Schwenk zu versöhnlichen Gesten vollzogen. Nicht umsonst ist er im familieneigenen Medienimperium El Tiempo groß geworden. Und er weiß dieses Image international zu festigen: freundliche Treffen mit Hugo Chávez, Investitionssicherheit für die EU. Die „Nationale Einheit“ scheint ein Erfolg. Santos lädt ein, sich hinter seiner Politik zu versammeln. „Die Lösung von Problemen wie der Arbeitslosigkeit, Sicherheit und Armut kann ja keine politische Farbe haben. In wichtigen Projekten haben uns zum Beispiel die Grünen geholfen“, sagte Santos im Interview mit der Zeitung seiner Familie, El Tiempo. Die Grünen hatten mit Antanas Mockus noch im Mai den Gegenkandidaten für die Präsidentschaftswahl gestellt. Eine parlamentarische Opposition steht dem Bündnis von Santos‘ Partido de la U kaum entgegen: Aus dem in sich tief gespaltenen Linksbündnis PDA nähern sich viele der Berufspolitiker dem Projekt der „Nationalen Einheit“ von Santos an.
Dabei gibt es durchaus Dinge, die der Regierung zu schaffen machen. Die winterlichen Überschwemmungen, die dieses Jahr bereits über 195 Tote gefordert und über 1000 zerstörte Häuser zur Folge haben, zwangen Santos dazu, internationale Hilfe anzufordern.
Die Beseitigung des enormen Haushaltsdefizits erklärte der Präsident zur Hauptaufgabe. Im Senat wird ein Gesetz diskutiert, das „das Recht auf Ausgeglichenheit im Staatshaushalt“ in der Verfassung festschreiben soll: Damit könnten alle anderen Vorhaben davon abhängig gemacht werden, ob dann mit Schulden zu rechnen wäre oder nicht. Einmal mehr würde Kolumbien zum Musterschüler des Internationalen Währungsfonds. Sparen will die Regierung zum Beispiel dadurch, dass die Gewinnabgaben aus Bergbau und Ölförderung direkt an den Zentralstaat und nicht mehr an die Regionen gehen sollen. Gespart wird natürlich auch im sozialen Bereich: Die Gesundheitspolitik etwa führt weiter, was im vergangenen Januar schon einmal für massiven Protest gesorgt hatte: Ärmere Patienten haben kaum Chancen, Subventionen aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu bekommen. Eine Behandlung ermöglichen sich die Patienten durch private Zuzahlungen. Ein weiteres Problem für die Regierung ist die Währungsinstabilität: Die kolumbianische Zentralbank kauft einmal mehr täglich 20 Millionen an Dollarreserven auf, damit der Peso im Verhältnis zum schwachen Dollar nicht zu stark und die kolumbianischen Exporte nicht zu teuer werden – von denen ist das Land nun mal abhängig.
Am Wirtschaftsmodell, das sich mitten im Bergbauboom am Export von Kohle, Gold, Öl und anderen Primärgütern orientiert, hat sich nichts geändert. Neuen Raum nimmt aber die Modernisierung der Landwirtschaft ein, wie Agrarminister Juan Camilo Restrepo im August präsentierte: Der Zugang zu Agrarland soll verbessert, die Nutzung verändert, flächendeckend Landtitel vergeben werden, ein Programm zur Rückgabe von Land an Vertriebene aufgelegt und Landtitel auf illegal erworbenes Land entzogen werden. Die Steuern auf Grundbesitz sollen modernisiert werden.
Dass die Regierung die Rückgabe von Land an interne Flüchtlinge verkündet hat, hatte in Bogotá für große Aufmerksamkeit gesorgt. Zunächst gab es zwei Gesetzesprojekte: Eines zur Rückgabe von Land an einen Teil der über vier Millionen von ihrem Flecken Land Vertriebenen. Zwei Millionen Hektar wolle man in den kommenden vier Jahren für Opfer von Vertreibungen verfügbar machen. Außerdem wolle die Regierung „bald“ eine Gesetzesinitiative zur Agrarreform präsentieren, die in Kolumbien seit über 100 Jahren immer wieder gefordert und nie umgesetzt wurde.
Symbolisch ist der Schwenk der Regierung wichtig: Endlich gibt es eine Anerkennung der Vertriebenen. Doch eine Initiative der Regierung ist das Vorhaben keineswegs: Das Verfassungsgericht fordert eine Regelung schon seit Jahren. Die strukturellen Probleme, die die Vertreibung erst möglich machten, würden nicht einbezogen – so jedenfalls die Kritik der Opferorganisationen. Inzwischen seien die beiden Gesetzesvorhaben zusammengeschrumpft auf Initiativen zur Wiedergutmachung. Das Projekt sei sehr begrenzt und habe mit einer Agrarreform nichts zu tun. Was passiere, wenn nun tatsächlich jemand in seine alte Heimat zurückkehre? Es gebe keinerlei Garantien, dass die Vertriebenen nicht erneut mit Verfolgung rechnen müssen. Woher das Geld für die Landverteilung kommen solle, sei unklar. Wie eine kollektive Wiedergutmachung für indigene oder afrokolumbianische Gemeinden aussehen soll, die besonders von Vertreibungen betroffen sind, ist kein Thema. Währenddessen ist die erste Lesung des Gesetzes im Repräsentantenhaus erfolgreich verlaufen, mehrere Lesungen im Senat stehen noch an. Nach anfänglicher Kritik schloss sich das Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) dem Vorhaben an. Konflikte mit Teilen der Ultrarechten sind dennoch möglich: Schon, dass im Gesetzesentwurf Opfer von Verbrechen von Staatsbediensteten ebenfalls als Opfer anerkannt werden, verleitete Ex-Präsident Uribe zur Aussage, das würde die Truppen demoralisieren.
Im Grunde solle das Gesetz den Landbesitz in Kolumbien „in Ordnung bringen“, dieser Meinung ist der Politikwissenschaftler Carlos Gutiérrez. Er befürchtet sogar, eine weitere Landkonzentration könnte die Folge des Gesetzes sein. Besitztitel für privaten Landbesitz werden festgeschrieben, wo dies bisher nicht der Fall war, und damit der Zugang zu Krediten erleichtert. Ein Teil der Vertriebenen wird entschädigt und die Agrargrenze möglicherweise noch ausgeweitet. Erreicht wird eine Inwertsetzung von Parzellen, die zuvor in Subsistenzwirtschaft betrieben wurden.
Das Versprechen der Regierung ist folgendes: „Wir wollen, dass jeder Bauer sich in einen wohlhabenden Juan Valdéz verwandelt: Einen produktiven Unternehmer, der im Berufsverband organisiert ist, mit der Berufung zum Export, der mit technologischer Hilfe erster Güte rechnen kann“, so Santos bei einer Rede im Departamento Bolívar im Oktober. „Juan Valdéz“ ist die kolumbianische Modellfigur des glücklichen Kaffeebauern. Allerdings stellt sich die Regierung vor, export-orientierte Kleinbetriebe in Kooperativen zusammenzuschließen, die von größeren Unternehmen Technologie zur Verfügung gestellt bekommen – unabhängige Landwirtschaft sieht anders aus.
Santos versucht zudem, die Wogen zwischen Exekutive und den Obersten Gerichten wieder zu glätten. Anfang Dezember konnten sich Regierung und Judikative endlich auf die neue Generalstaatsanwältin Vivianne Morales einigen. Der Posten war wegen permanenter Konflikte zwischen Ex-Präsident Uribe und den rechtsprechenden Organen 16 Monate vakant gewesen. Uribe schien zeitweise so etwas wie einen persönlichen Feldzug gegen den Obersten Gerichtshof zu führen. Die „Versöhnung“ mit der Judikative könnte nun allerdings bedeuten, dass einige der PolitikerInnen, die mit dem Paramilitarismus zu tun hatten, mit juristischem Nachspiel zu rechnen haben, da sie das Image einer rechtsstaatlichen Nachkriegsgesellschaft doch gewaltig stören. Da ist plötzlich von Korruption im Transportministerium und im Kolumbianischen Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER) die Rede. Letzteres hatte Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten.
Einige aus der Regierung von Álvaro Uribe bekommen es deshalb mit der Angst zu tun. María del Pilar Hurtado beantragte in Panama politisches Asyl – sie sei in Kolumbien „nicht mehr sicher“. Die ehemalige Geheimdienstchefin und der Leiter des Präsidentenamtes Bernardo Moreno sollten wegen des Ausspionierens von Oppositionellen vor Gericht gestellt werden. Dass die Regierung Panamas ihr am 19. November tatsächlich Asyl gewährte, sorgte für Aufsehen und Protestdemonstrationen in beiden Ländern. Immerhin hatte del Pilar Hurtado einem staatlichen Apparat angehört, der über Jahre systematisch mit kriminellen Methoden regierungskritische Organisationen, AnwältInnen und JournalistInnen verfolgte und bis zu den kleinsten häuslichen Details dokumentierte (siehe LN 431). Der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras beeilte sich zu betonen, dass es sich in Kolumbien um faire Verfahren handele. „Es stimmt nicht, dass der kolumbianische Staat seine Bürger nicht schützen könne. Wir haben hier eine Demokratie, und die drei Gewalten arbeiten harmonisch zusammen“, sagte Präsident Santos. Weiteren „Asyl“-Anträgen wurde daraufhin nicht stattgegeben.
Einerseits sollen wohl tatsächlich staatliche Institutionen wieder in rechtsstaatlichere Bahnen gelenkt werden. Andererseits, so der Politikwissenschaftler Héctor Moncayo in einem Radiointerview, eröffnet sich über diesen juristischen Weg die Möglichkeit, die Verantwortung für staatliche Verbrechen Einzelnen zuzuschreiben: Eigentlich seien staatliche Institutionen Opfer einer Infiltrierung von der Mafia, das habe rein gar nichts mit staatlicher Politik zu tun – private Gruppen seien schuld an Menschenrechtsverbrechen und alles sei zudem hinter Ex-Präsident Uribes´ Rücken geschehen. So blieben Verfahren gegen Einzelne, aber im Großen und Ganzen eine flächendeckende Straflosigkeit der Verantwortlichen die Norm.
Bei all dem ist es fast verwunderlich, wie Santos sein Image im Griff hat, war er doch eine zentrale Figur im Kabinett der letzten Jahre. Als Verteidigungsminister war er verantwortlich etwa für das Bombardement eines Guerilla-Camps auf ecuadorianischem Boden 2008. Während seiner Amtszeit wurde ein System von Boni für SoldatInnen eingeführt, die getötete Gueriller@s präsentierten. Tausende ZivilistInnen wurden daraufhin von Militärs ermordet und als „im Kampf gefallen“ erfasst. Der Trick heißt Rhetorik: Bei allen genannten Vorhaben (Rückgabe von Land, juristisches Haftbarmachen von TäterInnen) wird aus einer Nachkriegsperspektive gesprochen.
Bereits unter Uribe sei erreicht worden, was man wollte: jegliche Versuche einer Friedenspolitik zu delegitimieren, so Moncayo. Denn die sei ja Komplizenschaft mit dem „Terrorismus“. Jetzt wird das Bild verbreitet, der „Terrorismus“ sei so gut wie besiegt, „als wären wir in einer neuen Welt der Versöhnung angelangt“.
In der kolumbianischen Realität herrscht aber weiterhin Krieg: Ende September verbuchte die Regierung einen großen Erfolg, als der FARC-Kämpfer Mono Jojoy getötet wurde. Der so genannte „Konsolidierungsplan“ soll nun – sozusagen als sechste Lokomotive – mit der „integralen Präsenz des Staates“ in etwa Hundert Gemeinden in den Departamentos Meta im Südosten und Sucre und Córdoba im Nordwesten des Landes für Ordnung sorgen, wo die Guerilla zurückgedrängt wurde. „Integrale Präsenz“ bedeutet in diesem Fall Patrouillen von Militärs im städtischen Bereich und soziale Kontrolle auf allen Ebenen: eine neue Phase der „Aufstandsbekämpfung“. Es ist schiere Illusion zu denken, Übergriffe der kolumbianischen Armee auf ZivilistInnen passierten jetzt höchstens noch vereinzelt. Gleichzeitig findet eine Reform der Strafgesetzgebung statt. Eine neue Straftat soll eingeführt werden: Apología al terrorismo heißt soviel wie Rechtfertigung des Terrorismus. Dass eine solche juristische Figur zur Kriminalisierung von KritikerInnen der Regierung beiträgt, liegt auf der Hand. Mit einer ähnlichen Argumentation war schon die liberale Abgeordnete Piedad Córdoba, durch deren Vermittlung in den letzten Jahren mehrere von der FARC Entführte nach Hause zurückkehren konnten, im September ihres parlamentarischen Mandats enthoben worden. Veränderungen sind auch im Strafverfahrensrecht und Polizeirecht geplant.
Die Regierung Santos bedeutet keineswegs die große Erneuerung des Landes. Es ist vielmehr erklärte Regierungspolitik, die Arbeit der Vorgängerregierung weiterzuführen. Aus Deutschland kann sie dabei mit umfassender Unterstützung rechnen: Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), der im November nach Kolumbien reiste, sagte dort, einem Land wie Kolumbien gebühre Solidarität. „Der internationale Terrorismus ist eine Bedrohung für alle. In diesem Zusammenhang wird Deutschland seinen Beitrag leisten.“

