Verdrängtes ans Licht bringen

Der dunkle Saal im alteingesessenen Kino Capitol in der Fußgängerzone von Guatemala Stadt ist bis auf den letzten seiner 300 Plätze belegt. Über die Leinwand flimmert ein Schwarzweißfilm. Eine bulgarische Berglandschaft gibt mit einigen prominent platzierten Kunstpalmen die mittelamerika­nischen Kulissen. „Mit Männern wie Ihnen werden wir in null Komma nichts Guatemala befreien“, tönt es in deutscher Sprache. Nur manchmal fallen ein paar spanische Kraftausdrücke, die in den Untertiteln nicht übersetzt werden müssen.
In Das Grüne Ungeheuer, einem DDR-Klassiker von 1962 nach dem Roman von Wolfgang Schreyer, gerät der deutsche Hauptdarsteller durch widrige Umstände an die vorderste Front des Kalten Krieges in Mittelamerika. Mit ihm erlebt das bunt gemischte Publikum im Cine Capitol nun in fünf abenteuerlichen Kapiteln den CIA-gesteuerten Sturz des guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz mit. Dieser hatte mit seinen beherzten Landreformen „das grüne Ungeheuer“ – die allmächtige United Fruit Company – gegen sich aufgebracht.
„Guatemala sieht sich im Spiegel“, urteilte Kolumnist Raúl de la Horra, einer der Podiumsgäste auf dem Festival. „Die Reflektion der eigenen Geschichte ist es, was wir in diesem Land so dringend brauchen.“ Zwei Tage später zeigt ein Dokumentarfilm die BRD-Perspektive der 1960er Jahre auf Guatemala. In „Jungfrau, Marx und Huracán“ gehen die Filmemacher der Frage nach, „ob Moskaus Saat nun auch in Guatemala wächst“.
In der NDR-Reportage preisen Angehörige der guatemaltekischen Elite und deutsche Kaffee­plantagen­besitzer den Putsch gegen Arbenz als Befreiungsschlag. Ein 36 Jahre anhaltender Bürgerkrieg und der Genozid an der Maya-Bevölkerung werden folgen. 200.000 Menschen wurden dabei umgebracht; weitere 50.000 verschwanden gewaltsam. Der Bericht der UNO-Wahrheits­kommission stellte Ende der 1990er Jahre fest, dass 83 Prozent der Opfer Indigene waren und 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee verübt wurden.
„16 Jahre nach Abschluss der Friedensverträge herrscht vielerorts noch immer Schweigen über die blutige Vergangenheit“, konstatiert Uli Stelzner, ein deutscher Filmemacher, der das Internationale Filmfestival in Guatemala initiierte. „Im letzten Jahr wurden die ersten Strafverfahren gegen Militärs eröffnet. Die guatemaltekische Justiz hat angefangen, sich zu bewegen. Nun ist es von fundamentaler Bedeutung, Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen, damit dieser Prozess nicht zum Erliegen kommt.“
Uli Stelzner dreht seit fast 20 Jahren sozialkritische Filme in Guatemala (siehe LN 449). Eine enge Kooperation zwischen deutschen und guatemaltekischen Filmschaffenden ist entstanden. Diese gehen der „unbedingten Notwendigkeit“ nach, mit Dokumentarfilmen ein nichtkommerzielles Kino in dem kleinen mittelamerikanischen Land zu schaffen. Für Uli Stelzner war es dabei stets wichtig, als Filmemacher in Dialog mit der Bevölkerung zu treten. Mobile Vorführungen führten ihn in entlegenste Dörfer, um Diskussionen in die kriegsgeschädigten Gemeinden zu tragen.
Sein aufwendigstes Filmprojekt jedoch verlangte nach einem größeren Rahmen. In La Isla – Archive einer Tragödie werden die Zuschauer in die fensterlosen Räume der gefürchteten Folterstätte der guatemaltekischen Polizei geführt (siehe LN 433/434). Das Gebäude in der Peripherie der guatemaltekischen Hauptstadt konnte nie verortet werden. Bis es im Jahr 2005 überraschend durch eine Explosion der Öffentlichkeit zugänglich wurde – und mit ihm das bislang geheime Polizeiarchiv. Vor weißgetünchten Wänden lagerten dort vergilbte Aktenberge, insgesamt 80.000 Dokumente. „Nun gab es auf einmal minutiös geführte Aufzeichnungen über politische Morde, extralegale Festnahmen und Folter während des Krieges“, berichtet Stelzner.
Die kommerziellen guatemaltekischen Medien hätten jedoch kein Interesse daran, die Menschen darüber zu informieren. Die heutige Regierung von Ex-General Otto Pérez Molina, der als junger Offizier in das Massaker im Nebaj-Ixil-Dreieck verstrickt war, noch viel weniger. In La Isla zeigt ihn Archivmaterial inmitten hingerichteter Bauern stehend. „Mit dem Dokumentar­film haben viele erst erfahren, dass sie nun die Möglichkeit haben, nach verschwundenen Familien­angehörigen zu forschen.“ La Isla gab 2010 den Auftakt zum ersten Internationalen Filmfestival in Guatemala. Trotz Bombendrohung und Sabotage strömten 6.000 Menschen in den Kulturpalast, Symbol der vergangenen Militärdiktaturen. „Bilder wurden gezeigt, die lange verdrängt wurden.“
Drei Jahre später hat sich das Filmfestival vergrößert. Zehn Tage lang wurden bis Mitte Mai 17 Filme aus Lateinamerika und Europa gezeigt. Ihre Auswahl hat sich aus der Diskussion der letzten Jahre ergeben: Denn neben der ausstehenden Aufarbeitung der Vergangenheit ist die indigene Mehrheitsbevölkerung in Guatemala heute erneut Repression und Verfolgung ausgesetzt. Diesmal sind es multinationale Unternehmen, die mit Industrie-, Minen- und Staudammprojekten in die Gemeinden eindringen und dabei vom Militär geschützt werden. Filme aus Peru, Kolumbien und Österreich drehen sich um den weltweiten Ressourcenboom, der immer wieder auch indigene Territorien betrifft.
Eine Frau aus dem Publikum erhebt sich, um eine Wortmeldung zu machen. Ihre bestickte Bluse und der gewebte Rock weisen sie als Bewohnerin des Departamentos Sacatepeque aus. „Die Realität holt uns im Kinosaal ein. Bilder, wie wir sie hier auf der Leinwand sehen, waren heute auf den Titelseiten der Zeitungen.“ Sie verweist auf den dieser Tage ausgebrochenen Konflikt in Santa Cruz Barillas, im Hochland Westguatemalas. Dort sprachen sich in einer Volksbefragung knapp 50.000 Indigene gegen wirtschaftliche Großprojekte aus. Laut der von Guatemala ratifizierten ILO-Konvention 169 über Indigene Rechte gilt diese als rechtsverbindlich. Der Bau eines Hydroelektrizitätswerkes wurde trotzdem weiterverfolgt; der dagegen aufwallende Protest schließlich mit dem Einsatz des Militärs und der gezielten Festnahme von Aktivist_innen beantwortet.
Auch in der Vorführung am nächsten Morgen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Oberstufen­schulen der Hauptstadt läuft, haben die Schüler_innen von Barillas gehört. Was dort genau vor sich geht, weiß jedoch keiner so recht zu sagen. Die kanadische Filmemacherin Stephanie Boyd ermuntert die anwesenden Schüler_innen, selbst zur Digitalkamera oder zum Handy zu greifen und ihr Leben und die Realität in ihrem Land zu dokumentieren. Die Jugendlichen in Schuluniform grinsen ein wenig verlegen und rutschen auf den kaminroten Kinosesseln herum.
Doch Stephanie Boyd lässt nicht locker: „Werdet wie Chasquis, die Laufboten der Inkas, und tragt Informationen von der Küste ins Hochland und zurück.“ Sie erzählt den 17-jährigen, wie sie und ihr Kameramann sich autodidaktisch die Filmproduktion beibrachten. Spezialeffekte drehen die beiden in ihrer Küche. Die in Peru lebende junge Frau ist mit ihrer Doku „Operation Teufel – ein Bergbau­konzern greift an“ seit zwei Jahren weltweit auf Filmfestivals präsent. Mehr jedoch als die eigene Filmproduktion liegt ihr die Weitergabe von technischem Know-How an Aktivist_innen am Herzen. „Ein Land ohne Dokumentarfilme ist wie eine Familie ohne Fotoalbum“, zitiert sie Patricio Guzmán, der den Aufstieg Salvador Allendes in Chile und den Putsch des Militärs filmte.
Auch am Abend strömen interessierte Kinobesucher_innen wieder die Treppen des alten Filmpalasts hinauf. Student_innen, Angehörige indigener Organisationen, Pensionär_innen, Pressevertrete_innen und internationale Freiwillige durchqueren die Ladenzeilen, wo neben Pizza, Telefonkarten und Parfüm auch Waffen und Munition feilgeboten werden. Aus dem Erdgeschoss dringt der Lärm von Spielautomaten und Musikboxen herauf.
An einem Abend stellt der international renommierte Journalist Hollman Morris seinen Film „Impunity – Straflosigkeit für Massenmorde in Kolumbien“ vor. Für seine kontinuierliche investigative Berichterstattung im Drogenkrieg bekam er im letzten Jahr den Nürnberger Menschenrechtspreis verliehen. Seit Jahren dokumentiert Morris politische Morde, Vertreibungen – und die Verstrickungen der Regierung in Paramilitarismus und Drogenhandel. Nicht ohne persönliche Konsequenzen: Der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe diffamierte ihn als „Komplize des Terrors“, manipuliertes Filmmaterial machte ihn zum Sprecher der FARC-Guerilla und die USA verweigerten ihm 2010 unter Terrorismus-Vorwurf die Einreise.
Doch Morris ist überzeugt: „Die Geschichte muss aus Sicht der Opfer erzählt werden, nicht der Täter.“ Der Dokumentarfilm gäbe in Lateinamerika den zum Schweigen gebrachten eine Stimme, fährt er fort. „Er ermöglicht es darüber hinaus, die Opfer von Kriegen und Diktaturen nicht nur in ihrer menschlichen Tragödie darzustellen. Er zeigt sie als Subjekte mit ihren Schmerzen und Traumata, aber auch mit ihren Rechten und ihrer Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Das Filmfestival neigt sich seinem Ende zu. Menschen strömen aus dem Kino. Währenddessen steckt die Vergangenheitsaufarbeitung in Guatemala weiter in den Kinderschuhen.

„Der Prozess könnte ein Meilenstein sein“

Viele europäische Zeitungen haben inzwischen berichtet. Was macht den Fall so bedeutsam?

Der Mord an Luciano ist der erste Fall, in dem in Kolumbien Ermittlungen anberaumt und Täter verurteilt wurden. Außerdem gibt es in diesem Fall Beweise, dass nicht nur Paramilitärs, sondern auch zwei Funktionäre des Geheimdienstes DAS mit dem Mord zu tun hatten. Es gibt einen Prozess gegen Mitarbeiter des Geheimdienstes. Drittens gibt es Indizien, die einige Funktionäre von Nestlé damit in Verbindung bringen. Ein Richter ordnete auch hier Ermittlungen an. Diese sind aber nicht vorangekommen – der Richter musste wegen Drohungen ins Exil.
Ein vierter Punkt ist, dass wir Erklärungen wie die von Salvatore Mancuso (wegen Kokainhandels an die USA ausgelieferter Paramilitär, Anm. d. Red.) haben, welche besagen, dass Cicolac den paramilitärischen Gruppen Finanzhilfen gegeben hat.
Es gibt für uns bei dem Fall ein Schlüsselelement: Zwar kam das Verfahren in Kolumbien durchaus voran, die direkten Täter sind sogar juristisch verurteilt worden; es gibt Zeugenaussagen. Aber man hat nie herausgefunden, wer den Auftrag gegeben hat. Deshalb könnte ein Prozess in der Schweiz einen Meilenstein im Kampf gegen die völlige Straflosigkeit markieren, in der Morde an Gewerkschaftern verbleiben.

Welche sind denn die Vorwürfe, was ist damals passiert?

Unserer Meinung nach hat das Unternehmen eine massive Unterlassung begangen, es ist seiner Schutzpflicht gegenüber dem compañero nicht nachgekommen. Erstens trägt Nestlé die Verantwortung für die Schließung der Cicolac-Fabrik in Valledupar. Es war bekannt, dass eine offen aufgeheizte Stimmung herrschte, in einer Region, die bekanntermaßen von Paramilitärs kontrolliert wurde. Einige der Großgrundbesitzer, die Zulieferer für die Nestlé-Fabrik waren, hatten mit diesen Gruppen Verbindungen. Die Paramilitärs hatten die Gewerkschaft Sinaltrainal bedroht: Wenn das Unternehmen die Fabrik schließen würde, sei das die Schuld der Gewerkschaft, und man werde Vergeltungsmaßnahmen vor allem gegen aktive Gewerkschafter ergreifen. Nestlé haben diese Tatsachen nicht interessiert, im Gegenteil.

Inwiefern? Wie verhielt sich das Unternehmen in diesem brisanten Kontext?

Das Verhalten des Unternehmens löste den Konflikt nicht, sondern heizte ihn noch an. Vor der Schließung der Fabrik in Valledupar beendete die Firma die Verträge mit neun unserer Aktivisten Gewerkschaftsleute dort, darunter Luciano, unter außergewöhnlichen Bedingungen: Nestlé machte einen Streik geltend, den es nie gegeben hatte.
Dabei haben wir immer wieder auf die Situation hingewiesen und vor einer Eskalation gewarnt. Ebenfalls wurde die weltweite Geschäftsführung Nestlés schriftlich gewarnt und wusste, was in Kolumbien passierte. Doch das Unternehmen weigerte sich, die Arbeiter zu schützen. Deshalb sind wir der Meinung, Nestlé hatte durchaus eine Verantwortung.

Was für Konsequenzen erwarten Sie sich, sollte es zum Prozess kommen?

Wir hoffen sehr, dass die Schweizer Justiz gegen genau die Personen ermittelt, die zu jener Zeit ganz oben in der Geschäftsleitung Nestlés waren, sowohl weltweit als auch in der Abteilung für Lateinamerika und Kolumbien. Es soll aber auch um eine institutionelle Verantwortung des Konzerns gehen. Wir glauben, dass die Möglichkeit eines Prozesses besteht. Und wir hoffen, dass die Schweizer Justiz so schwere Sanktionen verhängt, dass solche Straftaten sich nicht wiederholen.
Vor allem wünschen wir uns eine Debatte in eben den europäischen Ländern, in denen es große Muttergesellschaften gibt, über die Verantwortung der hiesigen Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen – damit das Verhalten der Firmen sich verändert. In Kolumbien gibt es nun mal keine Vorschrift, die multinationale Unternehmen zu einem anderen Verhalten zwingen würde. Da könnte das Schweizer Gesetz greifen.

Was würde sich in der Hinsicht denn durch den geplanten Freihandelsvertrag mit der Europäischen Union ändern? Gibt es darin klarere Richtlinien für die Unternehmen?

Naja, die Freihandelsverträge versuchen immer Vorschriften oder sogenannte Handelshemmnisse und Gesetze abzubauen, die Kapitalflüssen oder dem Export von Gütern hinderlich sein könnten. Der Freihandelsvertrag mit der EU unterscheidet sich davon überhaupt nicht, er bringt keine Regeln! Auch die Erleichterungen für ausländische Investitionen – unter den jetzigen Bedingungen wird dieser Vertrag das Verhalten der Unternehmen noch verschärfen.
Die Botschaft, die in Kolumbien deutlich wird, ist: Na gut, da gibt es Menschenrechtsverletzungen und da gibt es ein paar Killer, die Menschen umbringen. Aber dahinter liegt die Erkenntnis: Gewalt macht sich bezahlt. Die Gewinne der großen Konglomerate sind in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. Das ist gleichzeitig die konfliktreichste Zeitspanne, besonders ab 1995.
Seitdem ist die Wirtschaft des Landes noch viel transnationalisierter. Die enormen Ressourcen gehören mehr und mehr multinationalen Unternehmen. Deren Einfluss auf politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Ebene wird immer spürbarer, die Gesetzgebung in Kolumbien wird immer schwächer. Es gibt eine große Transformation hin zu Liberalisierung und Deregulierung im Bereich Arbeitsrecht. Auf dieser Grundlage besteht keine Möglichkeit eines Wandels.

Und das obwohl immer die Rede davon ist, dass mit der neuen Regierung eine neue Zeit angebrochen sei?

Eine wichtige Frage, denn wir befinden uns nicht in einer Nachkriegssituation. Die Situation scheint sich eher zu verschärfen. Die paramilitärischen Gruppen beherrschen weiterhin ganze Regionen, sie sind ein ganz grundlegender Faktor in der Wirtschaft. Sie haben ihre politischen Parteien, von denen sich viele zur Unidad Nacional (von Präsident Juan Manuel Santos ins Leben gerufene symbolische Einigung der bürgerlichen und rechten Parteien, Anm. d. Red.) zählen. Wir glauben nicht an einen Wandel, wenn die paramilitärischen Gruppen noch so viel Macht und Einfluss haben.

Es gab Gerichtsverfahren gegen Funktionär_innen aus der Regierungszeit von Ex-Präsident Álvaro Uribe…

Was da bewegt wurde, ist kaum der Rede wert. Mehr als die Oberfläche wurde nicht angetastet. Es reicht schon zu sehen, dass die Politiker, denen im Skandal der parapolítica (siehe LN 433/434) Verbindungen zu Paramilitärs nachgewiesen wurden, zu kaum mehr als zwei, drei Jahren verurteilt wurden. Sie laufen frei herum.
Außerdem verstärkt sich die Militarisierung der Gesellschaft, die Zahl der Soldaten wird ebenso erhöht wie das Militärbudget. Ich sehe keine Anzeichen von Demilitarisierung. Das wäre doch ein Zeichen für ein Ende des Konfliktes. Und die Guerilla zeigt immer noch, dass sie fähig ist, über lange Zeit zu überleben. Es gibt keine Möglichkeit eines militärischen Sieges der Regierung, mit dem ein Ende des Krieges absehbar wäre.

Hat sich die Bedrohungssituation für die Gewerkschaften nicht geändert?

Morde, Drohungen, Vertreibung und allgemeiner Terror werden nicht weniger, weil der offizielle Diskurs sich verändert hätte. Nach außen gibt es einen viel positiveren, dialogbereiten Diskurs, der ein anderes Bild der Regierung zeigt. Trotzdem sind dieses Jahr schon zwei unserer Gewerkschaftskollegen umgebracht worden. Zwei sind wegen Terrorismus angeklagt, was völllig absurd ist. Und die compañeros in Valledupar beispielsweise, die mit dem Fall von Luciano zu tun haben, sind in den letzten Tagen ständig bedroht worden.

Die Süddeutsche Zeitung schrieb über den Fall Nestlé, NGOs würden ihre politischen Kampagnen jetzt mit juristischen Mitteln führen. Was meinen Sie dazu?

Nun, das juristische Vorgehen ist ein Schritt um die Unternehmenspolitik zu verändern, das ist unser Ziel. Das ist ja nicht nur mit Nestlé so. Es geht uns weniger darum, eine Klage zu gewinnen oder eine Entschädigungszahlung zu erreichen. Die Unternehmen sollen Gesetze befolgen, die ermöglichen, dass Arbeits- und Menschenrechte respektiert werden, genauso wie die Souveränität eines Landes. Wenn das Politik ist, ist es eben Politik. Es gibt ein juristisches Mittel, um das zu erreichen, aber es gibt auch andere Mittel, ob Proteste oder Verhandlungen. Das ist wichtig! Wir setzen nicht allein auf die Justiz, sondern hier wie dort sind wir auf die Mobilisierung der Leute und den Druck, den sie ausüben können, angewiesen. Das Motiv dafür kann auch humanitär und nicht nur politisch sein.

