Wiedervereinigung auf kubanisch

„Sozialismus ist die einzige Garantie für unsere Unabhängigkeit“, mahnte der 82-jährige Präsident Raúl Castro leicht verkatert die 3.500 festlich geladenen Gäste am Rathaus von Santiago de Cuba zum Jahresbeginn. Dort hatte sein Bruder am 1. Januar 1959 den Sieg im Kampf gegen die Diktatur verkündet. In Havanna blieb der Revolutionsplatz diesmal leer und dunkel, nur die Konterfeis Che Gueveras und Camilo Cienfuegos‘ leuchteten vom Innenministerium herab. Anders auf der antiimperialistischen Tribüne am Malecón. Dort ist die Botschaft musikalisch: Meterhohe Boxen sorgen dafür, dass der Reggaeton auch Kilometer entfernt noch zu hören ist. Ein Zeichen der neuen kulturellen Hegemonie? Verschiedene Lesarten sind möglich.
Die Reden des Staatspräsidenten werden inzwischen nur noch auf einem der fünf Fernsehkanäle übertragen. Der Staat zahlt, um auch das anzubieten, was populär ist. „Wir müssen unser Gehör wieder auf den Boden richten, in Dialog mit der Bevölkerung treten“, hatte Raúl in einer anderen Rede fast hegemonietheoretisch formuliert. Öffentliche Räume und Inhalte werden neu verhandelt. Als der Jazzmusiker Roberto Carcassés im Oktober auf seinem live übertragenen Konzert von mehr direkter Demokratie sprach, wurde ihm zunächst untersagt, auf staatlichen Bühnen zu spielen. Dann schritt der renommierte Musiker Silvio Rodríguez ein, der Ende der 60er Jahre selber Auftrittsverbote erlitt, und verteidigte ihn auf seinem Blog. Das Verbot wurde zurückgenommen.
Im November verkündete die Parteizeitung Granma die Schließung der privaten, sehr beliebten 3D-Kinos wegen der dort gezeigten „Banalität“ und „niederen Kultur“. Ein Aufschrei des Publikums und vieler Intellektueller wie des Essayisten Victor Fowler folgte. Sie gestanden dem Staat das Recht der Regulierung, nicht aber der inhaltlichen Zensur zu. Kurze Zeit später war in derselben Zeitung zu lesen, die Maßnahme werde überdacht und wahrscheinlich revidiert.
Probleme werden in Kuba inzwischen offener diskutiert. Die Regierung Raúl Castros versucht, die unterschiedlichen Kulturen, die sich seit den Öffnungen, Veränderungen und Widersprüchen der 1990er Jahre ergeben haben, wieder zusammenzuführen. Und dies nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Wirtschaft.
Als Fidels Bruder Raúl 2008 zum Präsidenten gewählt wurde und der Druck einer wachsenden Mittelschicht stieg, beendete er Teile der Restriktionen, wie das Verbot für normale Kubaner_innen, Hotels zu frequentieren, Mietautos zu fahren oder Mobiltelefone zu besitzen. Die Aufhebung der Verbote sorgte zugleich für sprudelnde Staatseinnahmen. Inzwischen können auch Friseure wie Leo ihren Weihnachtsurlaub wieder in der Touristenhochburg Varadero verbringen. Leo hat bereits seinen zweiten Salon eröffnet – auf den Namen seiner Mutter, weil die Gesetzeslage bisher den Besitz auf eine Immobilie pro Person begrenzt. Einen institutionellen Rahmen auszutarieren, in dem die sozialistische Staatswirtschaft in Symbiose mit einer wachsenden Privatwirtschaft ein nachhaltiges Modell sozialer Gerechtigkeit ermöglicht, ist die Aufgabe, der sich die gegenwärtige Regierung stellt.
„Kuba legalisiert den freien Kauf von Autos“ war die Neujahrsschlagzeile 2014. Am 19. Dezember 2013 vom Ministerrat beschlossen, trat das Gesetz am 3. Januar in Kraft. Es ist Thema Nummer eins auf den Straßen Kubas. „Hast du schon die Preise gesehen?“ beginnt meist das Gespräch. „Wahnsinn!“ lautet die Antwort. Die Niederlassungen von Mercedes, Fiat und anderen internationalen Produzenten ziehen Neugierige vor die Schaufenster. Der Traum vom eigenen Auto war in Kuba mit der Revolution und dem folgenden US-Embargo in weite Ferne gerückt. 50 Jahre später ist dieser Traum „nur“ noch vom Portemonnaie abhängig. Damit bleibt es aber für die meisten vorläufig ein Traum: Lieblingsbeispiel der Kubaner ist der neue Peugeot 508, mit 262 000 CUC (etwa 191 000 Euro) veranschlagt, aber auch 51 000 CUC (etwa 37 000 Euro) für einen VW Jetta von 2010 sind astronomisch.
2013 hieß die Neujahrsbotschaft der Verzicht auf Ausreisegenehmigungen. Praktisch hatte sie für die Mehrheit der Inselbewohner_innen jedoch nur geringe Bedeutung, da für fast alle Reiseziele, die von der Insel direkt angeflogen werden, ein Einreisevisum benötigt wird. Symbolisch allerdings war es eine Errungenschaft, nicht mehr den Staat fragen zu müssen, wenn man das Land verlassen wollte. Informatiker Jorge hatte sich deshalb gleich im Januar ein teures Flugticket nach Ecuador gekauft – „nur um auszuprobieren, ob das wirklich stimmt“. Es stimmte. Sogar erklärte Regierungsgegner_innen wie Yoani Sánchez können inzwischen frei ein- und ausreisen. Das ist Teil der neuen kubanischen Normalität. Zur alten Normalität gehören politisch motivierte vor allem Kurzzeit-Festnahmen – meist für 24 bis 72 Stunden –, deren anhaltend hohes Niveau Regierungsgegner_innen gerade wieder beklagten. 2013 sollen es über 6000 gewesen sein.
Jorge ist inzwischen nach seinem Studium in Kuba nach Quito ausgewandert und plant, eine Software-Firma zu gründen. Aber auch er kann anders als früher zurückkehren und mit dem verdienten Geld seine Familie unterstützen. Bereits in Kuba hatte er für spanische Hotelketten Kontrollprogramme entwickelt, ohne offizielle Genehmigung, denn Informatiker_in steht nicht auf der Liste der 178 Berufe, die inzwischen legal in Eigenbeschäftigung ausgeübt werden können. Die fünf CUC (etwa 3,70 Euro) Stundenlohn, die er erhielt, gingen daher am Fiskus vorbei. Dem soll künftig mit der Einführung eines Steuersystems ein Riegel vorgeschoben werden.
Nach einem halben Jahrhundert steuerfreien Lebens erinnern sich nur noch die Ältesten an das republikanische – und hochkorrupte – Steuersystem vor der Revolution. Kein Wunder, dass von den inzwischen 440 000 Selbständigen – etwa ein Zehntel der arbeitenden Bevölkerung, die inoffizielle Zahl ist weitaus höher – nur rund die Hälfte überhaupt eine Steuerklärung machten. »Wir müssen erst wieder eine neue Kultur dafür entwickeln«, sagt Saira, die als Ökonomin an der Universität Havanna zu Kubas Steuersystem promoviert. Laut einer kürzlich in der Parteizeitung veröffentlichten Fallstudie für die Provinz Granma zahlen dort 92 Prozent nicht den korrekten Betrag.
Kräftiger als die Steuern fließen trotz des Embargos Gelder aus den USA. Soziologen wie der US-Amerikaner Nelson Valdés argumentieren, dass das Embargo schon deshalb aufgehoben werden müsse, weil es die exilkubanische Gemeinde ungerechtfertigt bevorteilt. Laut Valdés sind es vor allem die fast zwei Millionen Kubaner_innen in der Diaspora, insbesondere in den USA, die lukrativen Handel mit Kuba treiben, Grundstücke durch Familienangehörige erwerben und den neuen Privatsektor in Kuba wesentlich mitbestimmen. Zehn Flüge täglich bringen Unmengen an Konsumgütern auf die Insel und oftmals abgeschöpfte Gewinne zurück nach Florida. Alle anderen US-Amerikaner sind davon per Gesetz bei Strafe ausgenommen.
Kubas wirtschaftliche Prognose für 2014 ist mit 2,2 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes bescheiden. Nachdem 2013 der Zuwachs mit 2,7 Prozent fast ein Prozent geringer ausfiel als geplant und prognostiziert, ist man diesmal vorsichtiger. Stagnation des Tourismus, allgemeine Ineffizienz, andauernde Wirtschaftssanktionen und Verzerrungen durch die doppelte Währung sind einige der Hauptprobleme, die deshalb angegangen werden.
Für 2014 befürchten Ökonomen wie Pavel Vidal einen Liquiditätsengpass, der zu weiteren Reformen führen könnte, um notwendige Aus­landsinvestitionen zu erleichtern. Zwar hat Kuba zum Jahresende erfolgreich seine historischen Schulden mit Russland neu verhandelt – und zu 80 Prozent erlassen bekommen. Nach wie vor ist die Regierung aber auf Druck der USA von zinsgünstigen Krediten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank abgeschnitten. Deswegen kann die Karibikinsel zumeist nur sehr teure und kurzfristige Kredite bekommen.
Präsident Raúl Castro kündigte zudem die schrittweise Zusammenführung der zwei Währungen an, des kubanischen Pesos und der devisengebundenen CUC-Währung, die sein Bruder vor gut 20 Jahren als Antwort auf die Krise einführte. Pilotprojekte wurden bereits begonnen, bei denen der Wechselkurs zwischen CUC und Peso nicht mehr 1:24, sondern 1:10 ist. Schrittweise soll dies auf weitere Staatsbetriebe, dann auf Kooperativen ausgeweitet werden, bevor es für die gesamte Bevölkerung gelte, verkündete Castro in seiner Parlamentsansprache am 21. Dezember. Angekündigt sind für dieses Jahr zudem spürbare Gehaltserhöhungen, zunächst im Gesundheits- und Bildungssektor, dann auch darüber hinaus.
Mit venezolanischer, chinesischer, aber auch brasilianischer Hilfe wurden zudem wichtige Infrastrukturprojekte begonnen, wie der etwa 50 Kilometer westlich von Havanna gelegene Containerhafen von Mariel, der als Freihandelszone für Auslandsinvestitionen und inländische Beschäftigung sorgen soll. Ein erster Teil der Zone soll von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef und Raúl Castro im Rahmen des zweiten Gipfeltreffens der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten CELAC Ende Januar eröffnet werden.
Außenpolitisch ist Kuba weiter auf Erfolgskurs. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt – folgenlos – seit mehr als zwei Jahrzehnten mit überwältigender Mehrheit das Embargo der USA, das seit einem halben Jahrhundert die kubanische Wirtschaft drangsaliert. Kuba führte das CELAC-Präsidium und leitet erfolgversprechende Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung in Havanna. Die CELAC-Staaten haben bereits angekündigt, dass ein weiteres Gipfeltreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ohne das seit 1962 auf Betreiben der USA ausgeschlossene Kuba weitgehend boykottiert würde. Vielleicht auch deshalb sagte ihr Generalsekretär José Miguel Insulza seine Teilnahme am CELAC-Treffen in Havanna zu. Das Jahr 2014 könnte also mehr als nur zwei Währungen wieder zusammenführen.

Langer Weg zur Versöhnung

„Es war ein Konflikt, der tiefe und schmerzhafte Gräben und Entfremdung in der peruanischen Gesellschaft offenbarte“, schrieb die peruanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (CVR) 2003. Der Abschlussbericht ging über eine bloße Auflistung von Menschenrechtsverletzungen hinaus. Er analysierte die Entstehung des Bürgerkrieges und seine Folgen für die Gesellschaft. Außerdem stellte er eine Reihe von Empfehlungen für die Regierung zusammen, deren Umsetzung zur gesellschaftlichen Versöhnung beitragen sollten. Der Wille zur Aufarbeitung und Entschädigung durch die Regierungen, die seither an der Macht waren, bleibt jedoch beschränkt. Eine Anerkennung in der breiten Öffentlichkeit Perus genießt die CVR auch heute nicht.
Manche waren erleichtert, dass der Krieg überhaupt vorbei war – egal um welchen Preis. Egal wessen Menschenrechte wie und durch wen verletzt wurden. Andere, allen voran die Opfer und ihre Familienangehörigen, fordern Entschuldigung, Aufklärung und Entschädigungen. Doch das liegt wiederum nicht im Interesse politischer Eliten, die damals wie heute hohe Ämter in Regierung, Militär- oder Polizeiapparat bekleiden. Denn sie hatten sich, wenn auch in weit geringerem Umfang als die maoistische Guerillagruppe des Leuchtenden Pfades, Menschenrechtsverletzungen zu Schulden kommen lassen. Der Leuchtende Pfad hatte durch seine Kriegserklärung an die Regierung 1980 den bewaffneten Konflikt ausgelöst.
Die Hauptverantwortlichen für die exzessive Gewalt sitzen hinter Gittern. Darunter befinden sich der Ex-Diktator Alberto Fujimori, seine treue rechte Hand Vladimiro Montesinos und der Anführer des Leuchtenden Pfades Abimael Guzmán. Doch die Haftstrafen reichen für eine gesellschaftliche Versöhnung nicht aus: „Auch wenn es die CVR gab, wurde das, was sie den öffentlichen Institutionen als Aufgabe hinterließ, nicht erfüllt“, sagte der Leiter der CVR Salomón Lerner Febres zum zehnjährigen Jubiläum des Abschlussberichts. Zur Gerechtigkeit gehört für ihn nicht nur die Bestrafung der Verantwortlichen, sondern auch die Entschädigung der Opfer. Eine kurze Entschuldigung staatlicher Vertreter im Fernsehen reiche nicht aus. Empörend sei es von Entschädigung zu sprechen, wenn diese erst nach 15 oder 20 Jahren gezahlt werde. Außerdem sei sie nur für Personen über 65 Jahren reserviert, wo doch die durchschnittliche Lebenserwartung keine 60 Jahre überschreite, so Lerner. Die Bilanz der Ombudsstelle fällt ebenfalls ernüchternd aus. Über 60 Prozent der Gelder, die die Regierung 2003 Familien und Kommunen als Entschädigung versprach, wurden noch nicht ausgezahlt. Direkt oder indirekt Betroffene sollen etwa 2600 Euro erhalten. Anerkannt wird aber nur ein erlittenes „Unrecht“: Wer also zum Beispiel mehrere Kinder verlor, dem wird trotzdem nur eine einzige Zahlung zugesprochen.
Ähnlich stockend sind die Bemühungen der ausstehenden Gerichtsprozesse wegen Menschenrechtsverbrechen. Bei der Ombudsstelle sind 194 Fälle registriert, davon wurden 77 zu den Akten gelegt, in 32 Fällen hat es Verurteilungen gegeben. Die übrigen befinden sich noch immer in Voruntersuchung. Die Verzögerung kann einerseits darauf zurückgeführt werden, dass zunehmend aktuellere Fälle im Zusammenhang mit Terrorismus und Drogenhandel im Zentrum von Ermittlungen stehen. Andererseits behindert das Militär die Ermittlungen, weil es unzureichende Informationen über Verdächtigte bereitstellt. In den meisten Fällen, die Mitglieder des Militärs betrafen, wurden die Angeklagten in Abwesenheit zu Haftstrafen verurteilt. Im Gefängnis sitzen sie also nicht.
Auch bei der Suche nach Verschwundenen bleibt das Engagement der Regierung und zuständigen Behörden begrenzt. Laut Berichten der nationalen Vereinigung von Menschenrechtsorganisationen (CNDDHH) müssten weiterhin rund 13.000 Vermisste aus etwa 4.000 Massengräbern geborgen werden, die bislang nicht entdeckt wurden. Die Bemühungen verlaufen allerdings im Sand. Während für die CNDDHH die Umsetzungen der Empfehlungen der Wahrheitskommission (CVR) notwendig und weiterhin gültig sind, zweifeln manche politischen Akteur_innen grundsätzlich daran. So ist die Politikerin Martha Chávez überzeugt, der CVR-Bericht gehöre in den Müll. Stattdessen brauche man eine Wahrheitskommission, die die Arbeit der CVR untersuche. Sie beanstandet ebenso die Überlegung des Bildungsministeriums, Passagen aus dem Abschlussbericht in die Schulbücher aufzunehmen. Dies sei ein Instrument, dem Marxismus das Gesicht zu waschen. So würde das Militär auf eine Ebene mit der Guerilla gestellt. „Wenn Militärs bei der Bekämpfung eines so schrecklichen Feindes das Maß überschritten haben, dann bin ich nicht in der Position, sie zu verurteilen“, sagte sie. Martha Chávez war in den 1990er Jahren Abgeordnete für Fujimoris Partei Cambio 90/ Nueva Mayoría. Heute ist sie Abgeordnete der Partei Fuerza Popular, die 2010 von Fujimoris Tochter Keiko gegründet wurde.
Als Chávez Anfang November zur Vorsitzenden einer Unterkommission für Menschenrechte des Kongresses gewählt wurde, riefen zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Opferverbände zu Demonstrationen auf. Chávez selbst fühlte sich durch die Proteste geschmeichelt und sah darin einen Beweis dafür, dass die CVR etwas zu verstecken habe. Sie wollte das Amt dazu nutzen, „diese Pseudovertreter der Menschenrechte in ihre Schranken zu weisen“. Aufgrund eines Formfehlers wurde ihre Wahl jedoch für unzulässig erklärt. Bei einem erneuten Wahlgang erreichte Chávez die nötige Mehrheit nicht mehr. Kurz darauf wurde die gesamte Unterkommission abgeschafft. Die bloße Möglichkeit, eine Politikerin mit Chávez‘ Hintergrund für dieses Amt zu bestimmen, zeigt, wie umstritten die Erinnerung an den Bürgerkrieg noch immer ist. Die anhaltende Beliebtheit der Fujimori-nahen Partei, angeführt von seiner Tochter, sowie die Trägheit der Behörden bei der Aufklärung der Verbrechen, Verurteilung der Täter_innen und Entschädigung der Opfer scheint dies zu bekräftigen.
2003 hatte die CVR festgestellt, dass sich ein Großteil der Bevölkerung nicht für die Situation derjenigen interessiere, die in den vom Bürgerkrieg besonders betroffenen Teilen des Landes leben. Für die CVR war das ein Zeichen des vorherrschenden „verschleierten Rassismus“ in der peruanischen Gesellschaft. Schließlich stammten 79 Prozent der Opfer aus ländlichen, ärmlichen Gebieten. 75 Prozent sprechen Quechua oder andere indigene Sprachen als Muttersprache. 68 Prozent der Opfer hatten einen Bildungsgrad, der unter dem nationalen Durchschnitt lag. Heute stellt sich die Frage, ob der Rassismus weiterhin mit ein Grund ist, weshalb Entschädigungen nicht gezahlt und Verbrechen nicht aufgeklärt werden.
Yuyanapaq bedeutet auf Quechua „um sich zu erinnern“ und ist das Motto vieler Ausstellungen und Gedenkfeiern der Opferverbände. Ebenso wie „Wider die Straffreiheit! Wider das Vergessen! Wir wollen Gerechtigkeit.“ Nach dem „Affront“ der Wahl von Martha Chávez als Vorsitzender der Unterkommission schrieb die Mutter eines Opfers, das vom Geheimdienst Fujimoris verschleppt worden war: „21 Jahre später ist mein Sohn immer noch verschwunden und mir bleibt das Recht verwehrt, ihn mit Würde zu begraben.“ Yuyanapaq heißt auch hier die Losung.
Kann ein Land sich versöhnen, wenn den Opfern und ihren Familienangehörigen auch nach 20 Jahren keine Gerechtigkeit widerfährt und die Hoffnung darauf schwindet? Der Vorsitzende der CVR Lerner ist überzeugt: „Ohne Gerechtigkeit und Erinnerung gibt es keine Versöhnung.“ Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des CVR-Berichts scheint Peru den Weg zur gesellschaftlichen Versöhnung gerade erst angetreten zu haben.

