Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.

Eine „sehr lateinamerikanische“ Berlinale

Auf der diesjährigen Berlinale werde man wohl mehr Spanisch als Deutsch sprechen, witzelte Festivaldirektor Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz für ausländische Medien und bezog sich damit auf die starke Präsenz Lateinamerikas beim internationalen Filmfestival. Über 50 Filme und Produktionen mit lateinamerikanischer Beteiligung werden in den verschiedenen Sektionen der Berlinale 2015 zu sehen sein, davon vier im Wettbewerb um den goldenen Bären. Die diesjährige Berlinale sei eine „sehr lateinamerikanische“, titelte daher auch die kolumbianische Presse. Und nicht nur im Filmprogramm, auch in der Jury ist Lateinamerika mit der Peruanerin Claudia Llosa hochkarätig repräsentiert, die 2006 mit ihrem Film La teta asustada den Goldenen Bären und 2012 mit dem Kurzfilm Loxoro den Teddy Award gewann.

Im Wettbewerb werden in diesem Jahr vier lateinamerikanische Filme präsentiert. Die französisch-chilenisch-spanische Produktion El botón de nácar des Regisseurs Patricio Guzmán ist ein intensiver Dokumentarfilm, der an eines der schlimmsten Kapitel der Pinochet-Diktatur erinnert, an die Verschwundenen, die über dem offenen Meer aus Flugzeugen geworfen wurden. Der Film verbindet die Verbrechen der Diktatur mit der Auslöschung der indigenen Ethnien während der Kolonialisierung und spielt auf die Perfektionierung des gleichen kriminellen Instinkts durch das Pinochet-Regime an. Ein weiterer chilenischer Film im Wettbewerb ist El Club des Regisseurs Pablo Larraín, der sich mit dem Thema Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auseinandersetzt. In einem Glaubenskonvent an der chilenischen Küste werden schwere Vorwürfe gegen einen Priester erhoben, der sich diesen durch Selbstmord entzieht. Die darauf folgenden Ermittlungen bringen unbarmherzig Widersprüche in der katholischen Kirche zum Vorschein.

Der britische Regisseur Peter Greenaway zeigt mit Eisenstein in Guanajuato eine britisch-mexikanische Produktion über die Reise des legendären sowjetischen Meisterregisseurs Sergej Eisenstein nach Mexiko, der dort über eine Filmproduktion verhandelte. Der vierte lateinamerikanische Film im Wettbewerb, Ixcanul Volcano von Jayro Bustamante, ist das Debüt Guatemalas im Wettstreit um den Goldenen Bären. Er handelt von María, einem 17-jährigen Maya-Mädchen, das am Fuß eines aktiven Vulkans in Guatemala lebt, auf seine arrangierte Heirat wartet und selbst nach Möglichkeiten sucht, dieser zu entfliehen.

Das Hauptprogramm der Sektion Panorama, die sich dem Arthouse- und Autorenkino widmet, eröffnet am 5. Februar die brasilianische Produktion Sangue Azul von Lirio Ferreira. Auf einem Inselparadies in der Südsee, gefilmt auf der Insel Fernando de Noronha vor der Küste des Bundestaats Pernambuco, werden Bruder und Schwester von der Mutter getrennt. Der 9-jährige Pedro wird von Kaleb, einem Zirkusbetreiber, Richtung Festland mitgenommen. Als er 20 Jahre später als erwachsener Mann mit dem Zirkus zurückkehrt, wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert. In der Reihe Panorama Special, die unabhängige Produktionen der US-amerikanischen Major-Studios zeigt, eröffnet am 6. Februar 600 Millas, das Erstlingswerk des Mexikaners Gabriel Ripstein, in dem ein blutjunger Waffenschieber zwischen Texas und Mexiko einen amerikanischen Sicherheitsagenten in die Finger bekommt. Diesen wieder loszuwerden, wird das Abenteuer seines Lebens.

Insgesamt ist Lateinamerika im Panorama-Programm stark vertreten: Neben dem chilenischen Regisseur Sebastián Silva, der seinen in Brooklyn spielenden Film Nasty Baby präsentiert, stellen Brasilien, mit Ausência von Chico Teixeira und Que horas ela volta? von Anna Muylaert, und Argentinien, mit Mariposa Marco Berger und El incendio von Juan Schnitman, ihre jüngsten Werke über die Untiefen menschlicher Beziehungen vor.

Auch in der Sektion Forum, dessen risikofreudige Filmauswahl sich im Grenzbereich von Kunst und Kino bewegt, bildet das junge lateinamerikanische Kino einen geografischen Schwerpunkt. Es setzt sich vordergründig mit institutioneller, politischer und familiärer Gewalt auseinander und porträtiert Menschen, die auf gesellschaftliche Umbrüche individuelle Antworten suchen. Zudem wird als Special Screening Cuatro contra el mundo von Alejandro Galindos in einer restaurierten Fassung gezeigt. Der historische Film von 1950 gilt als Prototyp des mexikanischen Film noir. Zum regulären Forumprogramm gehört der in Argentinien entstandene Spielfilm Mar der Chilenin Dominga Sotomayor, der aus der vordergründig privaten Geschichte eines jungen Paars, das im Urlaub vom Auftauchen der Mutter gestört wird, ein komplexes Gesellschaftsbild entwickelt. Der chilenische Spielfilm La mujer de barro von Sergio Castro San Martín begleitet die wortkarge María zurück an den Arbeitsort, an dem sie einst Schlimmes erlebt hat. Als sich die Geschichte zu wiederholen scheint, nimmt sie ihr Schicksal in die Hand.

Aus drei eindringlich inszenierten Episoden besteht Violencia, das Regiedebüt des Kolumbianers Jorge Forero. Ein angeketteter Gefangener mitten im Dschungel, ein Jugendlicher auf der Suche nach Beschäftigung, ein hochrangiger Offizier bei einer Miliz: ein Tag, drei Männer, drei Schauplätze. Das Bindeglied zwischen ihnen ist die allgegenwärtige Gewalt in Kolumbien. Der mexikanische Regisseur Joshua Gil erzählt in La maldad von einem alten Mann, der noch große Pläne hat. Seine Entschlossenheit führt ihn in die Stadt, wo Forderungen nach politischer Veränderung immer lauter werden.

Neben der in dieser Ausgabe rezensierten avantgardistischen Satire Brasil S/A von Marcelo Pedros wird das ebenfalls aus Brasilien stammenden Regiedebüt Beira-Mar von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher gezeigt. Ein junger Mann reist ins Ferienhaus der Familie am Meer, um eine heikle Erbangelegenheit zu klären. Behutsam erzählt der brasilianische Film von einem langen Winterwochenende, erwachender Sexualität und neuer Intimität. Der Film wird als Cross-Section-Vorführung auch im Generation Programm, der Kinder- und Jugendsektion der Berlinale, als Teil einer Auswahl von Coming-of-Age-Filmen gezeigt.

Generation zeigt außerdem zwei lateinamerikanische Filme: Den in dieser LN-Ausgabe besprochenen mexikanisch-guatemaltekischen La casa más grande del mundo von Ana V. Bojórquez und Lucía Carreras und den argentinischen El Gurí, der wie viele Filme der diesjährigen Ausgabe dieser Reihe von einem jungen Menschen handelt, der auf seinem Weg zum Erwachsenwerden eine (zu) große Verantwortung übernehmen muss.

Über die Sonderreihe NATIVe, die sich dieses Jahr explizit das indigene Kino Lateinamerikas als Fokus genommen hat, berichten wir auf den folgenden Seiten gesondert und stellen drei Filme dieser Reihe vor. Genug spannende Gelegenheiten also, sich auf der diesjährigen Berlinale mit dem lateinamerikanischen Kino zu beschäftigen.

Lösung der Krise stärkt den Friedensprozess

Nach seiner Freilassung hat General Rubén Alzate nun seinen Rücktritt erklärt. Er habe durch sein Verhalten ­– ohne Bodyguards und in Zivil in ein Konfliktgebiet zu fahren – seine Soldatenehre verletzt. Ist dieser Fall damit erledigt?
Das halbe Land ist mit der Erklärung des Generals über das, was sich vor zwei Wochen in der Siedlung Las Mercedes abgespielt hat, nicht zufrieden. Aber der genaue Hergang wird zunächst Spekulation bleiben. Präsident Juan Manuel Santos ist in jedem Fall verärgert über den General. Denn durch seinen fahrlässigen Fehler hat er die Friedensverhandlungen ernsthaft in Gefahr gebracht.

War es eine kluge Entscheidung von Präsident Santos, die Gespräche auszusetzen, nachdem die Gefangennahme des Generals bekannt wurde?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Regierung damit eines der wichtigsten Prinzipien der Verhandlungen verletzt hat. Nämlich jenes, dass die Gespräche in Havanna nicht von den andauernden Kämpfen zwischen beiden Seiten in Kolumbien beeinflusst werden dürfen.

Auch die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) haben sich im Januar 2014 nicht vom Verhandlungstisch in Havanna erhoben, als das Militär das Camp eines hohen FARC-Kommandanten bombardierte und es drei Tote gab.
Santos’ Entscheidung kam wohl maßgeblich auf Druck des Militärs zustande und er hatte politisch wohl auch keine andere Wahl. Es zeigt aber, dass der Präsident Probleme damit hat, im Militär Unterstützung für seinen Friedenskurs zu finden. Derjenige, der während der vergangenen zwei Wochen immer als Erster Details über die Situation des Generals twitterte, war nicht Santos oder sein Verteidigungsminister, sondern der rechte Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe, der noch immer einen guten Draht zu den Militärs hat.

Wie wird sich der Vorfall auf den weiteren Velauf der Gespräche auswirken?
Es wird den Friedensprozess stärken, weil beide Seiten gezeigt haben, dass sie willens sind, die Krise so schnell wie möglich zu lösen. Das zeigt unter anderem die recht schnell getroffene Vereinbarung, ab dem 10. Dezember wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dieser Zwischenfall war ja keine Krise der Gespräche selbst, sondern wurde durch einen externen Vorfall ausgelöst.