Weitere Informationen: www.ecchr.de

Infokasten: Nestlé und der Mord an Luciano Romero
Der Lebensmittelhersteller Nestlé AG soll den Tod von Luciano Romero im Jahr 2005 durch Unterlassung von Schutzmaßnahmen für den Gewerkschafter fahrlässig mitverursacht haben. Dieser war Mitarbeiter der Firma Cicolac in Valledupar im Cesar in Nordostkolumbien, die seit 1997 als Tochterfirma zu Nestlé gehörte, als die paramilitärische Gruppe Bloque Norte sich in der Gegend bereits etablierte. Während Cicolac Hauptabnehmerin für Milchprodukte war, hatten einige ihrer Zulieferer enge Verbindungen zum Bloque Norte.
Als Nestlé 2005 die Fabrik von Cicolac in Valledupar schloss, mussten praktisch alle gewerkschaftlich Aktiven befürchten, von Paramilitärs ermordet zu werden und gingen ins Exil. Luciano war sechs Monate in Spanien. Kurz nach seiner Rückkehr wegen eines familiären Notfalls wurde er am 10. September 2005 mit 50 Messerstichen ermordet. In den Jahren zuvor war Luciano mehrmals von Cicolac-Mitarbeitern als Guerilla-Kämpfer verleumdet worden.
Kommt es wegen Klage der kolumbianischen Gewerkschaft Sinaltrainal und des European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) bei der Schweizer Staatsanwaltschaft zum Prozess gegen die Nestlé AG, müssen fünf ihrer ehemaligen Geschäftsführer Gefängnis- oder Geldstrafen, aber auch das Unternehmen Entschädigungszahlungen befürchten. Laut ECCHR wäre das Verfahren ein Präzedenzfall. Seit 1986 wurden 12 weitere Sinaltrainal-Gewerkschafter, die bei Nestlé beschäftigt waren, von paramilitärischen Gruppen ermordet. In keinem der Fälle wurde je umfassend ermittelt.

Wenig zu verlieren

José Santos ist Jugendpromotor in der Gemeinde Nueva Granada im östlichen Departement Usulután. Usulután ist eine der ärmsten Regionen des Landes, die besonders stark vom zwölfjährigen Bürgerkrieg betroffen war und heute insbesondere der jugendlichen Bevölkerung kaum Perspektiven bietet. Die Jugendorganisation Quetzalcoatl, für welche Santos arbeitet, ist vor allem im Bereich der Prävention tätig. Mit Tanzunterricht, Sportveranstaltungen oder gemeinnütziger Arbeit versucht die Organisation, beschäftigungslose Jugendliche von der Straße wegzuholen und in einen strukturierten Tagesablauf einzubinden. José Santos betont, dass das Jugendzentrum bisher wenig Unterstützung von der regierenden Partei Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) erhalten hat. Noch weniger hält er allerdings von der oppositionellen rechten Nationalrepublikanischen Allianz (ARENA), in deren Händen sich die Stadtverwaltung befindet: „Von denen können wir gleich gar nichts erwarten“, so Santos, der früher in der Guerilla aktiv war. Gleichzeitig hebt Santos auch Fortschritte hervor, welche sich seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Funes im Jahr 2009 erkennen lassen. Hierzu gehören Subventionszahlungen an Familien mit sehr niedrigen Einkommen, die Vergabe von verbessertem Saatgut an Bäuerinnen und Bauern in der Region und die Abgabe von Gratismaterialien an Schulkinder. „Insbesondere Letzteres bedeutet für viele Familien eine große Erleichterung“, so Santos. Kritischer äußert sich Roselia Herrera. „Die sozialen Fortschritte seit den letzten Wahlen sind minimal“, so die Aktivistin der Organisation Salvadorianische Frauenbewegung. In Bezug auf die Frauenrechte erkennt Herrera ebenfalls kaum Verbesserungen: „Die FMLN zeigt sich offener gegenüber unseren Anliegen als die Vorgängerregierungen, aber wir Frauen sind weiterhin mehrheitlich von jeglicher politischer Teilhabe ausgeschlossen.“ Alexander Aguilar schließlich hebt vor allem die Errungenschaften von drei Jahren FMLN-Regierung hervor. Aguilar ist Projektverantwortlicher bei der Stadtverwaltung von Jucuarán im Departement Usulután und engagiert sich gleichzeitig in der Jugendarbeit des FMLN. „Die FMLN hat sich entschlossen den Problemen der ärmsten Bevölkerungsschichten angenommen, die von den Vorgängerregierungen konsequent vernachlässigt worden waren“, so Aguilar. Der ausgebildete Sozialarbeiter verweist insbesondere auf die Fortschritte für die landwirtschaftlichen Produzent_innen sowie die Verbesserungen im Gesundheits- und Erziehungsbereich. „Die Einrichtung von Basisgesundheitseinrichtungen und die Abgabe von kostenlosem Schulmaterial hat vor allem die Bevölkerung auf dem Land begünstigt, wo die Armut traditionell am größten ist“, so Aguilar.
Die sozialen Verbesserungen im Laufe der ersten drei Jahren FMLN-Vorherrschaft werden nicht nur durch direkt Betroffene hervorgehoben, sondern auch durch konkrete Zahlen belegt. Die Abgabe von verbessertem Saatgut und Pestiziden an über 300.000 Bäuerinnen und Bauern im ganzen Land, die Zahlung einer Rente von 50 US-Dollar pro Monat an 42.000 Rentner_innen ohne Alterspension, die Abgabe von Gratismaterial an Hunderttausende von Schulkindern oder die Abschaffung der Eigenbeiträge im öffentlichen Gesundheitssystem zeugen von den konkreten Erfolgen der FMLN. Hinzu kommen Millionenzahlungen an Bäuerinnen und Bauern zur Versicherung von Ernteausfällen und die Abgabe von zwei Glas Milch pro Woche an 250.000 Schulkinder allein im vergangenen Jahr. Gemäß der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) konnte dank dieser Maßnahmen die Armut im Land im Jahre 2010 um rund 1,5 Prozent gesenkt werden. „Die Bereitschaft der FMLN-Regierung, vor allem das Los der ärmsten Bevölkerungskreise zu verbessern, ist eindeutig erkennbar“, betont auch Ramón Villalta, Direktor der Sozialinitiative für Demokratie, einer auf Demokratiefragen spezialisierten Nicht-Regierungsorganisation in der Haupstadt San Salvador. „Die Abgabe der kostenlosen Schulmaterialien hat nicht nur die angespannte finanzielle Situation von vielen Familien verbessert, sondern Tausenden von Kindern überhaupt erst den Schulbesuch ermöglicht“, hebt Villalta vor allem den Nutzen der sogenannten paquetes escolares hervor. Dessen ungeachtet betonen auch viele FMLN-Anhänger_innen, dass die sozialen Verbesserungen ausgebaut und die entsprechenden Programme effizienter umgesetzt werden müssten. Sie beklagen sich vor allem über die ausgeprägte Klüngelwirtschaft, welche wie bereits die Vorgängerregierungen auch die Politik der FMLN charakterisiert. Dies führt dazu, dass Entscheidungsträger_innen nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit bestimmt werden. „Diese Situation hat sich unter der aktuellen Regierung sogar noch verschärft“, betont die Gewerkschaftsführerin eines großen öffentlichen Amtes, welche anonym bleiben will.
Die Kritik an der FMLN und insbesondere an der Regierung hat aber vor allem mit deren Sicherheitspolitik zu tun. Die Sicherheitslage hat sich seit dem Amtsantritt von Mauricio Funes kaum verbessert; mit jährlich 65 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner_innen gehört El Salvador immer noch zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Von den Jugendbanden auferzwungene Streiks legen den öffentlichen Verkehr alle paar Wochen lahm und zwingen die salvadorianischen Transportunternehmer_innen jährlich zur Bezahlung von Schutzgeldern in Millionenhöhe. Funes hat auf diese Entwicklung mit einer Ausweitung der „Politik der harten Hand“ seines Vorgängers Antonio Saca von der rechten ARENA-Partei reagiert. Neben der Polizei wurden auch Tausende von Soldaten auf die Straßen und in die Problemzonen der großen Städte beordert, um das staatliche Machtmonopol wieder herzustellen. Die zunehmende Militarisierung des Landes verdeutlicht auch die Ernennung von ehemaligen Militärs an die Spitze des Sicherheitsministeriums und der Polizei. Insbesondere die Ernennung von David Munguía Payés zum neuen Sicherheitsminister im vergangenen November hat massive Kritik hervorgerufen, gerade auch von Parteigänger_innen des Präsidenten. Diese betrachten die Einsetzung eines ehemaligen Militärs an die Spitze eines zivilen Ministeriums als Verletzung der Friedensverträge, welche 1992 den zwölfjährigen Bürgerkrieg beendet hatten (siehe LN 451).
Den Konflikt zwischen dem Präsidenten und dessen Partei verdeutlichen auch die Diskussionen über die Annäherung El Salvadors an die USA. Nach dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama im letzten Jahr hatten die beiden Staaten ein gemeinsames Kooperationsabkommen unterzeichnet, welches viele öffentliche Institutionen des Landes für privates Kapital öffnen soll. Mit Verweis auf die angebliche Exportschwäche El Salvadors sieht dieses unter anderem den Bau und Betrieb von öffentlichen Infrastrukturprojekten durch Private vor. Zu den Objekten, welche im Kooperationsvertrag erwähnt werden, gehören der internationale Flughafen von El Salvador und der Hafen von La Unión im Osten des Landes. Parteiinterne Kritiker_innen sehen dadurch das Land zunehmend am Gängelband der USA. Dieser Kritik schlossen sich nach der Unterzeichnung des Kooperationsabkommens auch zahlreiche soziale Organisationen an. Die anerkannte Menschenrechtsorganisation FESPAD verwies auf die arbeitsrechtlichen Gefahren im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags. Viele Expert_innen befürchten, dass die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen zu einer vermehrten Prekarisierung der Beschäftigungsbedingungen führen werde.
Die Spannungen zwischen Funes und dessen Partei scheinen dabei insbesondere letzterer zu schaden. So schneidet die Regierungspartei bei allen Umfragen schlechter ab als der Präsident. Die rechte Opposition bedient sich derweil der Streitigkeiten innerhalb der FMLN, um in der Öffentlichkeit die angebliche Regierungsunfähigkeit der ehemaligen Guerilla anzuprangern. Während diese Konflikte zwischen Funes und dessen Partei letztlich für viele Salvadorianer_innen nebensächlich sind, sind die fehlenden Beschäftigungsperspektiven eines der Hauptthemen im aktuellen Wahlkampf. Die ARENA geht mit dem Thema auf Stimmenfang und spricht damit vor allem jüngere Wähler_innen an. In den Wahlumfragen hatte die FMLN noch vor einem Jahr wie die sichere Siegerin ausgesehen, ist aber seither in der Wählergunst laufend zurückgefallen und in einigen Unfragen von ARENA überholt worden. Allerdings sind Wahlumfragen in El Salvador mit Vorsicht zu genießen, da diese zumeist von den ARENA nahestehenden rechtskonservativen Medien des Landes finanziert werden.
Große Hoffnungen auf einen erneuten Wahlsieg kann sich ARENA bei den Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt San Salvador machen. Dies ist vor allem der Popularität des Amtsinhabers Norman Quijano geschuldet. Der frühere Zahnmediziner liegt in den Umfragen weit vor seinem Herausforderer Jorge Handal, Sohn des historischen FMLN-Führers Schafik Handal. Quijano wird von breiten Kreisen attestiert, für mehr Sicherheit und Ordnung in der Hauptstadt gesorgt und das drängende Abfallproblem wirksam angegangen zu haben. Selbst Linke und Gewerkschafter_innen lassen hinter vorgehaltener Hand verlauten, Quijano habe seinen Job eigentlich ganz gut gemacht.
Allzu viel zu verlieren hat die FMLN bei den Wahlen am 11. März nicht, selbst wenn sie knapp hinter der ARENA landen sollte. Bereits jetzt sieht sie sich im Parlament einer Mehrheit der vier rechten Parteien ausgesetzt, wodurch wichtige Gesetzesvorhaben in der Vergangenheit scheiterten. Andererseits bietet das Präsidialsystem El Salvadors die Möglichkeit, auch ohne parlamentarische Mehrheit einige Vorhaben durchzusetzen. Davon macht die Regierung derzeit Gebrauch und wird dies unabhängig vom Wahlausgang auch künftig tun können. Ein deutlicher Wahlsieg böte der FMLN hingegen die Chance, das Land weit stärker in ihrem Sinne zu verändern. Doch darauf deutet wenig hin.

Und dieses Massaker gab es doch…

„Das ist dem Interamerikanischen Gericht noch nie passiert, dass plötzlich Opfer auftauchen, die sagen, nein, ich bin doch nicht Opfer von Verbrechen geworden, meine Söhne sind gar nicht verschwunden, das ist ganz schön heftig, oder?“ – Alirio Uribe Muñoz vom Anwaltskollektiv José Álvear Restrepo lacht ein bisschen. Dabei ist die Sache ernst: In einem der wichtigsten Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs der letzten zehn Jahre, in dem der kolumbianische Staat 2005 wegen Verletzung seiner Schutzpflichten während des Massakers von Mapiripán zu Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu 300.000 US-Dollar pro Familie verurteilt worden war, sind im Herbst 2011 Zweifel laut geworden. Eine der Bäuerinnen, Mariela Contreras, die vor Gericht angegeben hatte, in Mapiripán ihre beiden Söhne verloren zu haben, sorgte mit einer neuen Aussage für einen Skandal: einer der Söhne sei zwar von Paramilitärs umgebracht worden, aber erst im Jahr 2001. Der andere sei als Aussteiger der FARC-Guerilla 2008 wieder aufgetaucht. Dem Anwaltskollektiv, das Doña Mariela juristisch vertreten hatte, wird nun von staatlicher Seite Korruption vorgeworfen – zu Unrecht, sagen die Anwält_innen. Die kolumbianischen Medien hingegen nahmen Vorlagen wie die des staatlichen Generalbevollmächtigten sofort auf: Die Anwält_innen hätten wie eine kriminelle Bande agiert und mit dem Fall ein großes Geschäft gemacht. Erwiesen ist: In Mapiripán im Südosten Kolumbiens wurden zwischen dem 15. und 20. Juli 1997 dutzende Menschen von paramilitärischen Gruppen getötet und in den nahen Fluss geworfen. Die Täter, etwa 200 rechtsgerichtete Paramilitärs, waren aus dem Nordosten des Landes in Militärflugzeugen zu einem Militärflughafen in der Nähe des Tatortes transportiert und das Massaker Tage zuvor angekündigt worden. Polizeiinspektor und Bürgermeister hatten den Ort vor Beginn des Massakers verlassen; die Tat gilt als Ausgangspunkt für die Ausweitung der paramilitärischen Strategie in den Südosten des Landes. Angesichts der strategischen Lage Mapiripáns am Fluss Guaviare und zum Orinoco hin – im Südosten Kolumbiens zentrale Verkehrswege – öffnete diese Gebietsnahme den Paramilitärs den Weg nach Südosten und die Kontrolle über die Kokaplantagen der Region. Nach dem Massaker flohen etwa 2700 Menschen aus der Region. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs wurde als großer Erfolg der kolumbianischen Menschenrechtsbewegung gefeiert, wenn auch die genaue Zahl der Opfer in den 14 Jahren seit der Tat nie ermittelt wurde.
Die Verantwortung für die genauen Ermittlungen liegt allerdings nicht bei der Klagevertretung, sondern bei der kolumbianischen Bundesstaatsanwaltschaft. Sie muss laut Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs ermitteln, welche der Opfer nachweislich ermordet wurden, welche verschwunden bleiben. Bereits 2007 hatte die Staatsanwaltschaft ihre Zahlen korrigiert und zwei Personen von ihrer Liste von 21 Ermordeten gestrichen. Damals hatte der Interamerikanische Gerichtshof die kolumbianische Bundesstaatsanwaltschaft ermahnt, doch sorgfältig zu ermitteln und das Urteil weiterhin umzusetzen.
Jetzt sagte die Staatsanwaltschaft öffentlich, die Opferzahl liege nur bei zehn, „aber wir haben einen Bericht der Einheit für Menschenrechte der Bundesstaatsanwaltschaft, die hat die Fälle bearbeitet, vom April 2011, in dem heißt es, die Zahl der Ermordeten liege bei 77!“ Alirio Uribe ist konsterniert. Nicht nur bleiben die Umstände des Massakers teilweise ungeklärt. Er und andere Menschenrechtsanwält_innen befürchten nun, die Anschuldigungen könnten dazu dienen, ihre gesamte Arbeit zu diskreditieren. Das Kollektiv verdient an einem erfolgreich ausgefochtenen Fall einen Prozentsatz – erfolgreiche Fälle sind allerdings selten für die kolumbianischen Menschenrechtler_innen, und keine_r verdient persönlich daran. Die an Doña Mariela gezahlte Entschädigung muss selbstverständlich zurückgezahlt werden, schenkt man ihrer aktuellen Version Glauben. Doch die Urteile des Interamerikanischen Gerichtssystems sind nicht anfechtbar, nur das übliche Evaluationsverfahren der Umsetzung ist im Gang. Mehrere kleinere Verfahren um den Fall Mapiripán sind bisher nicht abgeschlossen.
Der verworrene Kontext des kolumbianischen Krieges macht es schwer, sich vorzustellen, wie anwaltliche Arbeit funktionieren kann, wenn kaum Beweise für massenhafte Morde vorhanden sind. Häufig muss sich die juristische Arbeit hauptsächlich auf die Aussagen der Opfer und der Täter stützen. Noch in einem weiteren Fall sind von staatlicher Seite Zweifel geäußert worden: der Vertreibung von Las Pavas. Beiden Fällen ist gemein, dass nun die Rede von „falschen Opfern“ (falsas víctimas) ist, wie noch 2010 von „falsos positivos“, also vom Militär fälschlicherweise als Guerilleros ausgegebenen zivilen Opfern gesprochen wurde. Die makaberen Parallelen des Diskurses scheinen die kolumbianische Presse nicht zu stören; sogar der Innenminister sagte öffentlich, „Nein, alles weist darauf hin, dass da Opfer künstlich hergestellt werden“. Dies, obwohl Las Pavas als äußerst emblematischer Fall für die unzähligen Fälle von gewaltsamer Vertreibung galt. Das Ringen der Vertriebenen von Las Pavas um die Rückgabe des Landes war u.a. von der katholischen Kirche, der britischen Botschaft, der Universität Javeriana und internationalen Hilfsorganisationen unterstützt worden.
Die Gemeinde liegt in einer Region, in der in den 1990er Jahren die Farc-Guerilla aktiv war, später die rechtsgerichteten Paramilitärs, wie in vielen ländlichen Regionen. In der Gemeinde gab es 2003 und 2006 gewaltsame Vertreibungen von mindestens 123 Familien. Eliud Alvear, ein Sprecher der Gemeinde, erinnert sich in einem Interview mit der Zeitung VerdadAbierta, wie „sie uns in der Mehrzweckhalle der technischen Landwirtschaftsschule zusammenriefen und uns sagten, dass wir weg müssten. Das hier gehöre ihrem Chef. Das waren ungefähr 125 bewaffnete Typen. Aus Angst hat keiner was gefragt. Wir sind dann weg.“
Einige der Bäuerinnen und Bauern kehrten zurück, wurden 2009 aber teilweise wieder geräumt. Offizielle Landtitel besaßen sie nicht. Die Staatsanwältin von Cartagena, Miryam Martínez Palomino, hatte gegen den Polizeiinspektor ermittelt, der die Räumung vor drei Jahren angeordnet hatte. Nachdem der Polizist Nachweise und Zeugen beigebracht hatte, kam die Staatsanwältin zu dem beängstigenden Schluss, dass es dort nie gewaltsame Vertreibungen gegeben habe und das Land von Las Pavas immer schon einem Grundbesitzer gehörte. Dieser sei schlicht Opfer von Landbesetzungen geworden. Die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern hätten sich als Opfer nur dargestellt, mithilfe des jesuitischen Gemeindepriesters und der internationalen Organisation Christian Aid. Die Staatsanwältin ordnete an, wegen Verfahrensbetrug und falscher Anklage und sogar wegen Verbindungen zur Guerilla Verfahren zu eröffnen, da ein Zeuge behauptet hatte, einen der Sprecher der Gemeinde bei einer Zusammenkunft mit Gewehr über der Schulter gesehen zu haben.
Mit großem Erstaunen und wachsender Besorgnis beobachteten nun kolumbianische wie internationale Menschenrechtsorganisationen, wie die eigentlich als seriös geltende Generalbundesanwältin Viviane Morales Anfang Dezember 2011 öffentlich die Staatsanwaltschaft von Cartagena unterstützte und verlauten lies, in Las Pavas sei nie etwas passiert. Präsident Juan Manuel Santos beglückwünschte sie öffentlich zu diesem Schritt. Inzwischen relativierte Morales ihre Aussagen; zunächst müsse man „etwas mehr in die Vergangenheit blicken“; sie habe detaillierte Ermittlungen auch zur Zeit vor 2006 angeordnet. Die Message ist: Opfer von Vertreibung und Krieg könnten Betrüger sein, die eine ganze juristische Maschinerie in Gang setzen, um sich zu bereichern. Relevant ist das vor allem für das „Rückgabegesetz“, mit dem die Regierung eigentlich in großem Stil Land an Vertriebene zurückgeben wollte. Im Gesetz, und das war von Menschenrechtsorganisationen positiv hervorgehoben worden, lag die Beweislast erstmals nicht mehr bei den Vertriebenen selbst. Anwälte wie Alirio Uribe befürchten nun, dass bei der Umsetzung dieser Gesetze zur Rückgabe von Land Argumente auftauchen könnten, dass diese Opfer vielleicht keine waren. „Und das ist absolut ernstzunehmen, ich finde das sehr sehr schwerwiegend, weil es in der Konsequenz bedeuten kann, dass das Rückgabegesetz einfach nicht angewendet wird“. Bisher wird angenommen, „wenn ich in einer Region mit bewaffnetem Konflikt eine Finca hatte und habe die verkauft, dann wird davon ausgegangen, dass der Verkauf illegal war. Weil es eine Region der Vertreibung war, nimmt man an, dass ich zum Verkauf gewaltsam gezwungen wurde“, so der Anwalt. „Jetzt kann das Argument sein, ah nein, der hat verkauft und jetzt will er sich als Opfer, als Vertriebener darstellen“.
Die Beweislast in den Prozessen der Landrückgabe könnte sich damit wieder umkehren. Vertriebene müssten dann nicht nur beweisen, dass sie tatsächlich Land besaßen, sondern auch, dass sie tatsächlich vor Gewalt geflohen sind, und nicht mit der Guerilla zusammengearbeitet haben.
Die Prozesse wegen Rückgabe von Land liegen bei regionalen Richtern, von denen viele mit lokalen politischen Kräften enge Verbindungen haben. Unabhängige juristische Urteile über Landbesitz zu fällen, könnte in Regionen wie dem Cesar oder Magdalena zumindest schwierig werden. In vielen dieser Regionen sind paramilitärische Gruppen weiterhin aktiv, wie etwa in Urabá im Nordosten, wo Anfang Januar 2012 die Gruppe „Los Urabeños“ den Stillstand von Verkehr und Transport befohlen und zwei Händler erschossen hatte. Zuvor hatte die Polizei den als Anführer der im Drogenhandel tätigen Gruppe geltenden Juan de Dios Usuaga erschossen. Landwirtschaftsminister Juan Camilo Restrepo nannte allerdings die Rückgabe von Land, das sich Paramilitärs angeeignet hatten, als eine der Ursachen für die Konfrontation. Mitten im Krieg ist die Rückkehr für die meisten Bäuerinnen und Bauern ohnehin praktisch unerreichbar – selbst wenn ihnen geglaubt wird.