Die Versprechen der Michelle Bachelet

Für die Medien war es eine schöne Steilvorlage: Das Duell der Generalstöchter Michelle Bachelet und Evelyn Matthei. Erstere trat für die Mitte-Links-Koalition Neue Mehrheit an, Zweitere für das rechte Parteienbündnis Allianz für Chile. Töchter von Vätern, die befreundet waren und die der Putsch gegen Salvador Allende 1973 entzweite. Bachelets Vater wurde zum Opfer der Pinochet-Diktatur, Mattheis Vater machte unter Pinochet weiter Karriere. Michelle Bachelet hatte den Wettstreit um die Wähler_innenstimmen im ersten Wahlgang am 17. November klar gewonnen und bekam 46,7 Prozent der gültigen Stimmen. Matthei konnte lediglich 25 Prozent der Stimmen für sich behaupten. Die Ausgangslage für den zweiten Wahlgang war damit klar: Alles andere als ein Sieg von Bachelet wäre eine Sensation.
Auch wenn die klare Stimmenverteilung beeindruckt, bleibt festzuhalten, dass die Wahlbeteiligung bei lediglich 49 Prozent lag. Damit hat mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Chilen_innen nicht teilgenommen. Die im Vergleich zu den Wahlen 2009 äußerst geringe offizielle Beteiligung – diese lag damals bei 86,7 Prozent – hängt auch damit zusammen, dass nun zum ersten Mal alle Wahlberechtigten automatisch in das Wahlregister eingetragen wurden und zudem keine Wahlpflicht herrschte. Aber auch in absoluten Zahlen nahm die Beteiligung um etwa 500.000 Wähler_innen ab. Chile ist damit das lateinamerikanische Land mit der geringsten Wahlbeteiligung. Neben dem klaren Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen konnte das Mitte-Links-Bündnis Neue Mehrheit auch bei den Parlamentswahlen Erfolge verbuchen. Im Senat stellt sie nun 20 der 38 Senator_innen und im Abgeordnetenhaus 67 der 120 Parlamentarier_innen. Die uneindeutigen Mehrheitsverhältnisse sind dem in Chile gültigen binomialen Wahlrecht geschuldet, bei dem pro Wahlkreis die Kandidat_innen mit den meisten und den zweitmeisten Stimmen ins Parlament einziehen. Dies führt dazu, dass es äußerst schwierig ist, klare Mehrheiten im Parlament zu erlangen.
Neben den Abgeordneten, die für Parteien kandidierten oder sich als unabhängige Kandidat_innen einem Parteienbündnis anschlossen, sind auch drei unabhängige Kandidat_innen ins Abgeordnetenhaus eingezogen: Alejandra Sepúlveda, Giorgio Jackson und Gabriel Boric. Boric und Jackson bilden zusammen mit Camila Vallejo und Karol Cariola den Block der ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen, die sich bei den seit 2011 andauernden Protesten einen Namen gemacht haben. Dabei ist die Wahl des unabhängigen Boric eine kleine Sensation: „Entgegen aller Prognosen haben wir es geschafft gegen beide Bündnisse zu gewinnen und das binomiale Wahlrecht zu brechen“, so Boric. Vallejo und Cariola traten hingegen für die Kommunistische Partei an, die Teil der Neuen Mehrheit ist. Der innerhalb der Studierendenbewegung als moderat geltende Jackson wurde von der Neuen Mehrheit dadurch unterstützt, dass diese in seinem Wahlkreis keine_n Kandidat_in aufstellte.
Wenn alles wie erwartet läuft und Michelle Bachelet Präsidentin wird, hat sie sich mit ihrem Programm große Aufgaben gegeben: Die zentralen Punkte ihres Programms, eine Bildungsreform, eine Steuerreform und eine neue Verfassung sind die Versprechen, mit denen sie antrat. Vor allem bei der Umsetzung der Bildungsreform ist sie allerdings auf die Stimmen der unabhängigen Abgeordneten angewiesen. Ob und wie sich die versprochenen Reformen verwirklichen lassen, ist fraglich. Schon 2006, während ihrer ersten Amtszeit, versprach sie als Reaktion auf die Proteste der Sekundarschüler_innen eine Bildungsreform. Diese entpuppte sich jedoch als absolut unzureichend. Von Seiten der Studierendenbewegung, die die Beteiligung am Wahlprozess teilweise kritisch betrachtet, ist bereits jetzt Skepsis zu vernehmen. Melissa Sepúlveda, Präsidentin der FeCh, der Organisation der Studierenden der Universidad de Chile äußerte im Interview mit der Zeitschrift Punto Final: „Die guten Absichten von Michelle Bachelet und der Kommunistischen und Sozialistischen Partei sind wenig wert. Um zu wissen, was sie wirklich wollen, müssen wir abwarten und beobachten wie sie agieren.“
Auf die Frage, wie denn die Erarbeitung einer Verfassungsreform ausehen könnte, hat Bachelet bisher auch keine konkrete Antwort gegeben. Im Zuge der Wahl forderte eine Kampagne, auf den Wahlzettel ein „AC“ für „Asamblea Constituyente“ zu schreiben und dadurch dem Wunsch nach einer Verfassunggebenden Versammlung Ausdruck zu verleihen. Die derzeit geltende Verfassung, die für viele Probleme verantwortlich gemacht wird, wurde 1980 von der Militärdiktatur geschaffen. Auf die Frage, ob Bachelet eine solche Verfassunggebende Versammlung befürworte, antwortet sie stets ausweichend, dass sie für eine neue Verfassung sei. Ob dies im Rahmen der Institutionen möglich ist, wird sich noch zeigen. Sicher ist, dass es bei diesem Thema auch innerhalb der Neuen Mehrheit Konflikte geben wird. So hat Camila Vallejo ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie sich ausdrücklich für eine solche Versammlung ausspricht.
Teile der sozialen Bewegungen betrachten eine potenzielle Regierung Bachelet kritisch. Während der Gewerkschaftsdachverband CUT das Mitte-Links-Bündnis unterstützt, sind die Stimmen aus der eher syndikalistischen Gewerkschaft CGT verhaltener: „Die Neue Mehrheit ist nicht die Stimme der Arbeiter“, so deren Präsident Manuel Ahumado. Auch die Fraktionen innerhalb der Studierendenbewegung, die sich wie Melissa Sepúlveda gegen eine Institutionalisierung der Bewegung aussprechen, betrachten die neue Regierung mit Skepsis. Aus ihren Reihen war eine Kampagne gestartet worden, die dazu aufrief, nicht an den Wahlen teilzunehmen.
Von Seiten der linken Mapuche-Organisationen ist ebenfalls wenig Begeisterung über eine zukünftige Präsidentin Bachelet zu hören. In ihre erste Amtszeit fallen unzählige Verfahren gegen Mapuche, bei denen das aus der Militärdiktatur geerbte Antiterrorgesetz Anwendung fand. Außerdem wurden während ihrer Amtszeit die jungen Aktivisten Matías Catrileo, Jaime Mendoza und Johnny Cariqueo von der Polizei ermordet, ohne dass die dafür verantwortlichen Polizeibeamten zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Rahmen der Veröffentlichungen von Wikileaks ist zudem ans Licht gekommen, dass die Regierung von Bachelet den US-Geheimdienst FBI um Hilfe gebeten hatte, um Verbindungen zwischen Mapuche-Organisationen und der kolumbianischen Guerilla FARC sowie der baskischen Untergrundorganisation ETA zu ermitteln. Damit wurde klar, dass die Regierung den Konflikt lediglich unter dem Aspekt der Repression betrachtete.
Sollte Bachelet wie zu erwarten den zweiten Wahlgang gewinnen, die gemachten Versprechen allerdings nicht einhalten, könnte eine unruhige Regierungszeit auf sie zukommen – oder wie es Melissa Sepúlveda ausdrückte: „In Chile müssen Veränderungen passieren oder Michelle Bachelet wird ein Land mit steigender politischer Instabilität regieren müssen.“

„Es gibt in El Salvador kein vergleichbares Archiv“

Tutela Legal war das Archiv, in dem Menschenrechtsverletzungen aus dem Bürgerkrieg und darüber hinaus gesammelt wurden. Mit welcher Begründung hat Erzbischof Escobar Alas es geschlossen?
Der Bischof hat unterschiedliche, sich teils widersprechende Begründungen abgegeben. Unter anderem hat er behauptet, es habe bei Tutela Legal administrative Unzulänglichkeiten gegeben. Sogar die angebliche Veruntreuung von Geldern hat er erwähnt. Er hat aber nichts unternommen, um diese Vorwürfe untersuchen zu lassen. Später hat er dann plötzlich gesagt, er wolle Tutela Legal in veränderter Form wiedereröffnen, aber ohne die bisherigen Mitarbeiter, die er von einem Tag auf den anderen ausgesperrt und entlassen hat.

Was, glauben Sie, steckt tatsächlich hinter der Schließung?
Am 20. September hat die Verfassungskammer des Obersten Gerichtes eine Klage zugelassen, mit der die Verfassungsmäßigkeit des Amnestiegesetzes von 1993 überprüft werden soll. Wir denken, dass daraufhin Druck auf den Erzbischof ausgeübt wurde. Und zwar von Leuten, die verhindern wollen, dass wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt wird, beziehungsweise von konservativen Kräften im Land.

In El Salvador hat ein Erzbischof eine starke Stellung. Wie kann es sein, das er sich einem solchen Druck beugt?
Die Kirche und konservative Akteure stehen sich politisch nahe. Der Erzbischof Escobar Alas gehört zum Opus Dei, das seit Jahren die Kirchenhierarchie in El Salvador kontrolliert. Der Erzbischof gibt jeden Sonntag nach der Messe eine Pressekonferenz, auf der er immer auch politische und gesellschaftliche Themen anspricht. Seine Positionen stimmen stets mit denen konservativer Politiker überein. Es würde uns daher nicht wundern, wenn das auch bei der Schließung von Tutela Legal der Fall ist.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Das Archiv von Tutela Legal enthält mehr als 50.000 Zeugenaussagen und andere Dokumente, vor allem aus der Zeit des Krieges. Sollte das Amnestiegesetz für verfassungswidrig erklärt werden, könnten Prozesse gegen die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen eröffnet werden. Wenn die Informationen von Tutela Legal nicht zugänglich sind oder zerstört werden, fehlen dafür wichtige Beweise. Denn in El Salvador gibt es kein vergleichbares Archiv.

Glauben Sie denn, dass das Amnestiegesetz wirklich aufgehoben wird?
Das ist völlig offen. Im Land wird derzeit eine riesige Angst davor geschürt, dass dann gegen alle ermittelt würde. Dabei geht es vor allem um moralische Wiedergutmachung gegenüber den Opfern. Die Konservativen behaupten, es würden Wunden aufgerissen, die nicht verheilt sind. Aber die Opfer und deren Angehörige haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Nur dann können sie auch vergeben und eine wirkliche Versöhnung wird möglich.

Das Militär fürchtet eine Aufhebung des Amnestiegesetzes wahrscheinlich zu Recht.
Auf jeden Fall. Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof hat den salvadorianischen Staat zum Beispiel für das Massaker von El Mozote verurteilt, bei dem 1981 an die 1.000 Menschen ermordet wurden. Das ist nicht zuletzt der Arbeit von Tutela Legal zu verdanken. Ohne Amnestiegesetz könnten auch die konkreten Täter belangt werden, nicht nur ganz allgemein der Staat.

Am 2. Februar wird in El Salvador ein neuer Präsident gewählt. Es gibt Gerüchte, dass eine Aufhebung des Amnestiegesetzes auch dazu genutzt werden könnte, dem ehemaligen Guerilla-Kommandanten und aktuellen Präsidentschaftskandidaten der linken Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN), Salvador Sánchez Cerén, zu schaden. Was ist da dran?
Verschiedene ehemalige Mitarbeiter von Tutela Legal haben erklärt, dass Salvador Sánchez Cerén in den Archiven gar nicht erwähnt wird. Durch die Schließung besteht allerdings die Gefahr, dass die darin enthaltenen Informationen manipuliert werden, um den Kandidaten zu belasten und ihm politisch zu schaden.