Die FARC und viele Aktivist*innen haben in den vergangenen Wochen verstärkt einen beidseitigen Waffenstillstand gefordert, was die Regierung bisher immer ablehnt. Besteht jetzt eine Chance darauf?
Ein Waffenstillstand wäre der vernünftigste und wünschenswerteste Schritt. Doch er ist für die Regierung politisch nicht durchsetzbar, weil die Opposition und das Militär sie zerreißen würden. Außerdem steht das schwierigste Thema noch auf der Verhandlungsagenda: die Frage nach der Übergangsjustiz, also ob und wie lange die Guerilleros für ihre Verbrechen ins Gefängnis müssen.

Wenn schon kein Waffenstillstand durchsetzbar scheint, welche Deeskalationsmaßnahme ist dann denkbar?
Machbar wäre eine stufenweise Deeskalation der Kämpfe, die schließlich in einen Waffenstillstand mündet. Beide Seiten könnten beispielsweise vereinbaren, dass das Militär zeitweise die Bombardements von Guerilla-Camps und die Besprühung von Koka-Feldern aussetzt und die FARC im Gegenzug keine Anschläge mehr auf die Infrastruktur, also Stromnetze, Pipelines und Überlandlandstraßen mehr verüben. Diese Maßnahmen könnten für Vertrauen sorgen und das Feld für ein endgültiges Schweigen der Waffen bereiten.

Das Rennen um die öffentliche Meinung

Bogotá, 4. Dezember 2014. Während sich die Stadt im Weihnachtstrubel auf die Feiertage vorbereitet, laufen in einer Büroetage im nördlichen Stadtviertel La Castellana die Telefone heiß. Gerade sind Drohungen der paramilitärischen Verbindung Águilas Negras gegen 17 Journalist*innen, ihre Familien und Mitarbeiter*innen bekannt geworden. In einer Email erklären die Águilas Negras diese 17 Journalist*innen und 13 alternative Medienkollektive, vor allem aus den ländlichen Regionen Kolumbiens, zu Zielobjekten bewaffneter Aktionen. Die Begründung: Sie seien von den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) unterwandert und somit „Feinde der Nation“. In den Büros des unabhängigen Onlinemagazins Las2Orillas in der Hauptstadt werden daher in aller Eile die Solidaritätsmechanismen für die bedrohten Kolleg*innen angekurbelt.

Für eine unabhängige Medienlandschaft Pacho Escobar bei der Redaktionsarbeit

Laut einem aktuellen Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) ist Kolumbien nach Mexiko das Land mit der zweithöchsten Mordrate an Journalist*innen weltweit. Zwischen Januar 2000 und September 2014 wurden mindestens 56 kolumbianische Journalist*innen ermordet, während sie ihren Beruf ausübten. Laut Aussagen der lateinamerikanischen Zentrale der Organisation wurden die meisten von ihnen „Opfer ihres Strebens, Menschenrechtsverletzungen, das Organisierte Verbrechen, Korruption oder ähnliche Einmischungen zu denunzieren“. Auch stocken die Ermittlungen bei einem Großteil der Verbrechen gegen Journalist*innen oder die Verbrechen bleiben ungestraft, da der politische Wille und ein effizientes juristisches System fehlen oder korrupte Autoritäten die Strafverfolgung behindern, so die Organisation. 2014 findet sich Kolumbien im Jahresbericht über die Pressefreiheit von RoG deshalb auf Platz 126 von 180 Plätzen, dicht gefolgt von Ländern wie Afghanistan oder Syrien.

Laut der kolumbianischen Stiftung für die Pressefreiheit (FLIP) tauchten alleine im September 2014 zwei schwarze Listen der paramilitärischen Gruppierungen Los Urabeños und Los Rastrojos auf, die acht beziehungsweise 24 Journalist*innen aus den Bezirken Valle de Cauca und Córdoba mit dem Tode bedrohten, da sie „die Anweisung zum Schweigen“ nicht eingehalten hätten. Nachdem im Februar 2014 der Kameramann Yonny Steven Caicedo in der Hafenstadt Buenaventura ermordet worden war, sorgte zuletzt vor allem die Ermordung von Luis Carlos Cervantes in der Kleinstadt Tarazá, Antioquia, für Schlagzeilen. Am Nachmittag des 12. August wurde der Radiojournalist auf der Straße erschossen – nur drei Wochen, nachdem ihm die staatliche Schutzbegleitung aus finanziellen Gründen entzogen worden war, unter der er seit Todesdrohungen im Jahr 2012 gestanden hatte.

Auch wenn es in den letzten Jahren in Bogotá mehrere Attentate oder Bedrohungen gegen Journalist*innen gab, ist die Bedrohung in den Provinzen doch ungleich höher. „Es gibt einige Journalisten, die ständig inmitten von Bedrohungen leben“, erzählt Pacho Escobar, Mitarbeiter von Las2Orillas, und fährt fort: „Zu diesen gehören zwar einige der bekannteren Journalisten von Revista Semana oder El Tiempo (neben der Tageszeitung El Espectador die bedeutendsten überregionalen Printmedien Kolumbiens; Anm. der Red.), aber im Allgemeinen bemerkt man in Bogotá von den Bedrohungen eher wenig. Wenn wir allerdings mitbekommen, dass Kollegen aus den Provinzen bedroht werden, versuchen wir natürlich ihnen mit allem, was in unserer Macht steht, zu helfen“. So auch an diesem vierten Dezember. Die Telefondrähte glühen inzwischen, schnell werden Pressemitteilungen und Artikel verfasst, um die Bedrohungen öffentlich bekannt zu machen. Denn das ist die Aufgabe, die Las2Orillas in solchen Fällen übernimmt: „Wenn wir von Bedrohungen hören und es Beweise für diese Bedrohungen gibt, berichten wir sofort – aus Solidarität und um zu zeigen, dass Journalisten in Kolumbien eine große Gemeinschaft sind“, berichtet Pacho Escobar.

Laut Carlos Gutiérrez, Direktor des linken Medienkollektivs Desde Abajo, entspricht es regelrecht dem Selbstmord, investigativen Journalismus in den ländlichen Regionen zu betreiben: „Hier in Bogotá stört uns niemand. Aber wenn wir in die Provinzen gehen, wo die politische und ökonomische Macht immer noch in den Händen der Großgrundbesitzer oder der (para)militärischen Gruppierungen liegt, sieht die Situation anders aus. Sie kontrollieren dort nicht nur die Informationen, sondern jeder, der in irgendeiner Form Kritik anbringt, wird automatisch zum militärischen Zielobjekt.“

Medien wie Las2Orillas versuchen diesen Bedrohungen entgegenzuwirken, indem sie die Artikel von Bogotá aus veröffentlichen: „Wir haben Informanten in fast allen Teilen Kolumbiens. Diese versorgen uns mit Daten, die wir dann unter unserem Namen veröffentlichen. Sie wollen nie als Protagonisten auftreten, sie machen das eher aus einer Gefühl bürgerlicher Verpflichtung heraus oder weil sie Gerechtigkeit wollen. Wir hier in der Hauptstadt übernehmen dann die Verantwortung“, beschreibt Pacho Escobar das Informationsnetzwerk der Onlineplattform, und erläutert: „Natürlich überprüfen wir die Daten, manchmal fahren wir in die Regionen oder rufen die Beteiligten an, um zu sehen, was sie uns zu sagen haben.“

Eine weitere Bedrohung der Informationsfreiheit ergibt sich aus den engen Verbindungen zwischen der politischen Macht, der Wirtschaft und den traditionellen Medien. Das Medienkonglomerat, das etwa 95 Prozent der Informationen auf dem kolumbianischen Markt liefert, liegt in den Händen der drei Unternehmensgruppen Grupo Ardila, Santo Domingo und Sarmiento Angulo. Diese drei Gruppen sind Eigentümer eines Großteils der kolumbianischen Radio- und TV-Sender – so unter anderem Caracol und RCN, der beiden wichtigsten Fernsehsender – und dominieren auch den Zeitungsmarkt. Zum Wirtschafts- und Bankenimperium Sarmiento Angulo gehört zum Beispiel El Tiempo, die wichtigste überregionale Zeitschrift des Landes. Sie wurde von der Familie des aktuellen Präsidenten Juan Manuel Santos gegründet. Derlei enge Verflechtungen mit der Politik beeinflussen die Journalist*innen in ihrer Arbeit. Die Selbstzensur sei deswegen in Kolumbien viel stärker als die Zensur, wie Carlos Gutiérrez erklärt: „Journalisten zensieren sich selbst aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, wenn die veröffentlichten Informationen nicht mit den Interessen der Eigentümer des Mediums übereinstimmen“.

Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass die meisten Medien, selbst wenn sie nicht zu den großen Wirtschaftskonzernen gehören, sich doch hauptsächlich über staatliche und kommerzielle Werbung finanzieren: „Regionale Medien leben von der Werbung der regionalen Institutionen“, berichtet Miguel Suárez, der für Desde Abajo und für die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique arbeitet. Auch die prekären Bedingungen, unter denen viele Journalisten arbeiten, spielen dabei eine Rolle: „Zum Beispiel werden Radiojournalisten in Kolumbien nicht mit Geld, sondern mit Sendezeit bezahlt. Du musst dich also über Werbung selbst finanzieren. Und somit bist du wiederum davon abhängig, wirtschaftliche oder staatliche Interessen nicht zu verletzen“, so Suárez.

Um dennoch eine gewisse Unabhängigkeit in der Berichterstattung erreichen zu können, nutzen die meisten alternativen Medien vor allem das Internet, um ihre Artikel zu veröffentlichen. Juanita Léon, Gründerin und Chefredakteurin des Online-Magazins La Silla Vacía, betont: „Wir haben es geschafft, durch Unabhängigkeit Einfluss zu erhalten. Tatsächlich haben wir eine Freiheit, die viele Medien in Kolumbien nicht haben, weil ihnen mit Entzug der Werbung gedroht wird. Da wir durch die billige Onlinewerbung ein schlechtes Geschäft sind, sind wir auch weniger angreifbar“. Auch Las2Orillas und andere alternative Medien, wie das Polit-Analyse-Magazin Razón Pública, das vor allem von Akademiker*innen parallel zur wissenschaftlichen Arbeit betrieben wird, erscheinen ausschließlich online. Las2Orillas finanziert sich zum Beispiel hauptsächlich über internationale Fördermittel, die die Online-Zeitschrift für Journalist*innenschulungen in den Provinzen erhält. Das Medienkollektiv Desde Abajo, das neben einer eigenen Monatszeitschrift auch die kolumbianische Ausgabe von Le Monde Diplomatique herausgibt und aktuell eine Online-Fernsehsendung plant, finanziert sich neben den Einnahmen aus dem Zeitschriftenverkauf vor allem über die Veranstaltung von Kongressen und die Herausgabe kritischer Literatur- und Sachbücher.