Ex-General im höchsten Staatsamt

„General des Friedens“. So bezeichnet sich Otto Pérez Molina gerne, seit er bei den Friedensabkommen im Jahr 1996, die den 36-jährigen Bürgerkrieg zumindest formell beendeten, den guatemaltekischen Staat repräsentierte. Nun hat er in Guatemala wie erwartet die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Manuel Baldizón gewonnen und wird für die nächste Legislaturperiode das höchste Amt in Guatemala bekleiden. Pérez Molina erreichte knapp 54 Prozent, während Baldizón auf knapp 46 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 60 Prozent.
Der zukünftige Präsident hat allerdings eine Vergangenheit, die ernsthafte Zweifel an seiner Demokratiefähigkeit aufkommen lassen: In der dunkelsten Zeit der Geschichte Guatemalas, der Militärdiktatur von 1978 bis 1982, galt er als ein Vertrauter des damaligen Juntachefs, General Lucas García. Zu Beginn der 1980er Jahre kommandierte Pérez Molina die Militärbasis im Departamento El Quiché – die Region, in der der Bürgerkrieg am heftigsten tobte und zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübt wurden.
Auch seine Karriereschritte als Chef des Militärgeheimdienstes G-2 zwischen 1991 und 1993 und der Präsidentenschutztruppe „Estado Mayor Presidencial“ (EMP) von 1993-1996, werfen Fragen auf: Während des Bürgerkriegs waren sowohl der EMP als auch die G-2 berüchtigte staatlichen Einheiten, denen Entführungen, Folter und Morde vorgeworfen werden.
Guatemalas frisch gewählter Präsident leugnet auch, dass es in Guatemala je einen Völkermord gegeben hat. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública.com.gt erklärte Pérez Molina in diesem Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerillaarmee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben, so die Logik des Ex-Generals.
Da die guatemaltekische Justiz erst in jüngster Vergangenheit bei der Aufarbeitung von Diktaturverbrechen vorsichtig tätig geworden ist und die Medien mit dem Kandidaten Pérez Molina mehr als gutmütig umgingen, kann dieser Vorwürfe im Hinblick auf seine Vergangenheit als reine Schmutzkampagnen abtun. Dementsprechend wissen die meisten Wähler_innen über die Vergangenheit des Ex-Generals so gut wie gar nichts.
Trotz vieler Indizien, die auf eine Verstrickung der Streitkräfte mit den Drogenkartellen hindeuten, wird der Chef der Patriotischen Partei (PP) nicht müde, die Armee als einzige ehrenwerte Institution des Landes zu bezeichnen. Eine Militärlandebahn, die auch von Drogenkurieren angesteuert wird, Armeewaffen, welche die Polizei bei Kartellmitgliedern sichergestellt hat: Es gibt Hinweise für Verstrickungen der Streitkräfte in dunkle Geschäfte. Otto Pérez Molina fordert Beweise und verspricht, dass diese dann auch zu Urteilen führen würden.
Das entspricht ganz der angekündigten Linie der „harten Hand”, 100 Prozent Rechtsstaat und null Prozent Straflosigkeit, die dem Präsidenten die Unterstützung der Mittelschicht gebracht hat, die sich ein bisschen Sicherheit vor der überbordenden Gewalt erhofft. Auch ehemalige und aktuelle Militärs, die unter einem Präsidenten Otto Pérez wenig zu befürchten haben dürften, zählen zu seinen Unterstützer_innen. Genau wie Unternehmer_innen, denen die nun abgewählte rechtssozialdemokratische Regierung unter der Führung von Álvaro Colom ein Graus war. Viele wichtige Geschäftsleute stehen auf der Kandidatenliste der PP für den Kongress.
Ihnen allen hat die Partei des Kandidaten Otto Pérez Molina in der ablaufenden Legislaturperiode wertvolle Dienste geleistet: Ob die Gesetzesinitiative zur Eindämmung der Steuerhinterziehung oder zur Reform der Einkommenssteuer, ob eine Besteuerung von Telekommunikationsunternehmen, wie auch jeder Fortschritt in der Strafverfolgung, die Pérez Molina angeblich so am Herzen liegt: Die PP mauerte bei allen Initiativen und kungelte dabei so erfolgreich mit Regierungsabweichlern und anderen Oppositionsparteien, dass in der Regierungszeit des scheidenden Präsidenten Álvaro Colom kaum ein Gesetzesvorhaben durchgesetzt wurde.
Für Dr. Adrian Zapata, der an Guatemalas öffentlicher Universität San Carlos das „Institut für nationale Probleme“ leitet, bedeutet der Wahlausgang die Kontinuität einer Politik zu Gunsten von Auslandsinvestitionen und zur Förderung der Rohstoffausbeutung in Guatemala. Eine soziale Komponente sei in der Politik der „Patriotischen Partei“ nicht zu erkennen, weswegen die von der UNE-Regierung eingeführten, aber wegen ihrer Intransparenz heftig kritisierten Sozialprogramme wohl relativ schnell Geschichte sein dürften. Eine Gefahr des Rückfalls in eine oligarchisch-militaristisch dominierte Gesellschaft sieht Zapata allerdings nicht. Dazu hätten sich Guatemala, die Region und die internationalen Verhältnisse in den letzten zwanzig Jahren zu sehr geändert. Das Militär sei nach wie vor ein wirtschaftlicher Akteur, seine Rolle sei jedoch im Vergleich zu den 1980er Jahren sehr zurückgedrängt worden.
Anzeichen für radikale Veränderungen in Guatemala in den nächsten Jahren gibt es also kaum. Die Hoffnung auf Korrekturen am Wirtschaftsmodell, um mehr auf die Bedürfnisse von Armen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern eingehen zu können, ist gering. Ebenso unwahrscheinlich ist eine wirksame Bekämpfung der seit der Militärdiktatur bestehenden militärischen Parallelstrukturen oder der Infiltration von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durch die Drogenkartelle. Die Arbeit der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), die in den letzten Jahren einige spektakuläre Verfahren gegen Politiker_innen, Unternehmer_innen und hohe Beamt_innen initiieren konnte, wird unter Pérez Molina sicherlich nicht leichter. Ob sie aber erschwert wird, muss sich erst noch zeigen.
Durchregieren wird Pérez Molina mit Sicherheit nicht können. Genau wie in den vergangenen Legislaturperioden kann auch der am 6. November gewählte Präsident im Kongress auf keine eigene Mehrheit bauen. Bei einem Anteil von gerade mal einem Drittel der Abgeordneten im Parlament dürfte ein großer Teil der ohnehin dünnen Programmversprechen der parlamentarischen Kungelei zur Mehrheitsbeschaffung zum Opfer fallen. Ansonsten könnte sich auch die neue Regierung statt einer Politik der harten Hand am Ende vor allem durch Symbolismus und Klientelpolitik auszeichnen – während sich Otto Pérez Molina als Präsident vor Fragen bezüglich seiner Vergangenheit wohl noch sicherer fühlen dürfte als bislang.

Geschacher um die besten Plätze

Samuel Moreno, der Bürgermeister von Bogotá, sitzt im Gefängnis. Er soll massiv Gelder veruntreut haben, die für den Bau weiterer Linien des Metrobusses Transmilenio gedacht waren. Seine Art in Bogotá Politik zu machen, hatte zwar in den letzten Jahren für Kritik in den eigenen Reihen gesorgt, doch mit dem Entzug seines Mandates im Juli schien die Zersplitterung des Linksbündnisses Polo Democratico Alternativo (PDA) so gut wie vollzogen. Noch existiert die Bündnis-Partei, die vor wenigen Jahren als wichtige, neue linke Kraft galt. Der PDA hatte über mehrere Legislaturperioden das Bürgermeisteramt in Bogotá – eines der wichtigsten politischen Ämter in Kolumbien – für sich beanspruchen können. Doch nun gibt es zwischen den unterschiedlichen progressiven und klientelistischen Strömungen kaum noch einen Zusammenhalt.
Am 30. Oktober, wenn die Bürgermeisterwahlen stattfinden, steht eine Vielzahl von Bewerber_innen zur Auswahl. Da ist zunächst Morenos Gegenspieler im Polo, Gustavo Petro. 2010 trat er vergeblich als Präsidentschaftskandidat gegen den rechtsgerichteten jetzigen Präsidenten Juan Manuel Santos an. Inzwischen hat er mit einigen weiteren die Partei verlassen und stellt sich als unabhängiger Kandidat für die Nachfolge Morenos auf. Der Kandidat des PDA, Aurelio Suarez, gilt als nicht sehr charismatisch und wenig aussichtsreich. Antanas Mockus, der 2010 noch als Präsidentschaftskandidat der Grünen Partei für Überraschungserfolge gesorgt hatte, tritt nun doch nicht mehr selbst für das Bürgermeisteramt an. Mockus unterstützt die ehemalige Senatorin Gina Parody. Sie bewirbt sich als Unabhängige, war aber früher in der Partei Unidad Nacional des jetzigen Präsidenten Santos, kommt also ursprünglich aus dem rechten Lager. Mockus hat bereits eine neue Partei hinter sich, die Alianza Social Independiente und bringt wohl für ihn bestimmte Wähler_innenstimmen mit ins Lager von Parody.
Ex-Präsident Alvaro Uribe Vélez seinerseits macht nicht etwa Werbung für den Kandidaten der Partei der Unidad, sondern hat dem Kandidaten der Grünen Partei, Enrique Peñalosa, seine Unterstützung erklärt. Peñalosa war bereits von 1998 bis 2000 Bürgermeister. Die Allianz aus Grünen und Unidad ist deshalb kurios, weil die Grüne Partei 2010 als Gegnerin von Juan Manuel Santos in die Präsidentschaftswahlen gezogen war. Santos war immerhin Verteidigungsminister unter Uribe und dessen Wunschkandidat für die Nachfolge. Dazu steht Uribe Vélez für das System, dass die überwiegend jungen Unterstützer_innen der Grünen 2010 rundweg ablehnten. Ihr Erfolg im Wahlkampf hatte sich zumindest teilweise in der Forderung nach einer Verurteilung politischer Verbrechen und einem größeren Respekt des Staates vor menschenrechtlichen Grundsätzen begründet. Die in die neue Partei gesetzten Hoffnungen fallen somit endgültig in sich zusammen. Der laute Protest einiger Abgeordneter verhinderte zwar eine Rede Peñalosas vor dem Parteitag, hatte aber sonst kaum Konsequenzen. Im Süden Bogotás waren Alvaro Uribe Vélez und Peñalosa gemeinsam auf Wahlkampftour zu sehen. Uribe Vélez twitterte: „Peñalosa soll Bürgermeister werden, erinnern wir uns an den Transmilenio, Luxusschulen in Armenvierteln, Kindergärten, Parks, er soll es noch einmal machen.“ Peñalosa liegt bei den Umfragen vorn. Dionisio Araujo von der Konservativen Partei zog seine Kandidatur zurück, die konservative Partei unterstützt jetzt die Grünen. Die beiden traditionellen Großparteien der Konservativen und Liberalen haben ihren Einfluss in Bogotá weitgehend verloren.
Jaime Castro, der bereits Bürgermeister war, als zuletzt 1992 ein liberaler Bürgermeister wegen Korruption sein Amt aufgeben musste, tritt mit Unterstützung der Bewegung Autoridades Indígenas de Colombia (AICO) an. Carlos Fernando Galán schließlich wird von der aus dem Uribe-Umfeld stammenden, rechtsgerichteten Partei Cambio Radical ins Rennen geschickt. Beide haben kaum Aussichten. Erstaunlicherweise ist Galán der einzige, der ein umfassendes Programm zur Förderung von Frauen – beispielsweise den Ausbau von Frauenhäusern, von denen es in der 10-Millionen-Stadt gerade mal fünf gibt – sowie der Lesbisch-schwul-bisexuell-transgender-Gemeinde vorgelegt hat. Allen Kampagnen ist gemein, dass der Wahlkampf in Bogotá kaum eigene Themen setzen kann. Momentan sind in der Hauptstadt keine stadtpolitischen Probleme präsent, sondern vor allem die Ratifizierung des Freihandelsvertrages mit den USA durch den dortigen Kongress, die breiter werdenden Proteste der Studierenden wegen geplanter Reformen zum Hochschulgesetz und das Mitte Oktober zu Fall gebrachte Gesetzesvorhaben zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Dabei gäbe es viel zu verändern: Die Staus sind so schlimm wie nie, weil die Baustellen des Metrobusses die Hauptverkehrswege blockieren. Gewöhnliche Kriminalität steigt, Überfälle sind häufig. Dazu sind öffentliche Räume rar; die Mieten steigen. Dass eine_r der Kandidat_innen diese Prozesse umkehrt, glaubt kaum jemand.
Nicht nur in Bogotá, in allen 32 Departements werden Gouverneur_innen, Bürgermeister_innen und Gemeindeabgeordnete gewählt. Einige der kleinen Parteien, die spezifisch ethnische Gruppen vertreten wollen, wie ASI, Afrovides und AICO, haben sich in Plattformen für ihnen programmatisch fern stehende Kandidat_innen verwandelt: In Policarpa im Departamento Nariño etwa ist die ASI-Kandidatin fürs Bürgermeisteramt, Gladys Ortega (eigentlich eine Konservative), wegen angeblicher Verbindungen zu den „Rastrojos”, einer Nachfolgeorganisation paramilitärischer Gruppen, in Verruf geraten. „Wir wollen anständige Leute unterstützen”, wehrte sich der Parteivorsitzende Alonso Tobon. Finde man etwas heraus, so würden solche Kandidat_innen sofort aus der Partei ausgeschlossen, wie es mit dem ehemaligen Bürgermeister des Heimatortes von Gabriel Garcia Marqüz, Aracataca, geschah. Der war wegen Mordes und Bildung einer kriminellen Vereinigung festgenommen worden. 38 Kandidat_innen wurden im Vorfeld der Wahlen bisher ermordet. Die Regionalwahlen sind wohl auch deshalb mit mehr Gewalttaten verbunden als etwa die Kongresswahlen, da auf der lokalen Ebene noch direkter um finanzielle Mittel für die eigene Klientel gerungen wird.
Im afrokolumbianisch geprägten Departamento Chocó ist die Währung für Wahlstimmen Bauholz und Zement. Dort haben 80 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu öffentlichen Diensten wie Wasserversorgung, Strom oder Abwasserversorgung. „Am Tag der Wahlen bilden sich Aufläufe vor den Wahlkreisbüros der Kandidat_innen, die Leute wollen sehen, was sie dort bekommen. Es ist die eine Möglichkeit für die Leute, was rauszuholen. Wenn sie an dem Tag nichts kriegen, dann nie”, wird eine Professorin aus der Departamento-Hauptstadt Quibdo in der Wochenzeitung Semana zitiert. Hier ist der ehemalige Gouverneur Sánchez Montes de Oca wegen Unterschlagung verurteilt und seines Postens enthoben worden. Welche politische Macht die Familie Sánchez dennoch hat, wird daran deutlich, dass der Bruder des Gouverneurs zwar wegen Verbindungen zu Paramilitärs in Bogotá im Gefängnis sitzt, aber dennoch in den Chocó reisen durfte. Dort besuchte er nicht nur das Begräbnis seiner Mutter, sondern auch das Parteibüro der Unidad Nacional. Der von ihm unterstützte Kandidat Jafet Bejarano hat versprochen, die Schuldächer in der regenreichen Region reparieren zu lassen und wird vermutlich die Wahl gewinnen. Die Gegenkandidatin Zulia Mena, die für eine kuriose Allianz aus dem linksgerichteten Demokratischen Pol, den Grünen und nun auch der Konservativen Partei antritt, hatte 2007 bei einer ersten Kandidatur Anzeige wegen Wahlbetrugs erstattet, da am Tag nach der Wahl Dutzende Wahlzettel mit für sie abgegebenen Stimmen im Müll gefunden worden waren. Passiert war damals nichts.
Das Wahlbeobachtungsinstitut MOE fürchtet dieses Jahr in mindestens 544 Gemeinden Wahlfälschung oder Unregelmäßigkeiten. In vielen Regionen sind ID-Karten aufgetaucht, die zu Verstorbenen gehören oder zu Menschen, die nicht existieren. Über 500.000 der für die Wahlen registrierten Karten wurden deshalb vom Nationalen Wahlrat annulliert. Alejandra Barrios von der Wahlbeobachtungsbehörde erklärt: „Diese annullierten Wahlregister lassen sich direkt in Finanzmittel der einzelnen Wahlkampagnen übersetzen” – Wahlfälschung kostet also. „Überlegen Sie sich mal, was es für eine logistische Leistung ist, wenn Sie Tausende Wähler, und die auch noch bezahlt, mit Bussen in einen anderen Ort bringen, damit diese dann dort für einen ausgemachten Kandidaten stimmen!”, so Barrios weiter. Natürlich seien diese Unregelmäßigkeiten nicht einer einzelnen Kampagne zuzuschreiben, dennoch „haben wir die Streitkräfte darum gebeten, dass sie Gemeindegrenzen von einzelnen Munizipien am Wahltag kontrollieren, weil wir dort von massiven Fällen von Mehrfachwahl ausgehen”, meint die Beobachterin im Interview mit Contagio Radio. Die Bitte um „Militarisierung” ist zunächst erschreckend, doch die Wahlbeobachterin insistiert: „Wir hoffen nur, dass Militär und Polizei auf den Fernstrassen die Busse und Autos so kontrollieren, dass nicht so etwas passiert wie zum Beispiel 2007 in Castilla la Nueva: Dort kamen unerwartet Busse mit Leuten aus anderen Dörfern an, die in Castilla wählten, obwohl sie eigentlich keine Berechtigung dazu hatten.” Es kam daraufhin zu Protesten, es wurden Wahlurnen verbrannt, mehrere Menschen wurden verletzt – „dort konnte dann gar nicht gewählt werden”, so Barrios. In anderen Regionen, wie zum Beispiel dem Valle del Cauca, wo es gewaltsame Zusammenstöße zwischen den Streitkräften und der Farc-Guerilla gibt, sei eine größere Präsenz des Militärs selbstverständlich nicht erwünscht.
Immer wieder entstehen Allianzen, um Kandidat_innen mehr Wahlstimmen zu ermöglichen, weil angenommen wird, dass eine feste Stammwähler_innenschaft den Kapriolen der Parteifunktionär_innen folgt. Doch so schnell wie sie geknüpft werden, lösen sich diese Allianzen bisweilen wieder auf.