Ein Teil der entlassenen Mitarbeiter_innen möchte ein neues Tutela Legal gründen, das in der Tradition der 2007 verstorbenen, langjährigen Direktorin María Julia Hernández stehen und ihren Namen tragen soll. Was könnten sie dadurch erreichen, wenn sie keinen Zugriff mehr auf die Dokumente haben?
Das Oberste Gericht hat entschieden, dass das Archiv Eigentum des Erzbistums ist. Damit sind wir aber nicht einverstanden, denn es gehört den Opfern und ihren Angehörigen. Sie müssen Zugang zu den Dokumenten haben, und wenn es nicht die Originale sind, dann eben Kopien. Und genau damit könnte das neue Tutela Legal „Dr. María Julia Hernández“ arbeiten. Viele der Mitarbeiter waren Jahre oder Jahrzehnte bei Tutela Legal und kennen die Fälle sehr genau. Ob die Fälle juristisch weiterverfolgt werden sollen oder nicht, entscheiden die Opfer. Dafür brauchen sie aber Vertrauen, das sie zu den Ex-Mitarbeitern von Tutela Legal haben. Denn diese haben durch ihre Arbeit gezeigt, dass sie sich für die Menschenrechte und nicht für persönliche Interessen einsetzen.

Mitte November wurde ein Brandanschlag auf die Menschenrechtsorganisation Pro-Búsqueda verübt, die das Schicksal von während des Krieges verschwundenen Kindern aufzuklären versucht. Wie ist dieser Anschlag zu bewerten?
Es ist gut möglich, dass auch dieser Anschlag mit der Klage gegen das Amnestiegesetz zu tun hat. Auch Pro-Búsqueda hat wichtige Beweismittel, die nun teilweise zerstört wurden. So einen Anschlag gab es seit den Zeiten des Krieges nicht mehr. Es besteht die Gefahr, dass rechte Kreise vor den Wahlen im Februar noch mehr Anschläge verüben, um Angst zu schüren und die Menschen zu verunsichern.

Spendenaufruf: Im Namen der El-Salvador-Solidaritätsgruppen sammelt das INKOTA-netzwerk Spenden, um Gruppen zu unterstützen, die sich für den Erhalt der Archive von Tutela Legal und Pro-Busqueda einsetzen. Ihre Spende ist steuerlich absetzbar. Kto-Inh.: INKOTA-netzwerk | Konto 155 500 0010 | KD-Bank | BLZ 350 601 90 |
IBAN: DE06 3506 0190 1555 0000 10 |
BIC: GENODED1DKD
Verwendungszweck: Tutela Legal

Wandlungsfähiger Widerstand

Die Verwunderung im In- und Ausland war groß als an Neujahr 1994 maskierte Frauen und Männer sieben Bezirkshauptstädte im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas besetzten und sich mehrere Tage Gefechte mit der mexikanischen Armee lieferten. Seitdem hat die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) einen langen Weg hinter sich gebracht. Dieser begann bereits ein Jahrzehnt früher, als am 17. November 1983 eine sechsköpfige Gruppe – hervorgegangen aus einer der zahlreichen mexikanischen Guerillas der 1970er Jahre – im lakandonischen Regenwald die EZLN gründete. Anfangs handelte es sich um eine dogmatische Gruppe, die sich an anderen Guerilla-Organisationen Lateinamerikas orientierte, zum Teil Kontakte zur Studierendenbewegung von 1968 hatte und mit einem avantgardistisch-kommunistischen Konzept die indigene Bevölkerung „befreien“ wollte.
Es folgte eine mehrjährige Etappe, in der die Kerngruppe der EZLN relativ isoliert blieb, da dieser paternalistische Ansatz, der zudem von mangelnder Kenntnis der Region begleitet war, auf großes Misstrauen bei der ortsansässigen indigenen Bevölkerung stieß. Nach einiger Zeit kam es jedoch zu einer offeneren Annäherung beider Seiten, die – neben anderen Faktoren wie dem Kampf der Frauen innerhalb der Bewegung und dem Einfluss der Befreiungstheologie – die undogmatischen Charakteristika der heutigen zapatistischen Bewegung ermöglichte. Die noch immer kleine Organisation trat daraufhin in einen wechselseitigen Lernprozess ein. Ihr Sprecher Subcomandante Marcos, einer der wenigen Mestizen der Gruppe, beschreibt diese Phase so: „Zusätzlich zu ihrer Kondition, die die indigene Bevölkerung für ein Leben in den Bergen befähigte, brachten sie uns ihre Weltsicht sowie ihre Sicht des Kampfes und ihre Kultur bei. Das heißt, in dieser Aufbauphase bewegten wir uns in einer Schule, wo es nicht klar war, wer Lehrer und wer Schüler war.“ Insgesamt zehn Jahre lang bereitete sich die politisch-militärische Organisation mit Unterstützung der zivilen Basis unter großen Anstrengungen und Gefahren im Untergrund auf Tag X vor.
Mit ihrem bewaffneten Aufstand vom 1. Januar 1994, der als ein wichtiger Ausgangspunkt der neuen antikapitalistischen Bewegungen gilt, katapultierte sich die EZLN auf die Titelseiten der mexikanischen und globalen Presse. In einer Zeit, in der von den westlichen Eliten ein endgültiger Sieg des Kapitalismus gefeiert wurde, manifestierten die vermeintlich Schwächsten der Schwachen im Südosten Mexiko ihr „¡Ya Basta!“ („Es reicht!“) und verdeutlichten so, dass das damals vielzitierte „Ende der Geschichte“ keineswegs erreicht war. Nicht zufällig fiel die Erhebung auf den Tag, an dem der nordamerikanische Freihandelsvertrag NAFTA in Kraft trat, mit dem die kapitalistische Entwicklung auf eine neue Stufe gehoben werden sollte.
Es folgten große Wellen der Solidarität mit der EZLN in und außerhalb Mexikos. Angehörige der solidarischen Zivilgesellschaft – im Verständnis der Zapatistas die unabhängig organisierten Menschen, die nicht von den Privilegien der Herrschenden profitieren – erklärten sich einverstanden mit den zentralen Forderungen nach Arbeit, Land, Unterkunft, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden. Sie schlugen der EZLN jedoch mehrheitlich einen nicht-bewaffneten Weg zu ihrer Durchsetzung vor. Die EZLN äußerte später, sie habe in diesem Moment auf die Zivilgesellschaft gehört; seit dem 12. Januar 1994 kämpft sie zivil für ihre Ziele, auch wenn es auf Gemeindeebene im Verlauf der Jahre durchaus zu einigen wenigen militanten Auseinandersetzungen zur Selbstverteidigung kam. Andererseits sah sich durch die enormen Sympathiebekundungen für die Zapatistas auch die mexikanische Regierung nach zwölf Tagen Bürgerkrieg gezwungen, einen Waffenstillstand zu proklamieren. Dessen ungeachtet sind bis heute zehntausende Soldaten in Chiapas stationiert. Ein wichtiger Grund dafür ist die Kontrolle des Einflussgebiets der EZLN.
Im Schwung des Aufstands besetzten die Zapatistas in Chiapas weit über 100.000 Hektar Land und verteilten es an tausende Familien. Auch viele Nicht-Zapatistas nutzten die damalige Dynamik zur Umverteilung dieses Produktionsmittels. Die EZLN bezeichnet diesen Prozess als Wiederaneignung, da ihrer indigenen Basis die Böden über Jahrhunderte von weißen oder mestizischen Oligarchen geraubt worden waren. Im Verständnis der indigenen Bevölkerung sind die Ländereien von integraler Bedeutung, wie Comandanta Kelly betont: „Das Land und die Territorien sind mehr als nur Quellen von Arbeit und Nahrung, sie sind auch Kultur, Gemeinde, Geschichte, Vorfahren, Träume, Zukunft, Leben und Mutter.“
Knapp zehn Jahre nach der Erhebung sah sich die EZLN zu einer weiteren strategischen Umorientierung gezwungen. Nachdem das mexikanische Parlament die Verträge von San Andrés scheitern ließ, für deren Zustandekommen die Zapatistas über Jahre mit der Regierung über indigene Rechte, Demokratisierung, die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die Verbesserung der Situation der Frauen verhandelt hatte, wählte die EZLN den Weg der „Autonomie ohne Erlaubnis“. Am 8. August 2003 gründete sie in den fünf autonomen Zonen der Zapatistas zivile Verwaltungszentren, sogenannte caracoles (Schneckenhäuser). Diese werden von fünf, nach dem Rotationsprinzip arbeitenden „Räten der guten Regierung“ koordiniert, deren Aufgabe es ist, die Entscheidungen der Basis umzusetzen – getreu dem zapatistischen Motto des „gehorchenden Befehlens“. Funktionsträger_innen, mit denen die Basis nicht zufrieden ist, können jederzeit abgesetzt werden.
Zuvor hatte die Bewegung intensiv reflektiert, um ihre eigenen Strukturen zu verbessern. Aus den Unzulänglichkeiten der eigenen Praxis, die die Zapatistas wie nur Wenige öffentlich machen, entstand dieser neue Schritt gesellschaftlicher Selbst­organisation. Die EZLN gab auf diese Art viele Kompetenzen an ihre zivile Basis ab. Mit Selbstbewusstsein berichtete Subcomandante Marcos 2013 von den Verbesserungen in den autonomen Gemeinden: „In diesen Jahren haben wir uns gestärkt und haben unsere Lebensbedingungen bedeutend verbessert. Unser Lebensstandard ist höher als in den regierungshörigen indigenen Gemeinden, die Almosen erhalten und mit Alkohol und nutzlosen Artikeln überschüttet werden. (…) Hier, bei nicht wenigen Fehlern und vielen Schwierigkeiten, ist eine andere Art des Politikmachens bereits eine Realität.“ Seit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit war die EZLN um Allianzen bemüht. So unternahm sie vier Versuche, landesweite Bündnisse zu schmieden, um Mexiko zu demokratisieren und mehr soziale Gerechtigkeit zu erkämpfen. Die ersten drei Versuche wurden anfangs begeistert aufgenommen und es kam zu Treffen mit tausenden Aktivist_innen, die Initiativen schliefen jedoch schließlich ein. Der vierte Anlauf wurde durch die „VI. Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“ 2005 lanciert. Hier schlug die EZLN vor, in einem mehrjährigen, friedlichen und außerparlamentarischen Prozess namens „Die Andere Kampagne“, eine neue linke, antikapitalistische Verfassung für Mexiko unter Beteiligung aller marginalisierten Bevölkerungsgruppen durchzusetzen. Die Beurteilung dieses noch nicht abgeschlossenen Prozesses fällt ambivalent aus – Ende offen. Fest steht, dass sich die Ausrichtung der verschiedenen Initiativen im Laufe der Zeit immer weiter von den etablierten Parteien entfernte und sich den radikal basisdemokratischen Prinzipien annäherte, die die Zapatistas auch in ihren Gebieten anstreben. Die Bewegung um die EZLN ist somit mit wenigen anderen weltweit als anti-systemisch zu verstehen.
Auch die globale Vernetzung war für die EZLN von Anfang an wichtig. Zudem labte sich die desorientierte globale Linke regelrecht an der Radikalität und den konstruktiven Ideen dieser Rebell_innen, die entgegen altbackener Organisationen nicht selten poetisch die Sehnsucht nach „Einer Welt, in der viele Welten Platz haben“ formulierten. Vielfach lud die EZLN zu globalen Treffen nach Chiapas ein und animierte zur Nachahmung – was nicht häufig gelang. Die Zapatistas und viele emanzipatorische Aktivst_innen weltweit wollen sich auf Augenhöhe vernetzen, um gegen die sozialen und ökologischen Verwerfungen auf unserem Planeten vorzugehen. In zeitlich unterschiedlich starker Rezeption hatten Wort und vor allem Praxis der EZLN teils großen Einfluss. Slogans wie „Eine andere Welt ist möglich!“ oder die ersten freien Medienplattformen wie indymedia sind ohne die Mobilisierungen der EZLN wohl kaum denkbar. Ihr Aufruf, dass die größte Solidarität mit den Zapatistas die Organisierung kontinuierlicher emanzipatorischer Prozesse von unten links in der eigenen Lebensrealität wo-auch-immer sei, steht weiter im Raum und lädt uns alle ein.
Ihr strategisches Gespür für symbolträchtige und überraschende Aktionen hat die EZLN bis zur Gegenwart nicht verloren. Nachdem die großen Medien über Jahre kaum noch über ihren Kampf berichtet hatten, besetzten am 21. Dezember 2012 – dem Tag, der von den Mainstream-Medien fälschlicherweise als von den Maya prophezeiter „Weltuntergang“ kommerziell ausgeschlachtet worden war – rund 40.000 Zapatistas friedlich für einige Stunden die zentralen Plätze von fünf Städten in Chiapas – schweigend (siehe LN 464). Luis Hernández Navarro von der Tageszeitung La Jornada brachte die Symbolik der Mobilisierung auf den Punkt: „So wie sie sich das Gesicht bedecken mussten, um gesehen zu werden, hielten sie jetzt im Reden inne, um gehört zu werden“.
Für eine neue Initiative – „Die kleine zapatistische Schule“ – öffnete die EZLN im Sommer 2013 Hunderte ihrer Gemeinden. Über 1.200 ausgesuchte Gäste aus dem In- und Ausland waren eingeladen, den rebellischen Alltag im Aufstandsgebiet kennenzulernen. Die Offenheit, im Rahmen der Escuelita Zapatista am Leben der Zapatistas teilzuhaben, stellt ein Novum dar: Die eingeladenen Personen konnten die Tätigkeiten auf den Mais- und Bohnenfeldern miterleben, Fragen stellen und die Realität der Gemeinden kennenlernen. Das paternalistische Konzept von traditioneller „Entwicklungshilfe“ wurde radikal negiert: Hier unterrichteten Aktivist_innen aus den Reihen der EZLN die Gäste aus aller Welt, wie sie ihre Autonomie in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Justiz, Produktion und Medien verwirklichen. Die „kleine Schule“ wurde enthusiastisch aufgenommen und soll ob der großen Nachfrage mehrmals wiederholt werden.
Auch heute noch werden die Zapatistas immer wieder von staatlichen und paramilitärischen Kräften angegriffen. Darüber hinaus wird weiterhin versucht, sie durch neoliberale „Entwicklungsprojekte“, darunter Ölpalmen-Monokulturen oder Tourismusvorhaben, aus dem Widerstand herauszukaufen und durch Medienkampagnen als Kriminelle und rassistisch als „rückständige“ Indigene zu diffamieren. Die Position der EZLN dazu formulierte Comandanta Miriam noch im August 2013 deutlich: „Wir als originäre Bevölkerungsgruppen müssen die natürlichen Ressourcen (…) so gut wie möglich verteidigen, da es um unsere Mutter Erde geht, durch sie leben wir, durch sie atmen wir. Compañeros und Compañeras, um die Pläne des Todes abzuwehren, die uns die Neoliberalen aufzwingen, ist es notwendig, uns zu organisieren, unsere Kräfte, unseren Schmerz und unsere Rebellion zu vereinen und für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.“
Selbstverständlich verlaufen die Initiativen der EZLN nicht idealtypisch und widerspruchsfrei, was auch von ihnen selbst immer wieder eingeräumt wird. Ein Beispiel ist hier die Situation der Frauen, die sich durch die Revolutionären Frauengesetze zwar deutlich verbessert hat; dennoch betonen die Zapatistinnen, dass noch viel fehle, bis von echter Gleichberechtigung in allen Gemeinden der EZLN gesprochen werden könne.
Bei allen Problemen und Bedrohungen, es gilt zu feiern: 30 Jahre Gründung der EZLN, 20 Jahre Rebellion und 10 Jahre Arbeit der caracoles. Der Kampf der Zapatistas gegen Ausbeutung und Unterdrückung wird – auch abseits akademischer, politischer oder subkultureller Moden – unter ihrem Motto „fragend schreiten wir voran“ und ihrer Parole „Alles für Alle!“ ohne Zweifel weitergehen. ¡Feliz cumpleaños, compas!