María Fernanda Gónzalez, Politikdozentin an der Universidad Nacional de Colombia und freie Autorin für Zeitungen wie Revista Semana, El Espectador und Razón Pública, betont, dass die Medien in Kolumbien einen großen Einfluss auf die politische Debatte hätten: „Aber obwohl sich gerade die Printmedien in einer wichtigen Position befinden und insbesondere alternative Medien einen recht hohen Grad an Unabhängigkeit aufweisen, ist es ziemlich enttäuschend, dass es nach wie vor keine wirklich linke Medienlandschaft und damit auch keinen wirklichen Meinungspluralismus gibt“. Medien wie Las2Orillas oder La Silla Vacía mögen zwar mittlerweile bis zu hunderttausend Leser*innen täglich haben, die Rolle der alternativen Medien ist jedoch nach wie vor eher marginal. So erklärt Miguel Súarez: „Unsere Hauptaufgabe ist eine Art Machtkampf. Wir streiten um die öffentliche Meinung. Deswegen sehen wir uns auch eher als Aktivisten denn als Journalisten. Wir stehen nicht nur einer konzentrierten Macht der einflussreichen Medienmacher gegenüber, sondern auch vielen kleinen, sehr versprengten Medien, die um spezialisierte Leserschaften streiten. Denn wer liest zum Beispiel die Zeitung der Kommunistischen Partei? Doch nur die Mitglieder der Kommunistischen Partei.“ Auch bestehe nach wie vor die Gefahr, mit linker Berichterstattung als „Guerilla“ denunziert zu werden, wie Carlos Gutiérrez betont.

Doch auch der Zugang zu Information hängt stark vom Medium ab. Zwar werden Journalist*innen allgemein recht gut angesehen, gerade auf politischer Ebene, aber „den Status erhältst du vor allem durch das Medium“, erzählt Pacho Escobar. „Wenn man sagt, dass man für eines der traditionellen Medien arbeitet, dann bekommt man viel schneller und unkomplizierter Zugang zu den Daten, die man sucht“. Zugleich betont Juanita León, dass „viele Informationen immer noch davon abhängen, dass jemand einem einen ‚Gefallen‘ tut. Es ist nach wie vor schwierig, an bestimmte Informationen zu kommen, vor allem in Bezug auf die Polizei, das Militär oder den Wahlrat – einfach weil diese Institutionen nicht sehr transparent sind“. So haben viele Journalist*innen schon die Erfahrung gemacht, dass Anfragen auf Datenherausgabe schlicht nicht beantwortet werden. „Man muss schon sehr stark insistieren. Obwohl es einen gewissen Respekt gegenüber Journalisten gibt, hoffen die Institutionen oft, dass man irgendwann aufhört nachzufragen“, ergänzt Pacho Escobar, „und selbst wenn es Daten gibt, sind die oft nicht verlässlich“.

So bleibt die alternative Berichterstattung in Kolumbien ein tägliches Ringen. Es geht einerseits um den Zugang zu Informationen, genauso wie um das schlichte Überleben als Person und als Institution. Andererseits aber geht es vor allem um Einfluss, wie Miguel Suárez beschreibt: „Die politische Opposition, die Linke, hat einfach noch nicht verstanden, dass die Kommunikation ein Schlüssel zum politischen Wandel ist. Wir müssen um die öffentliche Meinung kämpfen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass es ein anderes Kolumbien bereits gibt und dass der Wandel möglich ist.“

Kampf mit den Marktkräften

Es war der vorletzte Tag der Sondervollmachten, die das Parlament dem venezolanischen Präsidenten für ein Jahr verliehen hatte, und er nutzte ihn fulminant: Ende November unterzeichnete Nicolás Maduro eine ganze Reihe von Gesetzen, die in erster Linie auf die krisenhafte wirtschaftliche Situation reagieren. Insgesamt 45 Gesetzesänderungen und Dekrete, deren Inhalt die Regierung erst in den Wochen nach der Unterzeichnung bekannt gab, befassen sich unter anderem mit einer Steuerreform, der Kontrolle und Ankurbelung der Wirtschaft, Korruptionsbekämpfung, Bürokratieabbau, Währungspolitik und Tourismus.

Die spürbarsten Merkmale der Krise in Venezuela sind derzeit Inflation und Warenknappheit. Zwar ist eine hohe Inflationsrate in der venezolanischen Rentenökonomie keine Neuheit – in den 1990er Jahren lag sie teilweise bei Jahreswerten von über 100 Prozent und auch in der Chávez-Ära betrug sie im Durchschnitt über 20 Prozent. Seit dem Tod des Präsidenten 2012 hat sie sich allerdings stark beschleunigt und wies zuletzt Jahreswerte von mehr als 60 Prozent auf. Die Preissteigerung bei Lebensmitteln liegt mit mehr als 90 Prozent sogar noch deutlich darüber. Zugleich sind viele Waren des täglichen Bedarfs nur schwer oder gar nicht zu bekommen, was zu langen Schlangen, stundenlangem Warten und Wucher führt.

Durch eine Mindestlohnsteigerung von knapp 65 Prozent hat die Regierung als Reaktion auf die steigenden Preise einen Inflationsausgleich für die untersten Lohngruppen verordnet und glaubt man ihren Aussagen, dann hat die Sozialpolitik bislang ein Durchschlagen der Krise auf die ärmeren Bevölkerungsteile verhindern können. So versicherte Präsident Maduro im November, dass im Gegensatz zu den 1980er und 90er Jahren die Armut in Zeiten hoher Inflation nicht gestiegen sei. Die Arbeitslosenquote verharrt nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts (INE) bei etwa sieben Prozent. Zumindest in der subjektiven Wahrnehmung ist die aktuelle Situation aber für immer mehr Menschen unerträglich, frisst die Preissteigerung doch die allermeisten Lohnanpassungen unverzüglich auf.

Hinzu kommt ein wachsendes Loch im staatlichen Haushalt. Aktuell wird es auf 15 bis 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt, was in den vergangenen zwei Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Staatsverschuldung geführt hat, durch die sich Venezuela vor allem in die Abhängigkeit von China begibt. Ursache waren die expansiven staatlichen Ausgaben der vergangenen Jahre, mit denen unter anderem die zahlreichen Sozialprogramme, vor allem aber auch die Importe finanziert wurden von denen der Konsum weitgehend abhängt. Waren die hohen Ausgaben schon zuvor ein Problem, so stellt der Verfall des Erdölpreises um 30 bis 40 Prozent im Herbst 2014 die venezolanische Regierung vor eine besonders schwierige Situation.

Das von Maduro verkündete Reformpaket wirkt auf den ersten Blick wie der Versuch eines Befreiungsschlags, der zeigen soll, dass die Regierung das Heft in der Hand hält und angesichts der unbefriedigenden Situation nicht untätig bleibt. Doch ist zu bezweifeln, dass die neuen Maßnahmen ernsthaft dazu beitragen werden, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen.

So adressiert eine kleine Steuerreform zwar das Haushaltsdefizit und versucht über eine Steuererhöhung für Luxusgüter, Tabak und Alkohol sowie Ausgabenkürzungen bei den Gehältern hoher Regierungsbeamter – allen voran des Präsidenten selbst – und bei „Luxusausgaben“ die Neuverschuldung zu drosseln. Die seit etwa einem Jahr diskutierte Kürzung der Subventionierung des Benzins, das in Venezuela praktisch kostenlos ist und den Staat Jahr für Jahr Milliarden kostet, wird aber immer weiter verschoben.

Darüber hinaus soll eine Kommission weitere überflüssige Ausgaben ausmachen, um den Staatshaushalt zu verschlanken – ohne jedoch die Sozialausgaben zu kürzen, versicherte Maduro. Hinzu kommen Versuche, durch weitere Kontrollen die Einhaltung bestehender Gesetze zu verbessern und beispielsweise Gewinnspannen über 30 Prozent zu verhindern. Angesichts grassierender Preisspekulation, Wucher und traditionell schwach ausgeprägter und ineffizienter staatlicher Behörden ist das ein hehres Ziel. Denn Die meisten Preise orientieren sich trotz diverser gesetzlicher Obergrenzen ohnehin am explodierenden Schwarzmarktkurs statt an tatsächlichen Einkaufspreisen.
Die Reformen greifen jedoch zu kurz und ignorieren weitgehend die wichtigste Ursache der krisenhaften Situation, die in einem völlig unfunktionalen Wechselkursregime liegt. Seit den Unternehmerstreiks 2003 herrschen in Venezuela strikte Devisenkontrollen und festgesetzte Wechselkurse, die mit dem Ziel eingeführt wurden, Kapitalflucht zu unterbinden und Spekulationsangriffe auf die Landeswährung Bolívar zu verhindern. Dieses Ziel erfüllten sie zeitweise auch tatsächlich. Seit einigen Jahren hat sich das System jedoch zu einem bürokratischen Monstrum mit verheerenden Effekten für die Wirtschaft des Landes entwickelt. Denn der deutlich überbewertete Wechselkurs verbilligte die Importe enorm, während die ohnehin schon geringe Produktion des Landes jeder Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt beraubt wurde. Zugleich muss der Staat alle Devisen, die für das Funktionieren der Volkswirtschaft benötigt werden, zur Verfügung stellen, da die Privatwirtschaft lediglich etwa vier Prozent der Devisen selbst erwirtschaftet. Angesichts der großen Menge an Importen war dies in Zeiten eines Erdölpreises von etwa 100 US-Dollar zwar zu bewerkstelligen, es beraubte den Staat aber teilweise der Möglichkeit, die enormen Gewinne des Erdölexports in die Entwicklung des Landes zu investieren.