20 Jahre kritische Filme

Wie ist die Idee entstanden, eine Werkschau zu machen?
Die Initiative kam vom Moviemento Kino. Die haben zuletzt meinen letzen Film La Isla aufgeführt und es war immer voll. Dann haben sie den Film zusammen mit Angriff auf den Traum für Schulklassen angeboten und haben gesehen, dass die Filme total gut angekommen sind. Im Zuge dessen ist uns auch aufgefallen, dass wir mittlerweile seit 20 Jahren Filme in Guatemala machen und es sich mal lohnt aufzuzeigen, was sich auch in so einer kontinuierlichen Filmarbeit für uns, aber auch innerhalb der Gesellschaft, mit den Filmen ändert. Es ist zudem gut, eine Bilanz zu ziehen und das Medium Dokumentarfilm dahingehend abzuklopfen, was es gerade in so einer Gesellschaft wie Guatemala erreichen kann.

Wo liegt für Sie der Reiz im Dokumentarfilm?
Das Medium ist für mich sehr attraktiv, weil es sehr viele Fähigkeiten vom Macher abverlangt. Es ist sehr kreativ, da man mit Bildgestaltung, Musikkompositionen und Dramaturgie zu tun hat. Es ist in der Machart sehr individuell, aber je nachdem, wie man dann mit Filmen umgeht, ist es etwas, was sich sehr stark sozialisieren lässt. Es ist ein Medium, das gerade in solchen Ländern wie Guatemala sehr attraktiv ist.

Warum gerade dort?
Die gesamten 20 Jahre und auch die Erklärungen, warum die Filme dort so viel bewegen, hat etwas mit dem ganz konkreten politischen, sozialen und kulturellen Kontexten zu tun. Guatemala hat mit nur wenigen Ausnahmen nie eine eigene Filmproduktion gehabt, und das Fernsehen war über Jahrzehnte stark zensiert. Sowohl Journalisten als auch Filmemacher, wenn sie nicht umgebracht wurden oder ins Exil gegangen sind, haben per Selbstzensur schon die Schere im Kopf angesetzt. Eine unabhängige Dokumentarfilmtradition, die Geschichte reflektiert, gibt es daher nicht. Deshalb fehlt die eigene Identität in den Massenmedien. Weder das Kino noch die Fernsehprogramme reflektieren wirklich, was in dem Land passiert und was mit den Menschen passiert. Das macht meiner Ansicht nach die Bedeutung nicht nur unserer Filme aus.

Welche Entwicklung haben Sie während der 20 Jahre Filmarbeit durchgemacht? Hat sich auch Ihre Sichtweise auf das Filmemachen verändert?
Schwer zu sagen – jeder Film ist eine völlig neue Aufgabe. Ich habe zwar inzwischen eine bestimmte Professionalität, aber ich fange immer wieder von vorne an. Die Themen sind unterschiedlich, jeder Film erwartet eine eigene Bildsprache, man arbeitet meistens mit einem neuen Team zusammen, man wächst und lernt an den eigenen Filmen. Nicht nur wegen des Publikums oder des fertigen Produkts, sondern auch im Umgang mit dem Thema und den Protagonisten. Das geht oft sehr nahe, ist sehr intensiv und wurde von mal zu mal intensiver, da man es ja auch immer genauer wissen will. Ich empfinde es als gegenseitigen Lernprozess.

Inwiefern?
Von unserer Seite aus, was wir an Input und Ideen mitgebracht haben und was wir mit der jungen Filmemacher-Generation in Guatemala auch gemeinsam aufgebaut haben. Inzwischen sind die Guatemalteken fester Bestandteil des Filmteams, bei dem Menschenrechtsfestival bin ich der einzige von acht Leuten, der aus Deutschland kommt. Wenn ich jetzt überlege, dass das wirklich 20 Jahre sind, hat es total Sinn gemacht, unabhängig von der politischen Konjunktur oder einer Konjunktur der Solidarität die Mühen der Menschen mit zu beschreiten. Das ist für mich ein wahnsinniges Privileg, diesen Prozess mitzumachen. So wie wir arbeiten, steckst du die Niederlagen der Leute dort auch mit ein. Das schafft einen wahnsinnig interessanten Blick auf die Welt.

Jetzt steht mit Otto Pérez Molina ein Ex-Militär kurz vor dem Wahlsieg für das Präsidentenamt. Was bedeutet es für das Filmfestival, sollte Molina die Stichwahl gewinnen?
Erstmal ist es überhaupt ein Erfolg, das Festival zweimal organisiert zu haben. Wir hatten beim ersten Mal enorme Schwierigkeiten, beim zweiten Mal aufgrund der internationalen und der Unterstützung durch die Regierung schon nicht mehr. Wenn jetzt Pérez Molina Präsident werden würde, ist schwer einzuschätzen, ob wir das Festival so in der Form weitermachen können. Aber wir sind professioneller geworden und unsere Arbeit wird jetzt auch mehr geschätzt. Nicht nur von der Gesellschaft bzw. dem Publikum, sondern auch von Menschenrechtsorganisationen, Teilen der Diplomatie oder Teilen der Vereinten Nationen, die vor Ort sitzen. Das Festival bietet einen politischen Diskussionsfreiraum, den es so in der Form – vor allem auch mit dem Medium – bisher nicht gegeben hat. Wir sind also per se erstmal schwer angreifbar.

Obwohl die Themen der Filme Pérez Molina kaum gefallen dürften?
Pérez Molina ist aufgrund meines Films und der Filme, die beim letzten Festival uraufgeführt wurden, sauer auf uns. Das sind finnische Reportagen von 1982 gewesen, wo er das erste Mal auf Bildern als junger Offizier in der Aufstandsbekämpfung zu sehen ist. Nach der Uraufführung mit dem finnischen Regisseur haben wenig später Guatemalteken einzelne Szenen auf youtube hochgeladen. Dort sind 40.000 bis 50.000 Klicks zu verzeichnen, und das hat das Ansehen von Pérez Molina gestört und auch seine Vergangenheit wieder in die politische Debatte eingebracht. Ich denke, das ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass er doch nicht im ersten Wahlgang gewonnen hat. Insofern hat er durchaus Grund, uns im Auge zu behalten. Trotzdem, wenn man Präsident eines Landes ist, dann sollte man eigentlich die Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit als solche respektieren, und davon gehen wir erstmal aus und lassen uns nicht einschüchtern.

Für die Aufnahmen zu Ihrem letzten Film La Isla waren Sie auch in den Archiven der Nationalpolizei. Dort arbeiten vor allem Nachkommen der Opfer der Verbrechen. Sehen Sie diese Aufklärungsarbeit gefährdet?
Man muss eines sagen: Die Menschenrechtsarbeit als solche, die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Arbeit des Archivs fand in einem politischen Klima statt, das dem ganzen sehr offen gegenüberstand. Präsident Álvaro Colom hat natürlich in vielen Aspekten die Erwartungen nicht erfüllt, aber gerade für die Menschenrechtsszene war es eine Zeit, in der sehr viel für die Aufarbeitung und Erinnerung gemacht worden ist. Das Archiv konnte in einem guten Rahmen und bis jetzt auch ungefährdet arbeiten. Ein Ergebnis sind jetzt eben auch die ersten Gerichtsprozesse, die aufgrund der gefundenen Dokumente eingeleitet worden sind. Pérez Molina sagte in einem Interview mit dem ZDF, in dem es auch um den Film La Isla ging, er werde das Archiv nicht schließen. Das kann er auch nicht so einfach, weil es eine staatliche Institution ist, und die internationale Gemeinschaft das Archiv finanziell und politisch unterstützt. Auf der anderen Seite muss man klar sehen: Wenn er Präsident wird, dann ist im Prinzip das Militär wieder an der Macht und das Militär ist eigentlich zu allem fähig. Insofern wird es nicht einfach werden. Aber ich denke, dass die Leiter des Archivs auch einen Plan B in der Tasche haben, um ihre Arbeit weiterführen zu können.

Um auf die Wahlen zurück zu kommen: Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass das Linksbündnis Frente Amplio nur auf rund 2,5 Prozent kam. Wie ist dieses katastrophale Ergebnis zu erklären?
Zum einen hat sich die Linke seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages nicht wirklich erneuert. Wenn man wirklich genau nachsieht, sind die führenden Köpfe heute dieselben wie vor 20 Jahren. Außerdem haben sie einer jungen Linken durch ihre sehr hierarchische Haltung die Türen versperrt. Zum anderen kann man natürlich immer sagen, dass sie nicht die Mittel haben, um mit den großen Parteien zu konkurrieren. Bei denen steht wirklich viel Kapital dahinter, das die Linke eigentlich nie hat. Trotzdem gibt es Beispiele aus anderen Ländern Lateinamerikas, die beweisen, dass es nicht unbedingt eine Frage der finanziellen Möglichkeiten ist. Die Linke in Guatemala ist aber zerstritten und hat sich wie gesagt nicht erneuert.

Welche Rolle spielt Präsidentschaftskandidatin Rigoberta Menchú?
Die Figur Rigoberta Menchú ist im Ausland zwar anerkannt, im Land selber hat sie diesen Rückhalt aber nicht. Der beste Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Linken ist, dass jetzt Teile des Linksbündnisses mit dem Gegenspieler von Pérez Molina, Manuel Baldizón, gemeinsame Sache machen. Das sind eben Rigoberta Menchú und Pablo Monsanto, ehemaliger comandante der Guerilla. So fühlen sich natürlich viele Wähler der Linken verraten und verkauft. Mit diesem Opportunismus werden sie wieder Teil des Systems, statt auf eine eigene unabhängige Entwicklung zu setzen. Sie werden möglicherweise mit ein paar Posten abgespeist, aber positiv wird sich das auf die Entwicklung der Linken nicht auswirken. Die Linke ist in einer Sackgasse. Es findet jetzt ein Generationswechsel statt: Die traditionelle Linke hat im Prinzip keine Chance mehr, sondern die junge Generation von heute muss sich an dieser Linken orientieren, um neue, andere Formen des politischen Ausdrucks zu finden.

War die Frente Amplio also von vorneherein zum Scheitern verurteilt?
Sie ist ja auch relativ kurzfristig entstanden und es gibt unglaublich viel Kompetenzgerangel unter den verschiedenen linken Fraktionen. Vor den Wahlen war also nicht wirklich Zeit, sich zu konstituieren und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Die Diskussionen haben zu lange gedauert und anscheinend sind auch viele Konflikte nur unter den Tisch gekehrt worden, um die Frente Amplio zu gründen. Das Ergebnis ist jetzt ein Scherbenhaufen.

Vor dieser Perspektive: Was sind Ihre Pläne in Guatemala?
Für mich persönlich ist jetzt die Etablierung des Menschenrechtsfestivals politisch wichtiger als ein eigener Film. Das Festival ist eine wahnsinnige Chance für Guatemala. Aufgrund des Profils des Festivals, internationale Filme zu zeigen, internationale Gäste zu haben, aber auch einen Großteil an Mitdiskutanten aus dem Land – nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus ländlichen Regionen – entsteht ein Diskussionsprozess, den Guatemala braucht. Wir versuchen, so einen Freiraum zu schaffen und verschiedene Gruppierungen zusammen zu bringen, damit die gegenseitig hochgezogenen Grenzen und Spaltungen aufhören. Die junge Generation bekommt die Möglichkeit, andere Bilder zu sehen und selber in den Spiegel zu gucken, um zu sehen, was sie aus den Prozessen in anderen Ländern lernen können. In diese Richtung geht gerade meine ganze Energie.

Uli Stelzner
arbeitet seit 20 Jahren zwischen Guatemala und Deutschland und war 2010 Mitbegründer des Menschenrechtsfilmfestivals Memoria, Verdad, Justicia in Guatemala. Seine kritischen Dokumentationen sorgen für Bewegung und Veränderung in der guatemaltekischen Gesellschaft und international für Gesprächsstoff.

Guatemala steht vor Rechtsruck

Die Favoriten auf die guatemaltekische Präsidentschaft mobilisierten in den Tagen vor dem entscheidenden Urnengang nochmals alle ihre Kräfte. Otto Pérez (Patriotische Partei) versprach in der Gemeinde Mixco mit harter Hand gegen Verbrecher vorzugehen und die weitverbreitete Armut im Land wirksam zu bekämpfen. Herausforderer Manuel Baldizón vom Parteienblock LIDER kündigte die Anwendung der Todesstrafe auf Schwerverbrecher und ein Verbot des offenen Tagebaus im Bergbau an. Und Fernando Suger von der ebenfalls rechtsgerichteten Partei Creo stellte bei einem Auftritt im Departamento San Marcos Verbesserungen in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Sicherheit in Aussicht. Die drei Kandidaten gehen als Favoriten in die Präsidentschaftswahlen. Otto Pérez kann im ersten Wahlgang gemäß letzten Umfragen mit knapp 40 Prozent der Stimmen rechnen. Baldizón kommt auf 18,5 Prozent, während Suger gut 11 Prozent der Stimmen der 7,3 Millionen wahlberechtigten Guatemaltek_innen auf sich vereinigen dürfte.
Nach dem Wahlausschluss der Ex-Präsidentengattin Sandra Torres hat sich Manuel Baldizón zum schärfsten Herausforderer von Otto Pérez entwickelt. Der Anwalt und Parlamentsabgeordnete aus der Urwaldprovinz Petén präsentiert sich als Führer aller Entrechteten und verspricht eine Neugründung des Staates basierend auf den Werten des „Humanismus“. Humanismus bedeutet für Baldizón vor allem Ordnung und Null-Toleranz gegenüber Kriminellen. Mit seinem populistischen Politikstil scheint er insbesondere Wahlverdrossene und Wechselwähler anzusprechen. Nichtsdestotrotz scheint kein Weg an Otto Pérez vorbeizuführen. Der ehemalige Armeeoffizier und Kandidat der Patriotischen Partei bei den letzten Präsidentschaftswahlen liegt in allen Umfragen klar in Führung. Auch ausgehend vom Szenario eines zweiten Wahlgangs wird Pérez voraussichtlich deutlich am meisten Stimmen erhalten.
Pérez konnte sich bisher auf seine politischen Erfahrungen und einen professionellen Parteiapparat verlassen. Diese Mischung erlaubte es der Patriotischen Partei, das klarste und überzeugendste Programm zu präsentieren. Im Zentrum des Programms der Patriotas stehen die Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Bandenkriminalität, eine Stärkung der Freihandelspolitik und verstärkte Anstrengungen bei der Bekämpfung der Armut. Um die Sicherheit im Land wiederherzustellen, hat Pérez die Rekrutierung von 10.000 zusätzlichen Polizisten und neue militärische Spezialeinheiten angekündigt. Im Bereich der Wirtschaftspolitik soll sich Guatemala nach dem Willen der Patriotischen Partei zu einem Exportland entwickeln: Zu bereits bestehenden Freihandelsverträgen sollen neue hinzukommen. Diese sicherheits- und insbesondere wirtschaftspolitischen Forderungen haben Otto Pérez zum bevorzugten Kandidaten der wirtschaftlichen Elite des Landes gemacht. Hiervon zeugt unter anderem die am besten ausgestattete Wahlkampfkasse aller Kandidierenden. 18,5 Millionen Dollar haben die Patriotas bisher für ihren flächendeckenden Wahlkampf ausgegeben.
Nichtsdestotrotz scheint die wahrscheinliche Wahl von Otto Pérez paradox. Hiermit hat dessen Vergangenheit als Offizier während des guatemaltekischen Bürgerkriegs zu tun. Als Chef der Militärabordnung im Hochlanddepartamento Quiché soll Pérez anfang der 1980er Jahre an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein. Die angesehene US-amerikanische Non-Profit-Organisation Washington Office on Latin America (WOLA) hat Pérez in einem Bericht vor den letzten Wahlen als Exponenten einer der zentralen militärischen Denkrichtungen während des Bürgerkriegs bezeichnet. Als Vorsteher des sogenannten Syndikats soll er für eine „reformistische“ Politik eingestanden haben, wonach „lediglich“ 30 Prozent der indigenen Bevölkerung ermordet und die restlichen 70 Prozent in sogenannten „polos de desarrollo“ (Entwicklungszentren) neu angesiedelt werden sollten. Pérez wird auch in Zusammenhang mit dem Verschwinden und der vermutlichen Ermordung des Guerilla-Führers Efraín Bámaca im Jahre 1992 gebracht. Der Kandidat der Patriotischen Partei war damals Direktor des MIlitärgeheimdienstes D-2. Die Ex-Frau von Bámaca und eine US-guatemaltekische Menschenrechtsorganisation haben diesbezüglich im Juli eine Klage beim UN-Sonderberichterstatter über Folter eingereicht.
Pérez Molina bestreitet die Anschuldigungen und bezeichnet diese als Diffamierungen seiner politischen Gegner. Stattdessen verweist er darauf, dass er während seiner Militärzeit in Quiché an der Eindämmung des internen Konflikts mitgewirkt habe und bezeichnet sich selbst gerne als „General des Friedens“ –- in Anspielung auf seine Rolle als Vertreter des Militärs bei den Friedensgesprächen im Jahre 1996. Tatsächlich gehörte Pérez 1983 zu denjenigen Militärs, welche den Sturz Ríos Montts unterstützten. Entsprechend schwierig ist die Rolle Pérez‘ während des guatemaltekischen Bürgerkriegs einzuschätzen. Ein politischer Beobachter hat allerdings die berechtigte Frage aufgeworfen, ob sich eine Person in seiner Funktion während des Bürgerkriegs der offiziell verordneten Politik der verbrannten Erde tatsächlich entziehen konnte.
Während dem Kandidaten der Patriotischen Partei seine unklare Vergangenheit vor vier Jahren noch den Wahlsieg kostete, scheint diese diesmal kein Hinderungsgrund für einen Wahlerfolg mehr zu sein. Guatemaltek_innen wünschen sich scheinbar nichts so sehr wie ein entschlossenes Vorgehen gegen die ausufernde Gewalt im Land, und niemand scheint die Politik der harten Hand so glaubwürdig zu verkörpern wie Pérez.
Die Präsidentschaftskandidaten überbieten sich dabei in Versprechungen, wie die Kriminalität im Land wirksam bekämpft werden kann. Pérez fordert zusätzliche Polizisten und Soldaten, Manuel Baldizón spricht von einer reduzierten, aber besser ausgebildeten Nationalen Polizei, und sogar das Linksbündnis Frente Amplio verlangt mehr Mittel für die Sicherheitskräfte.
Große Versprechungen und Ankündigungen sind ein Charakteristikum des aktuellen Wahlkampfs. Nichts scheint in den Parteiprogrammen zu fehlen. Neben dem Großkapital sollen auch Kleinunternehmen gefördert werden, soziale Kohäsion ist plötzlich verträglich mit einem Ausbau der dominierenden Freihandelspolitik und das entschlossene Vorgehen gegen die Kriminalität lässt selbstverständlich menschenrechtliche Standards nicht außer Acht. Beobachter_innen haben deshalb die Wahlprogramme der Kandidierenden als unverantwortlich und sogar als Betrug bezeichnet. Kritisiert werden insbesondere die Wahlkampfversprechungen von Baldizón, etwa die sogenannten „Bono 15“. Dabei handelt es sich um eine Art Zusatzzahlung, ähnlich einem 13. Monatsgehalt. Baldizón hat nie erklärt, wie die entsprechende Prämie finanziert werden soll. Eine weitere Versprechung Baldizóns hat überhaupt keine inhaltliche Relevanz, verspricht aber einige zusätzliche Wählerstimmen in einem sportverrückten Land. So kündigte dieser an, durch den Bau einer Fußballschule in jeder Gemeinde Guatemala 2014 erstmals in die Fußball-Weltmeisterschaft zu bringen. Baldizón ist dabei auch derjenige, der sein Wahlprogramm munter der aktuellen Stimmung in der Bevölkerung anpasst. So hat er vor kurzem seine Ablehnung des offenen Tagebaus im Bergbau bekanntgegeben; dies, nachdem sich Hunderte von Gemeinden gegen den umstrittenen Bergbau ausgesprochen hatten. Vor wenigen Wochen hatte Baldizón im gleichen Zusammenhang noch von einer Erhöhung der staatlichen Beteiligung bei Bergbauprojekten, nicht aber von einem Verbot gesprochen.
Angesichts leerer Versprechungen der Wahlfavoriten scheint eigentlich für die Parteien des linken Spektrums der richtige Moment gekommen, eine bedeutendere Rolle in der Politiklandschaft Guatemalas zu spielen. Die Linke hat es erstmals verstanden, ein gemeinsames Wahlbündnis aufzustellen. Im „Frente Amplio“ (Breites Bündnis) sind alle größeren linken Parteien und auch zahlreiche soziale Organisationen vertreten. Zu den wichtigsten Parteien des Bündnisses gehören die ehemalige Guerilla Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas (URNG) und Winaq, die politische Heimat von Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú. Menchú ist es auch, die im Juli zur Präsidentschaftskandidatin des Frente Amplio gekürt wurde. Zentrale Wahlkampfankündigungen des Frente Amplio sind eine Demokratisierung der Sicherheitskräfte, eine Stärkung der Rolle der Frau und eine kritische Politik im Zusammenhang mit der Nutzung von Naturschätzen. Die Demokratisierung der Sicherheitskräfte ist vor allem als Sensibilisierung und personelle Überprüfung der Nationalen Polizei zu verstehen, wie Julio Díaz, Kandidat der URNG auf einen Sitz im nationalen Parlament, erklärt. Polizisten sollen zum Thema Menschenrechte geschult werden. Ein zentraler Programmpunkt des Frente Amplio betrifft außerdem die Rechte der indigenen Gemeinden, die künftig insbesondere im Zusammenhang mit umstrittenen Bergbauprojekten tatsächliche Mitsprache erhalten sollen. Trotz eines inhaltlich abgestimmten und relativ klaren Programms dürfte allerdings der Frente Amplio bei den anstehenden Wahlen chancenlos sein. Zu spät scheint das Parteienbündnis in den Wahlkampf eingestiegen zu sein.