Infos und Literaturempfehlungen: www.chiapas.eu

„Eine Tür in Richtung Frieden“

Die Friedensverhandlungen begannen im Herbst 2012, zehn Jahre nachdem die letzten Gespräche zwischen FARC und der damaligen Regierung unter Andrés Pastrana im kolumbianischen San Vicente de Caguán gescheitert waren. Zum ersten Mal wird nun auch die Entwaffnung der Guerillakämpfer_innen verhandelt. Ziel ist, anhand von fünf Diskussionspunkten einen dauerhaften Friedensprozess in Kolumbien einzuleiten.
Nach zähen Verhandlungen verkündeten die Repräsentant_innen von FARC und Regierung im Mai 2013 eine Einigung im ersten Punkt der Agenda, der Agrarreform. Das Thema der Landverteilung gilt als Dreh- und Angelpunkt, um den bewaffneten Konflikt zu lösen. Bis heute befinden sich laut einem Bericht der Vereinten Nationen mehr als 50 Prozent des Landes in den Händen von 1,15 Prozent der Bevölkerung. Der Landkonflikt zieht sich durch die letzten Jahrzehnte der kolumbianischen Geschichte – die FARC hatten sich 1964 gerade wegen dieser Problematik aus einer ursprünglich bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppe gegründet.
Doch bereits kurz nach der Einigung im Juli 2013 unterzeichnete die Regierung ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, das als Fortsetzung ihrer bisherigen Wirtschaftspolitik gesehen werden kann und die ungleiche Landverteilung eher zementiert als auflöst. Wenige Tage nach Inkrafttreten der Freihandelsbeschlüsse legte daher ein landesweiter Agrarstreik große Teile Kolumbiens lahm. Unzählige weitere Berufsgruppen und soziale Bewegungen solidarisierten sich mit den bäuerlichen Protesten, sodass die Regierung keine andere Lösung sah, als Teile der Bestimmungen zurückzunehmen. Nicht jedoch, ohne vorher die Proteste gewaltsam niederzuschlagen und die Hauptstadt Bogotá mit 50.000 Soldat_innen besetzen zu lassen – was einem faktischen Ausnahmezustand gleichkam. Abilio Peña, Aktivist der ökumenischen Nichtregierungsorganisation Justicia y Paz (Gerechtigkeit und Frieden), kommentierte dies kürzlich auf einer Veranstaltung in Berlin mit den Worten: „Die Verhandlungen sind eine Tür, die sich in Richtung Frieden öffnet. Man sollte meinen, auch die Politik will den Frieden. Aber die Niederschlagung sozialer Proteste lässt uns immer wieder daran zweifeln.“
Genau jene Kriminalisierung des zivilen Protests war dann einer der Hauptdiskussionsgegenstände bei der Verhandlung des zweiten Punkts der Friedensagenda. Nach Ablauf der mittlerweile 16. Gesprächsrunde verkündeten Vertreter_innen der FARC und der Regierung Anfang November eine Einigung im Bereich der politischen Partizipation (siehe dazu die Interviews in der aktuellen Ausgabe). Vor allem die Sicherheitsgarantien und Rechte für oppositionelle Parteien waren lange diskutiert worden. Die FARC-Guerilla beharrte auf der Entkriminalisierung des sozialen Protests und einer stärkeren Kontrolle der staatlichen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Letztere kam auch im Zusammenhang mit den Agrarprotesten zum Einsatz und ist laut internationalen Menschenrechtsorganisationen für ihre extreme Gewaltbereitschaft bekannt. In den erst teilweise veröffentlichten Entwürfen des gemeinsamen Berichts werden verschiedene Methoden vorgeschlagen, um soziale Bewegungen verstärkt in die Politik mit einzubeziehen. Dennoch bemängeln Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, dass die Bevölkerung immer noch nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt werde. Iván Mar­quéz, Vertreter der FARC, betonte, es müsse Raum gelassen werden, damit „die Öffentlichkeit die definitive Ausrichtung [der politischen Partizipation] vorgeben“ könne. Auch sitzt die zweitgrößte Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (ELN) trotz gegenteiliger Bekundungen ihrerseits noch immer nicht mit am Verhandlungstisch.
Überschattet wurden die Verhandlungen von Anfang an von einer Reihe militärischer Auseinandersetzungen zwischen den FARC und dem kolumbianischen Militär. Trotz einer zu Beginn des Prozesses vereinbarten Waffenruhe kam es seit Anfang 2013 immer wieder zu gewaltsamen Offensiven zwischen Militär und FARC, in deren Verlauf Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren. So wurde die Glaubwürdigkeit des Friedensprozesses immer wieder nachhaltig untergraben.
Dennoch verkündete die linke Partei Patriotische Union (UP) kurz nach der Veröffentlichung der Entwürfe zur politischen Partizipation, dass sie wieder auf die politische Bühne treten werde. Die Partei war in Zusammenhang mit Amnestievereinbarungen 1984 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der kommunistischen Partei hervorgegangen. Seit Ende der 1980er Jahre war sie einer beispiellosen Verfolgung ausgesetzt. Neben ihren beiden Präsidentschaftskandidaten Bernardo Jaramillo und Jaime Pardo Leal wurden mehr als 5.000 ihrer Mitglieder ermordet; die Mehrzahl von Paramilitärs. Nachdem sie ihre Spitzenkandidat_innen verloren hatte, versank die UP in den 1990er Jahren in der politischen Bedeutungslosigkeit, bis ihr 2002 die Anerkennung als Partei entzogen wurde. Durch einen langen juristischen Prozess hat sie diese nun wiedererlangt und will im nächsten Jahr mit der Kandidatin Aída Abella zur Präsidentschaftswahl antreten. Seit einem Attentatversuch im Jahr 1996 hatte Abella im Exil in Genf gelebt. Piedad Cordóba, Vertreterin der Basisorganisation Marcha Patriótica, verkündete: „Aída ist ein Hoffnungssymbol. Ihre Kandidatur ist ein Symbol der Würde und zeigt, dass der Frieden tatsächlich in greifbare Nähe rückt. Es ist ein Schritt zur Einheit aller linken Bewegungen“. So wird, auch wenn das geltende Wahlrecht Koalitionen verbietet, aktuell die Möglichkeit einer gemeinsamen Kandidatur der drei linken Parteien nicht ausgeschlossen: UP, die Grüne Partei und der demokratische Pol (PDA) könnten demnach gemeinsam antreten.
Kürzlich begannen nun die Diskussionen zum eigentlich vierten Punkt der Friedensagenda, der Drogenpolitik. Die anderen beiden Themen, die Entschädigungen der Opfer des bewaffneten Konfliktes und die Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, wurden bereits im Rahmen der bisherigen Verhandlungen teilweise verhandelt, aber nicht abgeschlossen. Angesichts der Wahlen im kommenden Frühjahr gerät die Regierung Santos nun zunehmend unter Zeitdruck.

„Vier Generationen wissen nicht, was Frieden ist“

Was sind die Inhalte der Entwürfe zur politischen Partizipation im gemeinsamen Bericht der FARC und der kolumbianischen Regierung?
Abilio Peña: Die Vorschläge des Berichts betreffen drei Themenfelder. Zunächst geht es um allgemeine Garantien und eine spezifische Rechtsprechung, sowohl in Bezug auf Wahlen als auch für oppositionelle Gruppen.
Gleichzeitig beinhaltet dieser Punkt eine Anerkennung der friedlichen Proteste und sozialen Bewegungen und ein Sicherheitsversprechen für Menschen, die in der Politik mitwirken. Zweitens geht es um den Zugang zu Medien, vor allem in ländlichen Regionen. Der letzte Aspekt ist die Reform des Wahlsystems.

Was halten Sie von den Entwürfen?
Abilio Peña: Wir halten die drei genannten Themenfelder für sehr wichtig. Was jedoch in der veröffentlichten Version völlig fehlt, ist der Paramilitarismus (Anm. d. Red. gemeint ist das Fortbestehen paramilitärischer Gruppierung trotz deren offizieller Demobilisierung). Ohne eine Lösung dieses Problems kann es keine Sicherheitsgarantien für politisch aktive Personen aus den oppositionellen Gruppen geben. Auch ist noch nicht klar, wie die Umsetzung der Entwürfe erfolgen soll. Dies liegt aber auch daran, dass nach wie vor kaum Details bekannt sind.

Was wären mögliche Auswirkungen der Entwürfe für Bäuerinnen und Bauern und die Bevölkerung der ländlichen Regionen?
Abilio Peña: Die Regel lautet, es gibt keine Einigung, bis eine Einigung in allen Punkten besteht. Die Verhandlungen haben bis jetzt überhaupt keine reale Auswirkung.
Man kann allerdings spekulieren. Zum Beispiel könnten soziale Organisationen unter einer speziellen Regelung zur Wahl antreten und Präsidentschaftskandidaten stellen – allein durch die Tatsache, dass sie aus einer Konfliktregion stammen.
Juan Pablo Soler: Genau, denn es gibt in den Entwürfen eine Art Anerkennung der sozialen Bewegungen als Akteure des Wandels. Also nimmt die Politik erstmals auch die friedlichen Gruppen als Akteure wahr, nicht nur die bewaffneten. Die Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten friedlich für ihre Rechte kämpfen, wurden bis dato stets unsichtbar gemacht – wenn nicht sogar verurteilt oder ermordet. Es wird aber immer notwendiger, die zivilen Akteure in die politischen Entscheidungen und den Friedensprozess miteinzubeziehen. Vielleicht eröffnen die Entwürfe neue Möglichkeiten, dies zu erreichen.

Kürzlich verkündete die Partei Patriotische Union (UP), die 1985 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der Kommunistischen Partei hervorging, ihren Wiederantritt bei den kommenden Wahlen. Was haltet ihr von dieser Entwicklung?
Abilio Peña: Das ist eine sehr gute Nachricht. Tausende UP-Mitglieder wurden Ende der 1980er Jahre ermordet. Dass die Partei auf die politische Bühne zurückkehrt, ist ein sehr positives Zeichen für die kolumbianische Demokratie. Die Präsidentschaftskandidatin Aída Abella lebte die letzten 16 Jahre im Exil in Genf. Dass sie nun zurückgekommen ist und die Botschaft einer Einheit der gesamten linken Parteien des Landes verkündete, erscheint uns sehr bedeutsam. Auch wenn der Schatten der Vergangenheit nach wie vor über der UP hängt.

Es gab nun mehrere Agrarproteste und -streiks in Kolumbien. Welche Auswirkungen haben diese auf die Friedensverhandlungen?
Abilio Peña: Ich glaube, dass die Agrarproteste sehr hilfreich sind. Auf diese Weise machen die Menschen ihre Bedürfnisse und Probleme öffentlich. Eigentlich wäre es Aufgabe des kolumbianischen Staates, sich von selbst um diese Themen zu kümmern. Aber er erfüllt seine Pflichten oft nur, wenn es Druck von außen gibt. So entstand nicht eine der Friedensverhandlungen, die bis dato geführt wurden, aus Eigeninitiative der Regierung.
Juan Pablo Soler: Die Agrarproteste haben ein sehr starkes Zeichen hinterlassen. Sie haben die Regierung daran erinnert, dass nicht alle Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, am Verhandlungstisch vertreten sind. Bis dato haben zum Beispiel soziale Gruppen mehr als 3.800 Vorschläge für die Verhandlungen eingebracht. Noch ist nicht deutlich, welche davon bei den Dialogen aufgegriffen wurden. Die Friedensverhandlungen sind der Beginn eines Prozesses, der noch lange nicht beendet ist. Denn der bewaffnete Konflikt wurde durch bestimmte Gründe ausgelöst und auf die große Mehrheit der Gründe wird bei den Verhandlungen überhaupt nicht eingegangen.

Was fehlt noch auf dem Verhandlungstisch?
Juan Pablo Soler: Das Wirtschaftsmodell, vor allem das Thema der Großprojekte. Es gibt bislang keinen gesetzlichen Rahmen für die Rechte der Betroffenen von Bergbau-, Erdöl- und Staudammprojekten. Bei Konflikten wird stets zu Gunsten der Großunternehmen entschieden, nicht zu Gunsten der Betroffenen. Außerdem müssen das Grundrecht auf zivilen Protest und damit verbundene Schutzgarantien in der Verfassung verankert werden.
Abilio Peña: Grundlegend ist außerdem, dass die Nationale Befreiungsarmee (ELN) sich mit an den Verhandlungstisch setzt. Sonst gibt es einen Frieden mit der einen Guerilla, aber die andere führt den bewaffneten Kampf fort.

Wie stellen Sie sich ein friedliches Kolumbien vor?
Abilio Peña: Ich glaube, dass wir uns zuerst daran gewöhnen müssen. Weil ich keinen einzigen Tag meines Lebens kenne, an dem Frieden in Kolumbien herrschte. Ich denke, vier kolumbianische Generationen wissen nicht, was Frieden ist. Wie wäre es?
Juan Pablo Soler: Ja, das ist eine schwierige Frage. Kolumbien ist ein multikulturelles Land und uns ist jetzt klar, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, wenn die Kultur und Lebensweise der Menschen nicht respektiert und bewahrt wird. Das gilt zum Beispiel für indigene Gruppen, afrokolumbianische Gemeinden oder auch Bauerngemeinden mit nicht-kapitalistischen Wirtschaftsmodellen. All diese Menschen haben verschiedene Ideen, Wirtschaftsweisen und Traditionen. Die Regierungen glaubten stets, ein einziges politisches Modell für das ganze Land finden zu können. Man muss aber auch alternative Möglichkeiten bedenken.

Infokasten:

Abilio Peña und Juan Pablo Soler
Abilio Peña ist bei der ökumenischen Organisation Justicia y Paz tätig, die in verschiedenen Regionen Kolumbiens Vertriebene bei der Rückkehr auf ihr Land begleitet und durch Beratung, Bildung und juristischen Beistand unterstützt.
Juan Pablo Soler arbeit bei CENSAT – Agua Viva (Friends of the Earth Kolumbien) zur Rolle von Bergbau für Landgrabbing sowie zu ökologischen und sozialen Konflikten, die aufgrund von Bergbauprojekten entstehen.