Hinzu kommt derzeit aber ein noch größeres Problem. Denn weil die Erdöl-Dollars offenbar nicht ausreichen, um die Nachfrage nach Devisen zu befriedigen und möglicherweise befeuert durch Spekulationsattacken, ist der Schwarzmarktkurs in extreme Höhen geschossen. Anfang Dezember wurde er mit über 170 Bolívares gehandelt, was dem 27-fachen des günstigsten offiziellen Wechselkurses von 6,3 Bolívares entspricht. Hinzu kommen zwei weitere legale Wechselkurse von etwa 12 beziehungsweise 50 Bolívares pro US-Dollar, die je nach Zweck der Verwendung gewährt werden. Diese Differenzen machen für diejenigen, die Zugang zu den staatlich kontrollierten Devisen haben, unglaubliche Spekulationsgewinne möglich. So stehen Importunternehmer, denen US-Dollar zum Präferenzkurs von 6,3 bewilligt wurden beispielsweise vor der Wahl, die Waren legal mit einer erlaubten Gewinnmarge von 30 Prozent zu verkaufen, oder aber die erhaltenen Dollars zum Schwarzmarktkurs zu tauschen und dabei Gewinne von 2.000 bis 3.000 Prozent zu erzielen.

So ist durch die Währungspolitik ein völlig undurchschaubarer Markt von Devisenspekulationen entstanden, der gigantische Gewinne abwirft und es ist davon auszugehen, dass auch zahllose Mitglieder der staatlichen Verwaltung und der Regierung in ihn involviert sind. So bemängelte im Frühjahr 2013 die Kurzzeit-Präsidentin der Zentralbank, Edmée Betancourt, dass dem Staat allein im Jahr 2012 etwa 20 Milliarden US-Dollar (!) verloren gegangen seien – durch Briefkastenfirmen geschleust und dann verschwunden. Nach nur drei Monaten im Amt musste sie ihren Posten räumen. Bereits Anfang desselben Jahres hatte der damalige Planungsminister Jorge Giordani öffentlich beklagt, dass durch das staatliche Devisensystem bis zu 25 Milliarden US-Dollar abhanden gekommen seien.

Seitdem geistert die Zahl der 20 Milliarden verschwundenen Dollar durch kritische Debatten an der chavistischen Basis. Inspiriert von den Aussagen Betancourts errechneten Aktivist*innen von Marea Socialista, einer Strömung der sozialistischen Regierungspartei PSUV, für den Zeitraum von 1998 bis 2013 eine Kapitalflucht in Höhe von 259 Milliarden Dollar. Der marxistische Ökonom Manuel Sutherland rechnete dann auch gleich vor, mit welchen Methoden dies möglich ist. Denn tatsächlich werde nur ein Bruchteil der Waren importiert, für die Devisen bewilligt wurden. Durch Leerkäufe und künstlich überhöhte Importpreise existierten viele Waren nur auf dem Papier, die Dollars aber, mit denen sie tatsächlich oder vorgeblich gekauft wurden, strichen die Importunternehmen ein. Und ein nicht unwesentlicher Teil der Waren, die tatsächlich in Venezuela ankommen, landen statt in den Supermarktregalen entweder bei informellen Händler*innen, die ein Vielfaches der teilweise regulierten Preise verlangen oder über Schmugglerrouten in Kolumbien – die Regierung spricht von etwa 30 Prozent.

Die Maduro-Regierung sieht diese Entwicklung einzig als einen „Wirtschaftskrieg“ der alten Eliten gegen das Projekt der bolivarianischen Revolution, spricht von einer „induzierten“ Inflation und gibt der Bourgeoisie die Schuld an den Versorgungsengpässen, weil diese die Waren horte oder aus dem Land bringe, um die Gewinnmargen in die Höhe zu treiben. Nun ist diese Beschreibung zwar nicht gänzlich falsch; sie übergeht aber geflissentlich, dass die Anreize zu diesen Handlungen durch das gigantische Wechselkursdifferential künstlich ins Unermessliche getrieben werden. In einer kapitalistischen Wirtschaft von den Marktteilnehmer*innen zu erwarten, dass sie nicht danach streben, ihre Profite zu maximieren, ist im besten Fall gutgläubig. Und dass sie es angesichts zwar zahlreicher aber doch laxer Kontrollen durch einen von schwacher Institutionalität geprägten Staatsapparat dann auch jenseits des engen gesetzlichen Rahmens tun, ist zwar verurteilenswert, aber kaum überraschend.

So zeigt sich deutlich, dass die Regierung für eine ernst gemeinte Lösung der Krise nicht darum herum kommt, die Währungspolitik anzugehen und die Wechselkurse zumindest in die Nähe ihres Marktwertes zu bringen. Wirtschaftswissenschaftler wie der ehemalige Industrieminister unter Chávez, Víctor Álvarez, geben als Referenzwert eines auf diese Weise vereinheitlichen Wechselkurses mindestens 35 Bolívares pro Dollar an. Zu ähnlichen Schätzungen kommen der Analyst der Bank of America, Francisco Rodríguez, oder der US-Ökonom Mark Weisbrot, während andere einen deutlich höheren Kurs veranschlagen. Dies würde die Dollararmut zu beenden helfen und zugleich dem Staat enorme Einnahmen in der Landeswährung verschaffen, die er wiederum einsetzen könnte, um die sozialen Effekte eines solchen Schrittes abzufedern. Andernfalls dürfte es nicht mehr lange möglich sein, die enormen Staatsausgaben zu schultern, die sich neben den üblichen Ausgabenposten durch die Importe, Subventionen und die große Zahl öffentlicher Angestellter ergeben.

Unabhängig von der Frage, welcher Lösungsansatz der richtige ist, sind sich die meisten unabhängigen Analyst*innen rechts wie links einig darin, dass der Status Quo untragbar ist. Die Regierung bleibt dennoch bislang weitgehend untätig, doktert bestenfalls an Symptomen herum und scheint wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Auch wenn davon auszugehen ist, dass spätestens – und viel zu spät – Anfang 2015 Schritte in Richtung einer Reform der Währungspolitik unternommen werden, drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung nicht Willens oder nicht fähig ist, die aktuelle Situation zu lösen. Mögliche Gründe für diese Passivität gibt es viele; zwei stechen allerdings besonders hervor.

Einerseits befindet sich die Regierung in einer Zwickmühle, denn sie hat mit einer Art „Demokratieproblem“ zu kämpfen: Die notwendigen Maßnahmen zur Korrektur des Wechselkursdilemmas können je nach Umsetzung vorübergehend schmerzhaft sein und so befürchtet die politische Führung womöglich, dass die Ergebnisse der im kommenden Herbst anstehenden Parlamentswahlen gefährdet sind.

Andererseits – und das wäre die wesentlich unangenehmere Erklärung – ist allgemein bekannt, dass Teile des Staatsapparates und der Regierung in die Korruption und den Devisenbetrug verwickelt sind. Dies war auch in der Regierungszeit von Hugo Chávez nicht anders, der allerdings zumindest den Eindruck erweckte, das Ausmaß der Korruption in gewissen Grenzen halten zu können. In der aktuellen Situation scheint hingegen, als ob der „korrupte Teil“ der Regierung so viel Macht gewonnen hat, dass er verhindern kann, den absurden Status Quo zu überwinden.