Kasten:

Wahlergebnisse
Nach ersten Hochrechnungen erreichte der rechtsgerichtete Otto Pérez Molina (Patriotas) bei der Wahl am 11. September gut 30 Prozent der Stimmen. Manuel Baldizón (LIDER) kam auf knapp 20 Prozent, Fernando Suger (Creo) auf etwa 15 Prozent. Rigoberta Menchú (Frente Amplio) erreichte knapp 2,5 Prozent. Damit kommt es am 6. November zur Stichwahl zwischen Pérez und Baldizón.

Kontinuierliche Straflosigkeit

Für den Preisträger ist es eine deutliche Geste der internationalen Solidarität mit den indigenen Gemeinden. Am 27. Mai 2011 erhielt Abel Barrera, Direktor des Menschenrechtszentrums Tlachinollan im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero, den sechsten Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International.
„Für mich bedeutet es eine Anerkennung der Bemühungen von vielen Menschenrechtsverteidigern“, freut sich Barrera. „Ich spreche von den Menschen, die in den indigenen Gemeinden unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Es ist eine Anerkennung all dieser anonymen Aktivisten, die alles dafür geben, damit ihre Kinder ein würdigeres Leben führen können. Doch bis jetzt ist es ihnen nicht gelungen.“
Die Menschen kommen in die Sprechstunden des Zentrums in Tlapa de Commonfort. Die MitarbeiterInnen fahren aber auch in die Dörfer der kargen Bergregion. Wichtige Themen sind die Durchsetzung von Grundrechten wie dem Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, den die Behörden nicht bereitstellen oder verweigern. Guerrero zählt zu den ärmsten Bundesstaaten Mexikos. Neben Oaxaca und Chiapas weist er den höchsten Anteil an indigener Bevölkerung auf, die täglich mit Armut, Diskriminierung, Willkür, oft auch mit Übergriffen durch Polizei und Militärs konfrontiert ist. Frauen sind dieser Gewalt am häufigsten ausgesetzt. Die Straflosigkeit dieser Menschenrechtsverletzungen in Guerrero ist durch Kontinuität gekennzeichnet. Es geht um die Suche nach politischer und militärischer Kontrolle über eine Region mit zahlreichen Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen, aber auch über eine potentiell aufrührerische Bevölkerung.
Bei der Preisverleihung an Abel Barrera in Berlin sprach Valentina Rosendo Cantú von der Organisation des indigenen Volkes der Me`phaa OPIM. Drei Wochen befand sie sich in Europa, um die Geschichte ihrer Forderung nach Gerechtigkeit und die Menschenrechtssituation in ihrem Land öffentlich zu machen. An ihrem Fall zeigt sich exemplarisch die gravierende Menschenrechtssituation in Mexiko sowie der fehlende Willen der Behörden, die Grundrechte vor allem der indigenen Bevölkerung zu schützen und die soziale Misere zu bekämpfen. Im Jahr 2002 war Rosendo zusammen mit Inés Fernández Ortega von mexikanischen Militärs im Bundesstaat Guerrero vergewaltigt und gefoltert worden, nachdem sie zu dem Verbleib von vermeintlichen Guerillamitgliedern verhört worden waren. Ihre Vergewaltigung war ein gezieltes Mittel der Armee, Angst und Terror in den indigenen Gemeinden zu säen und das soziale Gefüge zu schwächen. Die sexuelle Gewalt als systematisches Vorgehen hat auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte im Oktober 2010 anerkannt und die politische Dimension der Vergehen hervorgehoben. Das Gericht erklärte den mexikanischen Staat in dem Fall für schuldig. Für die beiden indigenen Frauen und ihre Organisation OPIM ist es ein juristischer und politischer Sieg. Trotz der Drohungen, Diffamierungen und Übergriffe erhielten sie acht Jahre lang ihre Forderung nach einer Verurteilung der Täter aufrecht. Das Urteil fordert den mexikanischen Staat auf, eine gezielte Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen, die von Militärangehörigen begangen wurden, durch zivile Gerichte zu garantieren. Dies würde eine Reform der Militärgerichtsbarkeit und damit auch eine Einschränkung der Macht des Verteidigungsministeriums und der Armee nach sich ziehen. Acht Monate nach dem Urteil scheint es allerdings keine Anzeichen zu geben, dass einer der wichtigsten Punkte, die Untersuchung der Vorfälle durch ein unabhängiges ziviles Gericht und die Verurteilung der Täter, umgesetzt würden. Aber auch die Frage der Entschädigung für Inés Fernández und Valentina Rosendo zieht sich ohne nennenswerte Ergebnisse hin.
„Bis heute hat die Regierung nichts unternommen, damit die Fälle von der Generalstaatsanwaltschaft untersucht werden“, bemängelt Barrera. „Angeblich ist es nicht zu beweisen, dass es sich bei den Tätern um Militärs gehandelt hätte. Wir müssen uns streiten, als wäre kein Urteil ergangen.“
Die Weigerung der Behörden und juristischen Instanzen deute vor allem an, dass „das Militär den uneingeschränkten Schutz der Regierung“ genieße. „Sie ziehen es vor, die beiden Frauen zu retraumatisieren und gegen die internationalen Prinzipien zu verstoßen“, so Barrera. In Mexiko sei dies ein generelles Problem.
Am 9. Juni bestätigte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte sein Urteil in beiden Fällen gegenüber Einwänden der mexikanischen Regierung. Die Entscheidungen des Gerichtshofs sind nun endgültig und lassen keine Berufung zu. Allerdings fehlen dem Gerichtshof wirksame Sanktionsmöglichkeiten, sein Urteil hat vielmehr eine politisch-moralische Bedeutung für die internationale Reputation Mexikos.
Das wiederholt bemühte Argument des Kampfes gegen die Guerrilla als Rechtfertigung für die andauernde Militarisierung der Region (siehe Kasten) ist allmählich vom Diskurs des Krieges gegen die Drogenkartelle ersetzt worden. Die Folgen für die Bevölkerung und AktivistInnen sind die gleichen – Missachtung, Diffamierung und Bedrohung für die indigenen Gemeinden und Menschenrechtsorganisationen wie die OPIM, OFPM und Tlachinollan. Solange ihnen die offizielle Anerkennung versagt ist, sehen sich die Behörden nicht verpflichtet, die Arbeit und die Forderungen der Organisationen ernst zu nehmen und sie zu schützen. Das Zentrum Tlachinollan hatte sein Büro in Ayutla im März 2009 nach dem Mord an Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas, Präsident und Vizepräsident der mixtekischen Organisation OFPM, und nach den schweren Drohungen gegen Mitglieder der OPIM und Tlachinollan geschlossen. Daraufhin erließ der Interamerikanische Gerichtshof provisorische Eilmaßnahmen zum Schutz von 107 Mitgliedern der drei Organisationen. Diese verpflichten die mexikanische Regierung polizeiliche Schutzbegleitung bereitzustellen sowie Untersuchungen in mehreren Fällen einzuleiten. Dazu gehören auch die Morde an Raúl Lucas und Manuel Ponce, die 2009 von vermeintlichen Polizeibeamten verschleppt und eine Woche später mit Folterspuren aufgefunden worden waren. Gleichzeitig steigt das Risiko für MenschenrechtsverteidigerInnen unablässig in diesem Klima von extremer Militärpräsenz und Gewalt. In diesem von Straflosigkeit geprägten Panorama verengt sich der Spielraum für die Organisationen umso mehr, je stärker die Behörden von der organisierten Kriminalität infiltriert sind, allen voran die Polizei.
„Wenn einem Journalisten oder Menschenrechtsaktivisten etwas geschieht, dann heißt es gleich: In welche Geschäfte war er oder sie verwickelt? Wen hat er oder sie unterstützt? Mit dieser Infiltration der Polizei durch die organisierte Kriminalität stören wir die Interessen bestimmter Gruppen innerhalb des Apparats, wenn wir sie anzeigen. Denn hinter der Polizei stehen kriminelle Gruppen. Und damit sind wir einem hohen Risiko unterworfen.“
Da inzwischen in einigen Regionen die Kontrolle bereits von den Kartellen ausgeübt wird, entledigt sich wiederum die Regierung ihrer Verantwortung für den Schutz der Organisationen, indem sie den Kartellen die Schuld an Drohungen und Übergriffen zuspricht. Laut Barrera ist dies das Schlimmste an der gegenwärtigen Situation. Obwohl das Risiko groß ist, wollen sich die AktivistInnen nicht einschüchtern lassen und ihre Arbeit auch in gefährlichen Gebieten weiterführen. Dazu gehört die öffentliche Wiedereröffnung des Büros von Tlachinollan in Ayutla am 16. Juni mit vielen Gästen.
„Die Wiedereröffnung ist ein Signal, dass wir uns nicht als besiegt ansehen“, bekräftigt Barrera. Der AI-Preis könne in diesem Zusammenhang für internationale Unterstützung und Sichtbarkeit sorgen. Wir wollen, dass jenseits von Mexiko die Augen darauf gerichtet sind, was hier passiert.“

Weitere Informationen: www.tlachinollan.org/Descargas/Ines_y_vale/inesvale_esp_eng_b.pdf

KASTEN:

Militarisierung
In den 1970er Jahren richtete sich die militärische Aufstandsbekämpfung gegen die Guerilla und ihrer UnterstützerInnen in der ländlichen Bevölkerung der Küstenregion von Guerrero. Der „Schmutzige Krieg“ der mexikanischen Regierung und Armee hinterließ viele Tote und hunderte Familienangehörige gewaltsam Verschwundener, vor allem in der Gemeinde von Atoyac. Ihre Geschichte ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. In den 90er Jahren jagten Polizei und Armee erneut vermeintliche Aufständische. 1995 erschossen bundesstaatliche Polizeibeamte in einem Hinterhalt 17 Bauern von der Organización de Campesinos de la Sierra del Sur in Aguas Blancas. 1998 überfiel die Armee in einem Dorf der Gemeinde Ayutla de los Libres eine Versammlung und erschoss elf Menschen unter dem Vorwand, es hätte sich um Guerrilleros gehandelt – bekannt als das Massaker von „El Charco“. Die Verantwortlichen und ihre politischen und militärischen Befehlsgeber wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.

Verflogene Euphorie

Mit dem Slogan „Cambio“ war der damalige Bischof Fernando Lugo Anfang 2008 an der Spitze der heterogenen Patriotischen Allianz für den Wechsel (APC) in den Wahlkampf gezogen. Übersetzt man cambio mit „Wechsel“, ist ihm das durchaus gelungen. Zum ersten Mal nach 61 Jahren Herrschaft – darunter 33 Jahre Militärdiktatur – musste die rechtskonservative Colorado-Partei das Zepter abgeben. Brasilianische GroßgrundbesitzerInnen in Paraguay fürchteten ebenso wie viele andere Profiteure des alten Regimes Enteignungen. In der Hauptstadt Asunción und in vielen anderen Orten hingegen tanzten die Menschen auf der Straße, sie hofften auf einen Neuanfang des Landes.
Aber die Sorgen und Hoffnungen stellten sich bald als voreilig heraus. Ein „Wandel“, was das Wort cambio auch bedeutet, stellte sich nicht ein. Die Colorado-Partei hält weiterhin die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments und blockiert die Regierung Lugo nach Belieben. Zudem wurde schnell klar, dass die Allianz, die Lugo ins Amt gehievt hatte, außer dem gemeinsamen Kandidaten keine Berührungspunkte hat: Rechtsliberale hatten und haben kein Interesse, die progressiven Ideen der Landlosen- und Kleinbauernbewegungen mitzutragen. Kommunistische Plattformen ebenso wie Indigenen-Verbändeversagten alsbald die Unterstützung.
Die Wahl des Befreiungstheologen Lugo, die international zunächst für viel Aufsehen gesorgt hatte, wurde bald mit Spott bedacht. Lugo tiene corazón („Lugo hat Herz“) war Titel und Refrain des bekanntesten Wahlkampfliedes. Bald wurde es nur noch im Zusammenhang mit früheren Affären des Bischofs gebraucht. Der Präsident musste Putschversuche überstehen ebenso wie Intrigen im Parlament, wegen eines Krebs-Leidens war er lange außer Gefecht gesetzt. Die Unerfahrenheit seiner Regierung genauso wie der Staatsapparat, der seit Jahrzehnten von den Colorados dominiert wird, taten ihr Übriges.
„Ich dachte, wir könnten Paraguay heilen“, sagt Cristina Álvarez aus Asunción. Die Mutter von vier Kindern hat wie viele andere Lugo gewählt. Nicht, weil sie links wäre, wie sie beteuert, sondern weil sie ein Leben ohne Korruption und Vetternwirtschaft wollte. „Meine Kinder sollen eine faire Chance haben“, wünscht sie sich. Doch Heute ist sie enttäuscht, in ihren Augen hat sich nichts verändert: „Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schulen nicht besser, an eine Landreform glaube ich nicht und Korruption und Klientelwirtschaft gibt es wie früher“, ärgert sich die 52-Jährige.
Auch Indigenen-VertreterInnen sind mit dem Präsidenten unzufrieden. 2005 und 2006 wurde Paraguay vom Interamerikanischen Gerichtshof dazu verurteilt, enteignetes Land der Kelyenmagategma zurückzugeben. Passiert ist bis heute nichts. Auf eine Nachfrage von Amnesty International bei seinem Besuch in Deutschland meinte Lugo lapidar, dass „bis Ende des Jahres eine Lösung gefunden werden soll“. Ebenso wenig kam die Regierung mit dem Versuch voran, bisher von der Zivilisation unberührte Ayoreo-Stämme in der Chaco-Region samt der sie umgebenden Ländereien unter Schutz zu stellen. Weiterhin leben zahlreiche Stämme wie die Nivaclé in bitterer Armut in geschlossenen Reservaten, Zugang zu sauberem Wasser ist dort selten. Die Aufwertung der indigenen Sprache Guaraní zur Amtssprache ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Das wichtigste Anliegen der neuen Regierung aber war die Landreform. Durch ungeklärte Besitzverhältnisse, Korruption und Klientelwirtschaft ist in fast keinem Land der Welt Bodenbesitz so ungerecht verteilt wie in Paraguay. Rund 80 Prozent des Landes sind in den Händen von 2,5 Prozent der Bevölkerung. Während die meisten UnterstützerInnen Lugos eine Agrarreform als ihr Hauptanliegen nennen, sperren sich die politisch mächtigsten Verbündeten des Präsidenten, die Liberalen, vehement gegen eine Reform. So war der erste Agrarminister, Cándido Vera Bajarano, Großgrundbesitzer und Gentechnik-Befürworter. Mobilisierungen der GroßgrundbesitzerInnen finden daher sowohl in der Regierung als auch der Opposition bereitwillig Gehör.
„Wir arbeiten daran, ein Kataster zu erstellen, in dem jeder Landbesitz verzeichnet ist, damit wir eine Reform angehen können“, sagte Präsident Lugo dazu vor wenigen Wochen in Berlin. „Erst dann können wir mit einer Umverteilung beginnen“, fügte er hinzu. Nach fast drei Jahren Regierung ist das jedoch zu wenig, finden selbst seine wichtigsten UnterstützerInnen. „Der Wandel stagniert. Trotz unserer Wünsche und unseres Willens haben wir objektiv kaum etwas erreicht“, gibt Camilo Soares im Interview mit den LN zu (siehe LN 439). Soares ist Minister im Kabinett Lugo und wichtigster Repräsentant der Bewegung zum Sozialismus (PMAS).
Auch Sixto Pereira, Vizepräsident des Senats, führendes Mitglied der Campesino-Bewegung Tekojojá und derzeit einziger linker Senator, sieht keine Fortschritte bei der Landreform: „Der große Fehler war, den Rechten das Ministerium zu überlassen“. Beide Politiker sind enttäuscht vom Präsidenten. Mit größerem politischen Mut hätte Lugo mehr bewegen können, sind sie sicher, denn die Bevölkerung hatte er lange auf seiner Seite.
Nicht so den klientelistischen Staatsapparat. Zwar konnte Lugo durch Umbesetzungen in der Spitze des Militärs rechte Kräfte zurückdrängen und Initiativen gegen Korruption umsetzen. Spürbar werden diese Reformen bisher jedoch kaum. VertreterInnen von sozialen Bewegungen klagen weiter über Repression. Auch hat der Präsident zwischenzeitig den Ausnahmezustand ausgerufen, um mit aller Härte gegen Protestierende vorzugehen. Geschuldet sei diese Aktion dem Kampf gegen den Terrorismus gewesen, immer wieder gab es Berichte über eine paraguayische Guerilla, die EPP.
Ähnlich sieht es bei der Bekämpfung der Korruption aus. Zwar gibt es inzwischen verbesserte Mechanismen für öffentliche Ausschreibungen und Entlassungen für Staatsbeamte, die nicht zur Arbeit erscheinen, doch verfolgt die Justiz Vergehen kaum. Posten im Justizwesen sind traditionell Metier der Colorados, daran hat sich bisher nichts geändert.
Auch die erhofften Fortschritte in der Steuerpolitik sind bislang ausgeblieben. Es gibt weiterhin keine Einkommensteuer, die Abgaben auf Soja-Exporte liegen bei derzeit 3,5 Prozent. Zum Vergleich: Im benachbarten Argentinien sind es 35 Prozent.
Um die Staatskassen zu füllen, bleibt nur der Rückgriff auf die Gelder aus dem Itaipú-Staudammprojekt. Hier konnte die Regierung Lugo einen ihrer wichtigsten Erfolge verbuchen. Der noch unter Strössner unterzeichnete Vertrag mit dem Nachbarn Brasilien wurde nachverhandelt. Dadurch erhält Paraguay mehr Stimmrechte im gemeinsamen Ausschuss und mehr Einnahmen. Zudem wurde ein Streit aus der Welt geschafft, der seit Jahren die Beziehungen zu dem einflussreichen Nachbarn belastete.
In den letzten Wochen kam heraus, dass ein Mitarbeiter des Riesenstaudamms Itaipú Millionenbeträge veruntreut hat. Als Berater für die Rentenkasse des binationalen Unternehmens hatte er die Möglichkeit dazu – es passiert ihm jedoch nichts, da der zuständige Minister sein Onkel und der Staatsanwalt mit ihm befreundet ist. Dennoch gelang es Lugo, mit der Neuverhandlung des Itaipú-Vertrages, Paraguay international etwas aus der Isolation zu führen und stärker an seine lateinamerikanischen Nachbarn zu binden. Bleibt zu hoffen, dass damit in Zukunft die viel zu enge Bindung an die USA gelockert werden kann.
Ein weiterer Punktsieg gelang der Regierung bei den Sozialausgaben. Musste die Regierung zunächst mit ansehen, wie die von Colorados dominierten Parlamente die Ausgaben zusammenstrichen, zeichnet sich jetzt eine stückweise Besserung ab. Zu Befürchten steht allerdings, dass viele Gelder ebenso wie der kürzlich erhöhte Mindestlohn in der Praxis niemals ihre EmpfängerInnen erreichen.
Kaum mehr zu nehmen ist der Regierung die Errungenschaft eines kostenlosen Bildungssystems und dessen stückweiter Ausbau, allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Paraguay hat immer noch eine hohe Analphabetenrate, gerade unter der indigenen Bevölkerung. Viele Kinder in ländlichen Gebieten sind Stunden unterwegs, um eine Schule zu erreichen, LehrerInnen werden schlecht bezahlt, und Zugang zu Universitäten hat nur die Oberschicht.
Ähnliches gilt für das Gesundheitssystem, das inzwischen für alle ParaguayerInnen kostenlos ist. Behandlungen und Medikamente werden vom Staat bezahlt. Allerdings sind die meisten öffentlichen Krankenhäuser in einem erbärmlichen Zustand, MedizinerInnen haben an niedrigen Löhnen zu knabbern. Eines der Hauptprobleme bleibt, dass viele auf dem Land geborene Kinder niemals registriert werden. Somit haben sie keine Papiere und dadurch keinen Zugang zu Sozialleistungen.
Und in den Augen der meisten VertreterInnen von sozialen Bewegungen, der wichtigsten Stütze des Präsidenten, können diese kleinen Schritte nach vorn das Versagen etwa bei der Agrarreform nicht aufwiegen. „Deswegen haben wir in der Bewegung diskutiert und uns entschlossen, die Machtfrage zu stellen und eine eigene politische Kraft mit den unzufriedenen Sektoren aufzubauen. Das Ergebnis ist die Partido Popular (Volkspartei, Anm. d. Red), deren Vorsitz ich habe“, sagt Sixto Pereira und bringt sich damit als neuen Präsidentschaftskandidaten der Linken für die Wahl 2013 ins Spiel.
Die Unzufriedenheit mit Lugo ist unter den Linken und AktivistInnen mit Händen zu greifen. Den meisten stoßen die Kompromisse und die Zurückhaltung gegenüber den alten Machteliten sauer auf. Politische AnalystInnen sehen das Problem vor allem in der geringen politischen Erfahrung des Präsidenten: „Lugo ist ein Mensch, der keine Konditionen bietet, um ein Land zu regieren und viel weniger noch um Reformen und Wechselstimmung anzuführen. Dieses Land benötigt tiefe, einschneidende Veränderungen und dies geht nur mit einem unverwechselbaren Führungsstil und mit vertrauenswürdigen Menschen an seiner Seite“, sagte etwa der liberale politische Analyst Gonzalo Quintana der rechten Zeitung ABC Color.
Es sieht im Moment nicht danach aus, dass Lugo in den verbleibenden Jahren noch einmal die Massen bewegt und GroßgrundbesitzerInnen und Colorados zu Zugeständnissen und Reformen zwingt. Dazu hat er inzwischen zu wenig Rückhalt. Ihm Versagen auf der ganzen Linie vorzuwerfen, greift allerdings auch zu kurz. Unter schwierigen Vorraussetzungen sind bereits einige Projekte verwirklicht worden. Mit mehr Mut und Erfahrung könnte jedoch noch vieles mehr erreicht werden. Die Zögerlichkeit des ehemaligen Bischofs ist aber auch auf seinen Respekt vor den politischen Institutionen zurückzuführen. Wohl kein Präsident vor ihm hat die Verfassung und die politischen MitspielerInnen mit dem gleichen gebotenen demokratischen Respekt behandelt.
Auch wenn der Wandel, den Lugo und seine Verbündeten versprochen hatten, bis heute ausgeblieben ist, so hat es doch einen Wechsel gegeben. Zum ersten Mal seit 60 Jahren konnte Paraguay erleben, dass Wahlen zumindest ein bisschen etwas ändern. Jetzt liegt es wieder an den Basisbewegungen, aus dem Wechsel einen tiefgreifenden Wandel zu machen.

