Es ging ums Ganze

Die Vorgänge von 1968 zu erforschen sowie die Erinnerung an die AkteurInnen und ihre Ziele wachzuhalten, ist auch zwei Jahre nach dem großen Rummel um die StudentInnenproteste ein wichtiges Anliegen. Das bereits im Januar bei Assoziation A erschienene Buch Kontinent der Befreiung? spürt den Facetten des Widerstands jener Generation in Lateinamerika nach.
Das AutorInnenkollektiv, Studierende des Lateinamerika-Instituts der Berliner Freien Universität, versucht dabei auch zu ergründen, welche Zusammenhänge zwischen den Bewegungen dort und den Protesten hier bestanden. Das Symboljahr wird in den Kontext der 1960er und 1970er Jahre eingebettet, ohne das Woher und Wohin der ProtagonistInnen auszublenden. Die erfolgreiche Revolution in Kuba wird dabei als eines der entscheidenden Momente ausgemacht, das unzählige Menschen – nicht nur in Lateinamerika – politisierte und zum Ansporn für die eigene emanzipatorische Arbeit wurde. Eine sozial gerechte Gesellschaft auch im eigenen Land zu erkämpfen, war zum Impuls einer ganzen Generation geworden – nur die Schlussfolgerungen der Beteiligten unterschieden sich bekanntlich.
Nicht von ungefähr betonen die HerausgeberInnen auch den Stellenwert der Befreiungstheologie. Anhand der Porträts zweier ihrer VertreterInnen wird deutlich, wie auch engagierte ChristInnen radikalisiert wurden, welchem Widerstand sie innerhalb der Kirche ausgesetzt waren und wohin ihr Weg sie führte. So fiel der kolumbianische Guerilla-Priester Camilo Torres, der sich 1965 der Nationalen Befreiungsarmee ELN angeschlossen hatte, bereits bei seinem ersten Gefecht gegen die Regierungstruppen. Der Nicaraguaner Ernesto Cardenal, Gründer der Kommune von Solentiname und später Kulturminister der SandinistInnen, befindet sich heute bekanntermaßen im Konflikt mit dem Präsidenten und Ex-Revolutionär Daniel Ortega.
Vertiefende Beiträge zu einzelnen sozialen Bewegungen befassen sich mit Mexiko, Kolumbien, Uruguay, Peru und Brasilien. Die staatliche Reaktion wird in einem eigenen Kapitel an den Beispielen Argentinien, Uruguay, Nicaragua und Mexiko aufgezeigt. Es finden sich zahlreiche Porträts bekannter und weniger bekannter AktivistInnen sowie engagierter Intellektueller jener Zeit, etwa von Paco Ignacio Taibo II und Gioconda Belli oder dem Ex-Tupamaru und heutigen Präsidenten Uruguays, José Mujica. In dem Porträt Marta Harneckers, heute Politikberaterin der venezolanischen Regierung, wird auch die Entwicklung in Chile angerissen, die ansonsten jedoch merkwürdig unterbelichtet bleibt.
Der Band betrachtet auch die soziokulturellen Umbrüche jener Zeit: sexuelle Befreiung, Feminismus, Fernsehen und das neue politische Kino. Das Buch zeichnet sich neben der inhaltlichen Breite vor allem durch die leichte Zugänglichkeit auch für Laien und Jugendliche aus; die kurz gehaltenen Beiträge werden durch zahlreiche Fotos ergänzt. Abgerundet wird Kontinent der Befreiung? durch den Blick auf Spuren von 68 in der Erinnerungskultur Mexikos und Brasiliens sowie eine systematische Kurzdarstellung der Situation in den einzelnen Ländern.

Para-democracia

Als Álvaro Uribe Vélez 2002 mit 53 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, kündigte er eine neue „demokratische“ Ära, eine „Politik der demokratischen Sicherheit“ an. Tatsächlich hat sich in den letzten acht Jahren in Kolumbien einiges verändert: Allein durch seine Person als Parteiloser hat er bewiesen, dass das seit 60 Jahren herrschende Zwei-Parteiensystem aus Konservativen und Liberalen lediglich Wahloptionen suggerierte, die es nicht gab. So setzte auch die Regierung unter Álvaro Uribe genau das fort, was die Vorgängerregierungen vorangetrieben hatten: Bis auf die kolumbianische Armee ist das meiste im Land in Privatbesitz nationaler und multinationaler Konzerne.
Dazu tragen vor allem investitions- und unternehmensfreundliche Gesetze bei: „Kolumbianische Regierungen unterstützen traditionell Privatunternehmen und begrüßen Privatisierung sowie ausländische Investitionen im Land. Diese Haltung wurde verstärkt, als Mitte der 90er der kolumbianische Markt international geöffnet wurde. Diese Öffnung brachte wesentliche Änderungen in der Gesetzgebung für Auslandsanlagen und im Finanzsektor mit sich“, so die deutsch-kolumbianische Industrie- und Handelskammer. Was sich hinter diesem Understatement verbirgt, sind paradiesische Zustände auch für ausländisches Kapital: minimale Steuersätze, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und lebensbedrohliche Umstände für GewerkschaftsvertreterInnen. Während die Profiteure dieses Regimes praktisch gar keine Steuern bezahlen, lebt über die Hälfte der kolumbianischen Gesellschaft in Armut.
An diesem Modell hat auch die EU Gefallen gefunden: Sie schloss im Mai 2010 ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien ab, das die Abschaffung aller Industriezölle in den nächsten zehn Jahren vorsieht. Die kolumbianische Regierung verpflichtete sich begleitend, „den Schutz der Menschenrechte sowie der Arbeitnehmerrechte auszubauen“. Doch von „ausbauen“ kann keine Rede sein. Allein in der Regierungszeit Uribes wurden über 800 GewerkschafterInnen umgebracht – privatisierter Terror, der so lange existiert, wie das formale Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Streiks de facto außer Kraft gesetzt wird. Der Krieg im Inneren hat auch ein offizielles Gesicht: In seinen zwei Amtszeiten hat Uribe die Armee deutlich aufgestockt: von 190.000 auf 250.000 Soldaten. Dazu kommen über 150.000 Polizisten und mindestens eine genau so große Anzahl an privatem Sicherheitspersonal
Was sich hinter der „Politik der demokratischen Sicherheit“ verbirgt, zeigt sich auch in den beängstigenden Zahlen des kolumbianischen Instituts für Gerichtsmedizin: Allein im Jahr 2009 verschwanden 18.000 Kolumbianer oder kamen gewaltsam ums Leben. Laut der kolumbianischen Juristenkommission CCJ waren seit 2002 in 75 Prozent aller Fälle von Verschwundenen staatliche Institutionen (Armee und Geheimdienst) direkt oder indirekt involviert.
Ein weiterer zentraler Baustein dieser „Sicherheitspolitik“ war der Plan Colmbia, den Kolumbien mit den USA im Jahr 2000 abgeschlossen hatten. Dieser Vertrag nannte als oberstes Ziel die Zerschlagung der Drogenkartelle und die Zerstörung der Anbauflächen. Geht man davon aus, dass der Plan Colombia tatsächlich dies zum Ziel hatte, so sieht die Bilanz verheerend aus: Der Drogenanbau und die Gewinne aus dem Drogengeschäft sind seit 2000 konstant geblieben. Kolumbien bleibt Exportweltmeister in Sachen Kokainproduktion. Ganz nüchtern stellten die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht sowie Europol in einer gemeinsamen Stellungnahme im April 2010 fest: »Der Großteil des derzeit weltweit verfügbaren Kokains stammt von Kokapflanzen, die in Kolumbien angebaut werden und die einen erheblichen Beitrag zur dortigen Wirtschaft leisten.“ Daran ändern spektakuläre Festnahmen von „Drogenbaronen“, die Beschlagnahmung ihrer Vermögen und gelegentliche Auslieferungen an die US-Justiz nichts. Im Gegenteil, man darf sie als integralen Bestandteil eines äußerst erfolgreichen Geschäftszweiges der kolumbianischen Wirtschaft begreifen. Dies ähnelt also mehr der „Abberufung“ und Versetzung krimineller Wirtschaftsbosse in westlichen Ländern – zumal die Auslieferungen vor allem dazu dienen, Aussagen von ehemaligen Paramilitärs und Drogenhändlern vor der kolumbianischen Justiz zu verhindern.
Die Paramilitärs wurden bereits in den 1960er Jahren von Großgrundbesitzern, Firmen und Militärs ins Leben gerufen. Von Anfang an waren diesen Todesschwadronen die Unterstützung durch Militär, Polizei und die jeweiligen Regierungen sicher. Zum einen richteten sie sich gegen LandarbeiterInnen und Bauern. Zum anderen wurden sie von Firmen und ausländischen Konzernen wie zum Beispiel dem Bananenmulti Chiquita Brands angeheuert, um Angriffen der Guerilla militärisch zu begegnen, Gewerkschafter zu ermorden und ArbeiterInnen einzuschüchtern. Sie agierten zunächst lokal, doch konnten sie ihre Einflussgebiete in den folgenden Jahrezehnten deutlich ausweiten. In den 1990er Jahren schloss sich ein Großteil landesweit zusammen und gab sich den bizarren Namen Vereinte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC). Mit der Zeit wurden die Paramilitärs zu einer politischen und militärischen Größe und besetzten eigene, auch legale „Geschäftsfelder“. Die Aneignung enormer Landflächen war und ist mit dem Einsatz von Gewalt verbunden. So verwischen sich die Grenzen zwischen legalen und illegalen Geschäften.
Namhafte Drogenbosse und Paramilitärs haben bestätigt, dass sie Uribes Wahlkämpfe mit Millionen-Beträgen unterstützt haben: Am 22. April 2008 wurde Mario Uribe, der Cousin des Präsidenten, erstmals festgenommen. Er wird beschuldigt, sich mit dem ehemaligen AUC-Chef Salvatore Mancuso getroffen und über eine Unterstützung bei den Wahlen 2002 verhandelt zu haben. Mancuso dazu: „Wir haben ihm Stimmen beschafft.“ Wenn also Drogenanbau und –handel seit 2002 konstant geblieben sind, die zerstörten Kokainfelder nur medial ins Gewicht fallen, dann liegt das nicht an den fehlenden Mitteln, die für den Kampf gegen die Drogenkartelle bereitgestellt wurden: Das Regime braucht die Bilder von zerstörten Kokainfeldern zur Legitimation. Genauso müssen entmachtete Drogenbosse institutionalisiert, unzufriedenes Personal „abgefunden“, militärische Operationen finanziert werden – ganz abgesehen von der normalen Korruption innerhalb des Apparats selbst. Mit der „Politik der Demokratischen Sicherheit“ der Regierung Uribe war auch das Ziel verbunden, die paramilitärischen Verbände zu demobilisieren. Mit dem Versprechen auf fortgesetzte Straffreiheit und Integrationsangebote ins Zivilleben sollte der Privatisierung herrschender Gewalt Einhalt geboten werden. Diese Ankündigung beinhaltete eine Täuschung und ein strategisches Anliegen zugleich. Wie immer, wenn sich die herrschende Klasse eigenmächtig der Gewalt bedient, wenn sie paramilitärische Gruppen als Privatarmeen unterhält, sind damit systemische Risiken verbunden. Anfangs erfüllen paramilitärische Gruppen als Söldner lediglich Aufträge. Mit ihrer Größe und ihrem Einfluss steigt die Bereitschaft, selbst Politik zu machen. Aus Handlangern werden politische Akteure, die gelegentlich politischen Zielsetzungen im Weg stehen können. Die spektakulären Festnahmen von (kooperationsunwilligen) Paramilitärs, ihre gelegentliche Auslieferung an die USA und die Auflösung der AUC verfolgen also ein durchaus ernst gemeintes Ziel: Die kolumbianische Regierung wollte einen zunehmend auf eigene Rechnung agierenden Machtapparat ausschalten, um das Gewalt- und Terrorpotenzial der Paramilitärs gezielter einzusetzen. Damit sollte nicht der Terror, sondern seine Verselbständigung beseitigt werden.
Zu einem ähnlichen Resultat kommt der Jesuitenpater Javier Giraldo von der Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz bei einem Interview im Deutschlandradio 2008: „Die Regierung erklärt, die Politik der Demokratischen Sicherheit komme allen Kolumbianern gleichermaßen zugute, Reichen und Armen, Unternehmern und Gewerkschaftern. Ich halte das für eine Farce. Die Demokratische Sicherheit fällt mit einer neuen Phase zusammen, die ich als Legalisierung und Institutionalisierung der Paramilitärs bezeichnen würde. Vor dem Amtsantritt von Präsident Uribe waren die paramilitärischen Gruppen illegal und gingen extrem brutal vor. Sie verübten fürchterliche Massaker. Unter Uribe ist nun eine neue Form der gesellschaftlichen Kontrolle durchgesetzt worden. Viele Kolumbianer arbeiten heute als Informanten der Geheimdienste.“ Geplant war ab 2002 eine Million staatlich bezahlter Spitzel. Neue private Sicherheitsdienste unterscheiden sich kaum von den alten paramilitärischen Gruppen: Diese Unternehmen sind mit der Armee eng verflochten. Unter neuem Namen bestehen die Strukturen weiter. „Der legale Paramilitarismus sorgt wie der alte dafür, die Entwicklung von Gewerkschaften, Bauernbewegungen und sozialen Projekten zu blockieren.“ Die flächendeckende Kriminalisierung der Opposition kommt noch dazu. Vor allem in den ersten Jahren der Regierung Uribe gab es willkürliche Massenverhaftungen, die nie einen Prozess nach sich zogen: ein trügerischer Begriff von „Sicherheit“.
Wenn also seit 2002 von „Demobilisierung“ die Rede ist, dann ist damit nicht das Ende von Terror gemeint, sondern vielmehr seine Integration und strategische Einbindung in den staatlichen Machtapparat. Wie diese Verzahnung von Paramilitärs, Militärs und Regierungspolitik funktioniert, zeigt kaum etwas eindrucksvoller das System der falsos positivos. Der Begriff geht auf den Jargon der Militärs zurück, die tote Guerilleros als positivos verbuchen. Im September 2008 gelangte das System der gefälschten Erfolgsmeldungen an die Öffentlichkeit. Der UNO-Sonderberichterstatter Philip Alston beschrieb es im Juni 2009 folgendermaßen: „Ein rekrutierender Armeemitarbeiter täuscht das Opfer mit falschen Versprechen und bringt es an einen entfernten Ort. Dort ermorden Mitglieder der Armee die Person kurz nach ihrer Ankunft.“ Der Tatort wird verändert, damit es scheint, als sei die Person legitim in einem Gefecht getötet worden. „Häufig werden Fotos gemacht, auf denen das Opfer in der Uniform eines Guerillero und mit Waffe oder Granate in der Hand zu sehen ist. Die Opfer werden anonym in Massengräbern bestattet und die Mörder für ihre Erfolge im Kampf gegen die Guerilla belohnt.“ So erging es mindestens 13 Jugendlichen aus dem Stadtviertel Soacha in Bogotá, die Anfang 2008 „spurlos“ verschwanden und als vermisst gemeldet wurden. Die kolumbianische Staatsanwaltschaft spricht inzwischen von über 2.000 Opfern. „Die Anzahl der Fälle, ihre geografische Verteilung und die Verschiedenheit der in die Fälle verwickelten Militäreinheiten weisen darauf hin, dass diese auf eine mehr oder weniger systematische Weise von einer bedeutenden Anzahl von Elementen innerhalb der Armee verübt wurden“, so die Einschätzung des UNO-Berichterstatters.
Nicht nur die systematischen Verbindungen zwischen Militärs und Paramilitärs sind damit belegt und dokumentiert worden. Mit dem 2008 öffentlich gewordenen Parapolítica-Skandal wurden zugleich die engen Verbindungen zwischen Paramilitärs und der Regierung Uribe offen gelegt: Nach vorsichtigen Schätzungen sind bis zu einem Viertel der Mitglieder des Regierungslagers in Praktiken der Paramilitärs verwickelt. Gegen 67 der 2006 gewählten Kongressmitglieder wurde 2009 ermittelt. Aufgrund dessen und der katastrophalen Bilanz der „Drogenbekämpfung“ wurden vom US-Kongress US-Gelder für den Plan Colombia eingefroren.
Dennoch steht der Uribismo (auch ohne Uribe) weder in der US-Regierung noch bei europäischen Regierungen zur Disposition. Und solange der Uribismo an der Macht bleibt, liegen Kolumbiens Bodenschätze auf dem Silbertablett multinationaler Konzerne. Das zeigt auch das im Mai unterzeichnete Freihandelsabkommen der EU. Was für die Mehrheit in Kolumbien barbarische Arbeitsverhältnisse sind, verspricht im Wirtschaftsdeutsch ein „sicheres Investitionsklima“ – was die Regierung in Deutschland zufrieden zur Kenntnis nimmt. Gegenüber dem Staatsterrorismus der Regierung Uribe zeigt man sich aufgeschlossen: Erst 2008 war Angela Merkel auf Staatsbesuch in Bogotá. Natürlich gebe es Defizite, aber die Bemühungen seien spürbar und vor überzogenen Erwartungen warne man bekanntlich überall auf der Welt, so die Kanzlerin damals. Was aber im zivilgesellschaftlichen Diskurs gerne zusammengedacht wird – ein sicheres Investitionsklima in rohstoffreichen „Zukunftsmärkten“ und Menschen- und Grundrechte – ist ein Trugbild.