Verkleideter Staatsstreich

Bogotás linksgerichtete Bürgermeister haben eine kurze Halbwertszeit: Erst im Mai 2011 hatte die Oberstaatsanwaltschaft den damaligen Bürgermeister Samuel Moreno Rojas vom Amt suspendiert, da er die Rechte privater Firmen verletzt haben soll. Nun sieht sich Gustavo Petro, der 2011 mit 32 Prozent zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt worden war, mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert. Der ehemalige Guerillero der Bewegung des 19. April (M19) begann gleich zu Beginn seiner Amtszeit Anfang 2012 mit umfangreichen Umwelt- und Sozialreformen. Im Rahmen seines Programms „Menschliches Bogotá“ ließ er unter anderem die Stadt begrünen, Fahrradwege anlegen und die Müllentsorgung grundlegend reformieren. Petro beendete die Verträge mit den alten, privaten Müllabfuhrunternehmen, da diese, wie er der Tageszeitung El Espectador gegenüber äußerte, mit kartellähnlichen Methoden überhöhte Tarife abgerechnet und dadurch die Rechte der Bevölkerung verletzt hätten. Er vergab deren Konzessionen an die öffentliche Wasserversorgungsanstalt.
Genau dies wurde ihm nun zum Verhängnis: Er habe die Müllentsorgung bewusst einem Unternehmen überlassen, das über „keinerlei Erfahrung, Wissen und Leistungsfähigkeit“ verfüge. Damit habe er den „schlimmen Notstand, den die Stadt zwischen dem 18. und 20. Dezember 2012 erleiden musste“ verursacht, wie der erzkonservative Oberstaatsanwalt Alejandro Ordóñez in seinem Bericht schreibt. An jenen drei Tagen wurde der Müll nicht abgeholt, wodurch Petro die Gesundheit der Bewohner Bogotás und die Umwelt in Gefahr gebracht habe. Auch käme dies einer Verstaatlichung der Müllentsorgung gleich und verstoße somit gegen die kolumbianische Verfassung. Allerdings ist öffentlich noch nicht geklärt, ob jener Zeitraum überhaupt bereits in die Zuständigkeit der Wasserversorgungsanstalt fiel, wie Ordóñez behauptet.
Für den Oberstaatsanwalt sind Amtsenthebungen einerseits Routineangelegenheiten. In seiner ersten Amtszeit von 2009 bis 2012 hat er 828 Bürgermeister_innen abgesetzt. Andererseits hat es Ordóñez besonders auf linke Amtsträger_innen hat abgesehen. So enthob er die bekannte Oppositionspolitikerin Piedad Córdoba ihres Amtes als Senatorin und untersagte ihr, in den nächsten 18 Jahren ein öffentliches Amt zu bekleiden. Sie soll angeblich Verbindungen zu der Guerilla FARC gehabt haben.
Die jetzige Amtsenthebung Petros ist ebenfalls mit einer fünfzehnjährigen Sperre für politische Ämter verbunden. Die Entscheidung sorgte für große Empörung in der kolumbianischen Hauptstadt. Nach aktuellen Zahlen des Nachrichtenportals CMI sind mehr als zwei Drittel der Hauptstadtbewohner_innen gegen die Absetzung. Tausende protestierten tagelang friedlich im Zentrum der Stadt. Auch die Bürgermeister_innen mehrerer lateinamerikanischer Hauptstädte drückten in einer gemeinsamen Erklärung ihre Solidarität mit Gustavo Petro aus: „Wir betrachten [die Amtsenthebung und Sperre] als sehr ernst, da sie der Stadt Bogotá einen schweren Schlag versetzen und ihre Regierbarkeit aufs Spiel setzen“. Nichtregierungsorganisationen wie die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH) schlossen sich ebenfalls der Kritik an. Petro äußerte gegenüber BBC Mundo, dass es sich bei dem Vorgehen gegen ihn um einen „Staatsstreich“ handle, der den Willen des Volkes ignoriere. „Wir befinden uns am Beginn einer großen öffentlichen Bewegung im ganzen Land. Die Prozesse der letzten Monate, wie der große Agrarstreik, könnten für eine umfangreiche demokratische Transformation der kolumbianischen Institutionen sorgen“, sagte er im Interview und kündigte an, die Amtsenthebung mit allen Mitteln anzufechten.

Kolumbianische Schule

Alles scheint wieder in geregelten Bahnen zu laufen in Paraguay. Am 15. August übernahm der Präsident Horacio Cartes von der Alianza Nacional Republicana, den Colorados, die Regierung. Damit sieht es so aus, als sei das Land wieder zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückgekehrt.
Dies erkannten jedenfalls die Nachbarländer so an. Nach der umstrittenen Absetzung von Präsident Fernando Lugo im Juni 2012 setzte das Wirtschaftsbündnis MERCOSUR zunächst die Mitgliedschaft Paraguays aus (siehe LN 467). Den Übergangspräsidenten Federico Franco erkannte der MERCOSUR nie richtig an. Mit der Wahl von Cartes ist diese Episode nun vergessen. Paraguay soll das Bündnis im Dezember sogar bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU vertreten.
Die meisten linken Aktivist_innen, Oppositionellen und Gewerkschafter_innen Paraguays sehen dies anders. Bevor sie eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung akzeptieren, fordern sie eine Aufklärung der Geschehnisse von Curuguaty. Am 15. Juni war es in der Gemeinde im Osten Paraguays auf der besetzten Farm Marina Kué zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und der Polizei gekommen. Die Besetzer_innen verlangten eine Enteignung der Farm, da sie den inzwischen verstorbenen Unternehmer Riquelme Blas beschuldigten, sich diese illegal angeeignet zu haben. Bei der Räumung war es zu einer Schießerei gekommen, bei der mindestens 17 Personen starben. Die Opposition im paraguayischen Kongress hatte den Gewaltausbruch genutzt, um den linken Präsidenten Fernando Lugo im Schnellverfahren abzusetzen (siehe LN 457/458).
Noch immer ist nicht völlig gesichert, was in Curuguaty wirklich geschah. Nach der offiziellen Version begannen einige Besetzer_innen, auf die Polizei zu schießen, die sich dann nur wehrte. Die meisten unabhängigen Untersuchungen von Menschenrechtsgruppen, wie der paraguayischen Koordination für Menschenrechte CODEHUPY, deuten dagegen darauf hin, dass Unbekannte das Feuer aus einem Hinterhalt eröffneten. Danach sei die Polizei mit großer Brutalität gegen die Besetzer_innen vorgegangen und habe mehrere unbewaffnete Personen regelrecht hingerichtet. Eine gerichtliche Aufarbeitung wird dadurch behindert, dass viele Besetzer_innen, die als Zeug_innen aussagen könnten, weiterhin inhaftiert sind. Vidal Vega, einen Bauernaktivisten, der zur Aussage gegen die Polizei bereit war, traf es noch schlimmer: Er wurde am 1. Dezember 2012 ermordet (siehe LN 463).
Inzwischen haben vor allem Student_innen und junge Aktivist_innen die Bewegung 138 gegründet. Der Name bezieht sich auf einen Artikel in der paraguayischen Verfassung, der die Pflicht zum Widerstand mit allen Mitteln vorsieht, sollte eine Regierung unrechtmäßig an die Macht gelangt sein. Für sie war der Gewaltausbruch Teil eines Plans, um die linksgerichtete Regierung von Präsident Lugo abzusetzen. Sie fordern die Enteignung der Farm Marina Kué, die Aufklärung des Verbrechens, die Freilassung aller Gefangenen, die seit dem Vorfall von Curuguaty inhaftiert sind und die Bestrafung der wirklichen Täter. Solange dies nicht geschehe, könne man nicht davon reden, dass in Paraguay demokratische Verhältnisse herrschten.
Mittlerweile haben sich tausende Menschen in Paraguay und im Ausland mit einem Schild abbilden lassen, auf dem „Sabemos que pasó en Curuguaty!“ oder auf Guaraní „Roikuaa mba‘e oiko curuguatetýpe“ steht: „Ich weiß, was in Curuguaty geschah.“ Sie wollen damit deutlich machen, dass sie die offizielle Version für das Massaker nicht anerkennen.
Der neue Präsident ignoriert währenddessen öffentlich diese Proteste. Horacio Cartes ist einer der reichsten Männer Paraguays. Seine Partei, die Colorados, stellt eine Art Staatspartei dar, die vor allem die Interessen der Unternehmer_innen des Landes vertritt, insbesondere der mächtigen Agrarindustrie.
Die Botschaft der Regierung ist klar: Es herrscht Ruhe im Land, alle können wieder zum Alltag übergehen. Eine von mehreren Maßnahmen, mit denen die arme Bevölkerungsmehrheit des Landes weitgehend marginalisiert wird. Auch die kostenlose Gesundheitsversorgung und Schulbildung, die Fernando Lugo eingeführt hatte, wurden wieder abgeschafft. In seiner kurzen Amtszeit hat Cartes so bereits viele Befürchtungen von linken Aktivist_innen bestätigt.
Die wichtigsten Medien des Landes unterstützen dagegen die Regierung. ABC Color, die größte Zeitung Paraguays, behauptet, dass die Proteste nur von einer linken Minderheit ausgingen und schweigt die Bewegung tot. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung zu einem Gesetz, das von Cartes am 28. Oktober erlassen wurde und Private Public Partnerships erleichtern soll. Kritiker_innen sehen darin einen Ausverkauf des Landes zugunsten von privaten Unternehmen und riefen zu Protesten auf. In einem Editorial hatte ABC Color dazu geschrieben, die Proteste würden nur von korrupten Gewerkschafter_innen ausgehen. Die Gewerkschaft der Journalisten Paraguays beschuldigte ABC Color daraufhin, die Proteste zu kriminalisieren und die Berichterstattung zum umstrittenen Gesetz de facto zu zensieren.
Gegen die Guerrillabewegung „Heer des paraguayischen Volkes“ EPP setzt Horacio Cartes auf Repression. Er kündigte wörtlich an, einen Krieg gegen sie führen zu wollen. Dieses Vorgehen resultiert bisher aber vor allem in der Repression von Kleinbäuerinnen und -bauern und linken Aktivist_innen, insbesondere in den ländlichen Regionen im armen Norden Paraguays.
Miriam Duarte ist Aktivistin der Kleinbauernbewegung Paraguays MCP, die seit 1980 für eine Landreform kämpft und im globalen Netzwerk Vía Campesina organisiert ist. Am 8. Oktober sprach sie in den Räumen des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika über die Situation von Aktivist_innen in Paraguay.
Die Aussagen von Cartes gegen die EPP hält sie für verlogen. „Die EPP und Cartes sind Verbündete,“ erklärte sie gegenüber den LN. Horacio Cartes steht seit längerem unter Verdacht, Verbindungen zur Drogenmafia zu unterhalten. Miriam Duarte glaubt, dass Regierung, Mafia und EPP mit Unterstützung der Medien zusammenarbeiten würden, um ein Klima der Gewalt im Land zu erzeugen. Ein Beispiel für diese Entwicklung sei Kolumbien, wo ebenfalls jegliche Proteste gegen Unternehmen kriminalisiert würden, indem man sie bezichtige, die Guerilla zu unterstützen.
„Die Medien bauschen die EPP auf, um uns zu kriminalisieren“, sagt Duarte. Obwohl sie aus der Region komme, wo die EPP agiere, kenne sie nur eine Person, die in der Guerilla aktiv sei. Gleichzeitig bauen Agrarunternehmen auf immer mehr Flächen gentechnisch modifiziertes Soja an und entziehen den Kleinbäuerinnen und -bauern dadurch die Lebensgrundlage. Zudem entstehen im Norden Paraguays im großen Stil Marihuanaplantagen. Um ihre Interessen zu verteidigen, bauen die Unternehmen sich mit Hilfe von Sicherheitsunternehmen regelrechte Privatarmeen auf. Wer sich dagegen wehrt, lebt gefährlich. Gegen die Proteste der Kleinbäuerinnen und -bauern gehen die Sicherheitskräfte und – mit Verweis auf die Guerrilla – auch die Regierung mit äußerster Brutalität vor. Die Verbrechen, die an Aktivist_innen begangen werden, die sich gegen die Ausweitung der Agrarindustrie in Paraguay wenden, bleiben dagegen fast immer ungeahndet. Seit 1989, dem Jahr als die Diktatur offiziell in Paraguay endete, wurden 129 Kleinbäuerinnen und -bauern im Kontext von Landkonflikten ermordet.
Die einzige Möglichkeit, diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, sei es, durch unabhängige Medien über die Zusammenhänge der Gewalt aufzuklären, erklärt Miriam Duarte. In diesem Sinne geht es um viel mehr als nur um ein Massaker, wenn Aktivist_innen fordern, die Wahrheit über Curuguaty zu erfahren. Es geht darum, zu verhindern, dass Paraguay eine Entwicklung nimmt wie Kolumbien, wo die Gewalt auf dem Land zur Vertreibung und Ermordung von Millionen von Kleinbäuerinnen und -bauern geführt hat.

Des Journalisten Fährte

Chile, Mitte der achtziger Jahre. Die Militärdiktatur sitzt noch fest im Sattel. Der Journalist Oliver Podewin reist in den Süden Chiles, nach Punta Arenas. Sein Sitznachbar im Flugzeug fällt ihm auf, da dieser ungerührt die Turbulenzen erträgt. Auch hat er oberhalb seines Handgelenks eine markante Tätowierung, einen Raubvogel, der etwas im Schnabel trägt.
Ins Gespräch kommen die beiden Fluggäste nicht. Dennoch bleibt die Bekanntschaft nicht folgenlos: Podewin will in der Stadt an der Magellanstraße einen Hörfunkbericht über die Hintergründe eines Attentats auf eine Kirche in einem Armenviertel machen, bei dem der vom Geheimdienst stammende Attentäter selbst ums Leben kam. Die Kirchenleute unterstützen ihn bei seinen Interviews und Recherchen. Von einem von ihnen erfährt Podewin, dass jener Sitznachbar ein Folterer war. Einer der Folterlehrer, die aus dem Ausland in lateinamerikanische Staaten reisten und dort ihre Dienste feilboten.
Als Podewin wenig später auf einer Fahrt nach Santiago einen Zwischenstopp in der Nähe der Foltersiedlung Colonia Dignidad machen will, erhält er einen in akzentfreiem Deutsch gesprochenen Drohanruf. Podewin verzichtet daraufhin auf den Halt und setzt seine Reise nach Santiago fort. Spätere überraschende Begegnungen führen ihn zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem deutschen Anrufer und dem Unbekannten aus dem Flugzeug um dieselbe Person handelt. – El Salvador, knapp zwei Jahre später. Podewin begleitet als Journalist die internationale Untersuchungskommission zum Tod eines Aktivisten aus der Solidaritätsszene. Wie auch im Chile-Teil verarbeitet hier der Autor reale Vorkommnisse: Der Schweizer Jürg Weis – im Roman gibt ihm der Autor den Nachnamen Roth, behält aber den Vornamen bei – war im August 1988 nach El Salvador gereist und dort von Militäreinheiten erschossen worden (siehe LN 178). Es gelingt der Untersuchungskommission aus der schweizer und deutschen Soli-Szene, in El Salvador die Version des Militärs zu widerlegen.
Dann taucht unvermittelt der geheimnisvolle Fremde wieder auf. Und Podewin, ganz Journalist, setzt sich auf die Fährte, recherchiert und lässt seine Kontakte spielen, um dessen Geheimnis zu ergründen. Es geht ihm hierbei nicht darum, den mutmaßlichen Folterer dingfest zu machen. Aus dem Journalisten wird nicht der überspannte Privatkommissar, der den Schurken zur Strecke bringt. Vielmehr lässt ihn die Idee, ein Interview mit diesem „negativen Helden“ zu bekommen, nicht mehr los. Im Kolumbien der neunziger Jahre – an Militärs und Paramilitärs, Guerillas und Drogenbaronen mangelt es nicht – gelingt es Podewin schließlich, den Fremden ausfindig zu machen.
Der Autor, Norbert Ahrens, nimmt die Lesenden auf eine Reise durch drei lateinamerikanische Länder der achtziger und neunziger Jahre mit und lädt sie ein, den geheimnisvollen Fremden aus dem Flugzeug wieder zu treffen, ihn zu suchen und dessen Geheimnis zu ergründen. All dies vor den konkreten historischen Ereignissen der Zeit – Militärdiktaturen, Bürgerkrieg, Guerilla –, die der Autor literarisch verarbeitet. Die Beschreibungen der politischen Situationen lassen den erfahrenen Blick des Journalisten erkennen, der sich seinem Sujet diesmal als Romanautor annähert. Und das macht den Roman dann so realitätsnah und lesenswert.

Norbert Ahrens // Podewins Verfolgung // Kulturmaschinen // Berlin 2013 // 270 Seiten // 24,90 Euro

Fruchtlose Mühe?