Tabaré Vázquez bietet Frente die Stirn

Die Siegesjubel war kaum verklungen, da überraschte Tabaré Vázquez bereits mit der kompletten Namensliste seines künftigen Kabinetts. Ohne Rücksprache mit dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, dem er zu einem erheblichen Teil seinen Wahlerfolg zu verdanken hat. Enttäuscht oder wütend bedauerten nicht wenige, ihm die Stimme gegeben zu haben. Es war ein Vorgeschmack auf kommende Regierungszeiten. Er bestätigte damit seinen autoritären Stil, mit dem er bereits während seiner ersten Präsidentschaft (2005 – 2010) manchen compañero aufgebracht hatte. Dialog ist nicht die Stärke des 74-jährigen caudillo. Bedingungslose Gefolgschaft schätzt er mehr, wie sich in der Auswahl der künftigen Minister*innen zeigte. Mehrere waren schon in seiner ersten Regierung im Amt und hielten ihm auch später gegen alle Kritik unverbrüchliche Treue.
Tabaré Vázquez sei eigentlich ein Fremdkörper in der uruguayischen Linken, denn „er teilt deren wichtigste Werte nicht“, meint der Politologe und Meinungsforscher Oscar Botinelli.
Bestärkt in seinem Vorgehen fühlt sich Tabaré Vázquez wohl auch durch die Tatsache, dass er in der Stichwahl am 30. November mit 53,6 Prozent der Stimmen den jungen Rivalen der konservativen Blanco-Partei (41,1 Prozent), Luis Lacalle Pou, klar abgehängt und die höchste Stimmenzahl seit dem Ende der Diktatur 1985 erzielt hatte.
Das Movimiento de Participación Popular (MPP) mit dem scheidenden Präsidenten José „Pepe“ Mujica als Aushängeschild war wieder stärkste Kraft in der Frente Amplio geworden und die sozialdemokratische Frente Liber Seregni um den früheren und künftigen Wirtschaftsminister Danilo Astori musste bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober empfindliche Stimmeneinbußen hinnehmen. Doch wer geglaubt hatte, dass es deshalb einen Schwenk nach links geben würde, sah sich eines Besseren belehrt. Es geht eher in die umgekehrte Richtung, vor allem mit dem neuen Außenminister Rodolfo Nin Novoa. Der Agrotechniker und ehemalige Blanco-Politiker war Vizepräsident in der ersten Präsidentschaft Vázquez‘. Kaum ernannt machte der Vázquez-Getreue klar, wo die Prioritäten liegen: Sein Interesse gelte der „Allianz des Pazifiks“. Vollmitglieder sind Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, allesamt geprägt von (neo)liberaler Wirtschaftspolitik. Uruguay ist assoziiertes Mitglied. Im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Gegen China, den wichtigsten Handelspartner Uruguays. Ein Hindernis für die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Allianz ist der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur), in dem rund 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts des Subkontinents erwirtschaftet werden. Nur gemeinsam oder mit Zustimmung aller Mitglieder (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) können Freihandelsverträge mit anderen Ländern ausgehandelt werden. Uruguay fühlt sich gegenüber den Großen benachteiligt und verlangt mehr Handlungsspielraum für Alleingänge. Die Statuten müssten flexibilisiert werden, fordert der künftige Außenminister. Er nennt das „verantwortungsbewussten Pragmatismus“. Oppositionelle und Unternehmer*innen zeigten sich „beruhigt“, zumal Marktfundamentalist Danilo Astori das Wirtschaftsministerium wieder übernimmt.
Freimütig bekannte sich Nin Novoa zu einem Freihandelsvertrag mit Washington, obwohl in der ersten Amtszeit von Vázquez ein entsprechender Anlauf am Widerstand einer Frente-Mehrheit gescheitert war. Da war Antiimperialismus noch zu keinem Fremdwort verkommen. Als US-Präsident Obama kürzlich forderte, man müsse „anachronistische Stereotypen überwinden“, denn „gemeinsam können wir mehr“, signalisierte Tabaré Vázquez totale Übereinstimmung. Er sprach sich für eine „gemeinsame Agenda“ mit Washington aus.
Mit dem Trio Vázquez-Astori-Nin Novoa dürfte der bisherige betont lateinamerikanische Kurs in der Außenpolitik Uruguays ab- wenn nicht gar ausgebremst werden. Das trifft vor allem UNASUR, die 2008 auf Initiative Brasiliens hin gegründete Union Südamerikanischer Staaten. In ihr sind alle südamerikanischen Länder organisiert, außer Französisch-Guayana. Die USA wurden nicht einmal als Beobachter eingeladen. Die Union strebt langfristig eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie die wirtschaftliche Integration an. Zwischenstaatliche Konflikte sollen friedlich beigelegt und die immensen Naturressourcen gegen fremde Begehrlichkeiten geschützt werden. Die Pazifik-Allianz droht nun einen Keil zwischen die UNASUR-Mitglieder zu treiben. Wohl nicht im Sinne von „Pepe“ Mujica, der in Quito auf einer Tagung der UNASUR weilte, als Tabaré Vázquez seine Ministerriege vorstellte. Der künftige Senator will nicht von der Politik lassen – bis er in der „Kiste“ abtransportiert werde.
Siegessicher konzentrierten sich schon vor der Stichwahl enge Mitarbeiter von Tabaré Vázquez auf kommende Regierungsaufgaben. Beispielsweise die Fragen nach dem Ausbau der erfolgreichen Sozialpolitik und der Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Und danach, wie die defizitäre öffentliche Infrastruktur, vor allem Straßen, Eisenbahn und Häfen, in den Griff zu bekommen sind. Schwerlaster, voller Soja und Baumstämme für Zellulosefabriken, haben die Straßen ramponiert. Kollateralschäden eines Rohstoffexporteurs. Mehrere Milliarden Dollar sind erforderlich, auch wenn nicht mehr wie bisher mit üppigen Wachstumsraten zu rechnen ist. Private Kapitalgeber sind gefragt. Auf jeden Fall wird sich der öffentliche Schuldenberg von derzeit rund 35 Milliarden Dollar noch höher auftürmen.
Ebenso gewaltig werden die Anstrengungen für eine Reform des einst vorbildlichen Erziehungswesens sein. Eine Aufgabe, die sich kaum in einer Legislaturperiode bewältigen lässt. Darin sind sich alle Parteien einig. Die Frente Amplio will sechs Prozent des Bruttosozialprodukts in die Erziehung stecken. Doch über das Wie der Reform gehen die Meinungen weit auseinander. Ob beispielsweise Schule und Universität stärker auf die Bedürfnisse der „Märkte“ zugeschnitten werden oder ob auch auf mehr Kritikfähigkeit und Kreativität Wert gelegt wird. Die Bedeutung der öffentlichen Schulen wird dabei immer wieder beschworen. Der Vorschlag von Vázquez, „Voucher“, also Gutscheine, für Privatschulen in Armenvierteln auszugeben, lässt Zweifel aufkommen. Viele Politiker*innen, auch aus dem linken Spektrum, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.
Steuererhöhungen hat Tabaré Vázquez allerdings ausgeschlossen. Auch das außergewöhnlich boomende Agrobusiness, Stütze des exportorientierten Wirtschaftsmodells, muss nicht mit steuerlichen Belastungen rechnen. Damit war schon der scheidende Präsident José „Pepe“ Mujica gescheitert. Er wollte ein wenig von den explodierenden Gewinnen abschöpfen – für den Straßenbau in ländlichen Gebieten. Doch der Oberste Gerichtshof legte sich quer und erklärte die geplante Abgabe für verfassungswidrig. Die derzeitige Verfassung „verteidigt die Rechte der Großgrundbesitzer“, klagte Mujica. Das Gemeinwohl müsse „Vorrang vor dem Privaten“ haben, forderte deshalb Lucia Topolansky, einflussreiche Senatorin und Ehefrau Mujicas. Ermuntert durch den siegreichen ersten Wahlgang im Oktober holten führende „Frente“-Politiker ein altes Vorhaben wieder aus der Schublade: die Reform einer Verfassung, die aus dem Jahre 1967 stammt. Dann würden beispielsweise internationale Verträge über Menschenrechte automatisch Verfassungsrang erhalten. Die rechte Opposition werde die Frente mit „schwerer Artillerie unter Beschuss nehmen“, befürchtet der Abgeordnete Luis Puig. Tatsächlich malten politische Gegner*innen Gefahren für die Demokratie an die Wand. Die Forderung nach einem eigenen Verfassungsgericht gefährde gar die Unabhängigkeit der Justiz.
Kritisiert wird die Frente auch von sozialen Bewegungen und der Opposition wegen eines milliardenschweren Großprojekts im Bergbau. Aratirí, ein Konzern der indischen Unternehmensgruppe Zamin Ferrous, will etwa 20 Jahre lang Eisenerz im Tagebau ausbeuten. Der Vertrag muss noch von Tabaré Vázquez unterzeichnet werden. Doch mit Händen und Füßen sträubt sich die gegenwärtige Regierung dagegen, das Vertragswerk öffentlich zu machen. Nicht so sehr wegen der erheblichen Steuergeschenke, sondern wohl wegen der Konsequenzen für die Umwelt. Was geschieht beispielsweise mit den mehrere hundert Meter tiefen riesigen Kratern, wenn die Lagerstätte erschöpft ist?
Für viele nicht so überraschend hat die Frente Amplio bislang Umweltthemen eher auf die leichte Schulter genommen und als lästiges Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen. Pestizide werden als notwendiges Übel hingenommen, auch wenn immer mehr Wasser verseucht wird. Uruguay hat bis heute kein eigenes Umweltministerium. Mujica war sich nicht zu schade, sich über die ecologistas lustig zu machen. Doch nun hat die Oppositionspartei der Blancos das sträflich vernachlässigte Thema aufgegriffen und eine eigene ökologische Gruppierung ins Leben gerufen. Und die neue Partei Partido Ecologico Radical Intransigente (PERI) schrammte knapp an einem Abgeordnetensitz vorbei.
Das Problem vieler Frente Amplio-Politiker*innen ist, dass sie überholten orthodoxen Ideen nachhängen. So der unerschütterliche Glaube an den technologischen Fortschritt, der Umweltsünden und -schäden ohne weiteres beheben werde. Das sei letztlich neoliberale Mentalität, meinte ein Kritiker.
Die Mega-Investition Aratirís befürworten sowohl Mujica als auch sein Nachfolger Tabaré Vázquez. Der zum politischen Zentrum neigende Wahlsieger hatte den extraktivistischen Wirtschaftskurs schon in seiner ersten Amtszeit mit der Zellulosefabrik „Botnia“ gefestigt. Auf der Strecke bleibt der selbst gewählte Slogan „Uruguay natural“.

Von der Regierung vergessen

Wie hat die Arbeit der Kommission „Leben, Gerechtigkeit und Frieden“ angefangen?
Janer Jesús Castillo Valdez: Die Arbeit der Kommission begann in den 90er Jahren unter Leitung der Schwester Yolanda Cerón Delgado. Als Diözese betreuen wir ein Gebiet von 16.000 km² sowie die dort lebenden Afro-Gemeinden und Indigenen. Seit mehreren Jahrzehnten leiden sie unter der starken Isolierung und Vernachlässigung seitens der Zentralregierung und wir möchten uns ihnen mit unserer Arbeit zuwenden. In der Anfangsphase der Kommission unterstützten wir die Verabschiedung des Gesetzes Ley 70 zur Sicherung des Bodenrechts dieser Gemeinden. Nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, konzentrierten wir uns auf die Entwicklung von Programmen für eine legale und nachhaltige Nutzung des Bodens.

Wie würden Sie die Situation der Menschenrechte in Kolumbien heute einschätzen?
Dora Ligia Vargas Portilla: Wir werden in unserer Arbeit mit Situationen konfrontiert, die den katastrophalen Zustand der Menschenrechte in Kolumbien bestätigen. Die offiziellen Statistiken berichten von mehr als 9.000 Massakern seit 1993, mittlerweile sind sechs Millionen Kolumbianer von Zwangsvertreibung betroffen. Diese und andere Zahlen sind erschreckend. Dennoch spiegeln sie nur die halbe Wahrheit wider. Man darf auch die Opfer nicht vergessen, die aus Angst um die eigene Sicherheit keine Anklage erheben wollen oder können. Die zentralen Institutionen haben es versäumt, eine menschenwürdige und risikolose Anklageschrift zu gewährleisten.