Ein Hauch Ewigkeit

Auf einer alten Karte, die die Grenzregion von British Guiana und Venezuela darstellte, bemerkte ich einen bizarren Namen: El Terror. Schreckensbilder schossen durch meinen Kopf. Wegen der geographischen Nähe zu Jonestown, dem Ort des Massensuizids einer Sekte im Jahr 1978, welchem über 900 Menschen zum Opfer gefallen waren, oder der Nähe zum Bloody Creek bei Five Stars, jenem Bach, an dem sich rivalisierende Goldgräbercrews gegenseitig umbrachten? So sehr ich mich mühte, El Terror auf aktuellen Karten wiederzuentdecken: Der Name scheint getilgt aus dem Gedächtnis der Kartographen.
Neun Jahre sollten vergehen, bevor ich mich am 24. August 2003 auf der Weite des Orinoko wiederfinde, in unserer Ballahoo, einem kiellosen Holzboot guyanischer Bauart, bestückt mit 2 Außenbordmotoren. Mein Ziel? El Terror!
Neben mir sitzt, das blauschwarze Haar im Wind, D., meine Verlobte, eine Hindu, deren Eltern 1983 vor der wirtschaftlichen Not ihrer Heimat Guyana hinein in das Labyrinth des Orinokodeltas geflohen waren, um hier ein neues Leben zu beginnen, mit neuen Namen, neuen Ausweisen, neuem Geld und – mit dem Segen von Lakshmi Mata, der Göttin des Glücks und Wohlstands. Gelang es? Sie führen einen Handel mit dem Volk der Warao, die ihre Pfahlbauten weitab errichtet haben – was die Indigenen jahrhundertelang sowohl vor dem Terror weißer Entdecker als auch einer kreolischen Soldateska bewahrt hat, die die unbarmherzigen Sümpfe stets mieden. D.’s Eltern, ihr Bruder und ihre Tante tauschen Salzfisch von den Waraos gegen Stoffe, Arzneien, Zucker, Tabakstangen, Feuerwasser. Denn der Verkauf von Fisch in Tucupita bringt der Familie gutes Geld, und an der Orinokomündung, wo Ozeanwasser auf Flusswasser trifft, gibt es jede Menge Fisch. Doch es ist nicht das Business, es ist D., die von ihrer Mutter, der alten Matriarchin, am meisten geliebt wird. Und es ist D., die ihr am meisten Kummer gemacht hat. Kaum 18, lief sie mit einem im Delta stationierten Nationalgardisten davon, an die kolumbianische Grenze, wohin er versetzt worden war, um gegen die Guerilla zu kämpfen. D. verbrachte endlose Tage allein. Wenn er nach seinen Scharmützeln heimkam, weinte er vor Verzweiflung, er zitterte und er griff zur Flasche. Ein Mann, so hatte D. gelernt, muss immer stark sein. Sie ging. Er folgte ihr zu ihrem Elternhaus, schrie und schoss in die Luft, doch sie zeigte sich ihm nie wieder. Es vergingen Jahre der Einsamkeit. Jetzt aber scheint alles perfekt: Sie neben mir, und der Passat in unserer Nase. Indes: Von heute an sind es kaum mehr fünf Jahre, die D. auf dieser Welt noch beschieden sein werden. Am 5. April 2008 werden Revolverkugeln eines unbekannten Mopedfahrers die inzwischen 35jährige Frau treffen, während sie ihren Jeep in Tucupita einparkt.
Am Heck steht unser Steuermann, ein Hüne aus Guyana, der unter dem Namen M. berühmt ist und dessen Adern „globales Blut“ durchströmt: Seine Vorfahren waren Afrikaner, Arawaks, Portugiesen. M. ist für jedes Abenteuer zu haben. Er taucht auf und er taucht unter, ist immer allein, obwohl stets in Gesellschaft zu sehen. Die Frauen lieben ihn, den sanften Helfer in der Not, der noch keiner je einen Wunsch abgeschlagen hat. Über Jahrzehnte schmuggelte er Benzin von Venezuela nach Guyana und Menschen von Guyana nach Venezuela. Bei Fort Island, einer Insel im Essequibo, tauchte er mit modernem Equipment nach dreihundert Jahre altem Müll: leer gesoffenen Flaschen, welche die Sklavenhalter, in Ekel vor ihrer eigenen Grausamkeit und nicht minder großem Ekel vor der ihnen feindlich gesinnten Umgebung, ins Wasser geschleudert hatten. In den entlegenen Strömen Guyanas tauchte M. ebenfalls, den Saugschlauch im Arm, der die Ablagerungen der Flussbetten nach oben auf das Floß presste, wo eine Lavador genannte „Waschmaschine“ goldhaltigen Schlamm von wertlosen Sedimenten trennte. Indes: Nur ein Jahr wird vergehen, und er wird nicht mehr sein, der er heute ist. Wir werden nach Guyana aufbrechen. Von dort wird er nicht zurückkehren, wird sich als Bootsmann für Goldtransporte verdingen, wird erkranken an Malaria und bis zum Skelett abmagern. Dann wird sich die Spur des 39-jährigen verlieren. Heute aber steht er stolz am Heck. Zum Schutz seiner tränenden Augen hat er seine Skibrille aufgesetzt, in der sich die Wasserfläche des Orinoko unendlich fortsetzt.
Wegen Motorproblemen sind wir spät losgekommen. Hierzulande verläuft das Leben unkalkulierbar, und jeder noch so gute Plan muss durch Improvisationskunst ersetzt werden.
Wir biegen in einen südlichen Nebenarm des Orinoko ein, den Río Arature, jenen Schwarzwasserfluss, den ich auf zahlreichen Fahrten lieb gewonnen habe, und übernachten an der Einmündung des Caño Basama in einem alten Pfahlbau.
Während wir überm Sangrito-Feuer ein Stück Wild rösten, das wir unterwegs von den Waraos erhandelt haben, und an unserem Rum nippen, kommt unweigerlich die Story mit dem Koks hoch, die ewig alte, neue, gleiche: In der Nacht des 17. August zischte eine Crew von 7 Drogenkurieren in ihrem Fiberglasboot und mit einer Fracht von 500 Kilo durch die Große Barre des Orinoko 35 km östlich der Arature-Mündung. Die Barre zu befahren ist (außer am zeitigen Morgen) gefährlich; die Wellen türmen sich höher als im Meer. Das Boot raste gegen eine der Bojen, die den Containerschiffen die Fahrrinne anzeigen, und barst entzwei. 4 Besatzungsmitglieder ertranken. Ihr Mafia-Bossman traf am nächsten Tag in dem der Barre nächstgelegenen Dorf ein und zahlte den Waraos umgerechnet. 2.000 US-Dollar, um nach den Ertrunkenen und den Drogen zu suchen. Zwei Wasserleichen wurden tatsächlich gefunden: mit um den Leib gebundenen Kokainpäckchen. Als D.’s Tante mit ihrem Handelskahn eintraf, fand sie die Waraos orgiastisch feiernd vor: „Es gab keine Hütte, die nicht wenigstens 100 Dollar besaß“, erzählte sie später D., und sie machte bessere Geschäfte als je und verkaufte Stoffe, Kleider und Rum für 400 Dollar. „Warum nur sind es die Waraos“, klagte sie, „die immer Dollar oder Drogen auf den Sandbänken finden, nie ich! Ich möchte auch mal einen Packen finden!“
Morgengrauen. Nebel wabert überm Spiegel des Caño Basama, auf dem die schwarzen Nüsse der Temiche-Palmen wie Bälle treiben und mit hölzernem Poltern gegen unseren Rumpf schlagen. Wir quälen uns durch einen schmalen Verbindungskanal zum Caño Guayacaicoro und gewahren hier auf Stelzen, die an Spinnenbeine erinnern, die Hütten der Papageienfänger, welche ihre Beute an Tierschmuggler verhökern, um nicht zu verhungern. Der Guayacaicoro vereint sich mit dem Cuyubini und fließt in den Amacuro, den ärmsten und wildesten Fluss Venezuelas, und dort ist es die Familie Frederic Smalls, die mit uns ihre Schildkrötensuppe teilt. Wir steigen um in einen Einbaum und heuern Enrique Valenzuela an, einen Lotsen, der mit lederner Haut und der Brusttätowierung eines Adlers mit ausgebreiteten Flügeln vertrauenerweckend wirkt.
Und jetzt geht`s los: Die Fahrt den Cuyubini stromauf – nach El Terror. Sogleich bricht ein Sturm los. Mehrmals krachen Bäume in den Fluss. Unser Lotse liegt im Bug und warnt M. vor Pflanzenstängeln, die sich um die Schiffsschraube wickeln könnten, und gefährlichem Driftholz.
Nach dem Regen nehmen sich die wenigen, allesamt verlassenen Hütten wie von einem Fluch überschattet aus. 1994 kam D.’s Bruder bis hierher, an den Rand der Goldregion. Der 18-jährige war den „berüchtigten Banditenfluss“ hochgefahren bis zum Vorratsshop von Bruce Small, dem Sohn des alten Frederic. Nahebei verbrachte er die Nacht, den Kopf auf dem Motor, der hierzulande mehr wert ist als ein Menschenleben. Am Morgen, als er zur Rückfahrt rüstete, bat ein Goldgräber, mitfahren zu dürfen. Unterwegs klagte er plötzlich: „Ich habe Durchfall, lass mich an Land!“ – „Schwing deinen Hintern über Bord“, erwiderte D.’s Bruder. Aber der Mann zierte sich in falscher Scham und dirigierte das Boot an eine Lichtung. Rasch verschwand er im Busch, doch während D.’s Bruder sich eine Bristol ansteckte, hörte er Stimmen, und als er aufschaute, gewahrte er mehrere Männer … Einen Lidschlag später hatte er das Boot in der Flussmitte. Kugeln flogen ihm um die Ohren, dann war er gerettet.
Und nun, in der Dämmerung, erreichen auch wir Bruce‘s Shop. An der Uferfront zieht sich eine Baracke, in der durchreisende Goldgräber nächtigen. Doch der nur von einem Öldocht erleuchtete, stickige Raum ist voller Menschen, darunter etliche Malariakranke.
Also weiter! Ein Docht am Ufer zeigt uns die Stelzenhütte von Carlos Knight. Hundebellen zerreist die Finsternis, Kinderweinen. Es riecht nach Penicillin. Über mein Gesicht streichen Fledermausflügel. Eine Zikade klagt. Wir alle – außer Enrique, der im Boot wachen wird – spannen unsere Hängematten an die Dachbalken. D. kocht Spaghetti. Carlos und seine Familie sind dankbar: Am Cuyubini ist der Hunger Dauergast. Wie stets checke ich in der Nacht das Boot – Enrique, wirklich zuverlässig, hört mich sofort.
Vormittag. Die Stromschnelle El Ahogado, „Der Ertrunkene“, macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir entladen unser Habe auf einen Felsen in der Flussmitte, während M. und E. das Boot durch die Strömung navigieren. Silberne Fischchen, aufwärts wandernd, schnellen über den Fels; D. befreit sie aus ihrer hilflosen Lage und setzt sie oberhalb wieder ein.
Über El Ahogado habe ich bereits gelesen: Francisco Lugo (1894-1982), seinen Landsleuten zufolge „der einzige gebildete Mensch aus Amacuro, der in der großen weiten Welt Ruhm erlangte“, Philosoph, Parapsychologe, Ingenieur, unternahm in seiner Jugend eine Reise bis zu dem Ort El Terror, um Gold zu suchen. Er passierte El Ahogado, berüchtigt wegen der dortigen Jaguare und Schlangen, und gelangte nach El Terror: Gold fand er kaum, erkrankte jedoch an Gelbfieber.
Heute sind wir es, die das Antlitz von El Terror erblicken: Das Camp ist aufgegeben, aber warum man es so nannte, klar: Vor uns donnert auf der gesamten Flussbreite ein schrecklicher Wasserfall herab.
Am Fuße des Falls, auf dem Waldboden, liegen ausgestreut wie Juwelen Pflanzensamen, in Formen und Farben so merkwürdig, wie niemand je erdenken könnte. Einer der Samen sieht aus wie ein Kristallkiesel; in seinem Inneren ringelt sich fötengleich der Keimling. Beim Baden in der Lagune fühlen wir einen Hauch von Ewigkeit.
Bald wird unsere illustre Gesellschaft zurückkehren, jeder in seine Welt, E., M., D., ich. Wir werden Gold ertauschen, am Amacuro Kochbananen, Ingwer, Kürbisse, Kokosnüsse kaufen, werden bei Frederic Rum trinken, und am darauffolgenden Morgen die Große Barre des Orinoko kreuzen, mit uns ein malariakranker Indigener, 16 Jahre alt, in eine Decke gehüllt. Und unser Schicksal wird sich erfüllen.

Himmel und Hölle im Chocó

Die katalanische Autorin Nuria Amat hat Mitte der siebziger Jahre, als 24-Jährige, in Kolumbien gelebt. Sie war mit dem aus der Provinz Chocó stammenden Schriftsteller Óscar Collazos verheiratet, bekam eine Tochter und sagt heute, sie selbst sei dort „zum zweiten Mal geboren“ worden.
Die Faszination, aber auch Verunsicherung, die die junge Frau damals empfunden haben muss, lässt sich in dem Roman „Königin von Amerika“ wiederfinden. Amat hat ihn mit autobiographischen Zügen ausgestattet, aber ungefähr ins Jahr 2000 verlagert. Nuria und Óscar heißen hier Montserrat (Mon) und Wilson, und sie geraten mitten ins Kreuzfeuer des kolumbianischen Bürgerkriegs, bei dem – anders als noch in den 1970ern – politische Ziele und moralische Glaubwürdigkeit der Kriegsparteien einander längst ähnlich geworden sind.
Wilson ist ein verfolgter Journalist, der sich im Regenwald an der pazifischen Küste zu verstecken versucht. Hierher ist ihm Mon gefolgt. Eine umkämpfte Gegend, verlaufen doch gerade hier die Transportrouten der Drogenhändler. Eine Gegend, in der auch die Natur voller bedrohlicher Gewalt steckt: die endlosen Regengüsse, der bedrohliche Urwald, in dem Schlangen herumliegen, die man erst bemerkt, wenn man kurz vor ihnen steht – und der Tod hat von Anbeginn an seine Hand im Spiel.
Die Liebe zwischen Mon und Wilson verläuft heftig, aber nicht harmonisch. In hart aneinandergefügten Sätzen, die sprunghaft zwischen Wilsons Trinkerei und seinem Schweigen, zwischen liebevoller Begeisterung und großer Angst wechseln, gelingt es der Autorin recht gut, die fragile Existenz dieser Mon zu gestalten. Halt findet sie bei den Frauen – bei dem, was man sich über eine kürzlich ermordete Lehrerin, die titelgebende „Königin von Amerika“, erzählt, aber auch und vor allem bei der ganz realen Aida, die schließlich zu ihrer Begleiterin wird. An ihrer Seite wohnt sie einem an die Walpurgisnacht erinnernden Tanz-, Prostitutions- und Koka-Stampf-Ritual bei, erlebt sie eine Verhandlungsrunde zwischen Guerilla und Drogenproduzenten mit, übersteht sie einen Bombenangriff. Die Flucht mit den anderen Frauen schließlich löst alle frisch entstandenen Vertrautheiten wieder auf.
Königin von Amerika ist ein schwieriger Roman, der trotz bisweilen hoher Spannung und vielen beeindruckenden Passagen auch Schwächen aufweist. Ein Teil mag auf die Kappe des Originals gehen. Autobiographisch fundierte Texte haben es – wie das reale Leben – so an sich, dass bisweilen die Pointe fehlt und manche Anspielung nur für die Autorin interessant ist. Die Hexereien und Totengespräche der Aida und Mons Frauensolidarisierung erinnern zudem etwas zu sehr an alternative Moden der siebziger Jahre. Das haltlos-sprunghafte Erzählen vom Beginn trägt schließlich nicht allzu weit, was auch für Nuria Amat ein Problem gewesen zu sein scheint, denn sie wechselt zunehmend zu linear erzählten Passagen. So bekommt der Stil insgesamt etwas Unentschiedenes.
Die vorliegende deutsche Fassung verstärkt diesen Eindruck des Unfertigen. Jan Weiz sind zwar viele schöne und klare Sätze zu verdanken – wie der: „Einen Himmel gab es nicht, und die Hölle war hier vollendete Tatsache.“ Die Besonderheit des Textes, seine Brüche, hat er durch harte Wechsel im Sprachniveau unterstrichen, und ungewöhnliche Formulierungen wie „Halt dich still!“ oder „einnachten“ passen gar nicht schlecht. Wenn dann aber zum x-ten Mal jemand „leer schluckt“ oder jemand etwas „in Händen hält“, ist das zu bieder für so einen verletzlichen Text, aus dem man sich noch einige weitere Stilmängel und Korrekturfehler herausgewünscht hätte.

Nuria Amat // Königin von Amerika // Aus dem Spanischen von Jan Weiz // Edition 8 // Zürich 2010 // 239 Seiten // 20,80 Euro

Grün ist die Hoffnung?

Die Präsidentschaftswahlen vom 30. Mai wurden in Kolumbien seit Wochen mit großer Spannung erwartet. Der Kandidat der Grünen Partei, Antanas Mockus, war die große Überraschung des Wahlkampfs. Eine Stichwahl zwischen ihm und dem Wunschkandidaten des amtierenden Präsidenten Uribe, Juan Manuel Santos, zeichnete sich ab.