Für alle am Prozess Beteiligten und insbesondere für die Opfer der staatlichen Repression, die für 90 Prozent der mehr als 200.000 Toten während des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs in Guatemala verantwortlich ist, müssen die letzten Wochen ein grausames Wechselbad der Gefühle gewesen sein.
Zunächst hatte am 18. April die Richterin Carol Patricia Flores den laufenden Prozess gegen Ríos Montt annulliert und angewiesen, dass er auf den Stand vom 23. November 2011 zurück versetzt werden müsse – lange vor dem Beginn der Hauptverhandlung. Dies war der Tag, an dem sie auf Antrag der Verteidigung eines damals Mitangeklagten wegen angeblicher Befangenheit von ihrem Amt als kontrollierende Richterin der Voruntersuchung entbunden und ersetzt worden war. Sie stützte sich dabei auf ein Urteil des CC vom 23. März 2013, das die damalige Entscheidung aufhob und sie als kontrollierende Richterin wieder einsetzte (siehe LN 467).
Staatsanwaltschaft und Nebenkläger_innen riefen sofort den Verfassungsgerichtshof an, um die Annnulierung anzufechten, und für einen Moment schien alles auf Messers Schneide zu stehen. Nach ein paar Tagen des Wartens, in denen der CC über Verfahrensfragen, aber nicht über die Annulierung als solche entschied, beschloss die des für die Hauptverhandlung zuständigen Tribunal A vorsitzende Richterin Yasmin Barrios, die Annulierung des Prozessverlaufs durch Flores sei illegal und setzte die Anhörung fort.
In der zweiten Maiwoche hielten Verteidigung, Staatsanwaltschaft und die Anwält_innen der Nebenkläger_innen ihre Plädoyers, und auch Ríos Montt äußerte sich zum ersten Mal seit Prozessbeginn selbst. Wie zu erwarten, leugnete er seine Verantwortung für die Verbrechen des Militärs an der indigenen Zivilbevölkerung, delegierte sie an die lokalen Kommandeure, zu denen damals unter Anderen der jetzige Präsident Otto Pérez Molina gehörte, und bezeichnete sie als vereinzelte Exzesse. Von der Hauptstadt aus habe er überhaupt nicht kontrollieren können, was genau in den einzelnen Regionen geschah. Seine Verteidiger brachten keine neuen Argumente vor, sondern beschränkten sich in Fortführung ihrer bisherigen Strategie auf den Versuch, die Richter_innen zu delegitimieren und einzuschüchtern; Ríos Montts Anwalt Garcia Gudiel drohte den Richter_innen sogar mit den Worten „Ich werde nicht ruhen, bis Sie im Gefängnis sitzen“.
Die Argumentation der Staatsanwaltschaft und der Anwält_innen der Nebenkläger_innen in ihren Schlussplädoyers stützte sich vor allem auf folgende Punkte: Einmal die von Ríos Montt tatsächlich ausgeübte Kontrolle über das Militär und dessen Handlungen. Diese wurde von verschiedenen Zeug_innen im Prozess und von ihm selbst in einem Interview zu seiner Regierungszeit bestätigt, in dem er äußerte: „Wenn ich das Militär nicht kontrolliere, was mache ich dann hier? Wir haben Befehlsgewalt und sind in der Lage, dem Feind zu antworten“. Des Weiteren rekurrierte die Staatsanwaltschaft auf die von Ríos Montt verordnete Strategie der „verbrannten Erde“, die von der kollektiven Unterstützung der Guerrilla durch die gesamte indigene Zivilbevölkerung in der Ixil-Region ausging und diese zum Ziel militärischer Aktionen erklärte. Damit sollte der Guerilla ihre Basis entzogen werden, was in unterschiedlichen militärischen Dokumenten wie dem „Plan Sofia“ festgehalten ist, die dem Gericht als Beweise vorlagen – auch wenn es keinen expliziten schriftlichen Befehl zur Vernichtung der Ixiles als Volk gab. Dann ging die Staatsanwaltschaft auf die Untersuchungen des als Zeugen geladenen Statistik-Spezialisten Patrick Boyle ein. Dieser erklärte, dass die Wahrscheinlichkeit, in der Regierungszeit Ríos Montts als Angehöriger einer indigenen Ethnie Opfer des Militär zu werden, in der Ixil-Region um acht mal höher war als die für nicht-indigene Personen, dass es also eine klare Präferenz für die Verfolgung und Ermordung von Indigenen gab.
Und schließlich ging es um die Aussagen der fast 100 Ixiles, die als Zeug_innen im Prozess aufgetreten waren und von den Verbrechen des Militärs an Ihnen, ihren Angehörigen und Nachbarn berichtet hatten. Edgar Pérez, der als Anwalt der Nebenkläger_innen auftrat, zitierte sie in seinem Schlussplädoyer immer wieder. „Ich habe gesehen, wie sie 96 Personen von der Brücke stießen, sie schnitten einigen die Kehle durch, andere fielen mit Machetenhieben ins Wasser“, so einer von ihnen. Ein anderer Zeuge hatte ausgesagt: „Als das Militär kam, sind wir gelaufen. Da war eine Frau, die auch lief und ein Soldat hat sie erreicht, ihr den Bauch aufgeschnitten, dass Baby rausgenommen und gegen einen Stein geschlagen.“ Eine Frau sagte aus: „Als sie meine Mama vergewaltigten, musste ich zuschauen. Und danach haben sie es mit mir gemacht, ich war 12 Jahre alt.“ Schließlich fragte der Anwalt: „Darf ein Zivilist, der der Guerrilla Essen gibt, militärisches Ziel sein? Dürfen Sie ein Kind töten, das Guerrilleros zu Eltern hat? Starben die Ixiles im Gefecht? Ist ein Sympathisant ein erlaubtes militärisches Ziel?“ Er schloss sein Plädoyer mit den Worten: „Justiz ohne Gerechtigkeit ist Tyrannei, Justiz ohne Kraft bringt keine Gerechtigkeit“, und zitierte einen Zeugen, der sagte: „Ich bin hier, weil ich wissen will, ob es Gerechtigkeit auch für uns gibt“.
Während der mehr als halbstündigen, live in Radio und Internet übertragenen Verlesung des Urteils am 10. Mai vor fast 500 Anwesenden herrschte nach Zeitungsberichten gespannte Stille im Saal. Begründet wurde der Schuldspruch Ríos Montts für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in erster Linie mit seinem Wissen um die Verbrechen des Militärs gegen die Ixiles während seiner Zeit als Staatschef und damit oberster Befehlshaber der Armee. Juristisch begründet wurde es zudem dadurch, dass Ríos Montt nichts unternommen habe, diese Verbrechen zu unterbinden. Im Gegenteil, er habe dies im Rahmen der Strategie der verbrannten Erde zumindest billigend hingenommen. Die Spannung entlud sich erst in „Bravo“-Rufen, als die Richterin Yasmin Barrios am Ende das Strafmaß für Ríos Montt verkündete: Die Höchststrafen von 50 Jahren Gefängnis für Völkermord und 30 Jahren Gefängnis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit für Ríos Montt, aber Freispruch aus Mangel an Beweisen für seinen mitangeklagten ehemaligen Geheimdienstchef Rodriguez Sanchez. Einen Moment lang sah es so aus, als könne die Stimmung zwischen den noch anwesenden Ex-Militärs mit ihren Anhänger_innen und den Opfern, ihren Angehörigen und Unterstützer_innen in Tumult umschlagen. Dann aber begannen inmitten von Umarmungen und Freudentränen immer mehr der Anwesenden zu singen und den Vornamen der Richterin Yasmin Barrios zu skandieren, die sich erhob, sich ihnen zuwand und ihre Arme über der Brust kreuzte.
Auch wenn alle Beteiligten sich der Tatsache bewusst waren, dass in der Sache Ríos Montt noch lange nicht das letzte Wort gesprochen war, wurde das Urteil von Opfern des Bürgerkriegs, Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen Guatemalas, aber auch von ausländischen Presseoganen, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen als ein großer Fortschritt für die guatemaltekische Justiz und Gesellschaft gefeiert – und die Richter_innen erhielten Lob für ihren durch das Urteil bewiesenen Mut.
Die Anhänger Ríos Montts reagierten ihrerseits damit, den Prozess als ideologisch motivierte und vom Ausland gesteuerte Farce zu diffamieren und dem Tribunal, vor allem seiner Vorsitzenden Yasmin Barrios, Parteinahme und die grobe Verletzung der Rechte der Angeklagten vorzuwerfen. Die Verteidigung Ríos Montts legte mehrere Rechtsmittel ein, klagte vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das Urteil und ging so weit, Yasmin Barrios wegen eines Cafébesuchs mit drei weiteren Frauen am Tag nach der Urteilsverkündung (die sich als ihre Mutter und zwei Bekannte herausstellten) der Konspiration mit ausländischen Mächten zu bezichtigen und anzuzeigen. Der die guatemaltekische Oligarchie vertretende Unternehmer_innenverband CACIF verlangte die Annullierung des Urteil, militärische Veteranenverbände protestierten auf der Straße für „ihren General“ und die Rettung des Vaterlands, und Vertreter_innen der paramilitärischen Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen (PAC) aus der Zeit des Bürgerkriegs drohten mit dem Marsch auf die Hauptstadt zur Befreiung Ríos Montts. Nur ihr Repräsentant aus dem Departamento Jutiapa erklärte, er begrüße das Urteil, denn die damals zwangsrekrutierten Angehörigen der PACs seien durch die Verantwortung Ríos Montts ebenso Opfer des Bürgerkriegs wie die Ixiles oder ehemalige Mitglieder der Guerilla.
Der Ex-General und Präsident Otto Pérez Molina, der mehrmals zuvor den Völkermord in Guatemala bestritten hatte, mahnte nach dem Urteil zur Ruhe und dazu, dieses zu respektieren und den weiteren Fortgang des Prozesses vor den höheren Instanzen abzuwarten – wahrscheinlich auch aus der Einsicht heraus, dass jedes Eingreifen seinerseits angesichts der internationalen Aufmerksamkeit für den Prozess ihn und seine Regierung in große Legitimationsschwierigkeiten bringen würde. Gleichzeitig scheint die Anklage im Prozess gegen Ríos Montt bemüht zu sein, den Präsidenten aus der Schusslinie zu halten. So schreibt der Journalist José Luis Sanz in einem Artikel für die Internetzeitung El Faro aus El Salvador, dass die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz dem Präsidenten versprochen habe, sein Name werde im Prozess nicht fallen. Eine direkte Verwicklung Otto Pérez Molinas in den Prozess gegen den mit ihm verfeindeten ehemaligen Staatschef könnte ihn jedoch zu dessen Zweckverbündeten machen und den Fortgang des Prozesses noch weiter gefährden. Derweil mehren sich die Anzeichen für die Beteiligung des jetzigen Präsidenten an den Menschenrechtsverbrechen in der Ixil-Region. Dort diente er zur Zeit der Regierung Ríos Montts unter dem Decknamen „Tito Arias“ als Militärkommandeur. Sanz zufolge seien nach der Otto Pérez Molina stark belastenden Aussage eines ehemaligen Armeemechanikers im Rahmen des Prozesses zwei weitere Zeugen der Anklage zurückgezogen wurden, um keine weitere Angriffsfläche zu bieten.
Von allen Beteiligten wurde nach der Urteilsverkündung gegen Ríos Montt mit großer Spannung die noch ausstehende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zu mehreren Klagen seiner Verteidigung erwartet. Dabei wurde von der politischen Rechten in der Öffentlichkeit und hinter den Kulissen der größtmögliche Druck auf den CC und seine Mitglieder aufgebaut, um eine Entscheidung zu Gunsten Ríos Montts zu erzwingen. Am 21. Mai verkündete der CC sein Urteil: Die Annullierung der Prozesstage ab dem 19. April und des Urteils auf 80 Jahre Gefängnis gegen den Ex-Diktator.
Diese Entscheidung war von Anfang an höchst umstritten und wurde nur von dreien der insgesamt fünf Richter_innen getragen; die beiden anderen, Mauro Rodriguez Chacón und Gloria Porras, legten ein Minderheitenvotum gegen die Annullierung ein. Das Mehrheitsvotum für die Annullierung bezieht sich im Wesentlichen auf die Klage des Rechtsanwalts Garcia Gudiel gegen seinen Ausschluss als Verteidiger Ríos Montts durch das Gericht, nachdem er sofort nach dem Antritt der Verteidigung am 19. März die Ablösung der Richter_innen gefordert hatte, die angeblich eine persönliche Feindschaft gegen ihn als Anwalt hegten. Ríos Montt blieb für mehrere Stunden ohne Anwalt, bis ein Pflichtverteidiger zur Stelle war. Gudiel hatte gegen seinen Ausschluss geklagt und war als Verteidiger Ríos Montts wieder eingesetzt worden. In seiner Urteilsbegründung behauptet der CC die Verletzung der Rechte Ríos Montts als Angeklagtem während des Prozesses durch den zeitweiligen Ausschluss seines Wahlverteidigers.
Ihr Minderheitenvotum gegen die Annullierung begründen die beiden abweichenden Richter_innen damit, dass Gudiel mit der Übernahme der Verteidigung Ríos Montts inmitten des Prozesses und seiner Forderung zur Ablösung der Richter_innen böswillig mit der einzigen Absicht gehandelt habe, den Prozess zu verzögern oder zu verhindern; schließlich habe er genau gewusst, wie sich das Tribunal zusammensetzte, und damit die Verteidigung Ríos Montts nicht antreten dürfen. Zudem sei der Verfassungsgerichtshof für die von ihm getroffene Entscheidung gar nicht zuständig gewesen, da diese strafrechtliche, jedoch keine verfassungsmäßigen Belange berührt hätten. Dabei werden sie von mehreren namhaften Rechtsexpert_innen wie zum Beispiel einem ehemaligen guatemaltekischen Verfassungsrichter unterstützt. Sie sehen im Urteil des CC eine gefährliche Fortsetzung der bisherigen Politik der Straflosigkeit gegen die Verantwortlichen für die Verbrechen während des guatemaltekische Bürgerkriegs, die die in den letzten Jahren mühsam errungenen Fortschritte im guatemaltekischen Justizsystem wieder stark in Frage stellen. Der Fortgang des Prozesses gegen Ríos Montt ist damit wieder vollkommen offen.

Die Zitate aus dem Schlussplädoyer von Edgar Pérez stammen aus einem Prozessbericht des Anwalts Miguel Mörth, der ebenfalls Opfer und deren Angehörige als Nebenkläger_innen im Prozess vertritt.

Infokasten:

Der Prozessverlauf

1999: Die “Vereinigung Gerechtigkeit und Versöhnung” zeigt Ríos Montt und andere Militärs als Verantwortliche für den Tod Tausender
Ixiles an.
2011, September: Eröffnung der Vorverhandlung gegen drei ehemalige hohe Militärs durch die Richterin Carol Patricia Flores.
2011, 23. November: Die Verteidigung legt Beschwerde gegen sie als Richterin ein.
2012, Januar: Ríos Montt verliert seine Immunität als Abgeordneter und wird in die laufende Vorverhandlung eingeschlossen.
2012, Februar: Patricia Flores wird durch den Richter Miguel Angel Gálvez abgelöst. CALDH legt Berufung dagegen ein.
2013, Januar: Galvez ordnet die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Ríos Montt und Rodriguez Sanchez an.
2013, März: Berufungsgericht ordnet die Wiedereinsetzung von Patricia Flores an.
2013, 19. März: Prozesseröffnung. Garcia Gudiel lehnt als neuer Verteidiger Ríos Montts das Gericht ab. Er wird ausgeschlossen.
2013, 18. April: Die Anwälte der Verteidigung verlassen den Prozess „aus Protest“.
Patricia Flores ordnet die Annullierung des Prozesses an.
2013, 19. April: Das Tribunal A ficht die Entscheidung von Flores vor dem CC an und setzt den Prozess fort.
2013, 8. und 9. Mai: Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung, Ríos Montt sagt zum ersten Mal aus.
2013, 10. Mai: Urteilsverkündung und Schuldspruch gegen Ríos Montt
2013, 21. Mai: Annullierung des Urteils durch CC