„Der Wandel stagniert“

Sie sprechen sich für eine zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas aus. Was verstehen Sie darunter?
Die erste Unabhängigkeit, deren 200-jähriges Bestehen wir gerade feiern, brachte uns eigenständige Regierungen. Allerdings sind wir bis heute nicht unabhängig vom System der ehemaligen Kolonisatoren. Eine kleine Machtelite beutet in den meisten Ländern Lateinamerikas einen großen Teil der Bevölkerung aus. Mit Hilfe bürokratischer Macht profitieren die ehemaligen „Mutterländer“ heute noch genauso von ihren „unabhängigen“ Kolonien. Wir brauchen nach der formalen Unabhängigkeit jetzt eine Befreiung von der Denkstruktur der Ausbeuter, von den gegebenen ökonomischen Strukturen.

Was heißt das genau?
Wir müssen uns von den Begriffen „Entwicklung“ und „Modernisierung“ befreien. Unter dem Diktum „Entwicklung“ werden Jahrhunderte alte Machtstrukturen bis heute fortgesetzt. Entwicklung kann es aber nur geben, wenn die Mehrheit profitiert. Das ist im Moment nicht der Fall.

Was ist zu tun?
Es gilt, die immer noch existierenden Machtstrukturen in Lateinamerika und im Speziellen in Paraguay aufzubrechen. Dazu braucht es aber viel Kraft.

Wie äußern sich diese Machtstrukturen?
Das beste Beispiel ist Soja. Es verdienen nur der Agroexporteur, der seinen Sitz meist irgendwo im Ausland hat, sowie europäische und nordamerikanische Großunternehmen, die etwa Saatgut verkaufen. Sie reinvestieren ihre Gewinne nicht im Land. Was sie konsumieren, wird importiert. Gleichzeitig kommt es zu einer Konzentration von Landbesitz, Vernichtung von Ressourcen und Krankheiten in der Bevölkerung durch massiven Einsatz von Pestiziden. Die Bauern, die wegen des schnellen Geldes ihr Hab und Gut verkauft haben oder vor den Pestiziden fliehen, werden dann in völlig unakzeptable Beschäftigungsverhältnisse meist am Rande der großen Städte gedrängt. Die Strukturen sind die gleichen wie vor Hunderten von Jahren. Deshalb wollen wir das vorherrschende Exportmodell zerstören, nicht nur „verbessern“.

Was tun Sie, als Teil der Regierung, dafür?
Der Prozess eines Wandels, den wir seit der Wahl umzusetzen versuchen, stagniert. Trotz unserer Wünsche und unseres Willens haben wir objektiv kaum etwas erreicht. Es fehlt an Macht.

Wie kommt das?
Wir sind zwar die Exekutive, aber in Polizei, Militär und bei der Verwaltung sitzen vielfach noch die gleichen Leute, die dort schon seit Jahren sind (Paraguay wurde 61 Jahre von der Partei Colorados regiert, Anm. d. Red.). Auch in der Judikative sind noch dieselben Leute, ebenso ist das Parlament in der Hand der Feinde. Sie blockieren alles, was wir tun wollen. Außerdem sind die Liberalen innerhalb der Regierungskoalition sehr stark, die Linke in der Minderheit. Die alte Verfassung, die Korruption, die Wirtschaft, die Organisation des Staates, alles bleibt wie es war.

Die Regierung Lugo wird inzwischen auch von den eigenen Leuten scharf kritisiert.
Kritik ist etwas absolut Wichtiges, um uns zu hinterfragen, welche Fehler wir gemacht haben. Wir müssen vor allem zwei Arten von Kritik einstecken. Einerseits konservative, von Leuten, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Andererseits progressive, meist von den Linken. Die meinen oft, dass ein Präsident oder Minister von Heute auf Morgen komplett die Wirtschaft und das soziale Leben umkrempeln kann.

Aber in der Kritik steckt auch ein Fünkchen Wahrheit, oder?
Ja, wir müssen selbstkritisch sagen, dass wir sehr große Fehler gemacht haben. Lugo hatte die Mehrheit des Volkes hinter sich. Er hätte sich von Anfang an an das Volk wenden, hätte Druck auf der Straße erzeugen müssen. Denn die Gegner, die übrigens in der Minderheit sind, haben in Wirtschaft und Medien das Sagen. Mit einer Agenda von drei, vier Punkten hätte er direkt das Volk ansprechen können, das die Macht auf die Straße trägt. Wenn das Volk nicht explizit auf unserer Seite ist, können wir keine Agrar- oder Arbeitsmarktreformen durchführen. Wir müssen die Massen bewegen, aber die Massen müssen auch kommen. Lugo hat stattdessen versucht, die Probleme des Volkes in der gegebenen staatlichen Ordnung zu lösen. Diese Ordnung ist aber noch die gleiche wie vor der Wahl, sie schützt die Reichen und schadet dem Volk.