In Ecuador und Venezuela ist man sich einig über Juan Manuel Santos, der im Nachbarland Kolumbien Präsident werden will: Der ehemalige Verteidigungsminister sei ein Wolf im Schafspelz. Wenn Santos die Wahl gewinne, würden die Beziehungen zwischen beiden Ländern noch mehr leiden, erklärte der venezolanische Präsident Hugo Chávez. Rafael Correa in Ecuador wünscht den KolumbianerInnen für die Wahlen ein „Fest der Demokratie“ – aber „natürlich wäre Santos ein Problem“. Möglicherweise haben die beiden Glück: Der nächste kolumbianische Präsident könnte überraschend ein anderer werden.
Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen ist kurz vor dem Wahltermin am 30. Mai völlig unklar, obwohl das rechtsgerichtete uribistische Lager in den Parlamentswahlen vom März seine Position als stärkste Kraft festigen konnte. Zunächst sah es aus, als habe Santos den Wahlsieg schon in der Tasche. Nun zwingt ihn wohl der Kandidat der Grünen Partei, Antanas Mockus, in eine Stichwahl. Dessen rasanter Aufstieg in den Umfragen hat die Regierung Uribe mächtig ins Schwitzen gebracht.
Mockus ist als ehemaliger Bürgermeister von Bogotá in Kolumbien kein Unbekannter. Dennoch: Noch im März hätte keineR dem Mathematiker und Sohn litauischer Einwanderer ernsthafte Chancen eingeräumt. Er genießt ein „sauberes Image“. Als Bürgermeister hat er keine öffentlichen Gelder veruntreut. Mit kuriosen Aktionen – so ließ er sich selbstironisch im Superman-Kostüm ablichten – und seiner relativen Unabhängigkeit vom Politestablishment gewann Mockus besonders junge städtische WählerInnen für sich. Sie halten einen politischen Wandel mit ihm für möglich und sorgen für Aufbruchstimmung im Land. Mockus fordert Transparenz der öffentlichen Haushalte, Bildungsprogramme und Respekt für den Rechtsstaat. Gerade den letzten Punkt setzt Mockus den Uribisten entgegen. Viele erhoffen sich durch ihn eine gewisse Aufarbeitung der (staatlichen) Verbrechen der letzten Jahre. 18.000 Menschen sind laut Angaben des Instituts für Gerichtsmedizin allein im Jahr 2009 gewaltsam verschwunden.
Juan Manuel Santos steht noch mehr als Uribe für die traditionelle Oligarchie. Seiner Familie gehört der Medienkonzern Casa Editorial El Tiempo und somit die größte Tageszeitung des Landes. Als die Umfragewerte für Mockus stiegen, holte Santos rasch den Venezolaner Juan José Rendón in sein Wahlkampfteam. Rendón ist in ganz Lateinamerika bekannt für Schmutzkampagnen, in denen mit allen Mitteln die GegenkandidatInnen diskreditiert werden. Zuletzt hatte Rendón in Honduras Erfolg: Seinen PR-Strategien sei es zu verdanken, dass Porfirio Lobo, der zuvor nur zwei Prozent Zustimmung erreicht habe, Präsident werden konnte, fantasierte Santos über die Wahlfarce der honduranischen PutschistInnen.
Als ehemaliger Verteidigungsminister ist Santos verantwortlich für das Bombardement eines Camps der FARC auf ecuadorianischem Boden im Jahr 2008. Die diplomatische Krise mit Ecuador und Venezuela folgte auf dem Fuß, Drohgebärden in Richtung der Nachbarländer blieben an der Tagesordnung. Während seiner Amtszeit ist ein perverses Modell entstanden, nach dem SoldatInnen für getötete Gueriller@s Prämien erhalten. Laut Staatsanwaltschaft wurden in diesem Zusammenhang mindestens 2.500 ZivilistInnen verschleppt, ermordet und als tote Aufständische präsentiert. Auch Treffen mit Paramilitärs musste Santos zugeben. Vor Gericht hat er sich wegen dieser Vergehen bisher allerdings nicht verantworten müssen.
Nun würde Mockus keineswegs die Pistolen der Polizei gegen Sonnenblumen austauschen, wie ein Wachdienstmitarbeiter gegenüber der Wochenzeitung Semana fürchtet. Er will im Gegenteil die Sicherheitspolitik der Regierung Uribe fortführen: „Meine Herren, den Farc bleiben noch drei Monate“ spielte er kürzlich auf seinen möglichen Amtsantritt im August an und verwarf die Idee eines humanitären Abkommens mit der Guerilla. Einen solchen Austausch von Entführten und politischen Gefangenen mit der FARC fordern Angehörige von Entführungsopfern seit Jahren.
Mockus ist kein Linker. Häufig überschneiden sich seine Aussagen mit denen Uribes. Besonders deutlich wurde dies, als er einem Bündnis mit dem linken Alternativen Demokratischen Pol (PDA) eine Absage erteilte. Den Regierungsdiskurs kopierend behauptete Mockus, im PDA würde Gewalt als politisches Mittel „immer noch gerechtfertigt“. Viele Linke sind mehr als enttäuscht: Für sie ist Mockus längst viel zu weit nach rechts gerückt.
Von Nachhaltigkeit ist im Programm der Grünen Partei kaum die Rede, dafür von marktliberaler Politik. Selbst die weitere Privatisierung des Gesundheitssystems, die in den vergangenen Monaten großen Protest hervorgerufen hatte, will Mockus durchwinken. Grün sind an der Partei lediglich die Symbole: Sie suggerieren eine sozial-ökologische BürgerInnenbewegung, die es bisher nicht gegeben hat. Sollte Mockus die Wahl gewinnen, gäbe es wohl eine Fortsetzung der bisherigen Politik – in grünem Gewand. Angesichts der Ergebnisse der Parlamentswahlen vom März hätte ein unabhängiger Präsident ohnehin kaum nennenswerte Spielräume.
Die anderen KandidatInnen sind weit abgeschlagen. Gustavo Petro vom Linksbündnis PDA bietet keine wirkliche Alternative. Die zerstrittenen Strömungen innerhalb des PDA tun ihr übriges, um das Bündnis als Verlierer der Wahlen zu präsentieren. Noemí Sanín von der Konservativen Partei galt noch vor wenigen Wochen als ernsthafte Gegnerin von Santos – mit einem fast identischen Programm. Jetzt befindet sie sich in den Umfragen im freien Fall.
Das Wahlergebnis könnte sich einmal mehr durch systematischen Stimmenkauf gründlich verändern. Für einen möglichen Sieg Mockus‘ spricht jedoch ein wachsendes Unbehagen über die Missachtung jeglicher Rechtsstaatlichkeit in Kolumbien. Bisher wurde Uribe von kritischen JournalistInnen und Stimmen aus den Sozialen Bewegungen kritisiert. Aber jetzt, so der Politikwissenschaftler Carlos Gutierrez in der kolumbianischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique, kommen die KritikerInnen des Uribismus auch aus dem Unternehmertum. Mit Santos, befürchten sie, könnte der Handel in der Region zum Problem werden und sich die Ratifizierung der Freihandelsverträge mit der EU und den USA weiter verzögern.

Räuber und Gendarm

Vier Monate sind nun vergangen seit der entführte Viehzüchter Fidel Zavala nach Zahlung eines Lösegeldes von der Guerilla Streitkräfte des Paraguayischen Volkes (EPP) freigelassen wurde. Die Suche nach den TäterInnen brachte nur dürftige Resultate. Zwar konnte die Polizei recht bald medienwirksam die ersten Verdächtigen festnehmen, jedoch bezogen sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe auf eine frühere Entführung. Erst Ende März, also rund zwei Monate nach der Freilassung, wurden mit dem 22-jährigen Diosnel Gill und der 20-jährigen Graciela Samaniego die ersten und bisher einzigen Verdächtigen zum Fall Zavala gefasst. Beide werden dem logistischen Bereich der auf insgesamt nur etwa 30 Personen stark geschätzten Guerilla zugerechnet.
Mitte April ereignete sich jedoch im nördlichem Departamento Alto Paraguay, das zum trockenen Chaco Gebiet gehört, eine Schießerei zwischen dem 38-jährigem Severiano Martinez und einer Gruppe PolizistInnen. Martinez gilt als Gründungsmitglied der EPP und einer der Drahtzieher der sechs Jahre zurückliegenden Entführung und Ermordung von Cecilia Cubas, Tochter des ehemaligen Präsidenten Raúl Cubas. Er soll sich jedoch inzwischen von der Gruppe entfernt haben. Sowohl Martinez als auch die Polizeikräfte erlitten bei der Auseinandersetzung Schussverletzungen, ebenso wie der Verwalter einer nahegelegenen Ranch. Martinez gelang dennoch die Flucht in die Berge. Trotz eines Aufgebots von etwa 150 Polizeikräften gelang es in der Folge nicht, ihn aufzufinden. Es wird vermutet, dass er sich mit Hilfe von AnwohnerInnen nach Brasilien abgesetzt habe. Zwei Bauern der Gegend wurden deswegen verhaftet. Nur vier Tage später brachte eine erneute Schießerei in Arroyito im Departamento Concepción vier Menschen den Tod. Ein Polizist sowie mehrere Sicherheitsleute der Estancia „Santa Adelia“ waren bei einem Erkundungsritt aus Anlass eines Viehdiebstahls aus dem Hinterhalt heraus angegriffen worden. Die Täter seien etwa fünf bis sieben mit Sturmgewehren bewaffnete Männer gewesen, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um Mitglieder der EPP gehandelt hat.
Da auch bei dieser Auseinandersetzung niemand der Verdächtigen gefasst werden konnte, sah sich der einst als sozialer Hoffnungsträger angetretene Präsident Fernando Lugo unter Zugzwang. Sein Vorgänger Nicanor Duarte beispielsweise nannte die erfolglose Suche einen Beweis dafür, dass Lugo selbst der Kopf der Guerilla sei, ein Vorwurf, den die generell konservative, zum Klatsch neigende paraguayische Presse schon lange verbreitet. Aus Argentinien lästerte es, dass sich Paraguay auf der Suche nach dem Jasy Jatere befinde, einer populären Figur der Guaraní Mythologie, die der Sage nach unsichtbar von Dorf zu Dorf zieht. Wie um es also seinen KritikerInnen zu zeigen, griff Lugo auf das stärkste sicherheitspolitische Instrument zurück, das ihm zur Verfügung steht: Den Ausnahmezustand. Dieser ermöglicht es den Sicherheitskräften in Fällen starker Bedrohung der öffentlichen Ordnung auf Zustimmung des Parlaments Personen ohne richterlichen Haftbefehl festzunehmen, sowie öffentliche Versammlungen und Demonstrationen einzuschränken oder ganz zu verbieten. Eine zeitgleich auf den Weg gebrachte Änderung des Verteidigungsgesetzes soll künftig der Regierung außerdem ermöglichen, Militär auch ohne den Ausnahmezustand gleichberechtigt neben Polizeikräften im Land einzusetzen.
Der Erlass gilt nur für die nördlichen Departamentos von Amambay, San Pedro, Concepción, Villa Hayes und Alto Paraguay, die das Zentrum der Guerilla und das Armenhaus des Landes sind. Mit Ausrufung des Ausnahmezustandes wurden mit der unter dem Namen Py‘a Guapy („Ruhe“ auf Guaraní) firmierenden Operation 3.300 SoldatInnen und etwa 300 PolizistInnen dorthin verlegt. Die Dauer des Einsatzes wurde erst durch eine Intervention des Parlaments um die Hälfte auf die in der Verfassung vorgesehenen 30 Tage gekürzt. Auf dem Treffen der UNASUR fand die Entscheidung zwar Rückendeckung durch die südamerikanischen Regierungschefs, bereitet jedoch dennoch vielen Menschen im Land Kopfschmerzen. Zum einen, da während der jahrzehntelangen, 1989 zu Ende gegangenen Diktatur von General Alfredo Stroessner eben solch ein Ausnahmezustand nahezu durchgehend galt. Zum anderen, weil soziale Organisationen fürchten, dass der Terrorismus lediglich als Vorwand diene, um gegen ihre Arbeit vorzugehen und reiche GroßgrundbesitzerInnen in Sicherheit zu wiegen.
Paraguay, in dem die Armee traditionell eine besonders starke innenpolitische Rolle spielt, steuert jedoch nicht erst seit dieser Entscheidung in Richtung Militarisierung. Bereits im Laufe der Entführung Zavalas kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Kolumbien, das ja bereits einige Erfahrung im Antiterrorkampf gesammelt hat. Die dort beheimatete FARC soll in engem Kontakt mit den Mitglieder der EPP stehen und diese ausgebildet haben. Seit Mitte vergangenen Jahres hat Kolumbien bereits mit einer Reihe mittelamerikanischer Länder wie Mexiko, Guatemala, Honduras, Panama und El Salvador Kooperationsabkommen geschlossen, die technische BeraterInnen in der Aufstandsbekämpfung sowie dazu passendes Kampfgerät in das jeweilige Land bringen. Auch von der US-amerikanischen Botschaft wird diese sicherheitspolitische Ausbildung unter anderem durch die Entsendung von Personal gefördert. Sie selbst brachten dieses Konzept damals im Rahmen des Plan Colombia nach Kolumbien. Nun hat Paraguay ein eben solches Abkommen geschlossen und lobt die Beziehungen zu Kolumbien infolgedessen als die besten des Kontinents.
Dies stößt jedoch nicht nur bei linken Kräften auf Widerspruch. Auch beim paraguayischen Verteidigungsminister Luis Bareiro Spaini regte sich Protest, da er sich durch die Maßnahmen hintergangen sah. Doch dessen Zeit dürfte bald gekommen sein, da er ferner hinter Lugos Rücken einen Brief an die US-Botschaft geschickt hat und darin über seinen Vorgesetzten herzog. Auch wird seiner fehlenden Organisation ein Zusammenstoß zwischen Militärs und Polizei im Rahmen des Ausnahmezustands angelastet. Bei einem Zugriff in Hugua Ñandu hielten Armeeangehörige nicht nur die Geburtstagsfeier einer Fünfzehnjährigen für ein mafiöses Zusammenkommen, sondern außerdem hiesige PolizistInnen für Mitglieder der EPP. Nach einem kurzem Schusswechsel wurden sie mit Gewalt überwunden. Ein wahres Meisterstück an Misserfolg, bei dem es nur dank großen Glücks keine Toten gab.
Der Innenminister Rafael Fillizzola nennt die bisherige Bilanz des Ausnahmezustandes aber dennoch erfolgreich, und verweist auf rund 150 Verhaftungen. Er verschweigt dabei jedoch, dass fast alle Festnahmen wegen fehlender Dokumente, Betrug oder sexuellem Missbrauchs erfolgten. Mit Julián de Jesús Ortiz konnte lediglich ein Guerillero gefasst werden, wobei jedoch auch ihm keine Mitwirkung an der Entführung Zavalas angelastet wird. Seine Festnahme fand außerdem kurioserweise im Departamento Boquerón statt, in dem der Ausnahmezustand eben gerade nicht gilt. Außerdem scheint mit dem Osten des Landes ein Brennpunkt nun völlig vergessen zu werden. In diesem Grenzgebiet zu Brasilien floriert die organisierte Kriminalität und just drei Tage nach Ausrufung des Ausnahmezustandes kam es dort zu einem Mordversuch auf den Senator Roberto Acevedo. Dieser überlebte und sieht die Schuld bei der Polizei, die mit den Narcos unter einer Decke stecken würde. Gleiches lässt auch die brasilianische Seite verlauten, die sich häufig Schusswechsel mit korrupten paraguayischen Militärs liefere, welche die Drogenschmuggler bei der Grenzüberquerung schützen würden. Die EPP sei gegen dieses Vorfälle lediglich ein „Kinderspiel“.
Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass vieles über die EPP immer noch im Dunkeln liegt und so der Spekulation und Denunziation alle Türen geöffnet sind. So wurde ein vermeintlicher Diebstahl von Polizeigewehren erst der Guerilla zugeschrieben, um dann die TäterInnen doch in den eigenen Reihen auszumachen. Selbiges passierte einem Landarbeiter, der einen Überfall auf eine Estancia zur Anzeige brachte, die vermissten Lebensmittel jedoch selbst unter seinem Bett gehortet hatte. Dies nahm die Presse sofort als Anlass, ihn selbst der Guerilla zuzurechnen. Präsident Lugo sitzt trotz all diesem Theater sowie Kritik von links und rechts derzeit relativ fest im Sattel. Aus dem Parlament werden zwar immer wieder Stimmen nach einem Amtsenthebungsverfahren laut, was jedoch inzwischen aufgrund der Häufigkeit schon als typische politische Folklore des Landes gelten kann. Da im November Kommunalwahlen anstehen und das Bündnis Frente Guasu erstmals in der Geschichte die linken Kräfte des Landes bündelt, wird sich dies in den folgenden Monaten sicherlich noch verstärken. Dabei bleibt nur zu hoffen, dass Lugo dagegen nicht weiter auf die Politik der harten Hand setzt.