Zweifelhafter Verhandlungserfolg

Es war die Nachricht des Tages in Kolumbien. Die Verhandlungsdelegationen konnten sich sicher sein, an einem Sonntagvormittag die mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, die der erste greifbare Fortschritt der seit November andauernden Friedensgespräche verdient zu haben schien.
„Historisch” sei diese Einigung, jubelte nicht nur die Presse sondern auch zahlreiche Politiker_innen aller Couleur. Die internationale Staatengemeinschaft, von den lateinamerikanischen Nachbarn bis zu den USA, nahm die Botschaft nach eigenem Bekunden mit Wohlwollen bis Freude auf. Grund dazu gibt es formal allemal: Wenn sich die einst als Bauernguerilla gegründete und sich bis heute in ihrem Selbstverständnis noch immer als Verfechter der Interessen der kolumbianischen Bäuerinnen und Bauern gerierende FARC und eine kolumbianische Regierung nach 50 Jahren Krieg, wenn auch nur auf dem Papier, auf eine Agrarreform einigen, dann ist das nicht unbedeutend.
Entsprechend vollmundig und selbstbewusst verlautbarten dann auch die Verhandlungsparteien, man habe mit der Einigung den „Beginn einer radikalen Umwälzung der ländlichen und landwirtschaftlichen Realität Kolumbiens hin zu Gleichheit und Demokratie” eingeleitet.
Mit den Präzisierungen, über was genau man sich geeinigt hatte, enttäuschten beide Seiten allerdings: In einem gemeinsamen Kommuniqué erklärten FARC und Regierung die erreichten Ergebnisse. Man habe sich über den Nutzen und Zugang zu Land verständigt, wolle Eigentumsrechte formalisieren und die kleinbäuerlichen Schutzzonen ausweiten.
Über einen staatlichen Landfonds, in den, so der Plan, öffentliches Brachland und illegal angeeignete und von den Behörden zurückgewonnene Flächen einfließen werden, sollen zudem Ländereien an Kleinbäuerinnen und -bauern verteilt werden. Darüber hinaus soll es Entwicklungsprogramme geben, die Infrastruktur in ländlichen Regionen soll verbessert und die soziale Situation der Kleinbäuerinnen und -bauern durch Investitionen in Bildung, Wohnraum und Gesundheit sowie der Ausbau der solidarischen und kooperativen Wirtschaft vorangetrieben werden.
Konkreter wurde das Kommuniqué nicht. Wer die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und FARC in den letzten Monaten aufmerksam verfolgt hatte, der hat mit der Verkündung einer Einigung inhaltlich wenig Überraschendes erfahren und wenige Antworten auf drängende Fragen erhalten: Was geschieht beispielsweise mit dem Großgrundbesitz? Wie soll die ungleiche Landverteilung beziehungsweise die Nutzung eines Großteils der Ländereien für die unproduktive und oftmals inadäquate Viehwirtschaft bekämpft werden? Inwieweit wird Landbesitz ausländischer Investoren begrenzt?
Humberto de la Calle, Verhandlungsführer der Regierung beeilte sich jedenfalls zu betonen, dass alle Maßnahmen unter vollständigem Respekt des Privateigentums und des Rechtsstaates durchgeführt würden. „Die legalen Besitzer haben nichts zu befürchten,” sagte er. Ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Großgrundbesitzer_innenelite, die die Friedensverhandlungen mit der Guerilla sehr kritisch sieht.
Wie Vertreter_innen der FARC auf einer Universitätskonferenz im südkolumbianischen Neiva am Mittwoch sagten, bestehe zu eben diesen Punkten noch Uneinigkeit mit der Regierung. Diese müssten daher bis zum Abschluss der Gespräche noch geklärt werden.
Die Vermutung liegt nahe, dass die Regierungsseite möglicherweise auf die Verkündigung einer Einigung gedrängt hatte, die Einigkeit aber tatsächlich nur partiell besteht. Nachdem sechs lange Monate kaum wahrnehmbare Fortschritte mitgeteilt worden waren und das Murren der Kritiker _innen bereits lauter geworden war, musste Präsident Santos schnellstmöglich Ergebnisse vorweisen. Je länger die Verhandlungen insgesamt dauern, um so skeptischer wird die kolumbianische Öffentlichkeit und finden die Gegner_innen des Friedensprozesses Zuspruch.
Generell bleibt der Eindruck bestehen, dass beide Seiten die Tragweite eines Friedensschlusses überschätzen beziehungsweise für ihre Zwecke nutzen. Die FARC sind bemüht zu vermitteln, dass sie in Havanna die Interessen und Forderungen aller sozial und wirtschaftlich benachteiligter Kolumbianer_innen vertreten und dabei sind, den kolumbianischen Staat dazu zu bringen, endlich für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Dass dem nicht so ist, liegt angesichts der Ablehnung und Vorbehalte zahlreicher linker Organisationen gegenüber der FARC und dem Friedensprozess auf der Hand.
Die Regierung Santos wiederum scheint die Friedensverhandlungen und eine daraus hervorgehende „neue“ Agrarpolitik für eine Modernisierung des Staates nutzen zu wollen, das heißt bürokratische Defizite im Agrarbereich zu beheben und die fehlende Staatlichkeit durch stärkere Bürokratisierung und Institutionalisierung sowie Wohlfahrts- und Infrastrukturmaßnahmen bis in die letzten Winkel des Landes durchsetzen zu wollen. Die in Havanna beschlossene Formalisierung von kleinbäuerlichem Landbesitz (eine historische Forderung der FARC, die aus den die „Agrargrenze“ überschreitenden Kolonist_innen entstand und bei denen sie bis heute ihren stärksten ideologischen Rückhalt hat) und die Schaffung eines Landfonds sind mit anderen Maßnahmen der Regierung politisch kongruent.
Die zuständigen Behörden sind dabei, das staatliche Brachland zu erfassen und das Kataster zu aktualisieren. Zudem meldet das dem Landwirtschaftsministerium unterstellte Institut zur ländlichen Entwicklung regelmäßig die erfolgreiche Wiedergewinnung illegal angeeigneter Ländereien. Jedoch ist fraglich, ob dies in der Konsequenz zur Stärkung kleinbäuerlicher Produktionsstrukturen führt oder vielmehr zu einer Erschließung dieser Regionen für die Ausbeutung der vorhandenen Ressourcen oder die Etablierung großindustrieller Agrarprojekte.
Der Beitritt Kolumbiens zur OECD vor einigen Tagen lässt daran ebenso zweifeln wie die Tatsache, dass die Regierung Santos derzeit versucht, den großflächigen Besitz von staatlichem Brachland durch Großunternehmen mit einer Gesetzesreform neu zu regeln. Nach derzeitiger Rechtslage darf der Staat Brachland lediglich in kleinen Einheiten und nur Einzelpersonen zusprechen.

Für die vollständige Übersetzung der Kommuniqués der FARC und der Regierung ins Deutsche siehe: http://amerika21.de/blog/2013/05/83052/kommunique-farc-regierung

Kleine Schritte in Havanna

Das Datum des „Marsches für den Frieden” war bewusst gewählt: Am 9. April wird in Kolumbien jenes Tages im Jahr 1948 gedacht, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der liberale Caudillo und aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat, im Zentrum Bogotás erschossen wurde. Der daraufhin ausbrechende Aufstand in der Hauptstadt, der Bogotazo, mündete in den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Aufgrund seiner Grausamkeit sollte dieser schlicht als La Violencia in die Geschichtsbücher eingehen.
65 Jahre später schoben sich mehr als eine Million Menschen durch die Straßen Bogotas, um ihre Unterstützung für die Friedensverhandlungen zu zeigen. Dies war das Ergebnis einer politischen Dynamik, an deren Beginn der Aufruf der linken Sammelbewegung Patriotischer Marsch gestanden hatte. Doch schnell hatten auch andere Teile der Gesellschaft und das politische Establishment erkannt, dass man der Marcha Patriótica, ihr nahestehenden Organisationen und damit in gewisser Weise auch der FARC bei der Massenmobilisierung für den Frieden nicht das Feld überlassen konnte. So riefen nicht nur die vom ehemaligen Mitglied der Guerillabewegung M19 Gustavo Petro geführte Stadtverwaltung Bogotás, die katholische Kirche und Unternehmen zur Teilnahme auf, sondern auch die Regierung von Präsident Santos selbst.
Begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit ging es der Regierung wohl vor allem darum, sich von den Massen ihren politischen Kurs noch einmal bestätigen zu lassen. Man wolle die Verhandlungen in Kuba gegen „die Feinde des Friedens” schützen, hatte Santos am Abend zuvor in einer Fernsehansprache gesagt und meinte damit vor allem das rechte Lager um Ex-Präsident Álvaro Uribe. „Dieser versuche“, so Santos, „die Stimmung in der Bevölkerung zu vergiften und den Friedensprozess zu sabotieren.”
Seit die Delegationen von Regierung und Guerilla in Havanna zusammensitzen und verhandeln, vergeht kaum ein Tag, an dem Uribe nicht gegen die Regierungspolitik und ihre Entscheidung für den Friedensprozess wettert. Uribe, der allmählich seine Bewegung Demokratisches Zentrum für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2014 zu positionieren scheint, findet mit seinem Diskurs vor allem bei den Regionaleliten, aber auch bei Militär und Polizei Gehör. Diese stehen zwar offiziell hinter den Friedensverhandlungen, politisch aber tendieren sie eher zur Kriegsrhetorik des umstrittenen Ex-Präsidenten als zur Politik Santos‘. Auch deshalb dürfte die Regierung zweigleisig fahren: Während sie mit der FARC über den Frieden verhandelt, gehen die Kämpfe zwischen Militär und Guerilla weiter. Einen beidseitigen Waffenstillstand, wie die FARC und zivilgesellschaftliche Organisationen ihn gefordert haben, lehnt Santos ab.
Seit November, dem Beginn der Gespräche, geht es im Konferenzzentrum in Havanna bis heute, Anfang Mai, um den ersten der insgesamt sechs Verhandlungspunkte auf der zuvor vereinbarten Agenda: die integrale ländliche Entwicklung.
Ein schwieriges Thema, denn die ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist ein seit Jahrzehnten ungelöstes soziales Problem. Dementsprechend umfangreich sind die Forderungen der FARC, die eine Neuausrichtung der Agrarpolitik fordern, um Armut und Gewalt im ländlichen Kolumbien entgegenzuwirken. Insgesamt präsentierte die Guerilla in den letzten Monaten ganze 100 Vorschläge für eine neue Agrarpolitik. Zu einem großen Teil berief sie sich dabei nach eigenen Angaben auf jene Vorschläge, die Organisationen und Einzelpersonen im Rahmen mehrerer Foren zur Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess an die Verhandlungsparteien herangetragen hatten.
Die zahlenmäßig größte Veranstaltung hatte Mitte Dezember stattgefunden: Mehr als 1300 Vertreter_innen verschiedener Organisationen hatten an einem auf Bitten der Verhandlungsdelegationen von der Organisation der Vereinten Nationen und der Nationale Universität organisierten Forum teilgenommen und über die ländliche Entwicklung diskutiert. Sie erarbeiteten mehr als 400 Vorschläge, die dann nach Havanna übersandt wurden. Anwesend waren bei der dreitägigen Veranstaltung nicht nur kleinbäuerliche, afro-kolumbianische und indigene Gemeinden und Gewerkschaften, sondern auch Vertreter_innen der Agrarindustrie.
Für großes mediales Echo sorgten allerdings nicht die Anwesenden, sondern die Abstinenz des mächtigen Viehzüchterverbandes FEDEGAN. Dessen Präsident José Felix Lafaurie sagte seine Teilnahme mit dem Hinweis ab, es sei unnütz angesichts der offensichtlich antagonistische Positionen mit der FARC über ländliche Entwicklung zu diskutieren. Während Lafaurie dafür Kritik aus fast allen politischen Lagern einstecken musste, wurde er von Uribe für seine Entscheidung gefeiert. Das ist wenig verwunderlich: Uribe sowie vielen Regionalverbänden der Viehzüchter werden enge Beziehungen zu Paramilitärs vor allem im Nordwesten Kolumbiens nachgesagt.
Wie viele der 100 Vorschläge der FARC letztendlich den Weg in einen Friedensvertrag schaffen werden, ist völlig unklar. Denn obwohl sich die Guerilla im Gegensatz zur Regierungsdelegation äußerst kommunikativ zeigt, ist bis jetzt wenig über substanzielle Verhandlungserfolge bekannt. Zwar unterhält die Verhandlungsdelegation der Guerilla einen eigenen Internet-Blog und tritt regelmäßig vor die Presse. Genaues über den Stand der Verhandlungen oder eventuelle Zwischenergebnisse wird hingegen nur selten oder lediglich ansatzweise bekannt. Beispiel Zonas de Reserva Campesina: Das bereits 1994 verabschiedete Gesetz Nr. 160 ermöglicht es, auf Antrag kleinbäuerlicher Gemeinden, bestimmte Schutzzonen einzurichten. Über deren wirtschaftliche Struktur können die Gemeinden weitestgehend autonom entscheiden. Damit soll die Konzentration von Landbesitz und die Ausbeutung des Landes, beispielsweise durch Bergbauprojekte, gestoppt werden.
Die FARC begrüßten die Forderung nach der Einrichtung von 50 derartiger Schutzzonen, eine Zahl, die der Nationale Verband der kleinbäuerlichen Schutzzonen ANZORC an die Verhandlungsdelegationen herangetragen hatten. Regierungsmitglieder, Großgrundbesitzer und Agrarindustrie lehnten ab. Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Reservas Campesinas bei der Umsetzung einer aus den Verhandlungen hervorgehenden neuen Agrarpolitik eine wichtige Rolle spielen werden. Unklar ist jedoch, wie viele solcher Schutzzonen eingerichtet werden sollen und wie hoch die finanzielle Unterstützung der Regierung für deren Einrichtung und Etablierung sein wird.
Doch trotz aller Unklarheiten über substanzielle Ergebnisse scheint es voranzugehen: Die Vertreter_innen beider Verhandlungsdelegationen betonen regelmäßig, dass die Verhandlungen auf einem guten Weg seien. Ein weiteres Indiz ist, dass Ende April bereits das Forum zum zweiten Thema auf der Verhandlungsagenda stattfand, der politischen Teilhabe. Für die FARC stehen dabei vor allem politische Garantien im Vordergrund. Der letzte Versuch, mit der Partei Patriotische Union innerhalb des gesetzlichen Rahmens an der Politik teilzuhaben, endete in der systematischen Ermordung tausender ihrer Mitglieder. Zündstoff, nicht nur bei den Verhandlungen in Havanna, dürfte auch das Thema der Rechtsverletzungen durch FARC-Mitglieder bergen. Kritiker_innen befürchten, dass insbesondere die Führungskräfte der FARC straffrei ausgehen könnten. In einem Brief an 62 Abgeordnete des US-Kongresses schlug die Guerilla ihrerseits die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor.
Ein weiteres Thema wird im Rahmen des zweiten Verhandlungspunktes auch sein, wie im Falle erfolgreicher Friedensverhandlungen mit den Ergebnissen verfahren werden soll. FARC und die Bewegung Patriotischer Marsch fordern eine Verfassungsgebende Versammlung, die die aktuelle Charta von 1991 reformiert. Die Regierung spricht von einem Referendum, welches im Falle einer Einigung in Havanna notwendig werden würde.
Unabhängig von den Friedensgesprächen in Havanna fand im April zudem der „Kongress für den Frieden“ statt, der von der linken Sammelbewegung Kongress der Völker veranstaltet wurde. Diese ist ein Zusammenschluss verschiedener Basisorganisationen, der jedoch der FARC weniger nahe steht als die Patriotischer Marsch. In der Abschlusserklärung des dreitägigen Kongresses mit über 20.000 nationalen und internationalen Teilnehmer_innen wies der Congreso erneut darauf hin, dass „Frieden nicht nur im Schweigen der Gewehre“ bestehe, sondern tiefgreifende soziale Veränderungen notwendig seien. Seiner Ansicht nach ist die Zivilgesellschaft derzeit nicht ausreichend am Friedensprozess beteiligt: „Wenn das Ende des bewaffneten Konfliktes der Konsolidierung einer demokratische Gesellschaft bedarf, ist es notwendig, die Suche nach dem Frieden zu demokratisieren“ heißt es in der Erklärung.
Lange wird für strukturelle Veränderungen der Friedensgespräche allerdings keine Zeit mehr sein: Aller Voraussicht nach wird Präsident Santos sich 2014 für eine zweite Amtszeit bewerben wollen. Das heißt, dass er spätestens Ende des Jahres Ergebnisse vorlegen muss. Danach werden die Friedensgespräche endgültig zum Wahlkampfthema.