Was könnten Sie tun?
Eine Entwicklung kann es innerhalb Lateinamerikas nur gemeinsam geben, wir müssen stärker mit anderen Ländern zusammen arbeiten. Innerhalb der bestehenden Regierung in Paraguay wird es schwer, etwas zu ändern. Die Liberalen, der größte Koalitionspartner, wollen alles bis zu den nächsten Wahlen 2013 aufschieben, um dann selbst den Präsidenten zu stellen.

Was kann die Linke dem entgegensetzen?
Wir wollen weiter auf die Probleme des Landes aufmerksam machen und dadurch eine echte Alternative zu den Liberalen und den Colorados bieten Zurzeit sieht es eher ungünstig für uns aus. Bei den Kommunalwahlen haben die fast alles gewonnen. Unsere Hoffnungen liegen derzeit auf einer neuen linken Vereinigung namens Frente Guasú (Breite Front). Sie soll verschiedene linke Bewegungen bündeln und damit die Fehler verhindern, die wir seit 2008 gemacht haben. Die Linke braucht vor allem aber auch einen Kopf, ein Gesicht.

Man liest hier viel über eine Guerilla namens Paraguayische Volksarmee (EPP). Wie ist diese einzuordnen?
Die EPP ist keine Guerilla. Sie sind sehr klein, eher unzusammenhängende Zellen in ganz Paraguay. Sie kämpfen nicht wirklich, sind nicht militärisch aufgestellt. Es kommt aber immer wieder zu Entführungen und Überfällen durch die EPP.

Ist sie mit linken Bewegungen verbunden?
Nein, sie sind auf sich allein gestellt. Sie begehen immer wieder taktische Fehler, Leute sterben. Das ist kontraproduktiv und spielt den Konservativen in die Hände, die das als Vorwand nutzen, Militär und Polizei im Land einzusetzen und den Ausnahmezustand auszurufen. Die Ultrarechten schüren Angst und sprechen von der „Gefahr durch Kommunisten“. Sie kriminalisieren damit linke Aktivisten. Die EPP gibt sich zwar sozialistisch, aber sie helfen den Sozialisten in Paraguay keineswegs. Sie kämpfen gegen eine linksgerichtete, demokratische Regierung, nicht gegen eine faschistische Diktatur.