Wie trifft diese Realität auf Tumaco zu?
Gustavo Girón Higuita: Tumaco ist die einzige mittelgroße Stadt in einer abgelegenen Region, die durch die Behörden kaum kontrolliert wird. Dort befindet sich der zweitwichtigste Hafen der kolumbianischen Pazifikküste und das Klima ist für den Anbau von Koka sehr geeignet. Nachdem das Militär die Guerilleros und Paramilitärs aus dem Inneren des Landes vertrieben hatte, siedelten sich diese in unserer Stadt an, um von da aus Anschläge zu planen und auszuführen. Dadurch eskalierte die Gewalt sehr dramatisch in unserer Region.

Wie änderte sich die Arbeit der Kommission mit der steigenden Präsenz der Paramilitärs in der Region?
JJCV: Yolanda Cerón Delgado wurde am 19. September 2001 ermordet, vermutlich von Paramilitärs. Die Verlegung der Auseinandersetzungen zwischen den Guerrillas und verschiedenen paramilitärischen Gruppierungen in unsere Region verschlimmerte die Gewalt und forderte uns heraus, die Arbeit der Kommission auf den Schutz des Lebens zu konzentrieren. Wir klagen die Kooperation zwischen der Armee und den Paramilitärs an, ebenso die Verletzung von Grundrechten. Wir sind entschlossen, die Opfer dieses Konflikts sichtbar zu machen.
GGH: Die Arbeit mit den Afro-Gemeinden und Indigenen ist weiterhin grundlegend, denn sie sind nicht organisiert und ihnen fehlt das Bewusstsein, dass sie selbständig ihre Rechte einfordern können.
DLVP: Wir wollen den Opfern letztendlich vermitteln, dass sie in diesem Konflikt nicht alleine sind. Durch kulturelle Veranstaltungen versuchen wir ihre Angst abzuschwächen, um einen Gemeinschaftssinn herauszubilden.

Ist die Versorgung der Grundbedürfnisse in der Region um Tumaco durch die Regierung gesichert?
DLVP: Wir haben keine geeignete Infrastruktur, um der ländlichen Bevölkerung einen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu verschaffen. Der Zugang zu Trinkwasser erreicht beispielsweise kaum zehn Prozent der Menschen außerhalb der Stadt. Es bereitet uns große Sorge, dass selbst die noch verbliebenen sauberen Wasserquellen verschmutzt werden. Die Unternehmen, die Monokulturen anbauen, werfen ihre Abfälle in unsere Flüsse. Da keine Abwasserleitungen und Entwässerungsanlagen in der Region vorhanden sind, landet fast der gesamte Müll in unseren Trinkwasserquellen!
JJCV: Die Gesundheitseinrichtungen sind ebenfalls in einem katastrophalen Zustand. An der gesamten Pazifikküste Nariños gibt es nur ein Krankenhaus mit Notaufnahme und chirurgischer Ausstattung. Dennoch sind die Mittel und Leistungen des Krankenhauses mangelhaft. Außerhalb der Städte ist kaum eine Infrastruktur vorhanden. Wir haben registriert, dass in vielen Fällen Fachleute nicht arbeiten gehen; entweder werden sie nicht bezahlt oder sie haben Angst vor der Unsicherheit in der Region. Die Bewohner sind demzufolge einer Todesfahrt ausgesetzt: Die Erkrankten müssen von Ort zu Ort reisen, um einen Arzt oder die richtige Behandlung zu suchen. Wenn sie sie finden, ist es meistens viel zu spät.

Wie ist der Zugang zu Bildung?
JJCV: Wir beobachten, dass es mehr Schulen gibt, aber wiederum nur in den Städten. Die Herausforderungen sind auf dem Land überall die gleichen. Es mangelt uns an einer geeigneten Infrastruktur und dem benötigten Lernmaterial, um den Kindern eine angemessene Bildung zu bieten. Sie sind auch Opfer dieses Konflikts! Dennoch gehen manche Lehrer nicht zur Arbeit, weil die Wege zu lang sind oder sie nicht bezahlt werden. Jeder hat Angst um die eigene Sicherheit, und leider hat sich noch nicht das Bewusstsein entwickelt, dass Bildung grundlegend für die Überwindung des Konflikts ist.

Die kolumbianische Pazifikküste gilt als eine der Regionen mit der reichsten Artenvielfalt der Welt. Welche Auswirkungen auf die Natur lassen sich durch den Konflikt erkennen?
DLVP: Unsere Artenvielfalt leidet notwendigerweise unter diesem Konflikt. Die Ausräucherung der Kokafelder ist in den letzten Jahren zurückgegangen, aber die Folgen sind dennoch spürbar durch den Gesundheitszustand der Menschen und den Fruchtbarkeitszustand des Bodens. Darüber hinaus dehnen sich überall Monokulturen aus. Die Abfälle für die Erzeugung der Wachspalme werden in die Flüsse geworfen, genauso Reste des Öls, das aus der Trans-Anden-Pipeline gestohlen wird. Unsere Wälder werden systematisch vernichtet und wir haben keine Programme zur Aufforstung erstellt.

Wie reagiert die Regierung auf die Kritik an solchen Mängeln?
DLVP: Die Regierung behauptet, sie sei präsent und tue etwas für die Bevölkerung. Aber die Nachfrage übersteigt deutlich das öffentliche Angebot.
GGH: Ein entscheidender Faktor für diesen Mangel ist die Korruption in den Behörden. Manche Senatoren, Gouverneure, Bürgermeister und andere Beamte erlangen ihre Ämter nicht aus dem Grund, dass sie für diese Arbeit qualifiziert wären, sondern weil sie Wählerstimmen kaufen. Manche Politiker nutzen das geringe Bildungsniveau der Wähler und deren extreme Armut aus, um an die Macht zu kommen. Als Kommission haben wir nie zu dieser Situation geschwiegen, aber zurzeit wird so viel darüber gesprochen, dass es keinen mehr empört. In Kolumbien lassen wir die Korruption der zentralen und lokalen Regierungen einfach zu. Sie ist zu einer Norm geworden, genau wie der Konflikt.

In Tumaco sind 45 Prozent der Bevölkerung Opfer von Vertreibungen. In dieser Region werden im Durchschnitt über viermal mehr Menschen ermordet als anderswo in Kolumbien. Wie arbeiten Sie mit den Opfern des Konflikts?
DLVP: In dieser Region wurde nie über die Opfer des Konflikts gesprochen. Wir erstellten die erste Datenbank an der Pazifikküste über die Auswirkungen der Gewalt in Tumaco und in den umgebenden ländlichen Gemeinden. Sie dient als historische Aufzeichnung. Wir wollen wissen, wer die Opfer waren und wann sie ermordet wurden, denn wir wollen nicht vergessen. Zudem veröffentlichen wir diese Informationen und stellen Fotos der Opfer im „Haus des Erinnerns“ aus. Jeden September veranstalten wir die Woche für den Frieden. In diesem Rahmen organisieren wir Kundgebungen und betreuen Aktivitäten wie Theater und Kunstwettweberbe, an denen jeder teilnehmen kann.

Was erschwert die Arbeit von Menschenrechtsaktivist_innen in Ihrer Region?
GGH: Die Diözese betreut ein großes Gebiet. Aber über die Landstraße kann man nur ein Fünftel davon erreichen. Als kirchliche Organisation fehlt uns die Unterstützung von Priestern, die unsere Pfarrgemeinde auf dem Land begleiten könnten. Aber Priester werden nicht im Seminar ausgebildet, um Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Wir wollen als Kommission nicht die Gemeinde kontrollieren, sondern ihr die Möglichkeit bieten, ihre Kultur frei ausdrücken zu können.
DLVP: Außerdem werden die Menschenrechtsaktivisten von Teilen der Bevölkerung als subversiv angesehen und ihnen wird vorgeworfen, den Guerrillas nahezustehen. Durch Bedrohungen oder sogar Ermordungen haben wir nicht genügend Freiheit für unsere Arbeit.
Anfang November besuchte Präsident Juan Manuel Santos verschiedene europäische Länder und bat um Hilfe für die Finanzierung des Post-Konflikts. Was erwarten Sie von der Regierung, falls es zu einem Friedensabkommen kommen sollte?
GGH: Wir unterstützen die Verhandlungen in Havanna und betrachten sie als einen grundlegenden Meilenstein für das Ende des Konflikts.
DLVP: Dennoch muss die internationale Solidarität und das daraus entstehende Investitionspotential bestimmte Kriterien erfüllen. Es ist höchst notwendig, dass in den isolierten Regionen des Landes investiert wird, weil dort der Konflikt alltäglich stattfindet. Die Entwicklung in Kolumbien ist in den Städten bemerkbar, dennoch muss die Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden und auf unsere sozialen, historischen und infrastrukturellen Probleme reagieren. Wir wollen unsere Naturschutzgebiete nicht durch die schnelle Vergabe von Lizenzen zum Anbau von Monokulturen gefährden. Wir fördern eine nachhaltige, menschenwürdige Entwicklung im Einklang mit den Umweltrechten der indigenen Völker und Afro-Gemeinden.