Leben mit der alltäglichen Einschüchterung

Lang ist die Liste persönlicher Risiken, denen sich MenschenrechtsaktivistInnen in Kolumbien aussetzen: Drohungen, Einschüchterungen, Mord, illegale Beschattung und Behinderung durch staatliche Geheimdienste, Diffamierung von höchsten Regierungsstellen bis hin zum Staatspräsidenten, Haft und Strafprozesse sowie Diebstahl sensibler Informationen ihrer Arbeit, zählt die „Internationale Kampagne für das Recht auf Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ auf.
Die Anwaltsorganisation Corporación Jurídica Libertad aus Medellín beispielsweise sieht eine Verbindung zwischen den Drohungen gegen einen ihrer Anwälte, Bayron Góngora, und dessen aktueller Tätigkeit. Am 9. Februar 2010 erfuhr der Anwalt, dass Killer mit seiner Ermordung beauftragt worden waren. „Bayron vertritt in vielen Fällen außergerichtlicher Hinrichtungen die Angehörigen der Opfer gegen die Soldaten. Wir nehmen an, dass er jetzt gerade deshalb bedroht wird“, erläutert die Anwältin Adriana Arboleda. Zwar gibt die Regierung an, die paramilitärischen Gruppen im Land seien aufgelöst, doch gibt es immer wieder die Fälle von Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen von den so genannten „neuen Gruppen“ wie den Aguilas Negras oder Rastrojos.
Doch nicht nur paramilitärische Gruppen bedrohen die MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen. Eine illegale Einheit des kolumbianischen Inlandsgeheimdienstes DAS hat jahrelang die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, JournalistInnen und obersten RichterInnen überwacht. Ganze Kartons füllen die Unterlagen mit akribischen Aufzeichnungen über das Leben, die Familien, über Telefon- und E-Mail-Kommunikation der Betroffenen. Laut Aussage der damals Verantwortlichen war das Ziel, die Arbeit der Organisationen zu behindern. Aus den Akten geht auch hervor, dass eine Drohung gegen die Tochter der Anwältin Soraya Gutiérrez, die beim Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo tätig ist, vom Geheimdienst DAS kam.
In den letzten Jahren hat die Kriminalisierung von MenschenrechtsverteidigerInnen massiv zugenommen und ihre Arbeit stark behindert. Meist werden sie beschuldigt mit der Guerilla zusammen zu arbeiten. Auch mit dem Drogenhandel werden sie in Verbindnug gebracht oder sogar mit Mordvorwürfen belastet. Die drohenden Haftstrafen sind hoch. Zwar enden die Prozesse fast immer mit einem Freispruch, doch der Schaden für die Betroffenen ist enorm. „Die Vorwürfe diskreditieren unsere gesamte Arbeit, auch die Berichte, die wir über die Lage der Menschenrechte herausgeben“, erklärt Elkin Ramírez von der Coroporación Jurídica Libertad. „Wir verwenden einfach unheimlich viel Zeit darauf, die uns dann für die eigentliche Arbeit nicht mehr zur Verfügung steht“, ergänzt seine Kollegin Adriana Arboleda. Ramírez verteidigt sich „nur“ gegen eine Verleumdungsklage. Ihm drohen ein bis zwei Jahre Haft. Viel drastischer fallen jedoch die Strafen aus, wenn der Vorwurf der Zusammenarbeit mit der Guerilla erhoben wird. Dann droht außerdem die sofortige Verhaftung. Besonders stark bekam das Ende 2007 die Bauernorganisation ACVC aus dem Gebiet am Cimitarra-Fluss zu spüren. Gleich die gesamte Führungsriege der Organisation wurde mit Haftbefehl wegen „Rebellion“ gesucht, sechs Gemeindeführer wurden verhaftet. Plötzlich besaß die Organisation keinen Zeichnungsberechtigten mehr, um Bankgeschäfte oder Projekte abzuwickeln. Andere Mitglieder der ACVC haben die Arbeit übernommen. Doch verhaftet und auf der Flucht waren all diejenigen, die Erfahrungen bei Verhandlungen mit der Regierung oder bei der Pflege der internationalen Kontakte hatten. Ein schweres Handikap, denn genau zu dieser Zeit sollte mit staatlichen Stellen über die erneute Einrichtung einer „Kleinbäuerlichen Schutzzone“ verhandelt werden, die den Kleinbauern der ACVC Sicherheit vor Vertreibung geben soll. Inzwischen wurden die Verfahren mit einer Ausnahme abgeschlossen und die Verhandlungen mit zweijähriger Verzögerung wieder aufgenommen.
Ein ähnliches Schicksal wiederholt sich aktuell in der nur wenige hundert Kilometer entfernt gelegenen Region Catatumbo. Dort entstand vor fünf Jahren die Bauernorganisation ASCAMCAT. Auch sie will eine kleinbäuerliche Schutzzone gründen, ganz nach den Maßgaben kolumbianischer Gesetze. Darüber hinaus wehrt sie sich gegen ein großes Kohletagebau-Projekt in der Region. Doch seit Februar 2010 wurden in der Region Catatumbo mehr als sechzig Haftbefehle ausgestellt, 17 Menschen wurden wegen Vorwürfen wie Rebellion und Drogenhandel verhaftet. Bei vielen von ihnen handelt es sich nach Aussagen der Bevölkerung um einfache Bauern. Viele Betroffene sind Mitglieder von ASCAMCAT. Hart trifft die Organisation, dass auch ihr Vorsitzender José del Carmen Abril Abril mit Haftbefehl gesucht wird. „José del Carmen ist ein einfacher Bauer. Durch seine Tätigkeit als Vorsitzender kennt ihn in der Region jeder und weiß, was er macht, dass er nichts mit der Guerilla zu tun hat. Wie können sie einfach sagen, er sei ein Verbrecher?“, beklagt empört die Generalsekretärin von ASCAMCAT Olga Lucía Quintero bei einem Treffen in Bogotá.
Den Prozess gegen die Bauern aus der Region betreibt die Staatsanwaltschaft Nr. 29. Diese hat ihren Sitz in der Armeebrigade Nr. 30 in Cúcuta. Schon lange weisen Menschenrechtsorganisationen darauf hin, dass Militäreinrichtungen zugeordnete Staatsanwälte nicht unabhängig sind und fordern daher deren Abschaffung. Der Fall von ASCAMCAT ist kein Einzelfall. So ermittelt in Medellín die Staatsanwaltschaft Nr. 74, mit Sitz in der Armeebrigade Nr. 4, gegen eine Vielzahl von MenschenrechtsaktivistInnen in der Stadt. Winston Gallego von der Organisation Sumapaz wurde im Juni 2009 im Rahmen eines solchen Verfahrens verhaftet und ist seither inhaftiert. Auch die Anwaltsorganisation Corporación Jurídica Liber-tad wird in den Prozessakten genannt.
ASCAMCAT wird von der Anwaltsorganisation CALCP unterstützt. Als die Haftbefehle bekannt wurden, haben die AnwältInnen eine Überprüfung auf den Weg gebracht und den Aufbau einer Solidaritätskampagne für die Verhafteten gefördert sowie einige Fälle anwaltlich übernommen. Doch am 12. März 2010 erhielt Judith Maldonado von CALCP einen Drohanruf der Aguilas Negras auf ihre Mailbox. Die paramilitärische Gruppe warnte sie davor, sich weiter dort einzumischen, wo sie nichts zu suchen habe. Neben den Verhaftungen müssen die AnwältInnen sich jetzt auch noch verstärkt um die eigene Sicherheit kümmern.
Prozesse gegen verdächtige Personen sind in einem Rechtsstaat eigentlich Normalität. Doch die Anwälte der Corporación Juridica und von CALCP sind überzeugt, dass es sich um unbegründete, politisch motivierte Prozesse handelt. Sie stützen sich auf Aussagen von fragwürdigen Zeugen, die zahlreiche Widersprüche aufweisen. „In einem Fall habe ich die sofortige Einstellung des Verfahrens beantragt. Der Hauptzeuge sagt zur angeblichen Zugehörigkeit der Angeklagten zu den FARC aus. In dem fraglichen Zeitraum war er aber selber bei der ELN-Guerilla in einer ganz anderen Region des Landes aktiv. Der Staatsanwalt hat den Antrag abgelehnt“, erklärt die Anwältin Judith Maldonado.
In Fällen in den Regionen Cimitarra und Catatumbo werden Informationen der militärischen Geheimdienste als Beweise angeführt, obwohl dies rechtlich nicht zulässig ist. Die US-amerikanische Organisation Human Rights First hat zahlreiche Fälle von Verfahren gegen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass immer wieder Zeugen auftreten, die als demobilisierte ehemalige Kämpfer illegaler Gruppen Vergünstigungen für ihre Aussagen erhalten und sich vielfach in Widersprüche verstricken oder die Angeklagten gar nicht identifizieren können.
Seit Jahren fordern kolumbianische Menschenrechtsorganisationen, dass die Archive der Geheimdienste überprüft und illegal über sie gespeicherte Informationen gelöscht werden. Diese Forderung wird auch mit der internationalen Kampagne „Für das Recht auf Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ gestellt. Ebenso verlangt die Kampagne von der Regierung, keine Büros der Staatsanwaltschaft mehr in Militärgarnisonen zu unterhalten. Um zu verhindern, dass die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen mit haltlosen Vorwürfen blockiert wird, sollen außerdem alle Strafprozesse gegen MenschenrechtsaktivistInnen von einer unabhängigen Sondereinheit der Staatsanwaltschaft überprüft werden. Auch die UN-Sonderberichterstatterin für MenschenrechtsverteidigerInnen, Margaret Sekaggya, äußerte sich äußerst besorgt über die Lage in Kolumbien, als sie in Bogotá den Start der Kampagne begleitete.
Am 14. April 2010 wurde die Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ in Berlin von dem kolumbianischen Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe und von kolko e.V. vorgestellt. Dreihundert Organisationen aus 23 Ländern haben die Empfehlungen unterzeichnet. Anlässlich des Kampagnenstarts in Deutschland erklärte Michael Windfuhr, Leiter des Menschenrechtsreferates des Diakonischen Werkes: „Viele unserer Partner sind kaum mehr in der Lage, ihre Arbeit wie vorgesehen zu machen, da sie oftmals durch Anfeindung, Bedrohung und Stigmatisierung behindert werden. Die kolumbianische Regierung muss dringend die Empfehlungen der Kampagne umsetzen, damit die wichtige Menschenrechtsarbeit in Kolumbien weiter geleistet werden kann. Die deutsche Regierung muss sich gegenüber der kolumbianischen Regierung nachdrücklich für die Empfehlungen einsetzen.“

Mehr Informationen zur Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ unter www.kolko.de.

Psycho-Krieg gegen Menschenrechtsarbeit

Sie eröffnen in Berlin die Kampagne „Mit Sicherheit in Lebensgefahr. Menschenrechtsverteidiger/innen in Kolumbien“. Was ist der aktuelle Anlass für eine solche Kampagne in Europa?
Angesichts der Morde und Inhaftierungen von MenschenrechtsverteidigerInnen, mussten wir Menschenrechtsaktivisten uns in den letzten Jahren immer mehr mit der Verteidigung unserer eigenen Rechte beschäftigen, anstatt andere in rechtlichen Belangen zu begleiten. Sicherheitsdienste wurden zur Spionage und illegalen Überwachung gegen uns genutzt. Man will damit die Arbeit der Menschenrechtsaktivisten in Kolumbien neutralisieren. So wurde eine Kampagne notwendig, mit der man auf diese Angriffe reagieren und Garantien einfordern kann, damit wir weiter unsere Arbeit machen können. In Europa, den USA und Kanada gibt es viele Organisationen und Netzwerke wie etwa kolko in Berlin, die an dieser Kampagne mitarbeiten.

In den letzten Monaten gab es verstärkt Angriffe von Sicherheitsdiensten gegen euch …
Ja, wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass staatliche Geheimdienste militärische Formen der Informationsbeschaffung dazu genutzt haben, Menschenrechtsaktivisten anzugreifen. In Kolumbien, das können wir aus Erfahrung sagen, ist das die erste Phase des schmutzigen Krieges. Jetzt kam heraus, dass der Geheimdienst DAS über Jahre hinweg illegal Spionage betrieben hat. Eines der so genannten Sicherheitsziele waren die Menschenrechtsaktivisten. Der DAS untersteht direkt dem Präsidenten. Die haben uns über Jahre abgehört, die Emails gelesen, uns auf der Arbeit und privat überwacht, unsere Familien, Angehörige und Freunde verfolgt, unsere Finanzen und Konten kontrolliert – und sie haben „offensive Geheimdienstarbeit“ betrieben. Es gibt sogar Dossiers über uns mit Instruktionen darüber, wie die Leute bedroht werden sollen. Jetzt, da wir diese Berichte kennen, ist uns klar geworden, dass viele Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger sich mit Details decken, die in den Berichten vorkommen. Es wurden verfälschende Berichte geschrieben, um Menschenrechtsverteidiger in die Nähe des Terrorismus, der Guerilla oder von bewaffneten Gruppen zu rücken. Auf Grundlage dieser Berichte wurden Menschenrechtsverteidiger inhaftiert.

Du selbst wurdest auch überwacht …
Ja, das war unglaublich. Sie mieteten eine Wohnung gegenüber von uns, durchwühlten sogar den Müll. Wir wissen, dass sie ins Haus eindrangen, wenn wir nicht da waren. Sie haben meine Kinder zu ihren Universitäten verfolgt und meine Frau auf der Arbeit fotografiert. Es gibt Berichte über alles, was in unserem Haus passierte, Tag für Tag. Auch Journalisten und Oppositionspolitiker wurden abgehört. Sogar Richter des Obersten Gerichts wurden überwacht, die mit den Ermittlungen gegen Politiker mit Verbindungen zu Paramilitärs zu tun hatten. Aber das wirkliche Ausmaß dieser Schikanen des „psychologischen Krieges“, wie sie das in ihren Handbüchern nennen, ist nicht bekannt.

Wie kam die Überwachung ans Licht?
Durch Zufall. Der größte Zufall ist, dass wir offensichtlich zum gleichen „Paket“ gehörten wie die Richter des Obersten Gerichts. Deshalb tauchten bei den Ermittlungen wegen der Richter auch Berichte über uns Menschenrechtsaktivisten auf. Das Oberste Gericht saß tagelang mit dem Bundesstaatsanwalt über einer Strategie zusammen, die Klarheit verschaffen sollte über das Ausspionieren des Gerichts. Wäre das nicht gewesen, hätten wir es nie erfahren. Die Staatsanwaltschaft entschied, eine Hausdurchsuchung beim DAS zu machen und all diese Dokumente zu konfiszieren. Natürlich dauerte es, bis die Durchsuchung stattfand, und in dieser Zeit wurden viele Informationen vernichtet oder weggebracht. Das konnte man später sogar in der Presse sehen: Es wurden Aufnahmen von den Überwachungskameras im DAS gezeigt, auf denen Funktionäre mit Computern, Ordnern und Dokumenten hin und her rennen und alles verstecken, bevor die Staatsanwaltschaft kommt.

Als ihr euch über die Überwachungen klar wurdet, was habt ihr da gemacht?
Die aktuelle Kampagne zur Unterstützung der Menschenrechtsverteidiger ist eine Reaktion auf diese Ereignisse. Wir haben die Situation öffentlich gemacht, auf nationaler und internationaler Ebene, im interamerikanischen Justizsystem, bei den Vereinten Nationen, beim Strafgerichtshof. Und wir sind Kläger im Strafprozess gegen Jorge Noguera. Er war Direktor des DAS und rechte Hand des Präsidenten und verantwortet sich gerade vor dem Obersten Gericht. Denn mit Hilfe der Informationen aus den Spionagetätigkeiten wurden Listen erstellt, die er an den paramilitärischen Kommandanten Jorge 40 weitergab. Wir wissen konkret von drei Personen, die auf Grundlage dieser Listen ermordet wurden: Alfredo Correa de Andreis, ein Professor und Menschenrechtsaktivist, die Gewerkschafterin Zully Condina und der oppositionelle Politiker Fernando Pisciotti. Es ist möglich, dass das Oberste Gericht Jorge Noguera für bis zu 40 Jahren verurteilt. Momentan sind etwa 15 Mitarbeiter des DAS im Gefängnis. Auf die Frage, wo diese Dossiers hin gingen, sagten sie aus, die Berichte seien wöchentlich direkt an den Präsidenten gegangen – das heißt, diese Aktivitäten fanden auf höchster staatlicher Ebene statt.

Gab es für den Geheimdienst außer diesem Prozess gegen Einzelne irgendwelche Konsequenzen?
Es wurde davon geredet, den Geheimdienst zu schließen, aber das kennen wir schon. 1998 wurde die Brigada 20, der Armeegeheimdienst, aus ähnlichen Gründen geschlossen. Wenn sich die Sicherheitspolitik der Regierung nicht ändert, wird diese Art der Überwachung von anderen Institutionen weiter betrieben, das machen ja schon Polizei, Militär und so weiter. Der DAS ist ja nur einer von mehreren Geheimdiensten in Kolumbien.

In welchem politischen Kontext spielt sich dieser Skandal ab?
Die Ergebnisse der Kongresswahlen vom März sind alarmierend. Obwohl in den letzten acht Jahren sehr viel über die Verbindungen zwischen Politikern und den Paramilitärs öffentlich wurde, obwohl es bei 130 Parlamentsabgeordneten bereits Beweise für solche Verbindungen gibt und 50 von ihnen deswegen schon vor Gericht standen, zeigen die Wahlen vor allem eines: die Kontinuität des Phänomens der „Parapolitik“, wie das in Kolumbien genannt wird. Was die Opposition angeht, die Liberalen haben nur knapp 18 Prozent bekommen, der Polo circa 9 Prozent. Die grüne Partei – das war eine große Überraschung – schaffte es auf 5 Prozent.
Ganz klar wurden in den Wahlen systematisch Stimmen gekauft und Leute unter Druck gesetzt. Hinter diesen Wahlen stehen enorme Pfründe, Verträge, Posten – die Regierung hat hunderttausende Leute in soziale Transferprogramme eingebunden. Diesen Menschen wurde vermittelt, dass die staatlichen Hilfen aufgehoben würden, wenn sie nicht für bestimmte Politiker stimmen. Es gibt eine Kombination von Faktoren aus Gewalt, Korruption und dieser Art von Zahlungen. Das Geld zum Stimmenkauf haben nur Leute, die mit dem Drogenhandel zu tun haben. Deshalb denken wir, dass sich in Kolumbien immer mehr ein mafioser, paramilitärisch agierender Staat festigt.
Erklärt sich so auch die neue Partei der Nationalen Integration (PIN)?
Nun, es wurden ja mehrere Parteien in den letzten acht Jahren neu gegründet, eine Menge politischer Zusammenschlüsse. Wegen der Verbindungen zwischen Politik und Paramilitärs wurde gegen sehr viele Parlamentarier ermittelt, und einige dieser Parteien lösten sich deshalb auf. Die Kandidaten wurden nicht einfach in anderen Parteien aufgenommen. Also brauchten sie eine Partei und gründeten dafür die PIN. Es war offensichtlich, dass der Sohn der „Gata“ – einer Frau der Mafia, die im Gefängnis sitzt und für die Ermordung vieler Menschen verantwortlich ist – nicht einfach zu einer Partei gehen konnte und die dann sagen, diesen Kandidaten nehmen wir in unsere Liste mit auf. Die politischen Kosten für die Parteien wären viel zu hoch. In Sucre tritt die Schwester des „Gordo García“ für die PIN an, der vor kurzem wegen eines Massakers und Verbindungen zum Paramilitarismus zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde – das sind Figuren, die bekanntermaßen schon so finster sind, dass sie in keine Partei mehr hinein kamen, nicht mal in die der Regierung. In Kolumbien sagt man: Bei Tisch hasst sie die ganze Welt, aber unter dem Tisch bedeuten sie eine Million Stimmen. Damit sind sie politischer Ausdruck der Legalisierung des Paramilitarismus in Kolumbien, die die Regierung Uribe ermöglicht hat.

Was bedeuten die vergangenen Parlamentswahlen für die Präsidentschaftswahlen im Mai?
Das Panorama für die Präsidentschaftswahlen hat sich schon verändert. Im März hatten mehrere Parteien gewonnen, die sich als „rechtmäßige Erben des Uribismo“ bezeichnen und sich dieses Erbe streitig machen. Juan Manuel Santos bezeichnet sich als Sohn von Uribe, Noemí Sanín als Erbin der Politik der Demokratischen Sicherheit. Diese beiden haben bis vor kurzem die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen angeführt. Aber es gibt eine politische Überraschung: der Sprecher der Grünen, Antanas Mockus, hat plötzlich in den Umfragen dazu gewonnen und ist jetzt an zweiter Stelle hinter Juan Manuel Santos. Dieses Szenario der letzten zwei Wochen war überhaupt nicht vorhersehbar. Es ist denkbar, dass die Wahlen der Abgeordneten für das Parlament enger mit regionalen Interessen verbunden sind, und dass auf nationaler Ebene der Präsident eher programmatisch gewählt werden kann. Das führt möglicherweise zu dieser Veränderung in den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen. Aber wir wissen nicht, was passieren wird. Wenn die Maschinerie funktioniert, wie sie für die Parlamentswahlen funktioniert hat, wäre es logisch, dass Juan Manuel Santos der nächste Präsident wird. Doch Mockus ist für mich nicht chancenlos.