Auf die Spitze getrieben

Am 30. September erschien in guatemaltekischen Tageszeitungen eine Anzeige: „Montana hat die in der Umweltverträglichkeitsprüfung festgelegten Vereinbarungen und die Regelung zur Entsorgung und Wiederverwertung von Abwässern eingehalten. Die Entsorgung wurde auf transparente Art durchgeführt und von den öffentlichen Regulierungsbehörden beaufsichtigt und überwacht.” Bezahlt wurde die Anzeige von Montana Exploradora, Tochterfirma des kanadischen Bergbauriesen Goldcorp Inc. und Betreiberin der Goldmine Marlin im Departamento San Marcos im westlichen Hochland Guatemalas.
Die Veröffentlichung ist beispielhaft für die Versuche Montanas, der Mine Marlin ein sauberes Image zu verschaffen und die öffentliche Aufmerksamkeit von umweltpolitischen Problemen um die Mine abzulenken. Grund dazu hat die Firma allemal: Eine Woche vor Erscheinen der Zeitungsanzeige hatte Montana in einer nächtlichen Aktion gestautes Abwasser in den Fluss Cuilco abgelassen. In der Anzeige erklärt das Unternehmen, es handele sich hauptsächlich um ungefährliches Regenwasser, das sich über den Winter angesammelt habe. Die unangekündigte Entsorgung sei nötig gewesen, da es andernfalls wegen der großen Menge Stauwasser zu Schäden am Damm hätte kommen können. In Anbetracht des monatelang andauernden Regens in Guatemala stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass Montana die nötige Entsorgung des Stauwassers nicht langfristig geplant und frühzeitig hat genehmigen – und beaufsichtigen lassen. ExpertInnen betonen, dass es im offenen Goldtagebau, bei dem das Gold wie in der Mine Marlin durch Auslaugung mit hoch giftigem Natriumzyanid aus dem Gestein gelöst wird, häufig zu Unfällen kommt. Es besteht ein permanentes Risiko für Umwelt und Gesundheit. In der Europäischen Union, Costa Rica, Ecuador, Argentinien, Australien und einigen Bundesstaaten der USA ist der Tagebau zum Abbau von Gold sogar verboten. Eine unsachgemäße Entsorgung der Abwässer in die örtlichen Flüsse scheint also nicht so ungefährlich, wie Montana Glauben machen möchte. Das guatemaltekische Umweltministerium jedenfalls erstattete am 28. September Strafanzeige gegen Montana wegen des Verstoßes gegen die Umweltverträglichkeitsprüfung. Im Nachhinein, so das Ministerium in der Strafanzeige, könne man aber nicht mehr feststellen, ob das Abwasser ordnungsgemäß entsorgt wurde.
Dennoch ist die Regierung vorsichtig mit Anschuldigungen gegen die Betreiberfirma. Schließlich ist Marlin mit 2,4 Millionen Unzen Gold und 40 Millionen Unzen Silber die größte Goldmine Zentralamerikas, und die Gewinnerwartungen liegen deutlich über zwei Milliarden US-Dollar. Eine jüngst vom guatemaltekischen Forschungsinstitut ASIES veröffentlichte Studie zeigt allerdings: Über 86 Prozent des Gewinns werden zu Goldcorp Inc. nach Kanada transferiert.
Marlin ist das erste große Bergbauprojekt in Guatemala seit Ende des internen bewaffneten Konflikts (1960-1996). Wegen der politischen Instabilität hatten beinahe sämtliche internationalen Konzerne spätestens Anfang der 80er Jahre das Land verlassen. So ist der Bergbau in Guatemala heute – einzigartig in Lateinamerika – noch kaum erschlossen, obwohl gerade im weniger fruchtbaren Hochland, wo noch heute ein Großteil der indigenen Bevölkerung lebt, viele wertvolle Mineralien zu finden sind. 1996 unterzeichneten Guerilla und Regierung die Friedensverträge. Kurz vor der Unterzeichnung wurde die erste Lizenz an ein Bergbauunternehmen vergeben – in San Miguel Ixtahuacán und Sipacapa im Departamento San Marcos, wo heute die Goldmine Marlin liegt. 1997 folgte mit der Welle neoliberaler Reformen die Erneuerung des Bergbaugesetzes. Sie sollte internationalen Firmen Anreize schaffen, in Guatemala in den Bergbau zu investieren. Zentraler Bestandteil war dabei die Senkung der Gewinnabgaben der Firmen an den Staat von sechs auf ein Prozent. Auch wurden die allgemeinen Steuern für die Unternehmen gesenkt und das Recht eingeräumt, kostenlos und unbegrenzt Wasser für ihre Abbauaktivitäten zu verwenden. Das neue Gesetz zeigte Wirkung: Für über die Hälfte des guatemaltekischen Territoriums sind mittlerweile Lizenzen an ausländische Unternehmen vergeben worden.
Der kanadischen Goldcorp gehören Marlin und Montana seit 2006. 1999 beauftragte Montana die Firma Peridot S.A. das Land aufzukaufen, auf dem in der Mine Marlin seit 2005 Gold abgebaut wird. Dabei kamen die Käufe unter mehr als zweifelhaften Umständen zustande. Das Land werde für Orchideenzüchtungen genutzt, verbreiteten die Firmen vor dem Beginn der Verhandlungen. Entsprechend der 1996 von Guatemala ratifizierten Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hätten die betroffenen indigenen Gemeinden vor Vergabe der staatlichen Lizenz informiert und befragt werden müssen. Unter den Befragungen versteht die ILO einen gegenseitigen Informations- und Dialogprozess zwischen Regierung und Gemeinden. Eine solche Befragung fand nie statt. Ironischerweise vergab die Weltbank 2004 einen Förderkredit in Maximalhöhe an Montana und begründete dies neben der „bedeutenden Rückendeckung der lokalen indigenen Kommunen“ damit, dass die „lokale Bevölkerung in ausreichendem Maße konsultiert wurde“. Ein Jahr später revidierte die Weltbank diese Behauptungen. Den Kredit erhielt Montana dennoch.
In San Miguel Ixtahuacán manipulierten Montana und Peridot den Landkauf auf noch dreistere Weise. Der Landtitel von San Miguel Ixtahuacán ist kollektiv auf den Namen des Landkreises festgeschrieben. Die EinwohnerInnen sind nicht EingentümerIn ihrer Parzellen, sondern besitzen lediglich die Nutzungsrechte. Montana und Peridot konnten den einzelnen BewohnerInnen ihr Land also gar nicht abkaufen: Statt dessen hätte der gesamte Landkreis über die Zerteilung des kollektiven Landtitels abstimmen müssen. Bei diesem Vorgehen wäre die Bevölkerung über die geplante Mine informiert worden und hätte Einspruch erheben können. Peridot und Montana taten bei der Registrierung ihres Landbesitzes also, als existierten für San Miguel Ixtahuacán bisher keine Landtitel. Dies ist offensichtlich illegal und wäre ohne die Mitarbeit der Behörden sicher unmöglich gewesen.
Am 27. Juli 2010 zogen daher über 5.000 Personen aus San Marcos nach Guatemala-Stadt, um Jorge Asencio Aguirre und Erick Álvarez Mancilla anzuzeigen, beide juristische Vertreter der Firmen zur Zeit der Landkäufe. Erick Álvarez Mancilla ist heute Präsident des Obersten Gerichtshofs, derselben Instanz, bei der die Klage eingereicht wurde. Er ist nicht das einzige Beispiel für die engen Banden des guatemaltekischen Staates mit dem Privatsektor. Allein im Fall von Montana Exploradora tauchen einige bekannte Namen auf: Der heutige Exekutivdirektor der Mine Marlin, Mario Marroquín, war zuvor Direktor einer Regierungsagentur, die ausländischen Unternehmen Rechtsbeistand und Unterstützung für ihre Investitionen leistete. Der derzeitige Geschäftsführer von Montana, Milton Saravia, war von 2004 bis 2007 Vizeminister für Energie und Bergbau. Heute ist er Präsident des Gremiums für Bergbau, Steinbrüche und Verarbeitungsindustrie (GREMICAP). Der amtierende Bürgermeister von Guatemala-Stadt, Álvaro Arzú, hat ebenfalls enge Beziehungen zu Montana: Unter Arzús Präsidenschaft (1996-2000) wurde 1996 die erste Bodenlizenz an Montana vergeben.
Seit 2004, also schon vor Beginn des tatsächlichen Abbaus, hat sich der Protest gegen die Goldmine in San Marcos organisiert. Nicht nur wurden die Gemeinden völlig ignoriert, es sind auch katastrophale Folgen für die Umwelt und den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu befürchten, so die zur Diözese San Marcos gehörige NGO Pastoral Commission Peace and Ecology (COPAE) in einer Studie zur Trinkwasserqualität. Die Universität von Michigan fand in einer Erhebung heraus, dass in Blut- und Urinproben bei EinwohnerInnen der Umgebung toxische Metalle gefunden wurden. In den nächsten Jahren sollen 38 Millionen Tonnen Gestein bewegt und 250.000 Liter Wasser stündlich verbraucht werden.
Doch viele Gemeinden in Miguel Ixtahuacán und San Marcos sind uneins, ob sie die Mine willkommen heißen oder bekämpfen sollen: Aus fast jeder Familie haben Einige in der Mine Arbeit gefunden. Auch indigene AktivistInnen beklagen zunehmend Konflikte in den eigenen Familien. Sie werfen Montana immer wieder vor, die Abhängigkeit der ArbeiterInnen auszunutzen, um sie unter Druck zu setzen: wenn sie nichts unternähmen, die Proteste zu stoppen, werde es in der Mine bald keine Arbeit mehr geben. Die ArbeiterInnen versuchen also, die Protestierenden zur Aufgabe ihrer Forderungen zu bewegen. Die Konflikte in den Gemeinden werden damit nur angeheizt. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren seit Jahren Morddrohungen gegen GegnerInnen der Mine und die zunehmende Kriminalisierung des Protests: In den letzten Jahren wurde eine ganze Reihe Haftbefehle ausgestellt. Anfang Juli überlebte Diodora Hernández Cinto, Mitglied der Protestbewegung, einen Mordanschlag nur knapp.
Dennoch trägt der Protest international Früchte: Internationale Organisationen und BeobachterInnen haben wegen der sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Situation immer wieder die Schließung der Mine gefordert. Im Februar 2010 stellte eine von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entsandte ExpertInnenkommission fest, dass von der Regierung bisher keine einzige Befragung einer indigenen Gemeinde durchgeführt wurde. Die Befragungen seien im nationalen Recht kaum verankert. Daher forderte die Kommission, die Aktivität in der Marlin-Mine müsse sofort ausgesetzt werden, bis die betroffenen indigenen Gemeinden angemessen konsultiert worden seien. Die Ratifizierung der Konvention 169 der ILO verpflichte zum Nachholen versäumter Befragungen. Bei selbstorganisierten Befragungen innerhalb der Gemeinden im ganzen Land wurde der Bergbau von der großen Mehrheit abgelehnt. So auch in Sipacapa am Standort der Marlin-Mine, wo über 98 Prozent der Befragten gegen den Bergbau auf ihrem Gemeindeland stimmten. Inzwischen ist sogar die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) auf den Fall Marlin aufmerksam geworden: Die Vorsichtsmaßnahmen, die sie verordnet hat, sind einzigartig in ihrer Geschichte. 2007 hatten 18 Gemeinden aus San Marcos wegen der von der Betreiberfirma der Marlin-Mine verursachten Menschenrechtsverletzungen bei der CIDH Beschwerde eingereicht. Am 20. Mai 2010 reagierte die CIDH und forderte die sofortige Schließung der Mine Marlin auf unbestimmte Zeit – bis ein endgültiges Urteil über das Gesuch der Gemeinden gefällt ist. Außerdem forderte sie von der guatemaltekischen Regierung, die Wasserquellen zu reinigen, den Zugang zu geeignetem Trinkwasser für alle 18 betroffenen Gemeinden sicherzustellen und ein Gesundheitsprogramm für die Opfer von verseuchtem Wasser zu initiieren. Die Regierung solle Leben und körperliche Unversehrtheit der EinwohnerInnen garantieren. Zusätzlich verlangte die CIDH innerhalb von 20 Tagen umfassende Informationen. Die Regierung soll Dokumente vorlegen über die Schäden an Häusern, die durch die Sprengungen in der Mine verursacht werden, über die Übergriffe auf und Haftbefehle und Gerichtsprozesse gegen GegnerInnen der Goldmine.
Zunächst schien es der Regierung völlig an Umsetzungswillen zu mangeln. Am 24. Juni 2010 kam die überraschende Wende: Die Regierung ließ verlauten, sie werde die Mine schließen und habe den entsprechenden Verwaltungsprozess bereits in Gang gesetzt. Der zieht sich allerdings seit Monaten hin. Die übrigen Forderungen wischte sie jedoch mit der Haltung beiseite, dass keine besonderen Maßnahmen nötig seien: Es gebe weder verseuchtes Wasser, noch Krankheiten oder Bedarf zum Schutz von Personen. Der Sprecher der kanadischen Goldcorp erwartet, „dass wir normal arbeiten können, es gibt keinen Grund die Mine zu schließen“. Mit „wissenschaftlichen“ Studien versucht die Regierung nun nachzuweisen, dass die Vorsichtsmaßnahmen überflüssig seien.
Am 14. September räumte die CIDH der guatemaltekischen Regierung ein Ultimatum von zwei Monaten ein, ihr Informationen über die Situation in den 18 Gemeinden zugänglich zu machen. Von der Bewertung des Regierungsberichts wird einiges abhängen: Carlos Loaraca, der die Gemeinden als Anwalt vor der CIDH vertritt, weist darauf hin, dass das eigentliche Urteil der CIDH noch aussteht. Sollte die Kommission keinen ausreichenden Willen der Regierung erkennen, wird ein Prozess gegen den Staat Guatemala vor dem Interamerikanischen Menschengerichtshof immer wahrscheinlicher. Ein solcher Prozess wäre der erste seiner Art und ein Präzedenzfall – richtungweisend für Bergbauprojekte in ganz Lateinamerika.