Korrekturen statt Revolution

Es war eine peinliche Blamage für die Demoskop_innen in Uruguay. Wiederholt hatten sie eine Niederlage des Linksbündnisses Frente Amplio („Breite Front“) und vier Prozentpunkte Vorsprung für die beiden konservativen Traditionsparteien der Blancos und Colorados bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober vorausgesagt. Es kam genau umgekehrt: 47,8 Prozent für die Frente Amplio, 30,9 Prozent für die Blancos, 12,9 Prozent für die Colorados.
Nicht nur in diesem Fall irrten die Umfrageinstitute. Schon als eine Mehrheit der Blanco-Partei den 41-jährigen Luis Lacalle Pou im Juni überraschend zum Präsidentschaftskandidaten wählten, wollten zahlreiche Umfragen glauben machen, der junge Senkrechtstarter habe vor allem in der jüngeren Generation ein Stein im Brett. Der 74-jährige Tabaré Vazquez erkor daraufhin den 52-jährigen Raúl Sendic zu seinem Vize. Der Sohn des gleichnamigen legendären Gründers der Stadtguerilla Tupamaros hat längst allen revolutionären Ideen abgeschworen. Doch entgegen den Politmythen von Analyst_innen und Demoskop_innen schnitt die Frente mit 58,8 Prozent bei den 18- bis 30-jährigen noch besser ab als im Gesamtergebnis. In der Hauptstadt Montevideo zog das Linksbündnis gar 71 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler_innen an. Für die Fehlprognosen der Umfrageinstitute könnte die veraltete Methodik, mit der einige arbeiten, verantwortlich sein. Oder – wie nicht wenige vermuten – der Versuch, „gezielt“ Stimmung und Wahlen zu beeinflussen.
Lange Gesichter waren folglich bei den beiden rechten Traditionsparteien zu sehen, blieben sie doch bei den jüngeren Wähler_innen hinter dem Gesamtergebnis ihrer jeweiligen Parteien zurück. Für den modern, dynamisch und liberal auftretenden Lacalle Pou stimmten nur schlappe 27,2 Prozent der jungen Wähler_innen! Mit einem Novum können die Blancos allerdings aufwarten: Ein evangelikaler Pastor zieht für sie ins Abgeordnetenhaus ein.
Dem Ex-Präsidenten (2005-2010) und Präsidentschaftskandidaten der Frente, Tabaré Vázquez dürfte der Sieg in der Stichwahl am 30. November gegen den enttäuschenden Lacalle Pou kaum zu nehmen sein. Da hilft auch die Unterstützung durch Pedro Bordaberry, den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen Colorado-Partei, nicht mehr. Bordaberry ist extrem geschwächt, denn er hat der Traditionspartei das zweitschlechteste Ergebnis in ihrer langen Geschichte beschert. Versteinert wirkte das Gesicht Bordaberrys in der Wahlnacht aber nicht nur, weil die Wähler_innen ihm und seiner Partei eine schallende Ohrfeige verpassten, sondern auch, weil er das von ihm vorangetriebene Plebiszit zur Senkung der Strafmündigkeit verloren hatte.
Wiederum entgegen den Umfragen der Demoskopen! Damit die Bevölkerung „in Frieden leben“ könne, wollte Bordaberry die Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre senken, das heißt junge Straftäter_innen nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilen lassen. Für Mord sollten sie beispielsweise 30 Jahre statt wie bisher fünf Jahre hinter Gittern verschwinden. Gewaltverbrechen sind tatsächlich angestiegen. Doch 94 Prozent aller Delikte gehen auf das Konto von Erwachsenen.
Die Colorado-Partei hat wie andere Rechte und Reaktionäre in Südamerika „Öffentliche Sicherheit“ als zentrales Thema für sich gepachtet. Sie schüren ein Klima der Angst. Repression und weniger Rehabilitation ist zumeist ihre Antwort.
Mehr Sicherheit gebe es vor allem durch verbesserte Lebensbedingungen, hielt Tabaré Vázquez entgegen. In den bald zehn Jahren von Frente-Regierungen sind umfangreiche Sozialprogramme aufgelegt worden. Das zahlte sich aus: In ärmeren Vierteln glänzte das Bündnis mit teilweise hohen Stimmengewinnen. Unbestritten ist, dass die Armut deutlich gesenkt wurde. Offiziell von 34 auf 11 Prozent. Und das sei „gut so“, meint Gustavo Melazzi, Mitbegründer des Netzes linker Wirtschaftswissenschaftler_innen. Aber es handele sich „letztlich um Assistenzialismus“. Gefördert werden müsste eine industrielle Entwicklung, „die Qualitätsjobs schafft, mit entsprechenden Löhnen.“
Uruguay brauche deshalb Investitionen, betont immer wieder Danilo Astori, Wirtschaftsminister in der ersten Frente-Regierung und erneut heißer Kandidat auf dieses Amt: Die entsprechenden Investitionen könnten allerdings nur aus dem Ausland kommen, im eigenen Land gebe es nicht genügend Kapital. Geködert werden Auslandsinvestitionen mit großzügigen Subventionen, Steuerbefreiungen, Zollfreizonen und Investitionsschutzabkommen. Auch Melazzi lehnt Auslandskapital keineswegs ab. Es sollte aber „in Wirtschaftszweige investiert werden, an denen Uruguay interessiert ist, also im Rahmen eines nationalen Entwicklungsprogramms. Aber das existiert leider nicht.“
Früher verbanden Wähler_innen der linken Frente Amplio das Versprechen von cambio, Wandel, mit tiefgreifenden Wirtschaftsreformen. Nun ist stattdessen Kontinuität angesagt. Uruguay wird von Ratingagenturen und neoliberal gestimmten Medien mit Lob überhäuft. Sie attestieren dem kleinen Land „politische Reife“. Es habe, so Moodys, „Willen als auch Fähigkeit besessen, die konservative Wirtschaftspolitik beizubehalten“. Die Frente sei, so Melazzi, in dieser Frage zu einem unausgesprochenen Konsens mit der Rechten gelangt. Sie scheint sich mit sozialdemokratischen Korrekturen am Kapitalismus abgefunden zu haben – ohne sozialistische Zukunft vor Augen.
Das Linksbündnis hat allerdings nie Sozialismus zum Ziel erklärt. Wohl auch, weil sich in der Frente Amplio sehr unterschiedliche politische Kräfte zusammengefunden haben, von Sozialliberalen, christdemokratisch und sozialdemokratisch geprägten Reformer_innen über Kommunist_innen bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla Tupamaros. Aber die Parteienkoalition habe sich ursprünglich „für gewichtige Strukturreformen in der Wirtschaft ausgesprochen“, erinnert sich Melazzi, der am ersten Regierungsprogramm mitgewirkt hat. So beispielsweise „für einen Staat, der in die Wirtschaft eingreift.“ Anstatt poruzierende Industriekomplexe zu schaffen, seien aber Investor_innen gefördert worden, die vor allem mit Rohstoffen – wie beispielsweise Soja, Zellulose und Mineralien – Dollar im Ausland verdienen. „Damit verfestigt sich unsere Rolle als Rohstoffexporteur“, sagt Melazzi. Das wird sich auch unter Tabaré Vázquez nicht ändern. Die Umwelt spielt bei der Ausbeutung der Rohstoffe dagegen eine untergeordnete Rolle.
Die Verteidiger_innen der bisherigen Politik verweisen auf ununterbrochenes Wachstum (zeitweise beachtliche 5,8 Prozent), steigende Lebensqualität, auch auf dem Lande, und eine niedrige Arbeitslosigkeit, die um sechs Prozent pendelt. Doch rund 40 Prozent der Arbeiter_innen verdienen weniger als 14.000 Pesos (etwa 470 Euro) monatlich – in einem Land, das zu den teuersten Ländern in Lateinamerika zählt.
Was passiert, wenn das auf Wachstum basierende Modell Risse bekommt? Ohne Wachstum „könne man auch nichts verteilen“, ist der wohl künftige Wirtschaftsminister Astori überzeugt. Wie dann die von allen Parteien geforderte Reform des teilweise desolaten Bildungssystems finanzieren? Wie den jährlichen milliardenschweren Schuldendienst (4,2 Prozent des Bruttosozialprodukts) leisten ohne soziale Abstriche? Wie die weitgehend verschwiegene Ungleichheit mildern? Eine Untersuchung von uruguayischen Wirtschaftswissenschaftler_innen hat jüngst ergeben, dass sich Uruguays „Elite“ (ein Prozent der Bevölkerung) 14 Prozent der Gesamteinkommen einsteckt. Mehr als in Großbritannien (12,9 Prozent) und in der Schweiz (10,5 Prozent)! Umverteilen? Höhere oder neue Steuern, beispielsweise auf Supergewinne im Agrobusiness, lehnt Marktfundamentalist Astori ab. José „Pepe“ Mujica möchte zumindest darüber nachdenken.
Das letzte Wort hat sein künftiger Nachfolger. Tabaré Vázquez sei ein Mann, urteilt der angesehene Politologe Oscar Botinelli, der „auf Hierarchie und Unterordnung“ baue. Reibungsloses Regieren ist ihm allerdings nicht garantiert. Nicht etwa weil die linke Unidad Popular überraschend mit einem Abgeordneten ins Parlament einzieht. In ihr haben vor allem enttäuschte Frente-Wähler_innen eine neue politische Heimat gefunden, die die frühere antikapitalistische und antiimperialistische Fahne der Frente Amplio hochhalten. Widersprüche sind vielmehr von José „Pepe“ Mujica, dem bisherigen Präsidenten und künftigen Senator, zu erwarten. Seine MPP ist wieder als stärkste Gruppierung aus den Wahlen hervorgegangen, während Astoris Frente Liber Seregni erheblich Federn lassen musste. Die ersten verbalen Scharmützel zwischen Tabaré Vázquez und dem 79-jährigen Mujica gab es bereits vor den Wahlen. Zum Beispiel um das Marihuana-Gesetz, das Anbau, Verkauf und Konsum von Cannabis legalisiert.
Zündstoff bietet auch die Außenpolitik. Mujica trommelte für die Integration, für Brasiliens Führungsrolle auf dem Subkontinent, herzte den verstorbenen Präsidenten Venezuelas und Freund Hugo Chávez. Gleichzeitig tritt er vehement für eine Vollmitgliedschaft Uruguays in der Pazifik-Allianz, einem Kind Washingtons, ein. Alle Mitglieder – Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko – haben Freihandelsverträge mit den USA abgeschlossen. Die Allianz ist letztlich gegen die Vormachtstellung Brasiliens und den Einfluss Chinas auf dem Subkontinent gerichtet. Mujica schwant, dass Uruguay vor einem Dilemma steht, über das „aber keiner spricht“. Da würden Verträge zwischen Staaten abgeschlossen, um China auszubooten, aber „keiner sagt das“. China ist jedoch der wichtigste Handelspartner des kleinen Landes am Río de la Plata. Können wir etwa auf den Handel mit China verzichten? Sein wahrscheinlicher Nachfolger schielt eher nach Norden. Tabaré Vázquez überraschte vor einigen Monaten die frentistas mit einem Bekenntnis: Als es während seiner Amtszeit zu heftigen Unstimmigkeiten mit Argentinien wegen eines Zellulosewerkes am Grenzfluss kam, habe er über einen Hilferuf an die USA nachgedacht. Über bewaffneten Beistand gegen den Nachbarn. Starker Tobak für eingefleischte Antiimperialist_innen, die allerdings immer seltener in der Frente ihre Stimme erheben.