Welches Profil hat Mockus denn?
Er ist ehemaliger Bürgermeister von Bogotá und Akademiker. Bei uns sagt man, er habe zwei gute Eigenschaften: Erstens hat er noch niemanden ermorden lassen oder paramilitärische Gruppen mitfinanziert. Zweitens wurden während seiner Amtszeiten in Bogotá keine Korruptionsskandale bekannt. Aber seine politische Haltung zu vielen Themen ist unklar. Mir scheint, er macht viele sehr allgemeine, schwer zu fassende Äußerungen, ein sehr eigenwilliger Typ, der viel auf Momente reagiert, aber nicht so sehr einen politischen Standpunkt klarmacht. Er könnte eine Art Ausweg sein für unabhängige Wähler oder Protestwähler – für diejenigen, die mit dem Staat und dem, was in Kolumbien in den letzten Jahren geschehen ist, nicht einverstanden sind. Wir wissen aber nicht, wohin eine Kandidatur und eben eine Präsidentschaft von jemandem wie Mockus führen könnte. Die Meinungen in Kolumbien darüber, ob er eine Alternative darstellt, gehen auseinander. Aber ich würde natürlich nicht sagen, dass er zur Linken gehört.

Würdest du denn sagen, dass es in Kolumbien momentan eine Linke gibt, die ein Gegengewicht zum Uribismo darstellen kann?
Ich könnte mir vorstellen, dass es da noch mehr Koalitionen um Mockus herum geben kann, mit den Liberalen, Teilen des Polo (Polo Democrático Alternativo, Mitte-Links-Partei in Kolumbien, Anm.d.Red.) und natürlich den Grünen. Aber ich glaube, was die Regierung wirklich geschafft hat – vor allem der Präsident – war den Leuten weiszumachen, der Polo und die FARC seien ein und dasselbe. Zudem wäre der Polo mit Chávez verbündet. In dieser ganzen Antiterror-Propaganda wurden die Mitglieder des Polo als Terroristen hingestellt und teilweise hatte das Erfolg. Aber der Polo hat seine Wählerschaft nicht besonders gut bei der Stange gehalten. 2006 galt Carlos Gaviria als Präsidentschaftskandidat des Polo wirklich als demokratische Alternative. Diese politische Kraft wurde leider verschleudert. In den Parlamentswahlen hat der Polo drei Senatssitze verloren, zwei in der Kammer. Das ist ziemlich besorgniserregend: Zum ersten Mal gab es in Kolumbien ein Oppositionsbündnis mit Chancen auf Einfluss, und dann dieses Scheitern.

Welche weiteren Erklärungen gibt es dafür?
Vor allem historische: Oppositionsparteien sind in Kolumbien immer wieder schlicht ausgelöscht worden. Es gibt deshalb keine Kultur der Partizipation an politischen Prozessen. Das kann man ja nicht per Dekret machen, sondern es hat mit politischer Kultur und mit demokratischen Vorstellungen einer Gesellschaft zu tun. Das, zusammen mit den Stigmatisierungen und Angriffen und internen Streitigkeiten, hat meiner Meinung nach zu den Verlusten des Polo beigetragen. Und die öffentliche Meinung, die sich in Wahlstimmen überträgt und die vor vier Jahren Carlos Gaviria zugute kam, zeigt sich jetzt mit Antanas Mockus wieder, das ist mein Eindruck.

Informationen zur Kampagne „Für das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte in Kolumbien“ unter www.kolko.de

Kasten:
Alirio Uribe Muñoz ist Anwalt und Menschenrechtsaktivist beim Anwaltskollektiv José Álvear Restrepo (CCAJAR) in Bogotá. Im April eröffnete er in Berlin eine internationale Kampagne, die den Blick auf die Verfolgung von AktivistInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen in Kolumbien richten soll.

ZapatistInnen unter Mehrfachbeschuss

„Marcos demaskiert“ titelte die konservative mexikanische Tageszeitung Reforma in ihrer Ausgabe vom 27. März. Als Beweis diente ein unscharfes Foto eines bärtigen Mannes, das neben einem der bekannteren Fotos des Subcomandante mit der gewohnten Maskierung und Pfeife abgedruckt wurde. Im dazugehörigen Artikel präsentierte die Zeitung einen angeblichen Deserteur des bewaffneten Teils der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), welcher der Reforma ein 83-seitiges Dokument mit einer Auflistung von Namen, Fotos und Telefonnummern verschiedener Verantwortlicher innerhalb der zapatistischen Strukturen zugespielt habe. Zudem behauptet der Informant, über Belege für eine Finanzierung der EZLN durch die baskische Untergrundorganisation ETA zu verfügen. Verschiedene mexikanische und europäische Medien reproduzierten diese vermeintliche Sensation unkritisch. Schon seit Jahren werfen einige der EZLN eine Verbindung zur ETA vor, ohne dies jemals mit konkreten Beweisen zu unterfüttern. Die ZapatistInnen selbst hatten bereits 2005 öffentlich erklärt, keine Beziehungen zu anderen bewaffneten Gruppen in Mexiko oder anderswo zu unterhalten und sich von den Methoden der ETA distanziert.
Die Demaskierung Marcos’ entpuppte sich auch bald als Ente. Bei dem Abgebildeten handelte es sich um einen italienischen Menschenrechtsbeobachter namens Leuccio Rizzo, der die Reforma prompt zu einer Gegendarstellung aufforderte und mögliche rechtliche Schritte gegen die Zeitung ankündigte. Verschiedene italienische Solidaritätsgruppen verurteilten die Falschmeldung als offensichtlich beabsichtigt, die im Zusammenhang mit der „Kriminalisierung der zapatistischen Bewegung“ stehe. Ähnlich äußerten sich mehrere mexikanische sowie internationale Organisationen und AktivistInnen in der Erklärung „Die Solidarität ist unser Recht“. In dieser stellten sie eine aktuelle Kampagne in Mexiko und Lateinamerika fest, die versuche, „den Akt der Solidarität mit den sozialen Bewegungen, und in diesem Fall speziell mit den zapatistischen Gemeinden, zu stigmatisieren, zu delegitimieren und letztlich zu kriminalisieren“.
Das Hervorheben der Solidarität mit den ZapatistInnen kommt nicht von ungefähr: Die Kommentatorin Magdalena Gómez erinnerte in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada daran, dass auch die letzte militärische Großoffensive der mexikanischen Armee gegen die zapatistische Guerilla im Februar 1995 von Meldungen über die vermeintliche Identität des militärischen Chefs der EZLN sowie weiterer Mitglieder ihrer Führungsstruktur begleitet worden war. Damals waren es die massenhaften Proteste der mexikanischen Zivilgesellschaft, die ein Ende des Angriffs erreichten.
Die Falschmeldung in der Reforma ist der jüngste Vorfall in einer Reihe von Berichterstattungen über indigene Bewegungen in Chiapas, bei denen Tatsachen verdreht oder Meldungen einfach erfunden werden. Bedenklich stimmt, dass es sich dabei keineswegs nur um regierungsnahe Medien handelt. So behauptete die als links und bewegungsnah geltende La Jornada am 25. November 2009, der chiapanekische Kongress hätte auf Bitte von VertreterInnen der zapatistischen Räte der Guten Regierung, den regionalen Entscheidungsinstanzen der zapatistischen Autonomie, einen Aufruf zur Anerkennung der zapatistischen Strukturen an den Gouverneur des Bundesstaates weitergeleitet. Am nächsten Tag dementierten alle fünf zapatistischen Räte die Meldung in jeweils eigenen Erklärungen. Hinzu kommen in der Jornada immer wieder Artikel, in denen indigene Bewegungen betreffende Initiativen der Bundesstaatsregierung gelobt werden, ohne die Betroffenen zu konsultieren. Mitunter werden gar soziale Proteste diffamiert und deren AnführerInnen kriminalisiert. Ein generelles Problem der mexikanischen Tageszeitungen ist, dass sie finanziell auf den Abdruck von Regierungsanzeigen angewiesen sind, die oft erst auf den zweiten Blick oder gar nicht als solche zu erkennen sind. So begründete Luis Hernández Navarro, Leiter der Meinungssektion der Jornada, auf einer Konferenz diese Praxis seiner Zeitung bezüglich Anzeigen der chiapanekischen Regierung mit der „wirtschaftlichen Notwendigkeit“. Zwar bleibe laut Hernández Navarro die redaktionelle Freiheit davon unberührt. Doch drängt sich bisweilen der Verdacht auf, dass es sich die Jornada sich mit ihren Anzeigenkunden nicht verscherzen will.
Die medialen Schüsse gegen die ZapatistInnen und andere oppositionelle indigene Gemeinden gehen mit realer Repression und Konfrontationen einher, die in den vergangenen Monaten zugenommen haben. Deren Ursache ist der Widerstand der Dörfer gegen wirtschaftliche und infrastrukturelle Projekte, die ihnen ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage entziehen würden. Häufig werden dabei regierungstreue Organisationen und Gemeinden gegen die Aufständischen instrumentalisiert.
Dies ist Fall der indigenen Gemeinde Bolom Ajaw, die am 6. Februar Schauplatz eines Übergriffes von Mitgliedern der teilweise paramilitärisch agierenden Organisation zur Verteidigung der Rechte der Indigenen und Kleinbauern (OPDDIC) aus dem Nachbardorf Agua Azul auf zapatistische Gemeindemitglieder war. Laut dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas war der Auslöser der Konfrontation die Kontrolle über noch unberührte Wasserfälle nahe dem zapatistischen Dorf, neben denen nach Regierungsplänen eine luxuriöse Hotelanlage gebaut werden soll. Im entsprechenden Bericht des Menschenrechtszentrums zu dem Vorfall heißt es, die Unterlassungen und mangelnde Untersuchung des Übergriffs seitens der staatlichen Stellen „lassen die Annahme zu, dass die bewaffneten Handlungen der Bewohner von Agua Azul von den mexikanischen Behörden toleriert und gestützt werden, wobei das große touristisch-kommerzielle Interesse an der Region, in der sich die zapatistische Gemeinde befindet, und hier unter anderem die Realisierung des Centro Integralemente Planeado Palenque [ein Infrastrukturprojekt zur Förderung des Tourismus‘ in der Region um Palenque und Agua Azul; Anm. des Autors] als Indiz gelten“.
Bolom Ajaw steht dabei in einer Reihe ähnlicher Vorfälle. So erklärt Marina Pages vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ): „Verschiedene Ökotourismusprojekte, die von der chiapanekischen Regierung gefördert werden, befinden sich auf indigenem Gebiet. Aber die betroffenen Gemeinden werden meist nicht konsultiert und bei Widerstand gegen diese Projekte Opfer von Repression.“ Die Koordinatorin des internationalen Programmes, das seit 15 Jahren in Chiapas im Bereich der Konfliktschlichtung und der punktuellen Begleitung von sozialen Prozessen arbeitet, weist auf ein generelles Klima der Spannung in Chiapas sowie im ganzen Land hin. „Wir befinden uns in einer Situation extremer Verwundbarkeit in Mexiko. Dies betrifft nicht nur die sozialen und indigenen Bewegungen, sondern auch die Arbeit von MenschenrechtsverteidigerInnen“, so Pages, die bereits seit 13 Jahren in Chiapas arbeitet.
Denn nicht nur die indigenen Widerstandsbewegungen sind Zielscheibe der Regierung und Objekt tendenziöser Berichterstattung. Zunehmend werden auch die Organisationen und Personen, die soziale Prozesse begleiten, Opfer von Diffamierung, Drohungen und direkten Angriffen. Mitte 2009 war das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas wochenlang einer Diffamierungskampagne diverser lokaler Zeitungen ausgesetzt unter dem Vorwurf, sie würden Kriminelle verteidigen. Hinzu kam, dass verschiedene MitarbeiterInnen der Organisation im selben Zeitraum von Unbekannten überwacht wurden, die sie dem mexikanischen Geheimdienst zurechneten. Dieses Klima hat dann auch dazu beigetragen, dass einer der Anwälte des Zentrums, Ricardo Lagunes, nach einem Aufenthalt in einem indigenen Dorf am 18. September 2009 in einen Hinterhalt gelockt und tätlich angegriffen wurde. Zwischenzeitlich waren mehrere Personen, die an dem Angriff auf Lagunes beteiligt waren und der OPDDIC zugerechnet werden, inhaftiert worden. Sie kamen aber alle recht bald wieder auf freien Fuß, eine Aufklärung des Falles steht bis heute aus.
Der Angriff auf Ricardo Lagunes ist kein Einzelfall. Drohungen und Gewaltanwendung scheinen auch ein Mittel zu sein, wenn die Polizei in die Situation gerät, sich für Amtsmissbrauch rechtfertigen zu müssen. So im Falle der Familie von Adolfo Guzmán, Mitarbeiter der mit Kleinbauern und -bäuerinnen arbeitenden Organisation namens Verbindung, Kommunikation und Befähigung in der Gemeinde Comitán, die am 8. November 2009 Opfer einer gewaltsam durchgeführten Hausdurchsuchung der Polizei wurde. Nachdem Guzmán und seine Frau Margarita Martínez dagegen Anzeige erstatten hatten, erhielten sie mehrfach Morddrohungen mit der Aufforderung, die Anzeige zurückzuziehen. Am 25. Februar, einen Tag vor der Aufnahme ihrer Aussagen durch die Sonderstaatsanwaltschaft für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern, wurde Margarita Martínez von Unbekannten um die Mittagszeit entführt und gefoltert, kurz darauf aber wieder freigelassen. Allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz machte die Familie am nächsten Tag ihre Aussagen.
Die jüngsten Entwicklungen in Chiapas stehen in starkem Kontrast zu den offiziellen Feierlichkeiten der mexikanischen Regierung anlässlich des hundertsten Jahrestages der Revolution (1910-1919). Paradox mag es anmuten, dass in dieser Zeit der Erinnerung an die letzte landesweite soziale Umwälzung der tolerierte Rahmen für friedliche soziale Veränderungen von unten mehr und mehr beschnitten wird. Selbst der Vertreter des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen bezeichnete die Diffamierung von MenschenrechtsverteidigerInnen als „VerteidigerInnen von Kriminellen“ durch staatliche Stellen als inakzeptabel. Klar ist, dass sich AktivistInnen in Mexiko derzeit in einer äußert schwierigen Situation befinden. Viele MexikanerInnen hoffen, dass dieses symbolträchtige Jahr der Startschuss für einen erneuten Massenaufstand für sozialen Wandel wird. Umgekehrt erklärt sich die jüngste Steigerung der Repressionspolitik der Regierung als Präventionsmaßnahme gegen einen solchen.