Schwere Zeiten für Lugo

Anfang Oktober 2010 befand sich Präsident Fernando Lugo infolge einer Thrombose in Lebensgefahr. Er wurde zur Behandlung nach Brasilien geflogen, wo er sich aber nach einer Woche wieder erholte. Währenddessen waren wieder Spekulationen über seine Nachfolge in der Bevölkerung laut geworden. Der Hauptverantwortliche für die angeheizte Stimmung war einmal mehr Vizepräsident Luís Federico Franco Gómez, der seine Absicht, das Amt des Präsidenten anzutreten, nicht verhehlen konnte.
Während sich Präsident Lugo im syrisch-libanesichen Krankenhaus in São Paulo erholte, versicherte sein politischer Beraterstab, von ihm persönlich den Befehl erhalten zu haben, vier Ämter im militärischen Bereich neu zu besetzen. Lugos Vize Franco nutzte diesen Zwischenfall, um der Öffentlichkeit kundzutun, dass dieser Befehl eigentlich zu seinem Aufgabenbereich als offizieller Vertreter des Präsidenten gehöre. Daraufhin wurden zwei Wochen lang heftige Diskussionen über dieses Thema geführt, auch im Abgeordnetenhaus, wo eine Rüge des Präsidenten beschlossen wurde.
Diese Begebenheit ist nur eine von vielen, mit der der Vize-Präsident seit der Machtübernahme Lugos 2008 mit tatkräftiger Unterstützung oppositioneller Gruppen versucht, das Land zu destabilisieren. Die oben genannte Sitzung im Parlament wurde dazu genutzt, um wieder einmal das Kräfteverhältnis zu messen, in der Hoffnung, den Präsidenten endlich seines Amtes entheben zu können.
Verteidigungsminister Cecilio Pérez gab zu, dass „es unhöflich vom Präsidenten gewesen ist, den Vize-Präsidenten nicht informiert zu haben”, während er aber gleichzeitig hervorhob, dass sich Lugo gesetzeskonform verhalten habe. Innenminister Rafael Filizzola sagte, dass „die Tatsache, dass diese Situation zu einer politischen Krise auswachsen konnte, uns Ministern völlig übertrieben vorkommt und ungerechtfertigt ist.” Die Episode blieb letztlich ohne Folgen, trotz der gezielten Stimmungsmache von Teilen der Presse für ein Amtsenthebungsverfahren.
Die Wahl Lugos hatte viele Erwartungen unter den WählerInnen ausgelöst, doch seine Amtsführung bleibt wenig überzeugend. Dies hat der Kolumnist Miguel H. López von der Tageszeitung Última Hora sehr gut zusammengefasst: „Wir mögen darin übereinstimmen, dass Lugo kein guter Regierungschef ist, dass er keinerlei staatsmännisches Profil hat und dass er ein Tollpatsch ist (…) und versucht, die Träume und Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerung zu kanalisieren, die nach sechs Jahrzehnten nichts mehr hören will von Raub, Korruption und Mord. Von fünf Dingen macht Lugo zwei gut und drei schlecht. (…) Aber er ist der konstitutionell gewählte Präsident und der Zwischenfall mit der Neubesetzung der militärischen Posten hat keine nachhaltigen Folgen gezeigt. Wenn es anders wäre, glauben Sie denn, dass Lugos Opposition, mit dem Vize-Präsidenten an der Spitze, nicht alles unternommen hätte, um die Macht in unserem Land an sich zu reißen?” Die Kommunalwahlen am 7. November wurden als eine Art Referendum über die Amtsführung Lugos eingeschätzt, die nun über zwei Jahre an der Macht ist. Aus diesen Wahlen ging die Oppostionspartei Colorados eindeutig gestärkt heraus. Sie erreichte knapp 46 Prozent der Stimmen.
Die Landlosenbewegung, die Lugo noch bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt hatte, hielt sich vor den Kommunalwahlen eher bedeckt. Doch versicherte ein Bauernanführer, der aus Angst vor Repressalien ungenannt bleiben will: „Nach den Wahlen werden wir wieder Land besetzen”. Tatsache ist, dass das Wahlversprechen des Präsidenten, eine Landreform in Angriff zu nehmen, sich in Luft aufgelöst hat. Bis heute konnte das zuständige Institut (INDERT) nur kleine Parzellen erwerben.
Momentan steht dieses Thema, das vor allem die 300.000 landlosen Bauern und Bäuerinnen betrifft, nicht auf der politischen Agenda. Auch wenn dies vor allem der Blockadehaltung der Opposition zugeschrieben werden kann, trägt auch die geringe Effizienz der aktuellen Regierung ihren Teil dazu bei. Die neu gegründete Koordinationsstelle der Exekutive für die Agrarreform CEPRA kann keine größeren Erfolge bei der Unterstützung der Dörfer auf dem Land vorweisen. Ebenso gibt es keine nennenswerten Aktionen, ungenutzte Landstriche fruchtbar zu machen und zu besiedeln – eine der wichtigsten Forderungen der auf dem Land aktiven Bewegungen.
Große Beunruhigung rief auch der vom Präsidenten im Kongress eingereichte Gesetzesvorschlag hervor, die wichtigsten Flughäfen Silvio Pettirossi, im Großraum Asunción, und Guaraní, in Ciudad del Este an der Grenze zu Brasilien, zu privatisieren. Der Vorschlag sieht auch vor, die militärische Anlage in Mariscal Estigarribia, im Herzen des Chaco nahe der Grenzen zu Brasilien und Bolivien gelegen, ausländischen Operationen zu öffnen. Der Vorschlag wurde persönlich von Lugo eingereicht, mit der Begründung, das Land müsse „sich auf das Niveau der anderen Länder der Region begeben.“ Die staatlichen Gewerkschaften protestierten umgehend. Leonardo Beraud, Generalsekretär der Gewerkschaft der FlughafenarbeiterInnen Seodinac, sagte, dass „dieses Projekt wie ein Bonbon angeboten wird, damit das private Kapital in das Straßennetz und die Schifffahrt investieren kann, wo sie sehr viel Geld verdienen werden. Unserer Auffassung nach ist es Unsinn, ein rentables Unternehmen zu opfern, und den multinationalen Unternehmen die Einkünfte der Flughäfen von Pettirossi und Guaraní zu schenken.” Der Gewerkschafter erinnerte daran, dass die 1.380 Angestellten des für die Luftfahrt zuständigen Amtes DINAC nun um ihre Arbeitsplätze fürchten. Die Einnahmen dieses Amtes seien vollkommen ausreichend um die laufenden Kosten der Flughäfen zu decken und neue Investitionen zu tätigen. Jedoch werde das Geld momentan vom Finanzministerium zurückgehalten. Ebenfalls kritisieren die sozialen Bewegungen die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik von Finanzminister Borda. Er zahlt pünktlich die Auslandsschulden (etwa 400 Millionen US-Dollar pro Jahr) und nimmt gleichzeitig Kürzungen im sozialen Bereich vor.
Besorgniserregend sind auch die Anzeichen für die Anwendung „kolumbianischer“ Methoden bei der Aufstandsbekämpfung. So beschloss die Regierung, die Prämie für weitergehende Informationen über den Aufenthalt von Magna Meza, Manuel Cristaldo Mieres und Osvaldo Villalba aufzustocken. Diese gelten als die Anführer der Guerilla namens Armee des paraguayischen Volkes (EPP). Der Innenminister veranlasste diese Maßnahme drei Tage nachdem eine Spezialeinheit der Polizei Gabriel Zárate Cardozo dank eingegangener Informationen über seinen Aufenthalt eingekreist und niedergeschossen hatte. Zárate galt als drittwichtigster Kopf der EPP. Der Guerillero soll einen als Informanten überführten Lehrer Tage zuvor erschossen haben. Es wurde außerdem bekannt, dass die Regierung 250.000 US-Dollar an sieben Informanten ausgezahlt hat. Die Regierung versucht auf diese Weise, die logistische Unterstützung aufzuweichen, die die Guerilla in ländlichen Gebieten im Norden des Landes erhält. Dort befinden sich Soja-Plantagen, Rinderfarmen, Marihuana-Felder und eine große Zahl von landlosen Bauern und Bäuerinnen. Innenminister Filizola äußerte: „Wir fordern die Guerilleros auf, sich umstandslos der Justiz zu stellen, damit dem paraguayischen Volk nicht noch mehr Schmerz zugefügt wird und damit sie sich selbst retten können.“ Auch informierte er, dass die sieben belohnten Informanten sich „alle in einem guten Zustand befinden, ihre Identität wird niemals preisgegeben werden.“
Bis jetzt hat die Polizei zwei Mitglieder der EPP erschossen und fünf weitere festgenommen. Die Guerilleros wurden mit mehreren Schüssen aus Waffen des Militärs getötet. Ihre Familienangehörigen haben nun eine erneute Autopsie gefordert, denn sie vermuten, dass die beiden lebend gefangen genommen, gefoltert und daraufhin umgebracht wurden, was aber vom Innenminister heftig abgestritten wird. Angesichts der zahlreichen Konfliktherde wird Präsident Lugo jedenfalls kaum auf eine ruhige Genesungsphase hoffen können.