Mine frisst Dorf und Land

Die Kohleproduktion in Kolumbien liegt komplett in den Händen von multinationalen Konzernen. So gehört Cerrejón, der mit 69.000 Hektar größte Tagebau Lateinamerikas, den Firmen Xtrata, BHP Billington und Anglo American. Aus Cesar exportieren hauptsächlich Drummond und Glencore. Der Rohstoff landet schließlich zum großen Teil bei den Energieversorgern RWE, E.ON, EnBW, STEAG und Vattenfall. Auf Einladung von FIAN (Food First Informations- und Aktions-Netzwerk) und Urgewald berichteten Óscar Guariyú und Petra Langheinrich in Deutschland über die hohen Kosten der deutschen Energie für Menschen und Umwelt in Kolumbien. Guariyú ist der Präsident von AACIWASUG, der Vereinigung der indigenen Wayúu-Räte aus dem Süden von Guajira, und Langheinrich arbeitet für das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo CAJAR.
Eines der gravierenden Probleme des Tagebaus Cerrejón in La Guajira ist die „unheimlich hohe Staubbelastung“ durch die täglichen Sprengungen, erklärt Langheinrich. Laut Guariyú seien allein im benachbarten indigenen Schutzgebiet Provincial zwischen 2000 und 2010 zehn Menschen wegen des Kohlestaubs an Erkrankungen der Atemwege gestorben. Hinzu kommt nach 30 Jahren Existenz von El Cerrejón die Zerstörung der Lebensgrundlage der Bevölkerung in dieser Region. „Vor der Ankunft des multinationalen Unternehmens haben wir gut gelebt“, berichtet Guariyú. „Wir lebten von der Fischerei, wir züchteten Tiere, jagten und betrieben Nahrungsmittelanbau. Wir mussten keine Not leiden“. Aber die Mine hat rund 60.000 Menschen vertrieben, ihre Abfälle haben das knappe Wasser der Wüste verschmutzt und ihr Staub hat Pflanzen ausgerottet. 64 Prozent der Provinzbevölkerung leben heute in Armut.
Die Mine hat Dörfer „gefressen“. Ganze Ortschaften sind unter den Baggern verschwunden, während ihre Einwohner gewaltsam vertrieben wurden. Die Erweiterungsprojekte brachten das Fass zum Überlaufen. Die Umleitung des Flusses Ranchería auf einer Länge von 25 Kilometern, um die darunter liegende Kohle abzubauen, rief die Bevölkerung von La Guajira auf den Plan. Den illegalen Versuchen der Firma, die Zustimmung der Wayúus mit Geschenken zu erkaufen, traten die Indigenen mit dem selbstorganisierten AACIWASUG entgegen. „Wir sind jetzt alle vereint und entschlossen, die Umleitung des Flusses bis zur letzten Konsequenz zu verhindern“, versichert Guariyú. Cerrejón hat zwar das Projekt eingestellt, aber „es geht ja um den Abbau von 500 Millionen Tonnen Kohle; die Firma wird dies mit Sicherheit nicht aus den Augen verlieren“, fügt der indigene Anführer hinzu.
Gerade das sei der Grund, vermutet Gurariyú, weshalb im letzten Monat die Militarisierung um Provincial herum zugenommen hat. Das Unternehmen und das Militär beschuldigen die Gemeinde, Kämpfer_innen der FARC-Guerilla bei sich zu beherbergen. „Aus den Hubschraubern leuchten sie uns in der Nacht mit leistungsstarken Lampen an. Sie bewachen uns ständig. Auch tagsüber. So will das Unternehmen Druck auf uns ausüben“, klagt der Präsident von AACIWASUG. Er befürchtet, die Einschüchterungsversuche könnten sich noch verschlimmern. „Sie wollen, dass wir wegziehen. Aber das werden wir nicht tun“.
Die Sorgen der Gemeinde Provincial sind nicht unbegründet. Menschen und Organisationen, die den Bergbauunternehmen in die Quere kommen, werden oft von Paramilitärs angegriffen. Nach einem Streik der Gewerkschaft von Cerrejón Sintracarbón wurde Anfang April ein Attentat auf eines ihrer Mitglieder verübt und im Monat davor wurde neben dem Gebäude der Gewerkschaft der Drummond Sintramienergética in der Provinz Cesar eine Bombe gelegt, so Langheinrich. Zeitgleich erklärten die Paramilitärs „Los Rastrojos“, dass das Anwaltskollektiv CAJAR sowie beide Steinkohlegewerkschaften neben einer langen Reihe von Aktivist_innen und sozialen Organisationen nun militärische Ziele seien. Sie würden „an irgendeinem Ort Kolumbiens sterben“, kündigt das Komuniquée der rechten Gruppe an. Dass solche Drohungen gerade bei Arbeiter_innen der Drummond nicht einfach ignoriert werden können, zeigt der Mord an den Gewerkschaftern der Sintramienergética Valmore Locarno, Victor Hugo Orcasita und Gustavo Soler im Jahr 2001.
Laut Langheinrich hat die Untätigkeit der kolumbianischen Regierung gegenüber den Konzernen mit dem als „Drehtür“ bezeichneten Phänomen zu tun. „Die Politiker wechseln als Führungskräfte zu den Multis und auch umgekehrt“. Beim Bergbausektor erfolge das systematisch. Solche Wechsel seien auch im internationalen Bereich zu beobachten. Zum Beispiel gehört die Ex-Direktorin der Abteilung für „soziale Standards“ von Cerrejón ironischerweise zur UNO-Arbeitsgruppe für „Menschenrechte und internationale Unternehmen.“
Aber auch die deutsche Politik schaut nur zu, obwohl Kolumbien nach dem Stand von 2011 der größte Kohlelieferant Deutschlands geworden ist. Trotz der „Energiewende wollen Bundesregierung und Energieversorger in den kommenden Jahren die Energieerzeugung durch Steinkohle massiv ausbauen“, bemerken die Nichtregierungsorganisationen (NRO) FIAN und Urgewald in ihrem Dossier Bitter Coal. Deshalb ist ein Schreiben von RWE vom Februar nicht verwunderlich, in dem die Firma äußert, sie „sehe derzeit keinen Grund, die Vertragsbeziehungen mit Drummond auszusetzen“. Dabei kontrollieren die Kommunen an Rhein und Ruhr circa ein Viertel der RWE-Anteile, so die Recherchen der NRO. Kurz vor der erwähnten Mitteilung hatte ein kolumbianisches Gericht einen Subunternehmer der Drummond zu 38 Jahre Freiheitsentzug verurteilt und Ermittlungen gegen Führungskräfte der Firma, einschließlich dem CEO (geschäftsführende Vorstandsmitglied) Gary Drummond, angeordnet.
Laut jüngsten Bekundungen von RWE soll die Firma die vertraglichen Beziehungen zu Drummond zunächst bis Ende April eingestellt haben, bis die Rechtslage der Drummond klarer wird. Die Situation der Wayúus hingegen scheint kein Grund für eine mögliche Beendigung des Vertrags mit Cerrejón zu sein. Das ist der Eindruck von Langheinrich, nachdem sie und Guariyú der Aktionärsversammlung des Stromproduzenten beigewohnt haben. Doch auch E.ON, EnBW, Vattenfall oder STEAG weichen in der Praxis der sozialen Verantwortung aus, über die sie in ihren Firmenpräsentationen gerne reden. „Generell spricht man hier in Deutschland viel über grüne und ökologische Produkte, aber wenn es um die Vertreibung von Indigenen oder gravierende Umweltschäden weit weg geht, dann wird weggeschaut“, klagt Lang­heinrich. „Und das nur, damit hier in einem Industrieland alles perfekt am Laufen bleibt.“

Widerstand gegen Zuckerbrot und Peitsche

Am 12. Dezember 2012 setzten Bewohner_innen der Gemeinde Arboleda, Nariño, drei Lieferwagen des kanadischen Bergbauunternehmens Gran Colombia Gold (GCG) in Brand. Seit diesem Ereignis sieht sich das Unternehmen dazu gezwungen, jeden weiteren Besuch in der Gemeinde vorher anzukündigen. Vorausgegangen sind dieser Entwicklung zwei Jahre erfolgloser Dialoge, mehrfacher Bedrohungen von Seiten des Unternehmens sowie andauernder Widerstand der lokalen Bevölkerung.
Arboleda befindet sich im südwestlichen Teil Kolumbiens, gelegen in den Höhen der westlichen Anden. Die Menschen dort leben von selbst angebauten Kartoffeln, Linsen, Yuca und Kaffee. „Dieses Fleckchen Erde gibt uns alles, was wir brauchen. Essen, Gemeinschaft und Ruhe“, sagt Silvia Rodriguez* (alle Namen mit * von der Autorin) verändert, eine Kleinbäuerin aus Arboleda. Seit über zwei Jahren ist es mit der Ruhe vorbei und Arboldea ist umkämpftes Territorium.
„Im Januar 2011 kam das Unternehmen. Zuerst sagten sie, dass sie hier Parks errichten wollen. Später versprachen sie uns Jobs und Sicherheit“ erinnert sich Martín Jiménez*. GCG besitzt Konzessionen für 43.000 Hektar Land in Kolumbien, davon 5993 Hektar im Gebiet des Gebirges Macizo, in dem sich auch Arboleda befindet. Dort installierten die Arbeiter an 21 unterschiedlichen Punkten Plattformen, von denen aus sie Bodenproben nahmen. Mit einem durchschnittlichen Goldgehalt von 2.35 g/t ist das Ergebnis im Vergleich zu anderen Minen eher bescheiden. Da der Goldpreis jedoch durch die globale Finanzkrise rapide angestiegen ist lohnt sich das Geschäft trotzdem. Zusätzlich profitieren Unternehmen wie GCG von Steuererlassen der kolumbianischen Regierung. Der Ausverkauf der Bodenschätze ist vor dem Hintergrund der von Präsident Juan Manuel Santos propagierten Entwicklungsstrategie zu sehen, in der Bergbau und Energie „Lokomotiven“ für Wachstum und Wohlstand sein sollen (siehe LN 459/ 460).
Zunächst waren die Bewohner_innen von Arboleda froh über das Erscheinen des Unternehmens. Sie hofften auf Arbeitsplätze und Wohlstand. Doch schnell mussten sie die zahlreichen sozialen und ökologischen Probleme des Bergbaus leidvoll erfahren. So hat sich der Wasserstand in der nahegelegenen Lagune La Marucha drastisch reduziert. Das könnte in einer Region, in der es außer den natürlichen Quellen keine Wasserversorgung gibt, zu existenziellen Problemen führen. Zudem tritt an den Stellen, an denen Probenahmen stattfanden Wasser aus, das gelblich verfärbt ist und säuerlich riecht. Kühe, die von diesem Wasser getrunken haben, sind später gestorben. Um diese Vorfälle aufzuklären wären Untersuchungen der Wasserqualität notwendig. Das Unternehmen weigert sich jedoch, diese zu finanzieren.
Neben den ökologischen Problemen entstanden für die Bewohner_innen eine Reihe sozialer Konflikte. Aufträge und Beschäftigungen wurden lediglich für kurze Perioden an die Arbeiter_innen vergeben. So sollte die Zahl der insgesamt Beschäftigen erhöht werden. Daraus entstand neben der Zustimmung für das Unternehmen auch ein verschärftes Abhängigkeitsverhältnis . Da sich in nahezu jeder Familie sowohl Befürworter_innen als auch Gegner_innen des Projekts fanden, kam es zur Zerrüttung sozialer Zusammenhänge.
Aus ihren Erfahrungen erwuchs für die Gegner_innen schnell die Einsicht sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Wichtig in diesem Zusammenhang waren auch die Erlebnisse aus anderen Regionen, die ebenfalls von Bergbauprojekten betroffen sind.
Das Comité de Integración del Macizo Colombiano (CIMA), eine Kleinbäuer_innenorganisation aus dem Gebiet des Macizo und seine nationale Dachorganisation der Coordinador Nacional Agrario (CNA) organisierten einen Austausch. Bei CNA handelt es sich um eine Basisorganisation, die aufbauend auf dem Prinzip der Solidarität und mit direkten Aktionen für einen fundamentalen Wandel des Agrarsektors kämpft.
Den Gegner_innen der Goldminen in Arboleda hat CIMA Dokumentarfilme aus Chile und Guatemala gezeigt, in denen sich die verheerenden sozialen und ökologischen Folgen von Bergbauprojekten zeigen. Darüber hinaus hat CIMA die Bevölkerung im Rahmen von politischen Bildungsveranstaltungen, die Bewegungswissen und Organisierungspraktiken vermitteln, unterstützt. Viele Bewohner_innen berichten zudem, dass für sie das persönliche Zusammentreffen mit Betroffenen aus anderen kolumbianischen Bundesländern von herausragender Bedeutung war. So erzählt Silvia von ihren Gesprächen mit anderen kolumbianischen Aktivist_innen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben: „Wenn ich früher die Gelegenheit gehabt hätte, diese Gespräche zu führen, dann hätte ich viel eher gewusst, mit welchen perfiden Strategien das Unternehmen versucht sich Zutritt zu unserem Territorium zu verschaffen.“
Der Einstellungswandel der Bevölkerung gegenüber der GCG und ihre beginnende Organisierung ist vom Unternehmen nicht unbemerkt geblieben. Seitdem hat der Bergbaukonzern seine Strategie verändert und agiert parallel mit Zuckerbrot und Peitsche. So zündeten Unbekannte im August 2011 auf drei Ländereien Installationen an, die für die Verarbeitung von Vollrohrzucker benötigt werden. Außerdem gab es mehrfach Todesdrohungen gegenüber Aktivist_innen und/ oder deren Familienmitgliedern. Seit Sommer 2011 wurden elf solcher Drohungen zur Anzeige gebracht, wobei die Großzahl der Betroffenen aus Angst nicht angezeigt haben. „Zuckerbrot“ gab es in Form von Geschenken: In der Schule wurden Notizhefte verteilt, auf denen zu lesen war „Der Bergbau ist mein Freund. Der Bergbau schafft Arbeit, hilft der Gemeinde und respektiert die Umwelt.“ Eine andere Form war die Bezahlung derjenigen, die an einer vom Unternehmen organisierten Demonstration in der regionalen Hauptstadt Pasto im September 2011 teilnahmen. Es ist der Versuch des Konzerns gegenüber der Öffentlichkeit, eine breite Zustimmung für den Abbau von Gold zu suggerieren, die real nicht existiert.
Vor diesem Hintergrund ist der andauernde Konflikt zu verstehen, der sich zwischen der Gemeinde und dem Unternehmen abspielt. So kam es Anfang Oktober 2011 in der örtlichen Schule zu Handgreiflichkeiten, bei denen ein Mädchen sowie eine ältere Frau durch Mitarbeiter des Unternehmens verletzt wurden. Dies führte zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen der Gemeinde und Arbeitern in deren Verlauf zwei Unterkünfte der Arbeiter abbrannten. Von Seiten des Unternehmens hieß es daraufhin, dass es sich um eine geplante Aktion gehandelt haben müsste. Diese Darstellung wurde von Medienseite durch den Hinweis ergänzt, dass die Gemeinde Hilfe von außen gehabt haben müsse. Für alle Beteiligten ist klar, dass damit die Guerilla gemeint ist. Es handelt sich offensichtlich um den Versuch, zivilen Widerstand zu kriminalisieren und in die Nähe der von der Regierung als Terroristen diffamierten Guerilla zu rücken. Damit könnte bereits präventiv der spätere Einsatz von staatlichen oder parastaatlichen bewaffneten Akteuren legitimiert werden. Tatsächlich waren in den Wochen nach diesem Vorfall Militärs in der Region präsent. Zeug_innen berichteten zudem über weitere bewaffnete Gruppen, deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte.
Es folgten im Frühjahr 2012 mehrere Runde Tische zwischen Gemeindemitgliedern und Vertretern der regionalen Regierung, in denen sich die Beteiligten gegen Großminenprojekte wie für das der GCG aussprachen. Da es jedoch weiterhin keine Verhandlungen zwischen den Bewohner_innen von Arboleda, der nationalen Regierung in Bogota und dem Unternehmen gibt, befürchten viele in Arboleda eine Eskalation, die in einer Militarisierung der Region und dem Versuch, die Bevölkerung zu vertreiben, münden könnte. Für die Bewohner_innen ist jedoch klar, dass sie sich einer solchen Politik widersetzen werden und bereit sind bis zum Letzten zu gehen um ihre Gemeinde, zu verteidigen.

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