An der Basis verehrt, vom Klerus angefeindet

Die kleine Abzweigung von der Calle Toluca führt unvermittelt in eine Sackgasse. Und mitten in die Ruhe hinein. Der Abend neigt sich über San Salvador. Noch hat die Hauptstadt El Salvadors, in deren Ballungsraum etwas über zwei Millionen Menschen leben, ihren Motor nicht heruntergefahren. Noch pulsiert sie. Blechkarawanen ziehen ihre Spuren über die Hauptrouten der Kapitale. Mit dem Einbiegen in die Stichstraße, die in einem Wendeplatz mit Autostellplätzen ausläuft, lässt man all das unversehens hinter sich.
Das Gelände des Hospitals La Divina Providencia, eines Krebskrankenhauses der Karmeliterinnen, ist ein stiller Ort. Das Areal mit seinem Ensemble verschiedener, in ihrer Anlage überschaubarer Gebäude bietet keinen Raum für einen mehr als dezenten Geräuschpegel. Alles Laute wäre hier deplatziert. Selbst der Gesang, der in der Kapelle des Hospitals anhebt, wo gerade ein Abendgottesdienst stattfindet, klingt zurückhaltend aus dem freistehenden weißen Bau, trotz geöffneter Haupttür.
So wie an diesem Abend mag es auch am 24. März 1980 gewesen sein. Einem Tag, der den Ort bis heute prägt: Am Abend jenes Märztages vor 30 Jahren zerriss ein einzelner Schuss die Ruhe des Areals. Während in der Kapelle Monseñor Oscar Arnulfo Romero, Erzbischof von San Salvador, die Heilige Messe zelebrierte, hielt vor dem in seiner streng geometrischen Form modern wirkenden Gebäude ein viertüriger Volkswagen. Unmittelbar danach traf Romero, der in diesem Moment am Altar eine Hostie in die Höhe hielt, eine von einem Scharfschützen abgefeuerte Hochgeschwindigkeitskugel, Kaliber 22, ins Herz. Der Todesschütze und sein Fahrer waren ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie auf der Bildfläche aufgetaucht waren.
Rechtsgerichtete Kreise in El Salvador gaben im März 1980 den Auftrag, Oscar Romero aus dem Weg zu räumen. Teile der Oligarchie duldeten die Tat. Ermordet wurde der Vorsitzende der salvadorianischen Bischofskonferenz, weil er Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung in seinen Predigten beim Namen nannte. Weil seine leidenschaftliche Parteinahme für die Armen mehr und mehr zum Stachel im Fleisch der Mächtigen El Salvadors wurde. Am Ende wollten sie ihn nicht mehr länger hinnehmen, fassten den Plan zum Attentat, sandten den Mörder.
Noch am Abend vor seinem gewaltsamen Tod, der den Auslöser für einen bis 1992 dauernden Bürgerkrieg mit 75.000 Toten in El Salvador bildete, hatte Oscar Romero sich in einer Predigt direkt an die Soldaten des Militärregimes gewandt. „Ihr tötet in den Campesinos eure eigenen Brüder und Schwestern!“, hielt er ihnen Gräueltaten an Kleinbäuerinnen und -bauern vor. Der Erzbischof appellierte an das Gewissen der Soldaten: „Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu folgen, der dem göttlichen Gesetz widerspricht.“ Deutlicher konnte man den Charakter der salvadorianischen Junta, die Massaker und Menschenrechtsverletzungen des Regimes nicht brandmarken. Mit seinen Worten hatte Romero klargestellt, dass die Legitimation des Militärs und seiner Junta lediglich auf blanker Gewalt und auf Terror gründete. Sein Hinweis an die Soldaten, dass niemand einer solchen Ordnung und ihren Befehlen länger verpflichtet sei, bedeutete nichts weniger als die vollständige Verwerfung des Regimes.
Als Romero 1977 sein Amt als Erzbischof San Salvadors antrat, war er noch weit entfernt von einer solchen radikalen Position. Der Kirchenmann galt sowohl in theologischer als auch in politischer Hinsicht als konservativ. Er sympathisierte mit den Ideen des Opus Dei, war für den Posten des Erzbischofs der Favorit von Rechten und Oligarchen. Doch zunehmend schärfte sich sein Blick für die soziale Ungerechtigkeit in El Salvador, für die Unterdrückung gesellschaftlicher Reformen, für politisch motivierte Morde von Militär und Todesschwadronen.
Ein Massaker an DemonstrantInnen in San Salvador sowie der Mord an einem Freund, dem Jesuiten und Befreiungstheologen Rutilio Grande, lösten 1977 schließlich eine persönliche Umkehr aus: Aus Romero wurde ein Geistlicher, der sich ebenfalls durch die Befreiungstheologie inspirieren ließ und der die Kirche an der Seite der Armen sah. Die Kritik an Reichtum und sakrosankt gehaltenem Privateigentum als dem „großen Übel“ El Salvadors hielt ebenso Einzug in seine Predigten wie das Brandmarken von Folter, Verschwindenlassen, Mord und anderen Menschenrechtsverletzungen. „Eine Kirche, die sich nicht die Sache der Armen zu eigen macht, um von den Armen aus das Unrecht anzuklagen, das man an ihnen begeht, ist nicht die wahre Kirche Jesu Christi“, spitzte Romero in einer Predigt vom 17. Februar 1980 seine Position zu. Bei der katholischen Kirchenbasis El Salvadors und anderer lateinamerikanischer Länder brachte Romero dies Zuneigung und Verehrung ein, im katholischen Klerus selbst allerdings ebenso Anfeindungen.
Wer 30 Jahre nach Romeros Ermordung durch El Salvador reist, dem begegnet der berühmte Tote gleichsam auf Schritt und Tritt. Romero ist überall präsent, auf Postern, T-Shirts, als Malerei auf Hauswänden. Längst ist er für die Menschen in seinem Heimatland der „heilige Romero“. Und über eine solche Ikonisierung hinaus selbst drei Dekaden nach seinem Tod noch Inspiration für andere, nicht nur in El Salvador, auch in Europa. „Märtyrer wie Oscar Romero rücken die Opfer der herrschenden Gesellschaftsordnung in den Blick“, sagt Norbert Arntz. Der 66-jährige katholische Priester im niederrheinischen Kleve begreift Romero als persönliches Vorbild, hat in einer Gemeinde in Peru gearbeitet. „Götzen wie der Markt, die Macht und das Kapital rechtfertigen Menschenopfer und suchen sie unsichtbar zu machen. Die Märtyrer dagegen decken durch ihr Leben und Sterben die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Mechanismen auf, die auch heute noch Menschenopfer verlangen oder rechtfertigen.“
Arntz weiß, dass seine eigene Kirche sich mit Romero zuweilen schwer tut. Immer noch, immer wieder. Im Vatikan dümpelt seit Jahren der Seligsprechungsprozess für den selbst im Tod noch unbequemen Kirchenmann dahin. Immer wieder werden neue Untersuchungen anberaumt. Sieben Jahre dauerte es, zu überprüfen, ob Romeros Predigten mit der katholischen Glaubenslehre übereinstimmen. Das Resultat fiel für Romero zwar positiv aus, ein wesentliches Kriterium für die Seligsprechung war somit erfüllt. Doch dann ließ man die Texte daraufhin gegenlesen, ob sie auch mit der kirchlichen Soziallehre konform gehen. Der Vatikan verschleppt. „Man darf gespannt sein, welcher Romero schließlich seliggesprochen wird“, kommentiert Norbert Arntz das Verfahren. „Man hat ihn ja nicht umgebracht, weil er fromm gebetet, theologisch korrekt gepredigt und sich den Armen fürsorglich zugewendet hat, sondern weil er der Prophet einer realistischen Kirche war. Einer Kirche, die sich nicht mehr als Machtinstrument missbrauchen lässt, nicht mehr als Schachfigur im Spiel der Mächtigen fungiert, sondern Fleisch und Blut annimmt im Interesse der Armen.“
In El Salvador, so scheint es, entwickeln sich derweil die Dinge zumindest im juristischen Fall Romero, dem Caso 11.481, hoffnungsvoller. „Nach dem Amtsantritt Mauricio Funes’ und seiner FMLN-Regierung im Juni 2009 ist Bewegung in den Fall gekommen“, erläutert Ulf Baumgärtner, Mitarbeiter der in San Salvador ansässigen Nichtregierungsorganisation Pro Búsqueda. Tatsächlich hat sich die von der ehemaligen linken Guerilla gestellte salvadorianische Regierung die restlose Aufklärung der Mordsache Romero zur Aufgabe gemacht, nachdem bisherige Anläufe gescheitert waren. Baumgärtner verweist auf im September 2000 abschlägig beschiedene Verfassungsklagen gegen ein Amnestiegesetz, welches seinerzeit dazu führte, dass der Fall Romero abgeschlossen und zu den Akten gelegt wurde. „Die zuständige Kammer des Obersten Gerichtshofes überließ es den Richtern, Einzelfälle weiter zu verfolgen. Seit damals gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die Staatsanwaltschaft kann eine Untersuchung einleiten oder das Gericht von damals den Fall wieder eröffnen.“
Eine nach dem Bürgerkrieg eingesetzte Wahrheitskommission für El Salvador konnte nicht nur den 1992 verstorbenen Ex-Major Roberto D’Aubuisson – Initiator von Todesschwadronen und Gründer der rechtsextremen Arena-Partei – als Auftraggeber für den Romero-Mord identifizieren, sondern ebenso namentlich weitere in Planung und Durchführung der Tat Verstrickte. Als Todesschütze gilt ein in D’Aubuissons Diensten stehender Killer namens Héctor Regelado. Viele in El Salvador hoffen nun darauf, dass der neue politische Wind im Land letztlich auch die Justiz in Bewegung setzen wird. Denn an dieser haftet noch immer der Makel, bislang keinen der mutmaßlichen Täter zur Rechenschaft gezogen zu haben.
Der Abendgottesdienst in der Kapelle des Hospitals La Divina Providencia ist zu Ende. Die Gläubigen treten heraus in die milde Abendluft, einzeln, in kleinen Gruppen. An der Tür passieren sie ein Schwarzweißfoto Oscar Romeros, welches an der Außenseite der Krankenhauskapelle hinter Glas angebracht ist. Der Heilige des Volkes blickt ihnen hinterher. „Wenn sie mich töten, werde ich auferstehen im Volk von El Salvador“, hat Romero, dem viele Male mit dem Tod gedroht wurde, einst prophezeit. Er hat Recht behalten.

Chronist des Untergründigen

Carlos Montemayor wurde am 13. Juni 1947 in Parral im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua geboren. Er studierte Jura und iberoamerikanische Literatur in Mexiko-Stadt, lernte Griechisch und Latein und übersetzte Vergil, Catull, Sappho und andere Dichter des klassischen Altertums ins Spanische. Er begeisterte sich für die prähispanischen und indigenen Sprachen, gab Anthologien oaxaquenischer Poesie heraus und veröffentlichte ein Nahuatl-Spanisch-Wörterbuch. Ein Sprachbesessener, der auch noch Dänisch lernte, um Kierkegaard im Original lesen zu können. In der Musik galt seine Leidenschaft der Oper und er war selbst ein begabter Tenor. Die Grande Dame der mexikanischen Literatur, Elena Poniatowska, nannte ihn „einen modernen Renaissance-Menschen“. Seine eigene literarische Produktion setzte mit Gedichtsammlungen wie Las armas del viento (Die Waffen des Windes, 1977) ein. Unter seinen Prosawerken ragen Guerra en el Paraíso (Krieg im Paradies,1991), Los informes secretos (Die geheimen Berichte, 1999), ein Roman über den staatlichen Infiltrations- und Ausspähungswahn gegenüber der Linken, sowie Las armas del alba (die Waffen der Seele, 2003) hervor.
Die größte Resonanz erfuhr zweifellos sein Roman Krieg im Paradies, der 1998 auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Der Roman thematisiert ein bis heute tabuisiertes historisches Ereignis: die unter dem Namen Partei der Armen von dem Dorfschullehrer Lucio Cabañas geführte Bauernguerilla, die zwischen 1971 und 1974 in den Bergen von Guerrero aktiv war und erst durch einen „schmutzigen Krieg“ des mexikanischen Militärs zerschlagen werden konnte. Der Roman ist über seinen zeitgeschichtlichen Bezug hinaus zugleich eine Parabel auf die Lebensverhältnisse der arm gehaltenen und in den Hintergrund der geschichtlichen Bühne gedrängten lateinamerikanischen Landbevölkerung und ihrer niedergeschlagenen, aber aufgrund ihrer unveränderten sozialen Lage immer wieder aufflammenden Aufstände, die bei der städtischen Linken so häufig kein Gehör finden. Aufgrund seiner dichten und rhythmischen Prosa erreichte der „Guerillaroman“ in diesem Werk höchsten literarischen Rang.
Viele Beobachter halten Krieg im Paradies für eines der wichtigsten Werke der mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Roman hat eine Vorgeschichte, die Carlos Montemayor zeitlebens geprägt hat. Während seines Studiums an der Universität von Chihuahua war er mit einer Gruppe von Gleichaltrigen befreundet, die sich als Agrarrevolutionäre verstanden und später die erste mexikanische Guerilla nach der kubanischen Revolution gründeten. Am 23. September 1965 versuchten sie nach dem Vorbild der Erstürmung der Moncada eine Militärkaserne in Ciudad de Madera einzunehmen. Bei der Aktion kamen fünf Soldaten und acht Guerilleros ums Leben, unter ihnen Arturo Gámiz und Pablo Gómez. Carlos Montemayor studierte zu diesem Zeitpunkt bereits in Mexiko-Stadt und erfuhr von ihrem Tod über eine Wandzeitung an der Universität.
Ihn empörte die Darstellung seiner Jugendfreunde in der Presse, in der sie als „Delinquenten, Pistoleros, Viehdiebe und Banditen“ dargestellt wurden. Seither empfand er es als eine Verpflichtung, über sie zu schreiben, um sie von den Entstellungen zu befreien, die über sie verbreitet wurden. In dem Roman Las armas del alba hat er dieses Versprechen schließlich eingelöst. Besonders verbunden war Carlos Montemayor den Campesino- und Indígena-Bewegungen. Die zapatistische Bewegung im Süden Mexikos, der er das Buch Chiapas, la rebelión indígena de México (Chiapas, die indigene Rebellion Mexikos) widmete, begleitete er mit Sympathie, aber auch Sorge angesichts der staatlichen Repression, deren Mechanismen er in analytischer Schärfe beschrieben hat.
Montemayor blieb stets ein unbeirrbarer Verteidiger der Menschenrechte, ein Anwalt der Ärmsten der Armen, der Verfolgten und Opfer der Staatsgewalt. Zuletzt war er Mitglied einer Vermittlungskommission zwischen der Bundesregierung und der in Guerrero aktiven Guerilla EPR (Revolutionäres Volksheer), um das Schicksal zweier Verschwundener aufzuklären. Ein Kommissionsmitglied beschrieb den Moment, als in der Vermittlungskommission eine heftige Kontroverse über den einzuschlagenden Weg ausgebrochen war: „Als der Streit seinen Höhepunkt erreichte, erhob sich Carlos plötzlich von seinem Stuhl, bat um das Wort und stimmte zur Verwunderung aller mit seiner Tenorstimme eine Arie an. Die Szene endete mit Applaus und alle Uneinigkeit war verflogen.“ Die Kommission löste sich später auf, als auf Regierungsseite kein Einlenken erkennbar war. Ein letztes Mal bestätigte Carlos Montemayor seine Rolle als scharfzüngiger Kritiker staatlicher Gewalt, als kurz vor seinem Tod das Buch La violencia de Estado en México (Die Gewalt des Staates in Mexiko) veröffentlicht wurde.
Carlos Montemayor verkörperte den Typus des engagierten Intellektuellen, wie ihn in Europa Jean-Paul Sartre geprägt hat und der hierzulande im Aussterben begriffen zu sein scheint. Sein Tod löste in der mexikanischen Öffentlichkeit ein überwältigendes Echo aus. SchriftstellerkollegInnen, EPR-Guerilleros, ParteienvertreterInnen, ElektrizitätsgewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen beklagten das Verschwinden der „klarsten Stimme des aufständischen Mexikos“.
Ein mexikanischer Freund, Paco Ignacio Taibo II, schrieb in diesen Tagen in Erinnerung an Carlos Montemayor: „Irgendwann einmal habe ich dir gesagt, dass alt gewordene ‚Rote‘, alte Rockmusiker, alte Romanschriftsteller niemals sterben, und du hast mir vorgeschlagen, dieser Liste die Opernsänger hinzuzufügen. Ich muss dir gestehen, dass ich es nie getan habe … Immer bleibt mir noch etwas zu sagen. Immer komme ich zu allem zu spät: zu den Würdigungen, zum Gedenken, zum Schmerz über den Verlust, zu den Erinnerungen. So ist es auch diesmal. Aber sei beruhigt, ich werde die Opernsänger doch noch in die Liste derjenigen aufnehmen, die niemals sterben, und ich werde dich weiterhin lesen … Und ich werde mit Dir in den Nächten reden, so wie ich es mit vielen anderen tue.“ Da wir seit Juan Rulfos „Pedro Páramo“ wissen, dass sich in Mexiko die Toten unter die Lebenden mischen, schließen wir uns Paco Taibos Worten an: „Wir bleiben im Gespräch, Don Carlos.“

Kohlendreck an den Stiefeln

¡Atención! Auch wenn es martialisch klingt, in den Wiener Lateinamerika-Jahrbüchern werden keine Kommandos gebellt, sondern wird analytische Qualität geliefert. So widmet sich das Jahrbuch 2008 dem Thema Geschichtspolitik. Diesem Begriff, der durch den bundesdeutschen Historikerstreit in den 1980er Jahren gängig wurde, hängt nach wie vor etwas Abschätziges an. „Geschichtspolitik“ betreibt nach landläufigem Verständnis, wer politische Ziele verfolgt und in seiner Argumentation dabei missbräuchlich mit historischen Referenzen arbeitet. Hinter der Kritik am Begriff steckt zum einen die Auffassung, Menschen könnten Geschichte betreiben, ohne damit zugleich etwas in der Gegenwart erreichen zu wollen – und zum anderen der Anspruch, politischer Streit solle gefälligst ausgetragen werden, ohne auf Geschichte zuzugreifen. Das erste ist illusorisch, das zweite unrealistisch, denn selbstverständlich legitimiert sich politisches Handeln immer auch durch historische Erfahrung.
Dieser Überzeugung, die sich – anders als in der Öffentlichkeit – in der Geschichtswissenschaft längst durchgesetzt hat, hängen auch die Herausgeber des Bandes Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika an. Berthold Molden unternimmt in seinem Beitrag diesbezüglich eine sorgfältige Begriffsbestimmung, die auch über den Lateinamerika-Bezug hinaus von Interesse ist. Geschichtspolitik definiert Molden als „jedes gesellschaftliche Handeln, das sich wesentlich auf historische Referenzpunkte stützt und/oder die Deutung von Geschichte zu beeinflussen sucht“. So allgemein gefasst, unterscheidet er sich damit von der konkreteren „Vergangenheitspolitik“ (die staatliches Handeln in Bezug auf überstandene Großkrisen wie Kriege oder Diktaturen bezeichnet) und von der „Erinnerungspolitik“ (dem Kampf um Meistererzählungen, der zwischen Gemeinschaften, auch und gerade nicht-staatlichen, ausgetragen wird).
Gerade für das Lateinamerika-Gedenkjahr 2010 (mit mehreren 200. Jahrestagen der ersten Unabhängigkeitserklärungen und dem 100. Jahrestag der Mexikanischen Revolution) lohnt es, sich mit einem gewissen Rüstzeug auszustatten. Dafür hält der Band anregende Beiträge bereit, zum Beispiel die Überblicksuntersuchungen zur Geschichtspolitik der Linken (David Mayer) wie der Rechten (Mario Sznajder). Mayer stellt die gängigen Marksteine linker Geschichtspolitik von den ersten sozialemanzipatorischen Ansätzen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum zapatistischen Aufstand in den 1990er Jahren in einen plausiblen Zusammenhang. Ob nun kommunistische Strömungen in den 30er Jahren, die sich auf die Inkas berufen, ob die Erinnerungen des salvadorianischen Aufständischen Miguel Mármol, die der Schriftsteller Roque Dalton Anfang der 1970er Jahre aufzeichnete, oder die Selbstbezeichnungen lateinamerikanischer Guerilla-Formationen wie Tupamaros, SandinistInnen, oder ZapatistInnen – allen ist gemein, dass sie sich durch ihre geschichtspolitischen Bezüge nicht so sehr als Opfer, sondern als aktiv Handelnde beschreiben. Sie deuten sich als ErbInnen von Vorbildern, die für gesellschaftlichen Wandel, für aktiven Selbst-Einsatz standen. Und unterstreichen damit, dass sie solchen Wandel grundsätzlich für wünschenswert halten, was sie von den Konservativen deutlich unterscheidet.
Auf drei der 13 Beiträge sei gesondert hingewiesen. Der in Köln lehrende Lateinamerikahistoriker Michael Zeuske, der sich in seinen Publikationen stets durch stupende Detail- und Quellenkenntnis auszeichnet, hat einen Beitrag zum Kult um Simón Bolívar geliefert. Wie ist es zu erklären, dass sich dieser Kult schon so lange hält, dass auch heute noch Venezuelas Präsident Hugo Chávez mühelos daran anknüpfen kann? Sicherlich spielt es eine Rolle, dass Bolívar zur Selbstverherrlichung neigte und dass ihm ergebene Zeitgenossen fleißig am Mythos zu stricken begannen. Die Haltbarkeit erklärt sich nach Zeuske jedoch weniger durch die „diskursive Eigenständigkeit von Texten, Mythen, Ritualen, Worten und Bildern, sondern eher in der extremen Persistenz sozialer und struktureller Probleme …“ Würde sich an diesen etwas ändern, so lässt sich schlussfolgern, dann hätte auch der Bolívar-Mythos (dessen realen Kern Zeuske zuvor ordentlich eingedampft hat) endlich einmal ausgedient.
Der in Wien und Münster lehrende Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner untersucht in seinem Beitrag „Kunst als erinnerungspolitisches Medium“. Kastner führt eine lebendige und zutiefst politische Kunstszene vor Augen, die auch international Resonanz erzeugt. So war die Aktion des guatemaltekischen Künstlers Aníbal Asdrubal López Juárez „30. Juni“ auch auf der 49. Biennale von Venedig sowie einer Wiener Ausstellung mit Fotos dokumentiert. López Juárez hatte am Vorabend des guatemaltekischen Nationalfeiertags im Jahr 2000 sechs Säcke mit Kohle quer über die 6. Avenida verschüttet, jene Promenade, über die unweigerlich die Paraden marschieren würden. Zwar wurde die Kohle vor dem Aufmarsch wieder eingesammelt – der von den Soldaten breitgetretene Staub jedoch erinnerte die ZuschauerInnen an die verkohlten Reste dessen, was das Militär während des Bürgerkriegs oft von den überfallenen Siedlungen übrig gelassen hatte.
In einem analytischen Beitrag geht der Zürcher Lateinamerikahistoriker Stephan Scheuzger der Frage nach, wie die zahlreichen Wahrheitskommissionen – Chile, Argentinien, El Salvador, Guatemala und andere – dadurch geprägt wurden, dass zeitgleich zu ihrer Arbeit sich eine Expertengemeinschaft herausgebildet hat, deren Wissen an der Kommissionsarbeit beteiligt war. Scheuzger kommt zu einem ambivalenten Ergebnis. Zum einen unterstützen die Experten die Entstehung neuer „Erinnerungsgemeinschaften“, zum anderen sorgten sie aber auch für eine Standardisierungstendenz beim Umgang mit belasteter Geschichte – worüber sich, so Scheuzger, die Experten selbst kaum bewusst seien.
Auch das Jahrbuch 2009 beschäftigt sich mit geschichtlichen Themen. Herausgegeben von Jens Kastner und Tom Waibel, untersucht es soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken im Zusammenhang. Wie eng beides tatsächlich zusammengehört, zeigen die Herausgeber gleich am Beginn: Dass Hernán Cortés (und auch Kolumbus!) sich selbst gegenüber den Indigenen als Götter ausgaben, gelang ihnen durch kulturelle Techniken, über die ihr Gegenüber jeweils nicht verfügte – was zu ihrem Sieg ganz entscheidend beitrug. Kultur als Prozess unterscheidet sich so verstanden kaum vom Sozialen, sondern beinhaltet nur eine andere Perspektive auf dasselbe Phänomen. Von ganz unterschiedlicher Seite nähern sich die Beiträge diesem Anliegen: Film, Literatur, Kunst, Stadtteilbewegungen, Telenovelas, Karneval und das Internet sind einige der untersuchten Medien, derer sich Menschen bedienen, die an ihrer sozialen Lage etwas ändern wollen.