KASTEN:
Schwieriges Gleichgewicht

Die Wahl des ehemaligen Bischofs Fernando Lugo zum Präsidenten im April 2008 war Ausdruck des Wunsches der paraguayischen Bevölkerung, die herkömmliche Form der politischen Gestaltung radikal zu verändern. Angetreten war Lugo als Kandidat einer Parteienallianz namens Patriotische Allianz für den Umschwung (APC). Damit endete die Vorherrschaft der Colorado-Partei nach 61 Jahren.
Lugo ist keiner traditionellen Partei zuzurechnen, an ihn richtete sich die Hoffnung, dass er Programme zur sozialen und wirtschaftlichen Integration der verarmten Bevölkerungsteile einführen würde. Nach zwei Jahren Amtszeit sind viele Menschen enttäuscht, doch muss man berücksichtigen, dass die Opposition gegen die Regierung von der mächtigen Oligarchie und dem rechtsgerichteten Parlament ausgeht. Diesen Kräften ist das Scheitern der derzeitigen Regierung ein Herzenswunsch und sie setzen alles daran, ihre jahrzehntelang genossenen Privilegien nicht zu verlieren. Das Parlament hat beispielsweise die Haushaltsausgaben für alle sozialen Ministerien gekürzt, so dass selbst geringfügige Veränderungen nicht möglich sind. Die Vorgehensweise von Polizei und Justiz zeigt, dass sie von einer mafiösen Oligarchie instrumentalisiert werden mit dem Ziel, das Erstarken der sozialen Bewegungen zu verhindern. Hinzu kommen die andauernden Androhungen, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten in die Wege zu leiten und damit den aktuellen Demokratisierungsprozess zu stoppen.
Die letzten zwei Jahre haben die Schwächen der gegenwärtigen Regierung und des wankelmütigen Präsidenten offengelegt, der sehr schnell dem Druck der Rechten nachgibt. Der unmittelbare Beraterkreis um Lugo hat wenig Interesse daran gezeigt, die Forderungen der sozialen Bewegungen aufzunehmen und auf Veränderungen innerhalb des Staatsapparates zu setzen. Zudem hat sich die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen zugespitzt. Dies geschieht unter dem Vorwand, dass eine Guerilla die Stabilität und Sicherheit des Landes gefährde – ein idealer Vorwand, um eine Art Plan Colombia für Paraguay einzuführen.
Die Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, die sich aus Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften zusammensetzt, hat bei mehreren Gelegenheiten öffentlich die Verletzung der Menschenrechte unter der aktuellen Regierung angeklagt. Vor kurzem zeigte sie bei der Interamerikanischen Kommision für Menschenrechte in Washington unrechtmäßige Verhaftungen und Folterungen an, die im Rahmen der Polizei- und Militäreinsätze gegen die Guerilla Armee des Paraguayischen Volkes (EPP) stattgefunden haben sollen. Ein klares Beispiel für die widerspruchsvolle Haltung der Regierung war die Feier des Wahlsiegs am 20. April. Es versammelte sich eine große Menschenmenge, die Lugo ihre politische Unterstützung zusagte, doch der rief wenige Tage später den Notstand aus und stellte kurz darauf im Parlament ein Antiterror-Gesetz vor, das auch prompt verabschiedet wurde.
Dieses komplizierte Szenario stellt die sozialen Bewegungen und die progressiven Parteien vor vielfältige Herausforderungen: Auf der einen Seite müssen sie ihre Ziele und Grundsatzerklärungen verteidigen (Vertiefung des demokratischen Prozesses, integrale Agrarreform und nationale Souveranität) und ihre Fähigkeit zurückgewinnen, die Menschen zu mobilisieren. Auf der anderen Seite müssen sie ihre kritische Haltung und Autonomie im Hinblick auf die Regierung bewahren, die eine Reihe von unpopulären Maßnahmen durchgesetzt und einen Rechtsruck vollzogen hat. Allerdings sollten sie den Dialog mit dem Präsidenten abbrechen, um die ohnehin schon schwierigen politischen Verhältnisse nicht noch zusätzlich zu verschärfen.
Das Schlimmste scheint derzeit noch abwendbar. Gegen einen Putsch der rechten Opposition stehen die klaren Zeichen der Nachbarländer Brasilien und Argentinien, keinen Bruch des konstitutionellen Systems zu akzeptieren. Zudem macht ein großer Teil der Bevölkerung deutlich, dass er bereit ist, die aktuelle Regierung notfalls auf der Straße zu verteidigen, und nach wie vor Hoffnungen auf den Präsidenten setzt.
// Regine Kretschmer

// Außenpolitik vom Mars

Die deutsche Außenpolitik wird militarisiert, und zwar gründlich. In dankenswerter Offenheit, wenn auch nach einem halben Jahr Schamfrist, nimmt Kriegsminister Guttenberg die Steilvorlage Horst Köhlers auf und bereitet die „Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen“ mit deutschen Truppen vor.
Auch in Lateinamerika forcieren die schwarz-gelben Neocons einen folgenschweren Kurswechsel. Besonders hofiert wird dabei Kolumbien, das seit vielen Jahren unter dem Vorwand des „Antidrogenkriegs“ zum US-Brückenkopf in dem links gewendeten Subkontinent ausgebaut wird. Nach Köhler 2007 und Kanzlerin Merkel 2008 ist nun „Entwicklungsminister“ Niebel zu einem Staatsbesuch in dem lange gemiedenen Andenland eingetroffen. Dort möchte er die Beteiligung von Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) an einem US-kolumbianischen Aufstandsbekämpfungsprogramm in einer historischen Hochburg der FARC-Guerilla umsetzen. Ihm liegt die Doktrin der „Integralen Aktion“ zugrunde, laut Washington Post ein militärisch-ziviler Ansatz, der auch im Hinblick auf Afghanistan interessant sei. Doch die Zwischenergebnisse im kolumbianischen „Pilotgebiet“ Macarena sind ernüchternd, ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen.
Vor einem Jahr hatte Niebel, übrigens im selben Atemzug mit seiner neuen Afghanistanpolitik, die Wende in Kolumbien angekündigt. Nun soll ein scheinbar unverdächtiger „Umweltkartierungsplan“ als Türöffner für ein weitergehendes Engagement herhalten – trotz Warnungen von Kirchenleuten, MenschenrechtlerInnen und GTZlerInnen. Dazu passt die führende Rolle des Abteilungsleiters des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ), Harald Klein. Als Auslandschef der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung gehörte er 2009 zu den lautesten Propagandisten des Militärputsches in Honduras. Solche Figuren, auch in den unionsnahen Stiftungen, bereiten dem Rechtsruck in der deutschen Lateinamerikapolitik schon seit Jahren den Boden. Wie schon länger auf EU-Ebene bilden darin Außenhandels-, Wirtschafts-, Außen- und Entwicklungspolitik eine homogene Einheit. Nach Lateinamerika wird die Bundeswehr aber nicht beordert werden. Zumindest noch nicht.

IN EIGENER SACHE:
// LN wird anders in 2011: Wir lösen uns auf – und gründen uns neu

Unsere Neuigkeit an Sie und Euch: Die Lateinamerika Nachrichten werden ab dem 01. Januar 2011 als eingetragener Verein (e.V.) arbeiten.
Was sich dadurch für Sie/Euch ändert? Eigentlich nichts. Unsere neue Rechtsform wird für LN-LeserInnen kaum bemerkbar sein. Wichtig ist vor allem, dass wir eine neue Kontoverbindung bekommen – die genauen Daten werden in der nächsten Ausgabe sowie auf allen neuen Rechnungen stehen. Ansonsten kann der Lateinamerika Nachrichten e.V. ab 2011 Spendenquittungen ausstellen, so dass Sie/Ihr Spenden an uns endlich auch entsprechend steuerlich geltend machen können/könnt.
Und unsere Arbeit? Bleibt wie sie ist: Die Arbeitsweise der LN wird sich durch die Umstellung nicht ändern. Die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten arbeitet seit der Gründung der Zeitschrift 1973 ausschließlich ehrenamtlich. Für den administrativen Teil unserer Arbeit gibt es nach wie vor eine feste Stelle, alle wichtigen Entscheidungen der Zeitschrift – ob geschäftlicher oder redaktioneller Art – werden im Kollektiv diskutiert und beschlossen. All das wird bleiben, wie es ist.
Gibt es noch Fragen dazu? Wir beantworten Ihre/Eure Fragen gerne: Telefonisch oder auch per Mail an redaktion@LN-Berlin.de. Wir freuen uns auf hoffentlich noch viele gemeinsame Jahre. Der Lateinamerika Nachrichten e.V.!