Die langen Schatten der bleiernen Zeit

Die „bleiernen Jahre“ Brasiliens sind noch lange nicht aufgearbeitet. Regelmäßig sorgen diese sogenannten anos de chumbo für Auseinandersetzungen darüber, wie heute mit ihnen umgegangen wird. Die brasilianische Militärdiktatur, die das Land von 1964 bis 1985 hart im Griff hatte, hatte Ende 1968 mit dem Erlass des sogenannten „AI-5“ die Repression massiv verschärft – in Anlehnung an den Spielfilm Die bleierne Zeit (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta werden diese Jahre in Brasilien die „Bleiernen“ genannt.
So ging auch der seit Jahren schwelende Streit um die Öffnung der noch geheimen Regierungs- und Militärakten (siehe LN 407) im Juni in eine neue Runde. Die seit Januar dieses Jahres amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hatte angekündigt, die Öffnung der Archive endlich mit Nachdruck voranzutreiben. Zurzeit gilt laut brasilianischer Rechtsprechung für als höchst sensibel eingestufte Dokumente eine maximale Sperrfrist von 30 Jahren – nach Ablauf der Frist kann diese jedoch beliebig oft um weitere 30 Jahre verlängert werden. Seit 2005 fungiert das damals neu geschaffene Nationalarchiv als zentrale Sammelstelle für alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Es steht unter der Aufsicht des Präsidialamts Casa Civil und führt, laut Auskunft des Generaldirektors Jaime Antunes, einen Bestand von 13.850.000 Seiten.
Doch nicht nur die in Brasilien gültigen Klassifizierungsgesetze verhindern die Einsicht in als geheim eingestufte Dokumente. Auch das Militär wehrt sich nach wie vor gegen die Veröffentlichung geheimer Akten und Dokumente aus der Zeit der bleiernen Jahre. Und auch die Kritik aus der Politik an Dilmas Rousseffs angekündigtem Kurs ließ nicht lange auf sich warten. So sprach sich Ex-Präsident José Sarney, der Brasilien von 1985 bis 1990 regierte, gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Agência Brasil mit Nachdruck gegen die uneingeschränkte Veröffentlichung aller brasilianischen Geheimakten aus. Für ihn berge die Öffnung der Archive die Gefahr, dass die „Wunden der Vergangenheit wieder aufreißen“ könnten. Neben der harschen Kritik von Sarney übten auch ein weiterer Ex-Präsident des Landes, Fernando Collor (1990 bis 1992), sowie das Militär Druck auf Dilma Rousseff aus, ihren Kurs zu ändern.
Diese änderte daraufhin laut Medienberichten beinahe wöchentlich ihre Meinung: Erst hieß es, sie wolle die Öffnung der Archive durchsetzen, aber eine maximale Sperrzeit von 50 Jahren für als geheim klassifizierte Dokumente einrichten. Auch laut der Tageszeitung Estado de São Paulo sei Dilma bereit, die im Senat anhängige Entscheidung über die Öffnung der Geheimarchive im Sinne der beiden Ex-Präsidenten umzuändern, indem sie die Möglichkeit einer verlängerbaren Sperrfrist einräume. Wenig später wurde in der Tageszeitung O Globo Dilmas angebliche Meinungsänderung wieder dementiert. Zum Redaktionsschluss zeichnete sich im Senat, wie eine von der Tageszeitung Folha de São Paulo erhobene Befragung der SenatorInnen ergab, eine Mehrheit für die maximale Sperrfrist von 50 Jahren ab.
Familienangehörige von verschwundenen und ermordeten GegnerInnen der Militärdiktatur kämpfen hingegen seit Jahren unermüdlich um die Offenlegung aller geheimen Informationen, die Licht in das Dunkel um das Schicksal der Verschwundenen bringen könnten. Angehörige der seit 1974 verschwundenen Mitglieder der Guerilla im Gebiet der Araguaia führen seit 26 Jahren einen Rechtsstreit gegen den brasilianischen Staat, damit dieser sich endlich der eigenen Verantwortung stellt. Die Guerillagruppe wurde Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei (PCdoB) gegründet und operierte bis Ende 1974 im Grenzgebiet der damaligen brasilianischen Bundesstaaten Pará, Maranhão und Goiás, das Gebiet des heutigen Tocantins. Die geschätzten siebzig bis achtzig Mitglieder sowie eine unbekannte Zahl von BewohnerInnen der Region, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seitdem verschwunden. Das brasilianische Justizministerium hatte im Jahr 2004 einen als „abschließend“ deklarierten Bericht veröffentlicht, in dem 71 Personen offiziell als verschwunden und die Fälle als abgeschlossen deklariert wurden. Im vergangenen Jahr jedoch konnten erstmals sterbliche Überreste von Verschwundenen exhumiert und identifiziert werden, nachdem Militärangehörige in der Presse Hinweise zu mögliche Fundstellen gemacht hatten.
Nachdem das Anliegen der Angehörigen in Brasilien von den Behörden immer wieder auf Eis gelegt worden war, reichten sie ihre Klage beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten ein. Dieser verurteilte den brasilianischen Staat Ende letzten Jahres wegen der Verschleppung und Ermordung von 62 der verschwundenen Mitglieder der Araguaia-Guerilla. Die RichterInnen des CIDH verlangten von Brasilien, alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen. Im 126 Seiten umfassenden Urteilsspruch wurde den Behörden vorgeworfen, die Verantwortlichen für die Morde nicht ermittelt zu haben. Darüber hinaus wurden Entschädigungszahlen für die Angehörigen festgesetzt und der Staat dazu verpflichtet, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Leichen der Ermordeten ausfindig zu machen.
Um diesem Ziel endlich näher zu kommen, setzen die Angehörigen der Verschwundenen auf die Deklassifizierung der Geheimakten. Doch nicht nur PolitikerInnen und das Militär selbst weigern sich, die Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften. Auch die Politik des brasilianischen Außenministeriums versuchte bisher, die Veröffentlichung von geheimen Akten zu verhindern. 2005 hatte der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein Dekret erlassen, nach dem alle Dokumente, die „die Souveränität, die territoriale Integrität oder die Außenbeziehungen“ Brasiliens beeinträchtigen könnten, weiterhin unter Verschluss gehalten werden müssen.
So gibt es beispielsweise noch immer als streng-geheim klassifizierte Dokumente aus der Zeit des brasilianisch-argentinischen-uruguayischen Kriegs gegen Paraguay (1864 bis 1870), die die im Anschluss an den Krieg getroffenen Grenzziehungen betreffen. In diesem Krieg starben über zwei Millionen Menschen, und Paraguay musste in Folge der Niederlage 144.000 Quadratkilometer Land an Brasilien und Argentinien abtreten. Die brasilianische Regierung, allen voran das Außenministerium, verweigerte stets die Herausgabe dieser Dokumente, mit dem Hinweis, eine Veröffentlichung könne „das gute Verhältnis und die Kooperation im MERCOSUR“ gefährden. Paraguays Regierung verurteilte diese Argumentation als „absolut unangemessen“.
Angesichts Rousseffs Engagement zur Offenlegung der Geheimakten ruderte im Juni dieses Jahres das Außenministerium zurück und verkündete, es gebe nach Durchsicht der Aktenlage „keine weiteren Bedenken“ mehr gegen eine Veröffentlichung der Dokumente. Nicht nur HistorikerInnen warten nun gespannt auf die Möglichkeit, die Archive des Außenministeriums einsehen zu dürfen.
Neben der Archivöffnung steht zurzeit ein weiteres Gesetz in der Diskussion, das die Aufarbeitung der repressiven Vergangenheit betrifft. Das Gesetz Nr. 7.376 sieht die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor, welche die Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur untersuchen soll. Ende April hatten Kongressabgeordnete der Regierungsallianz gemeinsam mit ParlamentarierInnen der oppositionellen Parteien im brasilianischen Abgeordnetenhaus die zügige Verabschiedung des Gesetzes gefordert. Für Maria do Rosário, Ministerin des Sondersekretariats für Menschenrechte, wäre die Einrichtung einer solchen Kommission „ein Zeichen für das Recht auf Erinnerung“. Auch Justizminister José Eduardo Cardozo sprach sich vehement für die Wahrheitskommission aus: „Die Wahrheitskommission, die zurzeit im Nationalkongress diskutiert wird, ist eine Pflicht des brasilianischen Staates. Dieser ist historisch und demokratisch dazu verpflichtet, die Verbrechen der Diktatur aufzuklären“, erklärte der Minister. „Wer sich der Suche nach Wahrheit widersetzen möchte, kann dies im Rahmen demokratischer Meinungsäußerung, die wir heute haben, tun. Doch ich bin sicher, dass das, was die brasilianische Gesellschaft heute will, die Wahrheit ist.“
Die Gesetzesvorlage wurde letztes Jahr noch unter der Regierung Lula in den Kongress eingebracht. Sogleich rief es KritikerInnen auf den Plan, die lieber einen Schlusspunkt hinter der Vergangenheit sehen wollen. Etliche Abgeordnete rechter Parteien und das Militär lehnen das Gesetz rundheraus ab. So wandte sich Nelson Jobim, unter Lula Verteidigungsminister, Anfang dieses Jahres gegen die Einrichtung einer Wahrheitskommission. Später ruderte er zurück und erklärte sich mit ihr einverstanden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Wahrheitskommission nicht mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet werde, sondern die Fälle nur untersuchen dürfe.
Führende Militärangehörige hatten zuvor in einem Brief an das Verteidigungsministerium damit gedroht, dass die Wahrheitskommission „Spannungen und ernsten Zwist“ hervorrufen könnte. Die zunehmende Unruhe unter den Militärs über die aktuellen Entwicklungen offenbarte sich abermals, als im April der Sender SBT die Telenovela „Amor e Revolução“ (Liebe und Revolution) gezeigt hatte, die sich kritisch mit der Zeit der Militärdiktatur auseinandersetzt. Zunächst protestierten die Militärs in einer offenen Petition gegen die Telenovela; der Versuch juristisch gegen die Ausstrahlung der Fernsehserie vorzugehen, scheiterte jedoch.
Noch mehr besorgt ist das Militär aber um die Zukunft des bis heute geltenden Amnestiegesetzes von 1979. Dieses verhindert strafrechtliche Anklagen gegen Angehörige des Militärs wegen Verbrechen, die während der Diktatur begangen wurden. 2008 gelang es Opfern der Militärdiktatur jedoch erstmals, einen Folterer vor Gericht zu bringen (siehe LN 405): Im Prozess gegen den ehemaligen Chef vom in den 1970er Jahren berüchtigten Folterzentrum DOI-CODI in São Paulo ging es um das Recht, den Folterer als Folterer bezeichnen zu dürfen. Eine Bestrafung von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra oder eine Entschädigung der Familie war in der Klage nie vorgesehen. Die KlägerInnen gewannen den Prozess: Sie dürfen Ustra heute einen Folterer nennen.
Das Urteil hatte Signalwirkung. Die Staatsanwaltschaft erhob in Folge dessen weitere zivilrechtliche Klagen gegen Ustra sowie andere Täter der Diktatur. Strafrechtliche Klagen werden jedoch durch das Amnestiegesetz verhindert. Dessen Gültigkeit wurde erst 2010 vom Obersten Gerichtshof Brasiliens erneut bestätigt, nachdem der brasilianische Anwaltsverband OAB auf Aufhebung des Amnestiegesetzes geklagt hatte. So bleiben die Folterer der bleiernen Jahre in Brasilien weiter straffrei. Doch das unedle Gebrauchsmetall Blei zeichnet sich neben seiner Schwere vor allem durch seine Formbarkeit aus – es muss nur jemand ernsthaft in Angriff nehmen.

Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft

Mindi Rodas hatte ihre Stimme erhoben – gegen die Gewalt an Frauen in Guatemala. Öffentlich hatte die 23-Jährige Frauen und Mädchen dazu ermutigt, sich gegen die Misshandlungen zu wehren und die Täter anzuzeigen. Dabei konnte sie ihre eigenen Narben kaum verbergen: Ihr Ex-Mann hatte Mindi Rodas derart misshandelt, dass in den letzten anderthalb Jahren ihres Lebens eine Art Mundschutz die Entstellungen ihres Gesichts verdeckte. Ihren Entschluss, sich aus der Enge ihres Hauses, den Beschimpfungen, Schlägen und dem sexuellen Missbrauch zu befreien, hatte ihr Ehemann eines Tages mit einer Machete gerächt. Nach dieser schrecklichen Gewalttat war Rodas‘ Leben geprägt von Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen und Suizidgedanken. Einzig ihr Sohn konnte ihrem Leben noch einen Sinn geben.

Der Fall von Mindi Rodas ging durch die internationale Presse. Nationale und internationale Organisationen unterstützen ihren Kampf für Gerechtigkeit. Sie unterzog sich Behandlungen, die nach und nach ihr Gesicht wiederherstellten und zog als eine der wenigen misshandelten Frauen Guatemalas vor Gericht. So konnte sie erreichen, dass ihr Ehemann ins Gefängnis kam. Doch kurz darauf wurde er wieder freigelassen, mithilfe eines Klageverzichts, auf dem er Rodas‘ Unterschrift gefälscht hatte. Erneut setzte sie sich zur Wehr und erreichte mithilfe der Überlebenden-Organisation Fundación Sobrevivientes, dass die Misshandlungen durch ihren Ex-Mann nicht mehr als „schwere Verletzungen“, sondern als „versuchter Femizid“ eingestuft wurden. Daraufhin wurde ihr Ex-Mann erneut inhaftiert. Im Juni dieses Jahres wird der Prozess gegen ihn beginnen.

Das alles sollte Mindi Rodas nicht schützen. Und rückblickend scheint es, als habe sie es geahnt. Denn trotz ihrer juristischen Erfolge wurde sie von Angst geplagt: „Ich habe so viele Interviews gegeben und letztlich macht doch niemand etwas. Er hat mich nicht getötet, aber er hat mich lebendig begraben. Ich habe Angst, dass er noch vor der Gerichtsverhandlung einen Mörder beauftragt.“

Und ihre Vorahnung wurde traurige Wahrheit: Ende 2010 verschwand Rodas, im Januar 2011 fand man ihren leblosen Körper 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Die Täter hatten sie gefoltert und anschließend erdrosselt. Ihre Leiche wurde als „Unbekannte“ beigesetzt. Erst auf Betreiben von ihrer Familie und einer Frauenorganisation, wurde die Leiche exhumiert und nach der Identifizierung in ihrem Heimatort beigesetzt.
Mindi Rodas ist eine von 695 Guatemaltekinnen, die im Jahr 2010 aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden.

Nur 86 Femizide wurden juristisch verfolgt, bei einem Drittel davon wurde bisher ein richterliches Urteil gesprochen. Denn Straflosigkeit hat System in Guatemala: Jahrelang wurden Femizide von den guatemaltekischen Behörden nicht verfolgt. Ermordete Frauen wurden zu Prostituierten, Angehörigen der Jugendbanden maras oder Freundinnen von Drogenschmugglern erklärt und damit nicht für würdig befunden, ihren gewaltsamen Tod aufzuklären. Marcela Lagarde kritisierte dieses Verhalten scharf: „Bei Femiziden kommen in krimineller Weise das Schweigen durch Unterlassung oder Fahrlässigkeit sowie das Einverständnis der Behörden zusammen“, so die mexikanische Anthropologin und Anwältin.