Berthold Molden, David Mayer (Hg.) // Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika. ¡Atención! Bd. 12 // 322 Seiten // Berlin Münster Wien 2008 // 24,90 Euro

Jens Kastner, Tom Waibel (Hg.) // … mit Hilfe der Zeichen / por medio de signos … Transnationalismus, soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken in Lateinamerika. ¡Atención! Bd. 13 // 281 Seiten // Berlin Münster Wien 2009 // 24,90 Euro

Nein zur Wiederwahl

Die Entscheidung war in Kolumbien mit großer Spannung erwartet worden. Am 26. Februar entschied das Verfassungsgericht, dass eine dritte Kandidatur des amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe Vélez nicht zulässig ist. Dazu hätte wie schon vor den Wahlen 2006 die Verfassung geändert werden müssen, doch das dafür notwendige Referendum wird nun nicht stattfinden. Das Verfassungsgericht ist zwar inzwischen großteils mit Richtern aus Uribes Anhängerschaft besetzt. Dennoch entschied es, eine erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten sei nicht nur wegen Verfahrensfehlern nicht zulässig, sondern verletze demokratische Prinzipien. Lange Zeit hatten Anhänger wie Gegner der Regierung die Wiederwahl Uribes bereits für sicher gehalten. In seiner Reaktion auf das Urteil beeilte sich der Präsident, den funktionierenden Rechtsstaat zu loben und rief dazu auf, den „eingeschlagenen Weg weiterzugehen“. Somit kann er bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Mai nicht wieder antreten. Die Parlamentswahlen finden bereits am 14. März statt.Aus verschiedenen Gründen schwindet erstmals die Popularität der Regierung. Grund für Proteste ist zum einen die umstrittene Gesundheitsreform. Angesichts völlig überlasteter Krankenhäuser und einer Finanzkrise im Gesundheitssystem rief Uribe im November 2009 den sozialen Notstand aus. Der Notstand ermöglichte der Regierung, geplante Neuerungen im Gesundheitssystem in 10 Dekreten – ohne den lästigen Umweg über die parlamentarische Debatte – festzuschreiben. Das Vorhaben hat für heftige Diskussionen im Land gesorgt.
Während Gesundheitsminister Diego Palacios erklärte, das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung werde nicht eingeschränkt, versammeln sich immer wieder Menschen zu Protesten gegen die „Reform“ auf der Straße. So gab es am 6. Februar zeitgleich in Bogotá, Cali, Medellín und anderen Städten Großdemonstrationen, bei denen das Recht auf Gesundheitsversorgung symbolisch zu Grabe getragen wurde. Durch die Umstrukturierungen würden laut Palacios 683,5 Millionen US-Dollar frei, die einen finanziellen Kollaps des Systems verhindern könnten. Die angebliche Liquiditätskrise ergibt sich aber eher daraus, dass die Gelder aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu circa 90 Prozent im Finanzsektor investiert sind und nicht für Zahlungen zur Verfügung stehen.
War es bisher möglich, sich „außergewöhnliche“ Behandlungen vor Gericht zu erstreiten, sollen die Kosten nun in vielen Fällen vollständig vom Patienten übernommen werden. Die Behandlung muss von einem „technischen Ausschuss“ autorisiert werden. Die Beweislast liegt beim Patienten: Wer keine Mittel hat, die eigene Behandlung zu bezahlen, muss dies nachweisen und ansonsten mit Erspartem oder sogar mit Krediten für die Krankenhausrechnung einstehen. Für Mittellose wurde ein neuer Fonds eingerichtet, der allerdings nur eine bestimmte Geldmenge pro Jahr zur Verfügung hat. Wenn diese aufgebraucht ist, werden für niemanden mehr Kosten übernommen. Überweisungen zu Fachärzten sollen nur noch erfolgen, wenn sie „das Gesundheitssystem nicht finanziell belasten“. Krankenhäuser, die nicht profitabel arbeiten, werden vom Staat geschlossen. ÄrzteInnen, die PatientInnen über einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen hinaus behandeln, hätten mit Sanktionen rechnen müssen – mit dieser Maßnahme brachte die Regierung auch die ÄrztInnen gegen sich auf. Sie musste bereits zurückgenommen werden. Bereits Anfang der 1990er Jahre war das kolumbianische Gesundheitssystem privatisiert worden, die Versorgung hatte sich seitdem verschlechtert. PatientInnen waren entweder einem Beitragssystem oder bei sehr niedrigen Einkommen dem staatlich subventionierten System Sisbén zugeordnet, das einen bestimmten Katalog von Minimalleistungen umfasst. Diese Art, das Problem lösen zu wollen, scheint sich für die Regierung Uribe aber eher zu einem Bumerang zu entwickeln. ÄrztInnen, PatientInnenvereinigungen und GegnerInnen der Regierung fordern ein gerechteres Versorgungsmodell, zu dem möglichst Viele Zugang haben. Gesundheit dürfe nicht zum reinen Geschäft verkommen, so der Tenor auf den Demonstrationen.
Auch die katastrophale Menschenrechtslage spielt offenbar eine Rolle in der aktuellen politischen Debatte. Der Anfang Februar veröffentlichte kritische Jahresbericht von Human Rights Watch, der auch für die Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien einiges an Gewicht hat, löste bei der kolumbianischen Regierung heftige Reaktionen aus: Der Bericht sei ideologisch gefärbt, man müsse endlich die Angst vor den Menschenrechtsorganisationen verlieren, wetterte Verteidigungsminister Gabriel Silva in einem Interview. Er war zudem vergebens nach Washington gereist: Die finanziellen Mittel der USA für Kolumbiens Militär im Rahmen des Plan Colombia wurden just in der gleichen Woche um 55 Mio. US-Dollar gekürzt. Auch der Freihandelsvertrag zwischen USA und Kolumbien ist – in Erwartung einer verbesserten Menschenrechtssituation – vom US-Kongress noch immer nicht ratifiziert worden und liegt seit inzwischen drei Jahren in der Schublade.
All dies führt selbstverständlich nicht zu einer Wende in der Regierungspolitik. Obwohl sich der Skandal um den Geheimdienst DAS, der JournalistInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen ausspioniert hatte, kaum beruhigt hat und die strafrechtlichen Ermittlungen erst anlaufen, wartete Uribe bereits mit einer neuen Idee auf: ein Netz von 1000 als InformantInnen bezahlten Studierenden in Medellín sollte zur Terrorismusbekämpfung beitragen, wurde aber in der Öffentlichkeit rundweg abgelehnt. Die Mordrate in Medellín steigt wieder, und es zeigt sich deutlich, dass die militarisierte Politik der letzten Jahre die eigentlichen, strukturellen Probleme städtischer Sicherheit nicht lösen kann.
Die unklare Haltung der Regierung gegenüber möglichen Verhandlungen mit den sogenannten aufstrebenden Banden (die „neuen Paramilitärs“), die unter Leitung der katholischen Kirche stattfinden sollen, und die Verzögerungen bei der anstehenden Freilassung zweier von der FARC-Guerilla entführten Soldaten tragen zur Irritation bei. Währenddessen gehen repressive Maßnahmen gegen Oppositionelle wie gewohnt weiter: Am 6. Februar beispielsweise wurden bei einer Massenverhaftung durch Militärs in der Region Catatumbo einmal mehr 16 Aktivisten der Bauernorganisation ASCAMCAT festgenommen.
Geradezu bizarr wirkt die fortgeführte „Sicherheitspolitik“: In Massengräbern werden immer wieder als verschwunden gemeldete ZivilistInnen gefunden, die als angebliche Gueriller@s in Gefechten mit dem Militär umgekommen sein sollen. Diese Praxis, ZivilistInnen zu verschleppen und zu ermorden, ist nicht neu, aber ganz offenbar systematisch geworden, seit die Regierung Uribe Bonuszahlungen für Soldaten eingeführt hat, die getötete Gueriller@s präsentieren. Laut Staatsanwaltschaft sind in den letzten Jahren vermutlich über 3.000 meist junge Männer aus den Slums der Hauptstadt Bogotá und anderer Städte in diesem Zusammenhang ermordet worden.
Mehrere Mütter von Verschwundenen aus Soacha bei Bogotá wollten sich nicht damit abfinden, dass ihre Söhne Mitglieder der Guerilla gewesen sein sollten und erreichten in den vergangenen Monaten ein gewisses Maß an öffentlichem Interesse. Wegen des Verdachts der Ermordung von 19 jungen Männern aus Soacha und Ciudad Bolívar stehen nun 46 verantwortliche Soldaten bis auf weiteres auf einer Militärbasis in Bogotá „unter Arrest.“ Dorthin wurden sie aus einem Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Nun wurde öffentlich, welche Art Willkommen das Militär den immerhin des Mordes Verdächtigen ausgerichtet hatte: Ihre Familien waren anwesend, die Soldaten bekamen aromatherapeutische Massagen, ihre Kinder wurden von Clowns unterhalten und die Frauen der Soldaten von KosmetikerInnen verschönert. Derartige Wohltaten hat wohl nicht jedes Militär zu bieten. Die „Mütter von Soacha“, wie sie inzwischen genannt werden, haben dagegen nicht einmal eine finanzielle Entschädigung erhalten. Der Vorfall sorgte selbst in der kolumbianischen Presse, die nicht gerade für kritische Berichterstattung bekannt ist, für scharfe Kritik. Die eher kritische Zeitschrift Cambio wurde im Februar von ihrem Verlag geschlossen, offiziell aus Gründen der Wirtschaftlichkeit. Erschienen war die Zeitschrift in der Verlagsgruppe Editorial El Tiempo, die der einflussreichen Santos-Familie gehört.
Zwar nutzte Uribe in den letzten Wochen seinen Präsidentenstatus, um fast täglich in allen erdenklichen Kommunikationsmedien aufzutreten und intensiv Wahlkampf für sein Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ zu betreiben. In der kolumbianischen Presse wird allerdings gemunkelt, der Präsident habe seinen „Teflon-Effekt“ verloren – schien doch früher jeder Skandal an seiner Popularität abzuperlen: Selbst viele, denen Uribes enge Verbindungen zu paramilitärischen Terrorgruppen bewusst waren, zuckten während seiner ersten Legislaturperiode gern mit den Schultern. „Paraco, pero veraco“, etwa, „er mag ja ein Paramilitär sein, aber immerhin räumt er hier mal auf“. Ganz so leicht scheint es heute nicht mehr zu sein, über den Sicherheitsdiskurs und das Schüren von Ängsten die autoritäre und ultraliberale Politik zu legitimieren. Denn diese schadet möglicherweise inzwischen auch der kleinen, aber für die Wahlen wichtigen kolumbianischen Mittelschicht. Gerade die Dekrete zum Gesundheitssystem treffen nicht nur völlig mittellose Bevölkerungsgruppen auf dem Land, die ohnehin einen schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, sondern sind auch unter ÄrztInnen und städtischer Bevölkerung auf große Ablehnung gestoßen.
Dennoch: Selbst angesichts der Tatsache, dass Uribe für die kommende Legislaturperiode nicht mehr selbst als Präsidentschaftskandidat antritt. Sein aggressives Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ kann mit einer Fortsetzung rechnen. Der autoritäre Umbau der Gesellschaft der letzten acht Jahre, die Legalisierung paramilitärischer Gruppen und die utraliberale Politik zugunsten ausländischer Investoren sind angesichts der Kräfteverhältnisse im Land kaum rückgängig zu machen. Aus Uribes Lager hat der ehemalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos bereits vor Monaten vorsorglich seine Kandidatur erklärt, sollte Uribe nicht selbst antreten können. Zwar wird eine Stichwahl für möglich gehalten, aber kaum eineR der zahlreichen GegenkandidatInnen wird wohl genug Stimmen für sich gewinnen. Santos dürfte ein „würdiger“ Nachfolger Uribes sein. Als Verteidigungsminister zeichnete er unter anderem verantwortlich für die Ermordung von als Aufständischen ausgegebenen ZivilistInnen und für den Bombenangriff auf ein Lager der FARC auf ecuadorianischem Boden 2008.

Riesiges Täuschungsmanöver

Kolumbien ist nach dem Sudan das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen. Es sind nicht ausschließlich Opfer des Drogenkrieges, Tausende fliehen vor der Gewalt der exportmarktorientierten Agrarindustrie. Im Gespräch erklärt Mauricio García vom Hilfswerk Swissaid die Zusammenhänge zwischen dem aktuellen Entwicklungsmodell und der dramatischen Situation der Vertriebenen.

Sie leiten das kolumbianische Programm des Hilfswerkes Swissaid “Unser Saatgut – unser Leben”. Was kann man sich genau darunter vorstellen?
Wir sind Teil einer lateinamerikanischen Kampagne, die um den Erhalt der Biodiversität und der traditionellen Agrarkultur der Kleinbauern kämpft. Beides ist durch die weltweite Monopolisierungspolitik schwerstens bedroht, die von den transnationalen Konzernen mit Rückendeckung der nationalen Regierungen vorangetrieben wird. Wir wollen dieser umwelt- und menschenfeindlichen Politik Alternativen gegenüberstellen: Etwa durch den Austausch von altüberliefertem Wissen und traditionellem Saatgut unter den ländlichen Gemeinden, deren Unabhängigkeit wir dadurch stärken wollen.

Auf welche Weise wird die Unabhängigkeit der KleinproduzentInnen konkret bedroht?
Sehr schwerwiegende Konsequenzen zieht die Freihandelspolitik der vergangenen Jahrzehnte nach sich, die auch uns Kolumbianer in eine krasse Abhängigkeit von Lebensmittelimporten gestoßen hat. Heute importieren wir acht Millionen Tonnen an Lebensmitteln, davon etwa drei Millionen Tonnen Mais, Getreide und Soja. Die Getreideproduktion in Kolumbien ist zum Erliegen gekommen, da wir es nun aus Argentinien und den USA importieren. Dieser Tendenz liegt die sogenannte „Grüne Revolution” zugrunde, das dominante landwirtschaftliche Enwicklungsmodell der vergangenen 60 Jahre, welches die agarindustrielle Großproduktion in den Mittelpunkt stellt. Im Zuge der Privatisierungen und der verschärften Monopolisierung hat sich die Situation für kleinere Erzeuger in jüngerer Zeit drastisch verschärft.

Worin besteht das Problem bei den Privatisierungen?
Anfangs war das Saatgut in öffentlicher Hand; die staatliche Finanzierung der Forschungseinrichtungen garantierte die gesellschaftliche Teilhabe an ihrem Nutzen. Doch dieses öffentliche Gut ist nach und nach in die Hände privater Großkonzerne geraten. Heutzutage wird es ohne Rücksicht auf die Kleinbauern und die Bedürfnisse der Bevölkerung für die große Agrarindustrie entwickelt. Auf riesigen Anbauflächen wird das Saatgut mithilfe landwirtschaftlicher Großtechnologie angebaut, die auf immense Mengen an Treibstoff und Pestiziden angewiesen ist. Kleine bäuerliche Betriebe können mit dieser industriellen Produktionsweise nicht mithalten. Sie haben erst gar nicht die Mittel, das Saatgut der Großkonzerne zu kaufen, geschweige denn die technischen Möglicheiten, es erfolgreich anzubauen. In diese Stoßrichtung geht auch die Entwicklung von genmanipuliertem Saatgut: Lediglich zehn Konzerne teilen diesen Markt weltweit unter sich auf.