Landreform als Imagepflege

„Das ist, als würden die USA Osama Bin Laden töten!“ So feierte der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos in einer Videoansprache Ende September den Tod des Guerillakämpfers „Mono Jojoy“. Er sei der wichtigste Militärstratege der FARC-Guerilla gewesen; sein Tod sei der Anfang vom Ende der Rebellenarmee. Man mag es morbide finden, wie in Kolumbien der Tod eines Menschen offiziell gefeiert wird; doch Präsident Santos kann auf diese Weise kurz nach seinem Amtsantritt, dem eine Welle von Gefechten zwischen Streitkräften und FARC folgte, einen großen militärischen Erfolg vorweisen. Ein Umschwenken auf eine Strategie des politischen Dialogs mit der Guerilla ist jetzt noch undenkbarer: Die Regierung setzt darauf, die FARC militärisch zu besiegen.
Da kommt es gelegen, dass das US-amerikanische Außenministerium dem Kongress in Washington Anfang September mitteilte, Kolumbien habe große Fortschritte im Bereich der Menschenrechte gemacht. Nun könne ohne Bedenken die aus 2009 noch ausstehende Militärhilfe (ca. 32 Millionen US-Dollar) ausgezahlt werden. Das sei „eine großartige Nachricht“, meinte der kolumbianische Innen- und Justizminister Germán Vargas Lleras, so würden die „enormen Anstrengungen“ anerkannt, mit denen die Regierung Santos in so kurzer Zeit zur Verteidigung der Menschenrechte beitrage. Es habe „eine neue Etappe für die Konzeption und Orientierung der Menschenrechte“ begonnen.
Diese „Neuorientierung“ ist eine Image-Politur für das Militär, sein Ruf ist einfach zu schlecht – trotz militärischer Erfolge. Die Streitkräfte sollen in die Sicherung der Menschenrechte einbezogen werden, Uniformierte geben in Schulen auf dem Land Menschenrechtsunterricht. Die Regierung wolle extralegale Hinrichtungen „nicht mehr tolerieren“ – angesichts solcher Äußerungen sollte man nicht vergessen, dass das Vorgehen, ZivilistInnen zu ermorden und als gefallene Guerilleros zu präsentieren, ausgerechnet während Santos‘ Amtszeit als Verteidigungsminister zur gängigen Praxis kolumbianischer Militäreinheiten wurde. In genau der Region, wo „Mono Jojoy“ in einer großen Militäroperation getötet wurde, befindet sich auch La Macarena, ein Massengrab, in dem anscheinend die Armee bis zu 1500 Menschen abgelegt hat, deren Identität ungeklärt ist. Die Streitkräfte sprechen von einem normalen „Friedhof“, während Menschenrechtsorganisationen viele gewaltsam Verschwundene dort vermuten.
Die Politik der Regierung von Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) wird fortgeführt, und das verwundert angesichts von Santos‘ zentraler Rolle in Uribes Kabinett kaum. Dennoch versucht Santos, sich von der Regierungszeit Uribes abzugrenzen: Weniger Polarisierung, sondern Umarmung scheint die Strategie zu sein. Von einer Regierung der Nationalen Einheit und von Versöhnung ist die Rede. Tatsächlich sammelt Santos das gesamte bürgerliche Lager um sich: aus allen wichtigen Sektoren hat er VertreterInnen in sein Kabinett geholt.
Für den Analysten Daniel Libreros liegt die „entscheidende Strategie der Regierung“ in ihren Vorschlägen zur Rückgabe von Land an Vertriebene. Eigentlich ist das Thema Landverteilung traditionell eines der Bauernbewegungen und linksgerichteter politischer Bündnisse. Um die Landfrage drehen sich Gewaltkonflikte in Kolumbien seit Jahrzehnten; Landbesitz ist immer mitentscheidend für sozialen Aufstieg gewesen – und wird es angesichts des auf Bergbau und Agrarexporte konzentrierten Wirtschaftsmodells auch bleiben.
Die Diskussion um die Landverteilung war im Juli denn auch von Abgeordneten des Linksbündnisses Polo Democrático Alternativo (PDA) angestoßen worden. Gustavo Petro (ehemaliger Präsidentschaftskandidat) und Iván Cepeda (Direktor der Bewegung der Opfer von staatlichen Verbrechen MOVICE) brachten die De-Facto-Legalisierung der Besitztitel über etwa vier Millionen Hektar Land zur Sprache, von denen die ursprünglichen BesitzerInnen vertrieben worden waren. Die Gesetzgebung unter der Regierung Uribe hatte dafür gesorgt, dass für bewirtschaftetes (und damit auch für gewaltsam angeeignetes) Land nach wenigen Jahren legale Eigentumstitel erworben werden konnten. Das Ergebnis ist folgendes: Laut einer Studie der Universidad de los Andes belief sich der Gini-Koeffizient, ein Maß für die relative Konzentration einer Verteilung, im Jahr 2009 in den ländlichen Regionen Kolumbiens auf 0,875 (bei einem Gini-Wert von 1 wäre alles Land in einer Hand, bei einem Wert von 0 gäbe es Gleichverteilung). Landbesitz konzentriert sich also inzwischen in noch viel weniger Händen als bisher angenommen.
Überraschend nahm sich nun die Regierung des Themas an. Agrarminister Juan Camilo Restrepo präsentierte Ideen der Regierung zu einer „Integralen Landpolitik für Kolumbien“. Mindestens zwei Millionen Hektar wolle man kaufen und an Vertriebene „zurückgeben“. Das Kolumbianische Institut für Ländliche Entwicklung (INCODER), das Vertriebenen ihre Landtitel abgesprochen hatte, da sie es ja nicht mehr bewirtschafteten, sei „unbrauchbar und muss völlig umgebaut werden“, so der Agrarminister. Das Thema hat in Bogotá für viel Gesprächsstoff gesorgt: Eine Veränderung des Tonfalls ist das auf Seiten der Regierung sicherlich. Positiv wertet die Opposition vor allem, dass die Beweislast endlich nicht mehr bei den Flüchtlingen selbst liegen soll: In einem Verfahren sollen bald diejenigen, die das Land zum jetzigen Zeitpunkt bewirtschaften, nachweisen müssen, dass sie das Land legitim erworben haben.
Der Stand der Gesetzgebung ist ohnehin verfassungswidrig: In einem Statement betonte das kolumbianische Verfassungsgericht, dass Vertriebene als Opfer einer Straftat anerkannt werden müssten (was bisher nicht explizit geschah) und die Notwendigkeit, die Politik in Bezug auf Landrückgabe und -verteilung an Vertriebene zu erneuern. Allerdings scheint die Strategie vor allem darauf zu setzen, unbewirtschaftete Ländereien an Vertriebene zu verteilen. Wie der Landkauf von der Regierung finanziert werden soll, ist bislang unklar. Zusätzlich sollen bürokratische Hürden, Landtitel zu erhalten, weiter abgebaut werden. Denn laut der Regierung haben 70 Prozent der Bäuerinnen und Bauern in Kolumbien keine offiziellen Eigentumsurkunden über ihr Land und daher keinen Zugang zu Krediten oder Subventionszahlungen.
Meist ist gar nicht genau bekannt, wem das Land nun gehört. Iván Cepeda spricht von der auffälligen „Stille um die Landbesitzer“: „Das Thema ist ein Tabu: Es ist in Kolumbien fast ein Verbrechen, die beim Namen zu nennen, denen die Ländereien gehören.“ Da ist die Frage berechtigt, wie weit die Regierung bei einem echten Schwenk in der Landpolitik vom Kongress unterstützt würde, da viele Abgeordnete der Regierungskoalition selbst in Geschäfte mit landbesitzenden Paramilitärs und dem Drogenhandel verwickelt sind. Eine tatsächliche Rückgabe von Land an die Opfer scheint mit dem ineffizienten Justizapparat kaum möglich. RückkehrerInnen sind in ihren Heimatregionen erneut Gewalt ausgesetzt: Erst am 19. September wurde der Aktivist Hernando Pérez ermordet, der sich mit dem Bauernverband Asovirestibi in der Region Urabá um die Rückgabe von Land bemühte.
Und die Verpflichtung der Regierung, Opfer von Vertreibung zu entschädigen, darf nicht verschleiern, dass strukturelle Bedingungen erst zur Vertreibung geführt haben und von der bisherigen Agrarpolitik noch verschärft wurden. Es macht einen Unterschied, ob als „Wiedergutmachung“ einigen Wenigen Land zurückgegeben wird, oder ob es um eine umfassende Landpolitik und in der Konsequenz um eine systematische Agrarreform geht. Eine solche ist in Kolumbien viele Male gefordert und nie wirklich durchgesetzt worden. Würde darüber ernsthaft nachgedacht, so müssten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der marginalisierten Bevölkerung im Allgemeinen eine Rolle spielen, und das Landwirtschaftsmodell müsste grundsätzlich infrage gestellt werden: Was hat Priorität, der Export im großen Stil oder die Nahrungsmittelversorgung der eigenen Bevölkerung?
Ein Hauptfokus der kolumbianischen Wirtschaftspolitik bleibt die Bergbauindustrie (Öl, Kohle, Gold), die nicht gerade beschäftigungsintensiv, aber mit Landbesitz verbunden ist, und die industrialisierte Plantagenwirtschaft (Ölpalme, Bananen). Landlose Bauern sollen, so eine Idee der Regierung, gezielt an der Nahrungsmittelversorgung für die Städte beteiligt werden – aber keine Landtitel erhalten. Nach dem Vorbild von Ölpalmenplantagen sollen sie in „Kooperativen“ zusammengefasst sein, als „GeschäftspartnerInnen“ für größere UnternehmerInnen, die Technologie und Saatgut zur Verfügung stellen. Bei diesen Vorschlägen geht es keineswegs um eine Stärkung kleiner Landwirtschaftsbetriebe.
Doch gerade für die großen Bergbau- und Landwirtschaftsprojekte wollen internationale InvestorInnen Vertragssicherheit. Kolumbiens PolitikerInnen ist bewusst, dass es international durchaus Probleme geben kann, wenn ihnen enge Verbindungen zur Mafia und die gewaltsame Aneignung von Millionen Hektar nachgesagt werden. Freihandelsverträge, wie den kürzlich mit der EU vereinbarten, will die Regierung Santos nicht aufs Spiel setzen. Hier begründet sich wohl auch das Interesse an einer veränderten Politik gegenüber Vertriebenen. Dass dennoch weiter eine militärische Lösung des innerkolumbianischen Konflikts verfolgt wird, steht dazu nicht im Widerspruch, dienen doch die Guerilla und der Bürgerkrieg immer wieder als Rechtfertigung für die Kriminalisierung von politischem Protest.
Die FARC bleibt daher auch unter Juan Manuel Santos das größte Problem der demokratischen Linken in Kolumbien: Zuletzt wurde Ende September die oppositionelle Senatorin Piedad Córdoba, die maßgeblich daran beteiligt war, dass die Freilassung mehrerer von der FARC Entführter zustande kommen konnte, bezichtigt, Verbindungen zur Guerilla zu haben. In einem Urteil wurde ihr für 18 Jahre die Berechtigung, öffentliche Ämter auszuüben, entzogen. Einigkeit besteht in der Regierung der Nationalen Einheit von Juan Manuel Santos offensichtlich vor allem darüber, dass politische GegnerInnen, die sich nicht kooptieren lassen, nicht mehr zu Wort kommen sollen.