2008 wurde nach langem Kampf von Frauenorganisationen und mittels eines interparlamentarischen Dialogs zwischen Guatemala, Mexiko und der Europäischen Union das Gesetz gegen Femizide und andere Formen der Gewalt an Frauen erlassen. Schutz, Freiheit und Leben der Guatemaltekinnen sollten durch das Gesetz garantiert, eine strafrechtliche Verfolgung erleichtert und die Straflosigkeit der Täter abgeschafft werden. „In dem Gesetz werden Femizid, Frauenfeindlichkeit, diskriminierende Machtverhältnisse, ökonomische, physische, psychische oder emotionale und sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Frauen definiert”, erklärt Norma Cruz, Gründerin der Fundación Sobrevivientes. „Der Tatbestand eines Femizids wird nun mit 25 bis 50 Jahren Haft bestraft. Weder Bräuche noch Traditionen können dem Gesetz nach als Rechtfertigung oder Entschuldigung für das Verüben, Akzeptieren, Fördern, Anregen oder Tolerieren von Gewalt gegenüber Frauen geltend gemacht werden. Jedwede Gewalttat gegenüber Frauen, sei es häusliche Gewalt oder Übergriffe von Bekannten und Fremden, müsste demnach in Zukunft als Straftat behandelt werden“, so Norma Cruz weiter.

Bislang wird dem Gesetz, das in der zentralamerikanischen Region als Vorreiter gilt, von FrauenrechtlerInnen jedoch wenig Erfolg zugeschrieben. Norma Rera von der Nationalen Frauenunion (UNAMG) meint, es gebe „zwar Anstrengungen der Zivilgesellschaft und der staatlichen Institutionen und dadurch eben auch einige Fortschritte, zum Beispiel spezielle Prozesse wegen Frauenmorden“. Dies jedoch führe nicht zu einem Rückgang der Femizide und auch die Straflosigkeit sei trotz des Gesetzes nicht rückläufig.

Und in der Tat: noch immer werden 97 Prozent derjenigen, die Frauen Gewalt antun, nicht bestraft. KritikerInnen wie Norma Rera werfen der Justiz vor, unfähig oder unwillig zu sein, das neue Gesetz angemessen anzuwenden: „Es kann nicht von einem Rückgang der Straflosigkeit gesprochen werden, denn es gibt noch immer Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes. Es kommt zum Beispiel immer wieder vor, dass Staatsanwälte oder Richter bei Fällen von Frauenmorden das Strafgesetzbuch anwenden und nicht das Gesetz gegen Femizide. Nach diesem drohen jedoch bei einer Verurteilung bis zu zehn Jahre längere Haftstrafen. Dadurch werden dann keine gerechten Urteile gefällt.“

María Luisa de León Satizo ist Anwältin der Frauenorganisation Grupo Guatemalteco de las Mujeres. Sie teilt die Kritik bei der Anwendung des Gesetzes und bemängelt zudem eine unzureichende Koordination in der öffentlichen Verwaltung: „Das Gesetz scheint wie auf einer Insel zu sein und alles andere funktioniert so wie vorher. Es gibt zwar schon einige Urteile, sogar mit der maximalen Strafe von 50 Jahren Gefängnis, aber die Zahl der Verurteilungen ist im Vergleich zur Masse an Anzeigen verschwindend gering.“

In Guatemala hat Gewalt gegen Frauen eine lange Geschichte. Während des bewaffneten Bürgerkriegs von 1960 bis 1996 wurden Frauen aus rein „strategischen Gründen“ misshandelt. Regierungstruppen wandten systematisch sexuelle Gewalt gegen Frauen an, um mögliche Aufstände zu unterdrücken sowie um die Moral einzelner und ganzer Gemeinden zu brechen. 2006 veröffentlichte die Gruppe Akteurinnen des Wandels (Consorcio Actoras de Cambio) die Studie Mit dem Schweigen brechen, deren Ergebnisse erschreckend deutlich beschreiben, was in Guatemala während des Bürgerkriegs geschah: Oft wurden Frauen von den Soldaten vergewaltigt, nachdem ihre Männer ermordet wurden oder aber öffentlich vor Familienangehörigen und Gemeindemitgliedern missbraucht, gefoltert und anschließend getötet. Teilweise wurden Frauen sogar jahrelang als Sexsklavinnen von Generälen und paramilitärischen Truppen gehalten.

Insbesondere indigene Frauen wurden Opfer dieser systematischen sexuellen Gewalt. Während des Bürgerkriegs wurden ganze Gemeinden als Basis der Guerilla stigmatisiert und in Massakern ausgelöscht, um die Kontinuität des Lebens in den indigenen Gemeinden zu zerstören. Opfer dieser „Politik der verbrannten Erde” von 1982 bis 1983 waren laut der Kommission für Historische Aufklärung (CEH) zu 99 Prozent Frauen – 88,7 Prozent von ihnen Maya. Eine Aufklärung oder gar Aufarbeitung dieser Verbrechen hat kaum stattgefunden. Jahrelang wurden die Gewalttaten als Vergehen einiger Funktionäre abgetan, die Befriedigung suchten. Dabei waren Beamte, Angestellte, staatliche Behörden und Militärangehörige direkt an den Gewaltverbrechen beteiligt.
Und auch heute noch sind Frauenkörper in Guatemala Objekte, an denen Macht, Mut und Rache demonstriert werden. Kriminelle Banden wenden noch immer Praktiken aus Bürgerkriegszeiten an, die massakrierte Frauen zur Schau zu stellen, um „den Gegner zu entmutigen und zu entehren“. Ebenso werden auch heute noch Frauen geopfert, um den Dialog und den Zusammenhalt krimineller Bruderschaften über Blutpakte aufrecht zu erhalten.
Wie tief Frauenfeindlichkeit und Gewalt in der guatemaltekischen Gesellschaft eingebrannt sind, erläutert die guatemaltekische Anwältin de León Satizo: „Wir glauben, dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen Resultat der historisch ungleichen Machtverhältnisse von Männern und Frauen sind. Sie sind Teil einer patriarchalen Kultur, in der die Frauen besessen und benutzt werden.” Die Kultur des Landes müsse sich verändern, um diese strukturelle Benachteiligung der Frauen zu beenden, so de León Satizo: „Wir müssen die Gesellschaft verändern, den Kindern und der Jugend andere Werte vermitteln. Selbst in den Medien werden Gewalttaten verherrlicht. Das muss aufhören. Vielmehr müssen Presseorgane dazu beitragen, dass Gewalt verurteilt wird und Körper von Frauen eben nicht mehr als reine Objekte angesehen werden. Und das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“

 

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Schlingerkurs bei Frauenrechten

Es war schon ein Novum in El Salvador, als das neu strukturierte Staatliche Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU überhaupt Studien zur Lage der Frauen durchführen und veröffentlichen konnte. Das hatte es in der Geschichte des Landes bisher nicht gegeben. Seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Funes 2009, der für die Partei der ehemaligen Guerilla Frente Farabundo Martí (FMLN) angetreten war, unternimmt die Regierung endlich Schritte gegen die strukturelle Gewalt gegen Frauen, die Frauenrechtsorganisationen in El Salvador schon lange fordern.

Denn das kleine zentralamerikanische Land hat eine der höchsten Frauenmordraten weltweit. Allein zwischen Januar und Oktober 2010 hat die Polizei 477 Morde an Frauen erfasst – und das bei circa 6,5 Millionen EinwohnerInnen. PolitikerInnen und besonders die Massenmedien des Landes schieben das Problem meistens auf die allgemeine Gewaltproblematik und die Kriminalität der Jugendbanden (maras) in El Salvador. Die Studien des ISDEMU brachten dann das ganze Ausmaß des Femizids an die Öffentlichkeit. Die Ergebnisse belegen, dass Gewalt gegen Frauen in den allermeisten Fällen innerhalb der Familie und des näheren Umfelds stattfindet. Es sind Väter, (Ex-)Freunde, Ehemänner, Onkel oder andere Bekannte, die Frauen physisch und psychisch misshandeln und im Extremfall sogar umbringen. Dadurch wird deutlich, dass Femizide nicht einfach als Teil der allgemeinen Gewaltproblematik betrachtet werden können. Vielmehr liegen die Wurzeln im noch immer extremen Machismo und einer frauenfeindlichen Kultur, die Gewalt gegen Frauen toleriert und fördert.

So sieht es auch das ISDEMU, dessen Studien noch einen weiteren Teil der traurigen Realität von Frauen in El Salvador mit Zahlen belegen: Bei der Strafverfolgung im Zusammenhang mit Frauenmorden und Gewalt gegen Frauen gehen rund 80 Prozent der Täter straffrei aus. Aus Misstrauen und Angst vor den Behörden erstatten viele Angehörige von Opfern nicht einmal Anzeige.

Auf diese Ergebnisse reagierte die FMLN-Regierung im Dezember 2010 mit der Verabschiedung des Sondergesetzes über das Recht von Frauen zu einem Leben frei von Gewalt, das der Situation der Straflosigkeit entgegen wirken soll. Die linke Abgeordnete Margarita Rodríguez sieht darin einen klaren Erfolg der Frauenbewegung: „Das Gesetz ist in eineinhalb Jahren harter Arbeit und in enger Zusammenarbeit mit staatlichen und nicht-staatlichen Frauenorganisationen entstanden. Dank des neuen Gesetzes können wir uns gegen sogenannte kulturelle Praktiken wehren, bei denen Frauen nicht respektiert werden und endlich Verstöße gegen die Frauenrechte bestrafen.“

Tatsächlich ist mit dem neuen Gesetz eine effektive Grundlage geschaffen worden, jede Art von Gewalt gegen Frauen zu erfassen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das Verbrechen des Femizids wird von nun an juristisch deutlicher strenger geahndet als ein anderer Mord: Während auf Mord zehn bis 20 Jahre Gefängnis stehen, drohen im Fall eines Femizids 20 bis 35 Jahre Haft. Handelt es sich bei dem Täter um einen Beamten oder wird das Verbrechen von mehr als einem Täter ausgeführt, kann die Haftstrafe sogar bis zu 50 Jahre betragen. Dasselbe gilt, wenn das Opfer geistig oder körperlich behindert, minderjährig oder im Senioren-Alter ist.

Doch das Gesetz belässt es nicht bei der strengeren Ahndung der Verbrechen, sondern bezieht sogar deren Ursachen mit in die Gesetzgebung ein. So stellt es beispielsweise auch die sexistische Darstellung von Frauen in den Medien als Form von Gewalt unter Strafe. Das führte prompt zu heftigem Widerstand, insbesondere auf Seiten der Werbebranche. „Wer soll hier das Opfer sein? Die Frau an sich oder jede x-beliebige Frau, die sich dadurch angegriffen fühlt?“, so die öffentliche Reaktion von Charlie Renderos, Präsident der Assoziation der salvadorianischen Werbemedien (AMPS).

An Reaktionen wie dieser zeigt sich, dass in der salvadorianischen Gesellschaft noch immer ein großes Unverständnis darüber herrscht, dass die Herabsetzung von Frauen in der Öffentlichkeit und die hohe Frauenmordrate Teil desselben Problems sind. Der UN-Menschenrechtsrat formulierte das im Oktober 2010 in seiner Empfehlung an die salvadorianische Regierung so: „Die Tatsache, dass die Zahl der Anzeigen auf Grund von häuslicher Gewalt in El Salvador nach wie vor extrem hoch ist, obwohl bereits Bemühungen unternommen wurden, die Situation zu verbessern, zeigt das Besorgnis erregende Fortbestehen von patriarchalen und stereotypisierenden Gender-Vorstellungen, nicht nur innerhalb der Familie, sondern generell innerhalb der Gesellschaft.“

Und tatsächlich ist es noch ein langer Weg zur Erlangung von universellen Frauenrechten sowie der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in El Salvador. Noch immer dominieren hier Rollen- und Geschlechterbilder, die Frauen geringer schätzen als Männer; ob im täglichen Familienalltag, in Schule oder Beruf. In Medien und Musik sind sexistische Texte und Bilder allgegenwärtig, die Frauen als Objekte darstellen, sie auf ihren Körper reduzieren und so die Gewaltbereitschaft gegen Frauen erhöhen. Laut María Evelyn Martínez, kann dieses Umfeld dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen sogar zunimmt, wenn diese beginnen, sich für ihre Rechte einzusetzen: „Manche Männer fühlen sich gerade durch die verstärkte Mobilisierung für das Thema Frauenrechte in ihrer Hegemonie und ihrer Männlichkeit angegriffen und ‚schlagen zurück‘”, so die Feministin und ehemalige Direktorin des ISDEMU.

Um wirkliche Fortschritte zu erzielen, bedarf es also eines grundlegenden Wandels der Gesellschaft. Davon ist El Salvador jedoch trotz zaghafter politischer Fortschritte seit Funes‘ Amtsantritt noch weit entfernt. Nichts zeigt das besser als die konservative bis reaktionäre Abtreibungsdebatte und -gesetzgebung des Landes. Denn Abtreibung steht hier nach wie vor unter Strafe und die Situation hat sich im letzten Jahrzehnt sogar noch verschärft. Während bis zum Jahr 2000 die Abtreibung zwar illegal war, aber nicht sanktioniert und im Falle einer therapeutischen Abtreibung sogar geduldet wurde, wird inzwischen jede Form der Abtreibung mit acht bis dreißig Jahren Gefängnis bestraft.

Besonders tragisch daran ist, dass gleichzeitig die Anzahl der unter 14-jährigen gestiegen ist, die Opfer von Inzest und innerfamiliärer Vergewaltigung wurden. Sie trifft das totale Abtreibungsverbot mit am schlimmsten. Daneben sind vor allem arme Salvadorianerinnen die Leidtragenden dieser res-triktiven Gesetzgebung. Denn wohlhabende Frauen können eine Abtreibung oftmals im Ausland oder in einer Privatklinik vornehmen. Unter der Armutsgrenze lebende Frauen hingegen riskieren bei einer Abtreibung nicht selten ihr Leben.

María Evelyn Martínez meint dazu: „Es sind besonders junge, arme Frauen aus ländlichen Gebieten und indigene Frauen, die Opfer von Gewalt werden. Wenn Frauen keinen Zugang zu Bildung haben, etwa weil sie früh schwanger wurden, dann werden sie leicht von einem Mann abhängig und können in eine Spirale der Gewalt geraten, der sie nicht entkommen. Gerade auch beim Thema Abtreibung wird dieser Zusammenhang deutlich.“ Statistiken zufolge, die von der „Regionalen Kampagne für eine freie und gewollte Mutterschaft“ in Mexiko, Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador erhoben wurden, ist die Sterblichkeit von Frauen nach unprofessionell ausgeführten Abtreibungen in El Salvador die höchste in der ganzen Region.

Doch damit nicht genug. Vor allem in den ländlichen Gebieten trifft unverheiratete, junge Frauen nach wie vor die gesellschaftliche Stigmatisierung im Falle einer (nicht-ehelichen) Schwangerschaft. „Die Reaktion meiner Familie war furchtbar,“ berichtet beispielsweise eine junge Salvadorianerin aus Mejicanos im Norden der Hauptstadt San Salvador von ihren Erfahrungen. „Als ich 2009 plötzlich schwanger wurde, hat sich meine Mutter von einem Tag auf den anderen geweigert, mich zu sehen. Mein Vater hatte zu der Zeit Drogen- und Alkoholprobleme, mein Freund hat Schluss gemacht. Ich war also völlig alleine.“ Und tatsächlich stehen die jungen Frauen meist ohne jegliche Hilfe vor ihren Problemen. Staatliche Frauenhäuser oder Beratungsstellen, medizinische oder psychologische Betreuung – dafür gibt es in El Salvador kaum Geld und Mittel. Das bestätigt auch die junge Frau aus Mejicanos: „Ich war wütend auf mich selbst und hab mich gefühlt, wie eins der typischen Mädchen, das nicht aufgepasst hat. Obwohl ich schon 18 war. Die meisten Mädchen hier werden mit 14 oder 15 schwanger. Und leiden dann ihr ganzes Leben, genau wie ihre Kinder. Im Fernsehen gibt es manchmal Beiträge zu dem Thema, aber in denen wird nur allgemein vor Aids gewarnt. Wie du dich konkret schützen kannst, erklärt dir keiner. Kurz gesagt: in diesem Land bekommst du keinerlei Hilfe. Und keiner interessiert sich dafür.“

Auch Präsident Mauricio Funes scheint vergessen zu haben, dass er einst etwas ändern wollte an dieser Situation. 2007 noch hatte der ehemalige Journalist öffentlich Mexiko-Stadt beglückwünscht, als dort die Straffreiheit von Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen eingeführt wurde. Vor den Wahlen 2009 versprach er den feministischen Gruppen in El Salvador, die Themen Abtreibung und reproduktive Rechte aktiv anzugehen. Weil er befürchtete, dass die Abtreibungsdebatte von rechten Parteien, der Katholischen Kirche und den Massenmedien im Wahlkampf polemisiert werden könnte, sollte das Thema auf die Zeit nach dem Wahlsieg verschoben werden. Nach dem Amtsantritt folgten seinen Versprechungen jedoch keine Taten.

Der radikale Haltungswechsel, den Funes nach außen hin gezeigt hat, stößt besonders die Frauenorganisationen vor den Kopf, die auf die Einlösung des Wahlversprechens und eine Reformation der Abtreibungsgesetze gehofft hatten. Auch die neuen Privilegien des Fraueninstituts ISDEMU hielten nicht lange an. Julia Evelyn Martínez, die Mitte 2009 von Mauricio Funes als neue Direktorin von ISDEMU eingesetzt worden war, wurde bereits im Dezember 2010 wieder entlassen – offiziell wegen Vertrauensverlusts in ihre Person. KritikerInnen vermuten jedoch, dass das Präsidentenehepaar Funes hinter der Entscheidung stand, weil ihnen Martínez‘ Forderungen zu radikal wurden (siehe auch LN 440 und Interview mit Martínez in LN 438). Martínez‘ Forderung, die Abtreibungsproblematik als öffentliche Gesundheitsfrage zu diskutieren, verweigert die Regierung unter Mauricio Funes bislang hartnäckig.

Ändert sich jedoch nicht gesamtgesellschaftlich etwas daran, dass Frauen als gleichberechtigte Personen anerkannt werden, wird auch ein fortschrittliches Gesetz der Gewalt gegen Frauen kein Ende bereiten.

 

 

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// Rätselhafte Festnahme

Ausgerechnet auf venezolanischem Boden passierte es: Bei seiner Ankunft am nahe Caracas gelegenen Flughafen „Simón Bolívar“ wurde Joaquín Pérez Becerra am 23. April verhaftet. Zwei Tage später schoben ihn die venezolanischen Behörden nach Kolumbien ab, wo er als vermeintlicher „Europa-Botschafter“ der FARC-Guerilla polizeilich gesucht wurde.

Seit 1994 lebt Pérez Becerra in Schweden als anerkannter politischer Flüchtling. Zuvor gehörte der gebürtige Kolumbianer der linken Partei Patriotische Union (UP) an, die ab Mitte der 1980er Jahre versucht hatte, eine legale politische Alternative jenseits der Guerillas aufzubauen. Der Preis dafür war außerordentlich hoch: Um die 5.000 Parteimitglieder wurden im Laufe der Jahre getötet. Pérez Becerra konnte letztlich nach Schweden fliehen, von wo aus er begann, für die dort ansässige Nachrichtenagentur ANNCOL zu arbeiten. Diese veröffentlicht zwar unter anderem Kommuniqués der FARC, versteht sich jedoch vor allem als alternatives kolumbianisches Medium, das auch Verbrechen des Staates anprangert. Doch Pérez Becerra lebte nicht nur in Schweden, er hatte auch die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen – und die kolumbianische abgegeben.
Nicht nur deshalb muten die Umstände seiner Verhaftung abenteuerlich an. Laut eigenen Angaben hatte der kolumbianische Präsident Manuel Santos seinen Amtskollegen Hugo Chávez in Venezuela angerufen, der umgehend reagiert habe. Pérez Becerra verbrachte nur 48 Stunden in den Händen der venezolanischen Behörden und hatte in dieser Zeit weder Kontakt zu seinem Anwalt noch zur schwedischen Botschaft. Schließlich wurde er ohne Gerichtsverhandlung nach Kolumbien abgeschoben, dem Land mit einer der schlimmsten Menschenrechtsbilanzen Lateinamerikas.
Chávez brachte dieses Vorgehen Kritik im eigenen Land ein. Teile der linken Basis protestierten gegen Becerras Abschiebung. Der venezolanische Präsident jedoch verteidigte das Vorgehen: Es habe ein internationaler Haftbefehl vorgelegen und Venezuela sei gar nichts anderes übrig geblieben, als sich an internationales Recht zu halten. Vielmehr sei es verwunderlich, warum Pérez Becerra nicht schon bei seiner Durchreise in Deutschland festgenommen worden sei. „Wenn ich ihn festnehme, bin ich der Böse, und wenn nicht, dann auch“, so Chávez. Doch damit macht er sich den Fall eindeutig zu einfach.