Gerade BefürworterInnen der Gentechnik führen jedoch als Argument an, nur mit deren Hilfe ließe sich der Hunger nachhaltig und global bekämpfen.
Das ist doch ein riesengroßes Täuschungsmanöver. Erst einmal ist die Produktion einer ausreichenden Menge an Nahrungsmitteln überhaupt nicht das Problem. Schon heute werden weltweit genügend Lebensmittel produziert; fast doppelt so viel als man bräuchte, um die gesamte Menschheit auf dem Planeten zu ernähren. Im Grunde haben wir ein Verteilungsproblem. Das lässt sich nicht mit genmanipulierten Pflanzen lösen. Zumal diese Technik mit einer schwindelerregenden Landkonzentration auf Kosten der Armen einher geht. Um riesige Flächen zusammenzulegen, werden die Kleinbauern auch mit Gewalt von ihren Schollen vertrieben. Diese werden danach von der Agrarindustrie für die Viehzucht, jüngst vermehrt für den Anbau von Pflanzen zur Biodieselherstellung, benutzt. Aus diesem Grunde sind die Lebensmittelpreise in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen, denn das Land wird nicht für die Grundbedürfnisse der Mehrheit, sondern für einen überzogenen Konsum einiger weniger genutzt.

Es gibt also überhaupt keinen Ertragsgewinn durch Gentechnik?
Die Befürworter der Gentechnik versprechen entgegen den Fakten immer noch größere Erträge und „saubere” Lebensmittel. In den meisten Fällen haben die Schädlinge aber sehr schnell Resistenzen gegen die genmanipulierte Saat entwickelt. Um den Resistenzen entgegenzuwirken, wird die Dosis an Herbiziden und Pestiziden immer weiter erhöht. Das ist die Logik der Agrarindustrie: Töten, töten und nochmals töten! Meist ist es der gleiche Konzern, der für seine genmanipulierte Pflanze die passende Chemikalie im Angebot hat. Abgesehen davon frage ich mich, wie „sauber” beispielsweise ein Apfel ist, der den Wurm tötet, der ihn frisst. Daneben kursieren diese Scheinargumente, der Nahrungswert von bestimmten Lebensmitteln ließe sich dadurch erhöhen. Die Menschen haben jedoch nicht die ökonomischen Mittel, um solch einen Reis zu kaufen. Das ist doch absurd. Um den Hunger nachhaltig zu bekämpfen, müssen die Menschen ihre Böden behalten; sie müssen ihr eigenes Saatgut und ihre eigenen Techniken anwenden können. Es ist erwiesen, dass kleine Schollen mit verschiedenen Pflanzen weitaus ertragreicher sind als die grünen Wüsten der Monokulturen.

Kolumbien sollte doch eigentlich genügend fruchtbaren Boden haben, um seine 45 Millionen EinwohnerInnen ernähren zu können.
Natürlich. Allerdings treibt in Kolumbien ein falsch verstandenes Entwicklungsmodell die Menschen in größte Not. Das fing schon vor 60 Jahren an, als mit einem ersten Weltbankprojekt unter der Führung von Lauchlin Curries Vorschläge gemacht wurden, wie Kolumbien sich zu entwickeln habe. Um die Industrialisierung voranzutreiben, sollten die Menschen in die Städte geholt werden. Die forcierte Urbanisierung hat viele der bäuerlichen Gemeinden, ihr Brauchtum, ihre Traditionen, sowie ihr Kulturland zerstört. Damit verbunden waren die bis heute nicht abreißenden, gewaltsamen Vertreibungen, die Millionen zur Landflucht gezwungen haben. Gehörten noch in den siebziger Jahren 50 Prozent aller Kolumbianer der bäuerlichen Bevölkerung an, sind es heute gerade mal 24 Prozent. Die Entwicklungen haben dazu geführt, dass weniger als fünf Prozent der Landbesitzer mehr als 65 Prozent der Ackerböden besitzen.

Und die GroßgrundbesitzerInnen produzieren nicht vorrangig Lebensmittel?
Vor allem produzieren sie für den Exportmarkt: Kaffee, Bananen, Kakao und in rasant wachsendem Maße Palmöl. Sie produzieren am Bedarf der Menschen vorbei. Währenddessen produzieren die kleinen Erzeuger 50 Prozent aller Lebensmittel, obwohl sie nur einen viel kleineren Teil der Fläche bewirtschaften. Das wird aber nicht anerkannt. Nachdem es in den sechziger Jahren eine zwar kleine, aber in Teilen dennoch erfolgreiche Agrarreform gab, wurden die Kleinbauern ab den siebziger Jahren erneut von ihrem Land vertrieben. Wir nennen das die Gegen-Agrarreform. Es ist eine Allianz aus Großgrundbesitz, Drogenmafia und Paramilitärs, die bis heute ihr Unwesen treibt.

Präsident Álvaro Uribe behauptet allerdings, dass der Paramilitarismus genauso wie die Guerilla in Kolumbien fast am Ende sei.
Das ist die größte und erfolgreichste der unzähligen Lügen dieser Regierung. Doch der Krieg geht weiter, er ist vielleicht sogar noch brutaler als zuvor, denn es geht um Ressourcen, um Minen, Wasser, die Produktionszentren des Kokains und die großen Agrarlandflächen. Außerdem gleitet uns der Krieg immer mehr aus den Händen, da er durch die Profitinteressen internationaler Akteure angetrieben wird.

Können Sie ein gegenwärtiges Beispiel für den Krieg um Ackerland nennen?
Massenhafte Vertreibungen werden beispielsweise seit einiger Zeit im Pazifikdepartamento Chocó durchgeführt. Zuerst werden die Einwohner der Gemeinden von Paramilitärs vertrieben. Wer deren Drohungen nicht ernst nimmt, wird ermordet. Der Boden der Vertriebenen wird danach mit riesigen Monokulturen der Ölpalme bepflanzt. Die Regierung unterstützt die Bepflanzungen aktiv mit Subventionsgeldern. Wenn die vertriebenen Gemeinden auf Druck internationaler und kolumbianischer Nichtregierungsorganisationen doch zurückkehren können, sehen sie vollendeten Tatsachen ins Gesicht: Ihr Land ist mit Ölpalmen bepflanzt. Durch Drohungen und Gewalt, werden sie dazu gezwungen, diese weiterhin anzubauen.

Die Regierung unterstützt also die gewaltsame Konzentration von Land mit Steuergeldern?
Das Niveau an Korruption wurde im vergangenen Jahr besonders deutlich an dem Skandal um das „Sichere Agrareinkommen“. Das ist ein Programm des Landwirtschaftsministeriums, welches offiziell sicheres Agrareinkommen, also Subventionsgelder, an kleine Agrarerzeuger austeilen sollte, die besonders negativ von den desaströsen Auswirkungen der Freihandelspolitik betroffen sind. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Geld an Leute ausgezahlt wurde, die überhaupt nichts mit der Landwirtschaft zu tun haben, oder an Großgrundbesitzer und Lebensmittelproduzenten, die sicherlich keine Subventionen benötigen. Abermillionen an Pesos wurden an die Klientel des Präsidenten ausgehändigt, um dessen Wiederwahl zu sichern. Entgegen der erfolgreichen Propaganda ist diese eine der korruptesten Regierungen, die wir in Kolumbien je hatten. Sie hilft den Großgrundbesitzern dabei, ihre Macht und ihren Reichtum zu festigen und auszudehnen.

Was setzen Sie dem entgegen?
Notwendig ist eine weitreichende Neuverteilung des Landes. Sie käme den kleinen Erzeugern zu Gute und ist zugleich Voraussetzung für eine nachhaltige und ökologische Landwirtschaft. Der biologische Landbau bietet die einzige Möglichkeit, die Biodiversität zu erhalten und könnte auch in Kolumbien unsere Ernährungssouveränität wiederherstellen. Um das zu erreichen, versuchen wir ein Umdenken bei den Verbrauchern zu bewirken: Anstelle von Lebensmodellen des schnellen Konsums, wie wir sie aus den Industrieländern importiert haben, wollen wir einen neuen Begriff von dem, was wirklich lebenswert ist, fördern. Wenn jedoch in den reichen Ländern, wie dem Ihren, keine Maßnahmen ergriffen werden, um die ungeheure Macht der Multis zu kontrollieren, bleiben wir auf verlorenem Posten stehen.

Hand in Hand gegen rebellische Dörfer

Die BewohnerInnen der Gemeinde La Morena in der Sierra Petatlán im südostmexikanischen Bundesstaat Guerrero arbeiteten gerade auf dem Felde, als sich am 16. Februar der Überfall ereignete. Eine Militäreinheit des 19. Bataillons der mexikanischen Armee fiel über die BewohnerInnen her und eröffnete das Feuer. Angeführt wurden die Soldaten von Personen in Zivil, welche die Dorfbevölkerung als Paramilitärs identifizierte, die im Dienst des Lokalfürsten Rogaciano Alba Álvarez stehen. In einem dramatischen Anruf informierte der Ökobauer Javier Torres Cruz die nächst gelegenen Menschenrechtsorganisationen: „Mein Onkel Isaias Torres Quiróz wurde durch einen Durchschuss am Oberkörper schwer verletzt“, er sei dringend auf medizinische Hilfe angewiesen. Die DorfbewohnerInnen hatten auch das mexikanische Rote Kreuz um Hilfe angefragt, doch dieses verweigerte die Entsendung einer Ambulanz, da die Sicherheit in dieser Region nicht gewährleistet sei. Zudem hätten sich die Militärs in zwei nahe gelegenen Gemeinden stationiert, woher ebenfalls sporadisch Schüsse zu hören seien.
Weder Ort noch Zeitpunkt des Überfalls waren zufällig gewählt. Vielmehr handelte es sich um einen Racheakt. Denn eine Woche zuvor war Rogaciano Alba Álvarez, „El Roga“ genannt, in Guadalajara von der Bundespolizei verhaftet worden. Alba gilt seit längerem als einer der größeren Fische im Sumpf von Politik, Drogenhandel und anderen Geschäften. Seine kriminelle Karriere begann er mit Marihuana-Großhandel in den 70er Jahren. Als jahrelanger Bürgermeister von Petatlán im Dienste der Revolutionären Institutionellen Partei PRI nutzte er sein Amt in den 1990er Jahren für die massive Abholzung der Sierra im Auftrag einer US-Firma. Dies brachte die lokale Bevölkerung auf den Plan, sich gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage zu organisieren. So waren die als „Ecologistas de la Sierra de Petatlán“ bekannten Gemeinden denn auch die erklärten Feinde von „El Roga“. Über 30 Morde an widerständigen Bauern und Bäuerinnen sollen auf sein Konto gehen.
Als seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón die Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Drogenmafias eskalierten, musste er im Mai 2008 untertauchen: Eine gegnerische Mörderbande hatte eine Sitzung der Viehzüchtervereinigung, deren Präsident Alba war, unter Beschuss genommen und tags darauf dessen Familie überfallen. Resultat: 17 Tote.
Seinen Einfluss in der Region bewahrte er als Statthalter des mächtigen Kartells von Sinaloa dennoch. Im Volksmund war bekannt, dass Rogaciano Alba weiter mit der lokalen Militärführung gute Geschäfte machte. Die Militärs überfallen die Gemeinden regelmäßig mit Hurra-Rufen auf „El Roga“ und in Begleitung von Mördern der Drogenmafia.
Ein zweiter Grund für den kürzlichen Überfall auf La Morena findet sich darin, dass sich die mutigen Dorfbewohner Javier Torres Cruz und dessen Onkel Isaias Torres Quiróz zu einer Aussage gegen Alba entschlossen hatten. Dieser soll demnach der Auftraggeber des Mordes an Digna Ochoa sein.
Digna, eine bekannte Menschenrechtsanwältin, wurde 2001 in ihrem Büro in Mexiko Stadt durch zwei Schüsse ermordet. Kurz zuvor hatte sie die Ökobauern und -bäuerinnen von Petatlán besucht und sich für deren Verteidigung engagiert. Der Fall wurde damals von den Behörden mit dem skandalösen Untersuchungsresultat ad acta gelegt, sie habe Selbstmord begangen (siehe LN 353). Erst die neuen Zeugenaussagen aus La Morena führten zu einer zögerlichen Wiederaufnahme der Untersuchungen.
Javier Torres Cruz war nach seiner Aussage gegen Alba bereits im Dezember 2008 von Militärs verhaftet und den Paramilitärs übergeben worden. Zehn Tage lang wurde er gefoltert und verhört, schaffte es aber schließlich auf abenteuerliche Weise, seinen Häschern zu entfliehen. Das Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit CCTI hatte die Entführung damals sofort öffentlich gemacht und die Folter dokumentiert. Seither fanden in La Morena mehrere Kurse statt, um die Bevölkerung im Umgang mit Repression und Folter möglichst gut zu wappnen. Die vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Schutzmaßnahmen für Javier Torres Cruz wurden jedoch bis heute von den Behörden nicht umgesetzt.
In den frühen Morgenstunden nach dem Überfall im Februar hatte sich eine ad hoc gebildete Beobachtungsmission aus den Menschenrechtsorganisationen CCTI, Tadeco und der Coddehum auf den mehrstündigen Weg in die abgelegene Region der Sierra gemacht. Dort musste sie feststellen, dass die Militärs offenbar gezielt Jagd auf Javier Torres Cruz und dessen Angehörige gemacht hatten. Javier selbst konnte fliehen, doch Javiers Großvater Anselmo sowie Huber Vega Coria waren von den Militärs verhaftet und per Helikopter ausgeflogen worden. Aufenthaltsort und Gesundheitszustand der beiden sind weiterhin unbekannt.
Außerdem ist seit dem Überfall Alfonso Torres Cruz, ein weiterer Onkel von Javier, verschwunden. Laut Aussagen der DorfbewohnerInnen wurde dieser ebenfalls durch die Kugeln getroffen, konnte aber zunächst in die Berge entfliehen. Doch bereits am Tag darauf wurde Alfonso tot aufgefunden; die genauen Umstände seines Todes sind ungeklärt.
Um den Aufenthaltsort des untergetauchten Javier Torres Cruz zu erfahren, habe laut CCTI ein Soldat mit einem Funkgerät der Gemeinde mit Javier kommuniziert, „ihn bedroht und angeschrieen, dass sie hinter ihm her seien und seine Familie in ihrer Gewalt hätten“.
Die Menschenrechtsorganisationen fordern nun vom mexikanischen Staat, dass der Überfall auf La Morena strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müsse. Zudem müssten „die vom Interamerikanischen Menschenrechtshof angeordneten Schutzmaßnahmen für die Familie Torres endlich umgesetzt werden.“
Notwendig wäre aber vor allem ein Ende der Kollaboration von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit der organisierten Kriminalität. Sogar die mexikanischen Untersuchungsbehörden geben auf ihrer Homepage zu: „Die Stärke des organisierten Verbrechens wurzelt in der Erstellung von Allianzen und Verbindungen auf allen Ebenen, inklusive der politischen und der militärischen. Mit Hilfe von Korruption erreichen die Verbrecher ihre Straflosigkeit.“ Doch dagegen handeln mag die mexikanische Regierung kaum.
Einzelne, spektakulär inszenierte Verhaftungsaktionen wie diejenige von Rogaciano Alba dienen vielmehr der Simulierung von Handlungsentschlossenheit und sollen die Öffentlichkeit über die weit reichenden politisch-militärischen Verstrickungen mit dem Drogenhandel hinwegtäuschen. So ist es wenig verwunderlich, dass Rogaciano Alba erst mal „wegen fehlender Beweise“ nur in Untersuchungshaft sitzt. Von Untersuchungen bezüglich der Ermordung von Digna Ochoa und den Morden in Guerrero ist bisher gar nicht die Rede.
Der kürzliche Überfall auf La Morena zeigt vielmehr, dass die Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen mit dem organisieren Verbrechen weiter an der Tagesordnung ist.

Kasten:

Präventivkrieg in Guerrero
Die zugespitzte Situation in Guerrero erklärt sich auch vor dem Hintergrund der verstärkten Aktivitäten der Guerilla Revolutionäre Armee des Aufständigen Volkes ERPI insbesondere in der bergigen Region der Sierra. Die Guerilla bedeutet für die lokalen Machtinteressen ein Hindernis. Die ERPI denunzierte explizit die Zusammenarbeit von Drogenbanden mit dem Militär in Sachen Aufstandsbekämpfung.
Ende Oktober 2009 kamen Jacobo Silva Nogales und Gloria Arenas, zwei Gründungsmitglieder der ERPI, nach über zehn Jahren Haft frei. Sie verstehen sich inzwischen als Teil der „Anderen Kampagne“ der Zapatistas und arbeiten seit ihrer Freilassung auf zivilem Weg für die anderen politischen Gefangenen. Kaum ein Zufall, dass wenige Tage nach ihrer Freilassung der regionale Anführer der ERPI, Omar Guerrero Solís alias Comandante Ramiro, von einem „Narcoparamilitär“, so die Guerilla, ermordet wurde. Die Militarisierung des Bundesstaates Guerrero hat ihren historischen Höchststand erreicht, wie auch der erfahrene soziale Aktivist Bertoldo Martínez Cruz im Gespräch bestätigt: „Die Militärs sind präsenter als in den Zeiten des schmutzigen Krieges in den 1970er Jahren. Das Hauptproblem für das Militär ist jedoch nicht der Drogenhandel, sondern die soziale Bewegung.“

Kasten:

Ein Jahr nach den Morden an Raúl und Manuel
Diesen Februar jährte sich das Verschwindenlassen mit anschließender Folter und Errmordung der beiden indigenen Aktivisten Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas von der Organisation für die Zukunft des Volks der Mixtecos (OPFM) in Ayutla. An einer Pressekonferenz am Jahrestag des Doppelmords bedauerten die Mixtecos, dass keinerlei Fortschritte in der Aufklärung des international viel beachteten Doppelmordes vorliegen. Instanzen wie die EU und die UNO waren vor Ort, hunderte Menschenrechtsorganisationen protestierten, doch die lokalen Behörden der PRI stellen sich taub – und werden vom PRD-Gouverneur und von der PAN-Regierung gedeckt.
In den letzten zwölf Jahren seien in dieser Region Nahe der Grenze zu Oaxaca rund 20 indigene Anführer der Mixtecos ums Leben gekommen, so ihr Sprecher Arturo Campos. Die selektiven Morde durch Paramilitärs begannen nach dem Massaker von El Charco vom Juni 1998, als dem Militär erstmals Dokumente über die Guerilla ERPI in die Hände fielen.
Die Mixtecos leben seit der Ermordung des Präsidenten und des Sekretärs ihrer indigenen Organisation vor einem Jahr in Angst, kündigten aber nun doch die Gründung einer neuen sozialen Organisation namens Völker für die Regionale Entwicklung (Poder) an, welche den Faden der Organisierung wieder aufnehmen und den Gemeinden aus ihrer Marginalisierung helfen soll.

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