Die Kirche der Armen

Die 1980er Jahre in Lateinamerika: Zu Zeiten des Kalten Krieges herrschen in zahlreichen Staaten Lateinamerikas von den USA unterstützte Militärdiktaturen. Linkes Gedankengut wird als kommunistisch und als Gefahr für die Sicherheit der USA dämonisiert. Dabei geraten Guerilla-Bewegungen und linksgerichtete Parteien ins Visier. Doch die CIA hat noch einen gefährlicheren Gegner identifiziert: die Befreiungstheologie. In den kritischen Theologen und ihren „bekannten Zellen, vertreten durch kirchliche Basisgruppen” sehen die Geheimdienste die wahre Gefahr, die sie für fähig halten, die Region zu destabilisieren. So entsteht 1980 unter Ronald Reagan das Geheimdokument „Santa Fé II“, in dem die Befreiungstheologie als „eine als Glaubensrichtung maskierte politische Lehre, papstkritisch und gegen die freie Presse gerichtet“ beschrieben wird. Und die müsse psychologisch, politisch und militärisch bekämpft werden, so die RegierungsberaterInnen.
September 2010: Die „kommunistische Gefahr” der Befreiungstheologie erscheint wieder in den US-amerikanischen Nachrichten. Wenige Tage, nachdem Glenn Beck, Nachrichtensprecher des rechten Fernsehsenders Fox News, Obama als Sozialisten und „Moslem, der die Weißen hasst” beschuldigt hatte, änderte er plötzlich seine Strategie. Obama sei zwar Christ, behauptete Beck nun, würde jedoch der „dämonischen” Lehre der (afroamerikanischen) Befreiungstheologie angehören. Und das ist in Becks Augen noch viel schlimmer: „Sie können jeden Katholiken fragen, alle würden erkennen, dass die Befreiungstheologie religiös fantasierender Marxismus ist.”
Die Befreiungstheologie, die in den 1960er Jahren durch soziales und politisches Umdenken katholischer Geistlicher in Lateinamerika entstand, ist von jeher mit dem Vorwurf konfrontiert gewesen, religiösen Marxismus zu propagieren. In der Tat enthält sie marxistische Elemente, wie beispielsweise die Kritik am Kapitalismus und an der Macht der herrschenden Klassen sowie die Unvermeidbarkeit sozialer Konflikte.
Um diese Nähe zu verstehen, muss man die Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie kennen. Sie hat ihre Wurzeln in den Basisgemeinden (CEB), die sich zuerst in Brasilien bildeten und später auch in anderen Ländern Lateinamerikas aktiv wurden. Bereits in den 1960er Jahren versammelten sich gläubige ChristInnen, vor allem in kleinen Landgemeinden oder den Armenvierteln der Großstädte und begannen, die Lehre der Bibel innerhalb ihrer Lebensbedingungen zu interpretieren. Dabei diskutierten sie das Evangelium und leiteten daraus umfassende Kritik an den bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen ab.
Seit den 1970er Jahren, als immer mehr repressive Regime in Lateinamerika die Macht ergriffen, versuchte die Befreiungstheologie eine „Kirche der Armen“ zu etablieren. Die Befreiungstheologen predigten nicht das Heil der Menschen im Jenseits, sondern setzten sich im Hier und Jetzt aktiv für Veränderungen der gesellschaftlichen Realität ein. Kritische Priester und Bischöfe, die der Befreiungstheologie angehörten, mischten sich aktiv ins politische Geschehen ein. Dabei eigneten sie sich Theorien des Marxismus an, um die durch den Kapitalismus aufgekommenen sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.
Dass die Befreiungstheologie auf so fruchtbaren Boden fallen konnte, lag aber auch am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65), während dem unter Papst Johannes XXIII. und später Papst Paul VI. eine stärkere Religionsfreiheit und Dialogbereitschaft mit Anders- und Nichtgläubigen propagiert wurde. Wie es der brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff (zu den Brüdern Boff siehe auch Kasten) beschreibt, fand eine „Enteuropäisierung und wirkliche Öffnung der Kirche“ statt. Die Bischofskonferenz von Medellín 1969 machte diese neue Ausrichtung der katholischen Kirche in Lateinamerika nochmals deutlich. Auch die historische Missionskirche, die an der Seite der Kolonialmächte den Kontinent (christlich) erobert hatte, wendete sich in der Zeit der politischen Repression und Verfolgung den Armen und Ausgegrenzten zu und rief zur Unterstützung von Basisorganisationen auf, um die ungerechten Verhältnisse zu verändern.
Doch das Engagement der Befreiungstheologie, ihre politische Einmischung, ihre Kritik am Kapitalismus und den bestehenden Machtverhältnissen und nicht zuletzt ihre Nähe zum Marxismus, gefiel weder den Machthabern noch dem Vatikan oder den USA. Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde die befreiungstheologische Bewegung von vielen Seiten angegriffen. Der brasilianische Bischof Hélder Câmara kommentierte das mit seinem berühmten Ausspruch: „Wenn ich den Armen etwas zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen; wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, nennt man mich einen Kommunisten.“
Mit dem Amtsantritt des konservativen Papstes Johannes Paul II. (1978 bis 2005), setzte eine „Revatikanisierung“ der lateinamerikanischen Kirche ein. Die Befreiungstheologie wurde zensiert und progressiv denkende Bischöfe wurden durch konservative Pater ersetzt. Führende befreiungstheologische Priester, wie beispielsweise die Brüder Boff in Brasilien oder Ernesto Cardenal in Nicaragua (siehe Interview in diesem Dossier), erhielten Rügen oder Redeverbote aus Rom und wurden teilweise sogar von ihren Ämtern als katholische Priester suspendiert. Auch US-Präsident Ronald Reagan bekämpfte energisch die Befreiungstheologie und unterstützte gleichzeitig die Missionsbestrebungen von charismatischen Pfingstkirchen in Lateinamerika (siehe auch Artikel von Andreas Boueke in diesem Dossier).
Der Bedeutungsverlust, den die Befreiungstheologie seit den 1990er Jahren erlitt, liegt jedoch teilweise auch in ihr selbst begründet. Sie trat stets für eine Säkularisierung und die Schaffung weltlicher Organisationen ein. Befreiungstheologische Priester unterstützen die Eigenermächtigung und Organisierung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, auch wenn das im letzten Schritt mitunter die Abnabelung von den kirchlichen Strukturen mit sich brachte. Viele soziale Bewegungen wie zum Beispiel die Landlosenbewegung MST in Brasilien oder die Zapatisten in Mexiko, waren ursprünglich von der Befreiungstheologie beeinflusst und inspiriert. Die zur katholischen Kirche Brasiliens gehörende Landpastorale CPT unterstützte die LandarbeiterInnen bereits seit 1979 im Kampf um das ihnen zustehende Land. In Mexiko engagierten sich im Vorfeld des zapatistischen Aufstands Jesuiten, Dominikaner und andere Ordensgruppen in der pastoralen Bildungsarbeit und trieben die politische Bewusstseinsbildung der indigenen Bevölkerung voran, indem sie sie über ihre Rechte informierten und dazu aufriefen, für diese zu kämpfen.
Heute ist der religiöse Ursprung dieser Bewegungen stark in den Hintergrund getreten. Organisationen wie die MST entwickelten ihre Ziele, Ideologien und Arbeitsweisen fort und emanzipierten sich von der kirchlichen Basis. Doch der Geist der Befreiungstheologie lebt in ihnen fort. Die Mystik der MST beispielsweise, die in ihren Versammlungen getroffenen Entscheidungen, das alltägliche Leben in den Camps und die Motivierung zur Arbeit in kleinen Kooperativen oder Kollektiven sind weiterhin eindrucksvolle Zeichen ihres theologischen Erbes.

KASTEN
Leonardo und Clodovis – die Gebrüder Boff
Die Brüder Leonardo und Clodovis Boff sind Vertreter der katholischen Befreiungstheologie in Brasilien. Leonardo, der ältere, war Franziskanermönch, Clodovis ist Mitglied des katholischen Servitenordens. Beide einte das theologische und politische Eintreten für Menschenrechte und die Armen, wie es in der Befreiungstheologie praktiziert wurde. Clodovis verlor deswegen 1984 sowohl seinen Lehrstuhl an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro als auch die Unterrichtserlaubnis an der Päpstlichen Fakultät Marianum in Rom. Leonardo wurde vom Vatikan 1985 ein Rede- und Lehrverbot auferlegt, bevor er dann selbst im Jahre 1992 aus dem Franziskanerorden austrat und sich in den Laienstand versetzen ließ. Clodovis distanzierte sich 1986 von der Befreiungstheologie. Leonardo Boff blieb ihr treu. Auf dem Weltsozialforum 2009 in Belém sagte er: „In ein paar Jahren werden wir alle Sozialisten sein – entweder wir teilen das wenige, was wir haben, oder es wird für niemanden mehr etwas geben.“ Leonardo Boff wurde 2001 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Seit dem Jahre 2007 gibt es zwischen den Brüdern theologischen und politischen Zwist: Clodovis kritisierte an der Theologie der Befreiung, sie habe „gut begonnen, sich aber wegen ihrer erkenntnistheoretischen Mehrdeutigkeit verrannt: Sie hat die Armen an Stelle Christus‘ gesetzt.“ Aus dieser Umkehrung folge die „Instrumentalisierung des Glaubens“ für die „Befreiung“, die „Transformation des Glaubens in Ideologie“. Leonardo attestierte daraufhin seinem Bruder, „mit naivem Optimismus und jugendlichem Enthusiasmus“ die Linie der traditionellen Kirche zu verteidigen.
// Christian Russau

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