Seit Manuel Santos im vergangenen Jahr Álvaro Uribe als Präsident Kolumbiens abgelöst hat, haben sich die zuvor lädierten Beziehungen zu Venezuela stark verbessert. Und obwohl es trotz tiefer ideologischer Unterschiede gute Gründe für eine nachbarschaftliche Kooperation der beiden Länder gibt, hätten im Fall Becerra die Umstände keineswegs eine Abschiebung nach Kolumbien erfordert. Statt Pérez Becerra in das Land abzuschieben, aus dem er vor dem staatlichen Terror geflohen ist und dessen Pass er abgegeben hat, hätten ihn die venezolanischen Behörden zumindest in den nächsten Flieger nach Schweden setzen können. Zudem bleibt fraglich, ob überhaupt ein internationaler Haftbefehl vorgelegen hat. Auf der Internetseite von Interpol lässt sich diesbezüglich jedenfalls nichts finden. Hätte es einen gegeben, wäre Pérez Becerra wohl tatsächlich schon in Frankfurt verhaftet worden.
Währenddessen macht ausgerechnet Kolumbien vor, was selbst bei einer Abschiebung ins Nachbarland ohne Weiteres möglich ist: Für die von Venezuela verlangte Auslieferung des mutmaßlichen Drogenhändlers Walid Makled forderte die kolumbianische Regierung eine schriftliche Garantie, dass dessen Rechte gewahrt werden. Eine ebensolche Garantie wäre das Mindeste gewesen, was Chávez von Santos hätte verlangen müssen, auch wenn dies allein wohl kaum ausreicht. Mag sein, dass Santos in einer günstigen Situation ausloten wollte, wie weit die Kooperationsbereitschaft seines Amtskollegen tatsächlich geht. Sollte dem so sein, hat er nun einen Präzedenzfall geschaffen, der ganz im kolumbianischen Interesse liegt.
Der ganze Fall Pérez Becerra wirft viele Fragen auf – die venezolanische Haltung bildet dabei keine Ausnahme. Chávez jedenfalls scheint bisher nicht gewillt, bei deren Klärung behilflich zu sein.

Fluss der Hoffnung

„Die Polizei hat uns geschnappt”, erzählt Juana. „Erst haben sie uns im Lastwagen zum Grenzübergang nach Los Chiles gebracht und dann nach Nicaragua ausgewiesen.” Allesamt, Juana, ihren Sohn, die Schwiegertochter, das Baby. Die Sonne knallt erbarmungslos ins Hafenbecken von San Carlos. Juana ist müde, das grau-schwarze Haar klebt ihr an der Stirn, die Lehmkruste bröckelt von ihren viel zu großen Gummistiefeln, auf ihrem Schoß hält sie zwei Plastiktüten. Auf dem harten Plastiksitz im Boot neben ihr sitzt eine Touristin mit Flipflops, Digitalkamera und Sonnenhut. Juana schaut auf den breiten, grauen, trüben Río San Juan. Sie will es wieder versuchen, wieder mit Kind und Kegel, den Fluss nach Costa Rica überqueren, wieder ohne Arbeitsvisum und ohne Pass.
220 Kilometer erstreckt sich der Río San Juan vom Lago Cocibalco, Nicaraguas größtem Binnensee, bis hin zur Karibik. „See, Fluss, Meer, drei verschiedene Gewässertypen, zwei Naturreservate, das ist, was die Region hier so einzigartig macht,” schwärmt Frank Chamorro, Leiter der Tourismusinitiative „Ruta del Agua”. Es ist Mittagszeit, der tropische Regen prasselt laut auf das Blechdach, Chamorro sitzt auf seiner Holzterrasse mitten im Zentrum von San Carlos, dem Startpunkt und Drehkreuz für Reisen auf dem Río San Juan. „Mit der Ruta del Agua wollen wir den Tourismus am Río San Juan verbessern, Arbeitsplätze schaffen und die illegale Migration nach Costa Rica eindämmen.” Für das Projekt erhielt Nicaragua von der Interamerikanischen Entwicklungsbank einen 15 Millionen US-Dollar Kredit. Ende 2011 soll die „Ruta del Agua“ fertig gestellt sein.
„70 Prozent des Kredits fließen allein in die Infrastruktur,” sagt Chamorro. An elf Flussorten entstehen neue Anlegestege, Expressboote werden für TouristInnen eingesetzt, am Flussdelta eine Flugpiste gebaut. Die neue Uferpromenade in San Carlos ist bereits fertig, die Verbindungsstraße nach Managua zur Hälfte asphaltiert. Chamorros hat sich warm geredet, seine Augen glänzen. Mit der „Ruta del Agua“ will eine der ärmsten Regionen Nicaraguas an den Glanz und Ruhm vergangener Zeiten anknüpfen. An die Ära der „Ruta del Transito”, als tausende von amerikanischen Goldsuchern per Dampfschiff von New York den Río San Juan hinab nach San Francisco schipperten, die Durchquerung der Indianergebiete im eigenen Land war zu gefährlich. „Wir haben Barmänner, Rezeptionisten, Köche und Reinungspersonal ausgebildet und vergeben Kleinkredite an Hotels und Tourveranstalter”, sagt Chamorro stolz. Seit letztem Jahr hat San Carlos sogar einen Karneval, „mit Wagen wie in Rio, nur auf dem Wasser”.
An der neuen Uferpromenade steht Bootsfahrer Gustavo Peña und wartet auf TouristInnen. „Lern den Río San Juan kennen, es ist unserer!”, steht groß auf seinem T-shirt gedruckt. Gustavo wurde am Fluss geboren, mehr als zehn Jahre lang kämpfte er hier, erst in der Guerilla, dann gegen die Contras, fast verlor er im Kampf sein Gehör. Nach dem Bürgerkrieg zog er aufs Land, nahm Drogen, wollte vergessen. Jetzt ist er clean, überzeugter Christ und hat sein eigenes Boot. „Sie kommen extra aus Managua und füllen sich Plastikflaschen mit Flusswasser als Souvenir ab!”, Gustavos grüne Augen funkeln ungläubig aus dem sonnengegerbten Gesicht. „Gato”, Kater, nennen sie ihn deswegen hier. „Früher hat sich keiner um uns hier unten gekümmert, jetzt tut sich endlich was, durch den Grenzkonflikt (siehe Infokasten) sind wir sogar fast täglich im Fernsehen!”
Früher legten hier die Fischerboote an, Bootsbauer hämmerten auf große Holzskelette ein, es stank nach Fisch. Jetzt ist das Seeufer zuzementiert. Die frisch gestrichenen Holzfassaden der neuen Internetcafes und Esslokale versperren den Blick auf Schuhputzerjungen und Bretterverschläge. Drei große nicaraguanische Fahnen flattern hoch gehisst am Malecón, daneben Schilder mit sechsstelligen Summen und den Worten „Ruta del Agua, schreite voran, Tourismus!”, wie ein Zauberspruch. „Die Frente“ (Sandinistische Befreiungsfront; Anm. d. Red.) hat sich seit den 1970er Jahren verändert”, sagt Gato, „Das Ziel ist nicht mehr, die Welt zu verändern. Heute hat die Frente ein nationales Projekt, nämlich Nicaragua wieder zu vereinen.”
Juanas Boot legt ab. Die schwarzen, großen Regenschutzplanen flattern im Wind wie die Flügel einer großen Flusslibelle. Die lancha ist brechend voll. Nicaraguanische ArbeiterInnen mit Macheten am Hosenbund auf dem Weg nach Costa Rica sitzen neben TouristInnen aus Deutschland, Belgien und Kalifornien. Von der Bootsdecke baumeln Plastikmülleimer und Jutesäcke mit strampelnden Hühnern. „In Nicaragua finde ich keine Arbeit”, erklärt Juana der Touristin neben sich. Ihr Mann wartet auf sie auf einer Finca in Costa Rica. Er weiß nicht, was passiert ist. Auf dem Fluss sind costa-ricanische Grenzpatrouillien verboten, „aber die Kontrollen an Land sind jetzt wegen des Grenzkonflikts viel schärfer,” sagt Juana besorgt. Und ein Pass kostet sie unbezahlbare 800 Córdoba (rund 24 Euro; Anm. d. Red). „Steig in La Virgin aus”, rät ihr der Mann einen Sitz vor ihr. Viele im Boot wurden selbst schon einmal aus Costa Rica ausgewiesen. Sie reden über ihre Abschiebung wie vom letzten Sonntagsausflug. „Die Ticos (Bezeichnung für Costa RicanerInnen; Anm. d. Red) zahlen gut. Wie geht es den Arbeitern bei Euch?”, fragt Juana. Doch die Touristin schweigt.
Im Border‘s Café, im kleinen Flussort El Castillo, serviert Yakil den Passagieren Frühstück. Bananen-Milchshakes, Rührei, frische Ananas mit Joghurt und Müsli. Zehn Jahre lang arbeitete Yakil in San José in Costa Rica, jetzt spricht er Englisch und weiß genau, was die TouristInnen wollen. „Durch die Ruta del Agua wird sich hier viel verändern. Früher brauchte man zehn Stunden von Managua an den Río San Juan, auf der neuen Straße ist man schon in fünf Stunden da”, schwärmt Yakil. Von Yakils Caféterrasse blickt man auf den Fluss und El Castillos kleinen Anlegehafen „Der San Juan gehört zu 100 Prozent Nicaragua” steht dort in großen Lettern auf Zement geschrieben. „Ich habe viele Freunde in Costa Rica, das wird sich auch mit dem Grenzkonflikt nicht ändern”, sagt Yakil, „Aber die Ticos stehen uns Nicas sehr ablehnend gegenüber, sie haben Angst, die zweite Geige zu spielen.”
Von den Stelzenhäusern am Ufer hängen große hölzerne Balkons über den Fluss, Jungen staken im Einbaum Milchkannen heran. Auf dem Hügel über El Castillo thront einsam die moosbewachsene Festung, die die Spanier im 17. Jahrhundert bauten, um sich gegen Piratenangriffe zu schützen. Statt Piraten kommen heute die TouristInnen. Längst reisen nicht mehr nur Rucksackreisende oder Revolutionsromantiker an. „Wir haben sonst immer in Costa Rica Urlaub gemacht”, sagen Mitch und Cookie, zwei Tierärzte aus Kalifornien. „Freunde haben uns den Tipp gegeben, nach Nicaragua zu reisen.”
Nach El Castillo wird der Fluss zur Grenze. Am rechten Ufer liegt Costa Rica mit abgeholzten Hügeln und Rinderweiden, am linken Nicaragua und das üppig-wilde Naturschutzgebiet „Indio Maíz”. Das Boot umfährt die Stromschnelle „Teufelsflut“, es sprudelt und schäumt wie in einer Wasserhölle. Riesige Bambusstauden wachsen am Ufer, Affen springen von Baum zu Baum, Alligatoren liegen in der Sonne, zwei alte Dampfschiffe aus der Zeit der Goldsucher rosten halb versunken am Flussrand.
Immer wieder hält das Boot. Nicaraguanische Militärposten kontrollieren die Schwimmwesten. Dann Pfiffe vom costa-ricanischen Ufer. MigrantInnen steigen ein und aus und verschwinden schnell im Dickicht. Juana schaut auf die lehmige, steile Böschung: „Hoffentlich schaffen wir es diesmal”, sagt sie. Dann geht es ganz schnell. Die lancha legt an. Eine Frau wartet bereits am Ufer. Sie soll Juana den Weg durch das Dickicht zeigen. „Beeilt Euch!”, ruft sie. „Die Polizei hat den Motor gehört.” Juana schnappt ihren lehmigen, unförmigen Rucksack und die zwei prallen, zugeknoteten Supermarkttüten. Die Touristin neben ihr steckt ihr Bananen und Kekse zu. „Gott sei mit Dir”, sagt Juana und klettert mit Sohn, Schwiegertochter und Enkelkind über die wackelige Rampe ans costa-ricanische Ufer. Einmal dreht sie sich noch um, winkt und verschwindet dann im Dickicht. Das Boot fährt ohne sie weiter.
Nach elf Stunden, 220 Kilometern, ist das Flussdelta und damit die Karibik erreicht. Wie ein riesiger, dreifüßiger Roboter ragt ein alter, rostiger Baggerkran aus der Flussmündung heraus, wie ein Mahnmal fordert er ein unerfülltes Versprechen ein: den Bau eines interozeanischen Kanals, der 1889 hier begann. Dann entschieden sich die USA für Panama, die Baufirmen am Río San Juan zogen ab, die Arbeitslosigkeit zog ein. Greytown, die damals wichtigste Hafenstadt Nicaraguas geriet in Vergessenheit, verrottete und verrostete in der tropischen Feuchtigkeit. Was übrig blieb, wurde unter Eden Pastora alias Comandante Zero im Contra-Krieg verbrannt. Die Überlebenden zogen drei Kilometer nach Norden, in die neue Wellblechsiedlung nach San Juan de Nicaragua.
Zwei neue Baukräne schaufeln jetzt die Flussmündung frei. Kein anderer als Comandante Zero, der legendäre Ex-Guerillero, der 1978 das komplette Parlament von Diktator Somoza als Geisel nahm und später zu den Contras überlief, leitet das Projekt. Im alten Greytown ist seit dem Grenzkonflikt Militär stationiert, Soldaten liegen mit Gewehren in Hängematten. Es ist schwül, heiß, matschig, die Moskitos beißen. „Sprühen sie sich ein, hier gibt es Malaria,” sagt Leutnant Muñoz und führt zu den Gräbern und Grundmauern der verlassenen Stadt. Alte Marmor-Grabsteine aus den glanzvollen Zeiten der „Ruta del Transito“ zeugen noch vom Ruhm des alten Greytowns. Nur wenige Meter von den Gräbern entfernt zieht eine Baggerraupe eine Schneise für die neue Flugpiste durch den Dschungel. Der erste Flug ist für Oktober geplant, schließlich sind Anfang November in Nicaragua schon Wahlen.
„Der ganze Ort war gegen die Piste”, berichtet Néstor Gutiérrez ärgerlich. Er ist Touristenführer und hat durch die Bauarbeiten seine beliebteste Tour verloren. „Das alte Greytown ist nationales Kulturerbe. Viele Zug- und Wasservögel kommen hier vorbei. Die „Ruta del Agua“ treibt die Entwicklung am Fluss voran. Aber vor einem Bau-Projekt dieser Größe muss man Umweltstudien erstellen. Die Bevölkerung hier wurde gar nicht gefragt.” Statt Touren nach Greytown bietet Néstor nun Fahrten zur Punta Castilla an, dem Zankapfel im Grenzstreit zwischen Nicaragua und Costa Rica. Nicaragua könnte viel aus Costa Ricas Fehlern im Tourismus lernen, aber die Zusammenarbeit ist vorerst auf Eis gelegt. „Die Medien bauschen die Ereignisse auf”, erklärt Néstor weiter. „Für viele Menschen hier am Fluss ist Costa Rica wie eine zweite Heimat, viele Kinder sind in Costa Rica geboren und haben die doppelte Staatsangehörigkeit.
In San Juan de Nicaragua blättert die Farbe von den verfallenen Stelzenhäusern, dürre Köter liegen reglos auf der heißen Straße, ein Schildkrötenpanzer glänzt auf dem Müllhaufen, statt TouristInnen liegt Treibholz am Karibikstrand. Strom gibt es nur zwischen 14 und 23.30 Uhr, danach wird der Generator ausgeschaltet. Nur drei Mal pro Woche fährt das öffentliche Boot flussaufwärts nach San Carlos, die neuen Expressboote haben Motorschaden. Bis vor kurzem noch lebte der Ort vom Fischfang. Langusten, Robalos, Makrelen und Haie aus dem Meer, Gaspar und Garnelen aus dem Fluss. Doch die Fischbestände sind zurückgegangen, was bleibt ist die Hoffnung in die „Ruta del Agua“.
Maximal zwanzig RucksacktouristInnen im Monat kommen an dieses Ende der Welt, ins Wasserlabyrinth aus Kanälen, Lagunen und offenem Meer. Im Ort kursieren Gerüchte über Kanalpläne und große Kreuzfahrtschiffe aus dem Ausland. Viele BewohnerInnen haben Kleinkredite aufgenommen und bauen Unterkünfte für die TouristInnen. Auch Yakira baut an ihr kleines Restaurant zwei Zimmer an. In ihrem Lokal herrscht gähnende Leere. Auf den Tischen liegen steif gebügelt die braun- orangefarbenen Tischdecken, darauf das Menü auf Englisch übersetzt. „Sie haben uns in der Fortbildung beigebracht, wie man raffinierte Gerichte kocht. Aber wenn, kommen doch nur Rucksackreisende hierher”, erzählt Yakira. „Und die bestellen nur Gallo Pinto (Reis mit Bohnen).” Ende des Monats soll ein Kreuzfahrtschiff anlegen, hat Yakira gehört.
Die Sonne geht unter über dem breiten Río San Juan. In El Castillo sitzen Mitch und Cookie aus Kalifornien auf der Flussterrasse und essen gegrillte Garnelen. „Nicaragua hat gerade erst seinen Ruf als Bürgerkriegsland abgelegt”, sagt Mitch. „Die werden sich das mit dem Grenzkonflikt nicht verspielen.”

KASTEN:
Der Río San Juan
Der Grenzstreit zwischen Nicaragua und Costa Rica um den Río San Juan ist nicht neu. 2009 hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag nach jahrelangem Rechtsstreit Nicaragua das alleinige Hoheitsrecht über den Fluss zugesichert und das costa-ricanische Ufer als Grenzlinie erneut bestätigt. Costa Rica darf demnach den Fluss ausschließlich zu zivilen Zwecken nutzen, costa-ricanische Grenzpatrouillien auf dem Río San Juan sind verboten. Im Oktober 2010 brach der Grenzstreit erneut aus. Die starke Sedimentierung an der Flussmündung hatte das Flussdelta nahezu unschiffbar gemacht. Präsident Daniel Ortega veranlasste die Ausbaggerung der Flussmündung, das Sediment wurde auf der Isla Calero, einem rund drei Quadratkilometer großen, unbewohnten Landstrich zwischen dem Río San Juan und dem costa-ricanischen Nebenfluss Río Colorado abgeladen. Dabei wurden Bäume gefällt und Soldaten eingesetzt, um die Arbeiter vor der Drogenmafia zu schützen. Da der Río San Juan sich im Mündungsdelta in mehrere Arme teilt, ist die Grenzlinie nicht mehr eindeutig. Costa-ricanische Zeitungen bezeichneten die Ausbaggerungsarbeiten als nicaraguanische „Invasion“ mit enormen Umweltschäden. Nicaragua argumentierte, dass Costa Rica durch die massive Erweiterung der Nebenflüsse für den niedrigen Wasserpegel des Río San Juans verantwortlich wäre und berief sich dabei auf Google Maps. Laut den Karten von Google habe man nie nicaraguanischen Boden verlassen. Beide Länder reichten erneut Klage beim Internationalen Gerichtshof ein. ExpertInnen vermuten, dass hinter dem Säbelrasseln beider Länder jedoch ganz andere Absichten stecken. Denn bereits im November 2011 stehen in Nicaragua Präsidentschaftswahlen an. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof die laut nicaraguanischer Verfassung verbotene Wiederwahl Ortegas zugelassen, seitdem kommt es immer wieder zu Protesten der Opposition. Im Wahlkampfsthema Río San Juan aber steht die Bevölkerung und Opposition nahezu geschlossen hinter dem umstrittenen Präsidenten. Costa Rica hingegen nutzt den Grenzstreit als Vorwand für die Militarisierung des eigenen Landes, das nach einem kurzen Bürgerkrieg 1948 sein Militär aufgelöst hatte. Bis zum Urteilsspruch aus Den Haag können, wie bereits beim Streit zuvor, mehrere Jahre vergehen.

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