Das Geld des Piloten

Wäre das exotische Tier des früheren Drogenbosses nicht gewesen, Antonio Yammara hätte vielleicht gar nicht zu erzählen begonnen. Doch die Pressemeldungen über ein im Jahr 2009 aus dem einst pompösen Privatzoo Pablo Escobars entlaufendes Nilpferd, lassen in dem Juraprofessor Erinnerungen an die Geschichte von Ricardo Laverde hochkommen. Kennengelernt hatte er diesen in einem Billiardsalon Mitte der 1990er Jahre. Viel mehr als dass er Pilot ist, eine Frau in den USA hat und gerade aus dem Gefängnis kommt, erfährt Yammara nicht. Als die beiden zusammen durch das Candelaria-Viertel in Bogotá schlendern, wird Laverde erschossen. Im Kolumbien sind solche Tode zu der Zeit nicht außergewöhnlich. Am selben Abend werden „sechzehn weitere Menschen auf verschiedene Weise in verschiedenen Vierteln der Stadt ermordet“. Yammara selbst wird schwer verletzt. Seine Genesung kommt nur langsam voran, der Vorfall wirft ihn aus der Bahn. Er versteht nicht, warum Laverde so enden musste und was er selbst damit zu tun hat. „Etwas wird er getan haben“, merkt Yammaras Vater lakonisch an.
Juan Gabriel Vásquez‘ preisgekrönter Roman Das Geräusch der Dinge beim Fallen führt direkt in das Kolumbien der Drogengewalt, in dem Pablo Escobar von seiner legendären Ranch Hacienda Nápoles am Río Magdalena aus den internationalen Kokainhandel kontrollierte. Wie in seinen beiden ersten Romanen, die von jüdischer Emigration und dem Bau des Panamakanals handelten, widmet sich der 1973 geborene Autor erneut der kolumbianischen Geschichte.
Zweieinhalb Jahre nach dem Mord kehrt Yammara an den Ort des Attents zurück und beschließt herauszufinden, was Laverde getan hat. Dessen frühere Vermieterin überlässt dem Juraprofessor eine verstörende Kassette. Darauf zu hören ist die Blackbox-Aufzeichnung des American Airlines-Fluges 965, der mit Laverdes Frau Elena Fritts an Bord kurz vor Cali am Berg zerschellt ist. Die Aufnahme endet mit einem abgebrochenen Geräusch, dem „Geräusch der Dinge, die aus dieser Höhe fallen“. Yammara macht sich auf die Suche und stellt Kontakt zu Laverdes Tochter Maya Fritts her, die mittlerweile im alten Familienhaus am Rio Magdalena wohnt. Dort rekonstruiert er mit ihrer Hilfe Laverdes und Fritts‘ Geschichte.
Gabriel Vásquez beleuchtet den Drogenhandel aus individueller, zwischenmenschlicher Perspektive, nicht von der großen politischen Ebene oder den Gewaltexzessen der Drogenbosse her. Meisterhaft lässt der Autor seinen Erzähler Yammara berichten,wie Fritts mit dem US-amerikanischen Peace Corps nach Kolumbien kommt und im Haus der Familie Laverde wohnt. Wie sie sich ineinander verlieben und Laverde die ständigen Geldsorgen mit ersten Marihuana-Geschäften löst. Wie er langsam und ohne es zu merken in einen Strudel aus Drogen und Korruption hineingezogen wird. Yammara beginnt zu verstehen, was Laverde getan hat und warum. Und doch bleibt vieles im Argen.

Dubiose Zusammenarbeit

Die EU-Botschafterin in Kolumbien Maria Antonia Van Gool war voll des Lobes für die Streitkräfte ihres Gastlandes, als sie gemeinsam mit dem kolumbianischen Verteidigungsminister Juan Carlos Pinzón im August ein Abkommen über die Beteiligung Kolumbiens an Krisenbewältigungsoperationen der Europäischen Union unterzeichnete. Der geplante Einsatz kolumbianischer Soldat_innen im Rahmen ziviler und militärischer EU-Missionen in Drittländern sei ein bedeutender Fortschritt für die gegenseitige Zusammenarbeit. „Kolumbien verfügt über für die EU nützliche Erfahrung in der Aufstandsbekämpfung, dem Kampf gegen Drogen und den Terrorismus,“ sagte die Niederländerin.
Mit dem Abkommen sichert sich die Europäische Union die Dienste einer der praxis-erfahrensten und zugleich umstrittensten Armeen der westlichen Hemisphäre. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass Angehörige der hochgerüsteten kolumbianischen Streitkräfte unter dem Deckmantel der Aufstandsbekämpfung nachweislich eine ganze Reihe von schweren Menschenrechtsverletzungen begangen haben. In mehreren Fällen wurden Militärs und sogar hochrangige Generäle von der kolumbianischen Justiz und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) deshalb verurteilt – allzu oft aber blieben die Verbrechen ungesühnt.
International bekannt wurde in den vergangenen Jahren aber vor allem die verbreitete Praxis der sogenannten falsos positivos: Um Prämien zu erhalten, töteten Soldat_innen unschuldige Zivilist_innen, steckten sie in eine Uniform und präsentierten sie als im Kampf getötete Guerillakämpfer_innen. Menschenrechtler_innen beklagen seit Jahren, dass die Taten nicht ausreichend bestraft wurden. Zuletzt hatte die kolumbianische Armee damit Schlagzeilen gemacht, dass der Militärgeheimdienst die Kommunikationskanäle der Verhandlungsführung in Havanna und zahlreicher Politiker_innen angezapft hatte.
Alirio Uribe kann die geplante Zusammenarbeit der EU mit den kolumbianischen Militärs nicht verstehen. Der heutige Kongressabgeordnete der Linkspartei Polo Democrático arbeitete viele Jahre für das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (Ccajar), das zahlreiche von Militärs begangene Menschenrechtsverbrechen vor den CIDH gebracht hat. „Es könnten trotz einem Ende des bewaffneten Konflikts in unserem Land weiterhin kolumbianische Soldaten sterben“, sagte er den LN. „Das Abkommen ist nicht mit den Friedensbemühungen in Kolumbien vereinbar.“
Uribe ist der Ansicht, dass das Verteidigungsministerium mit dem Abkommen versuche, dem Problem des Söldnertums entgegenwirken. In den vergangenen Jahren haben sich Tausende Soldat_innen laut Berichten kolumbianischer Medien aus dem Dienst zurückgezogen und bei privaten Sicherheitsfirmen angeheuert. Einige sollen in Afghanistan und im Irak kämpfen, auch die Ölmonarchien am Golf und dort besonders die Vereinigten Arabischen Emirate stehen hoch im Kurs. Es winken üppige Bezahlung und ein geringeres Sicherheitsrisiko als in den zermürbenden Dschungelkämpfen mit der Guerilla.
Doch will das hochgerüstete kolumbianische Militär wohl nicht nur dem Söldnertum entgegensteuern, sondern plant bereits für den Fall, dass die derzeit stattfindenden Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla erfolgreich enden. Denn sollte es in Kolumbien wirklich Frieden geben, werden zukünftige Regierungen die Zahl der Soldat_innen wohl mittelfristig senken müssen. Eine große Herausforderung, denn durch die enorme personelle Aufstockung der Sicherheitskräfte seit der Jahrtausendwende, unter anderem durch die finanzielle Unterstützung der USA im Rahmen des Plan Colombia, stehen derzeit rund eine halbe Million Soldat_innen und Polizist_innen im Dienst „für das Vaterland“. So viel wie in kaum einem anderen Land Lateinamerikas.
Die Europäische Union schielt vor allem auf die vergleichsweise geringen Kosten und das militärische Know-how der kolumbianischen Soldat_innen – und ist damit spät dran: Unlängst schloss auch die NATO ein bei den Linksregierungen Lateinamerikas umstrittenes Kooperationsabkommen mit den Kolumbianern. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hatte daraufhin von einem „Dolchstoß ins Herz der Völker unseres Amerikas“ gesprochen, Boliviens Staatsoberhaut Evo Morales eine Dringlichkeitssitzung des Unasur-Bündnisses gefordert. Kolumbien hingegen ficht das nicht an. Verteidigungsminister Pinzón hat laut Medienberichten bereits ebenso Kontakte nach Russland geknüpft, um die militärische Zusammenarbeit zu verstärken.
„Kolumbianische Soldat_innen bei EU-Missionen einzusetzen, ist finanziell günstiger und politisch einfacher, als wenn die Armeen der Mitgliedsstaaten eigene Leute in großer Zahl entsenden müssen“, sagt Alirio Uribe. Derzeit führt die Union Missionen in Osteuropa, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten durch und arbeitet dabei auch mit mehreren Drittstaaten zusammen. Bisher stellt Chile als einziges Land in Lateinamerika der EU Soldat_innen zur Verfügung. Bei welchen Operationen und ab wann die kolumbianischen Soldat_innen für die EU eingesetzt werden sollen, ist allerdings noch nicht bekannt. Kritiker_innen befürchten zudem, dass Kolumbien durch die Kooperation Zugriff auf zusätzliche Rüstungsgüter erhalten könnte.
Substanzielle Änderungen des Abkommens oder gar eine Verhinderung des Inkraftretens sind derzeit kaum zu erwarten. Das Abkommen fällt unter die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP), ein Bereich der laut des Vertrags von Lissabon weder eine Beteiligung des Europäischen Parlaments, noch der nationalen Legislativ­organe vorsieht.
In Kolumbien ist das Prozedere zumindest auf dem Papier hingegen deutlich demokratischer. Hier muss die getroffene Übereinkunft noch durch den Kongress und auch das Oberste Verfassungsgericht muss ihr zustimmen. Allerdings steht die Ampel für das Abkommen derzeit in beiden Organen eher auf grün als auf rot. Als das Kooperationsabkommen mit der NATO vor wenigen Wochen im Unterhaus eingebracht wurde, stimmten gerade einmal sieben Abgeordnete gegen den Vertrag.

Gegen das Klischee

Eine schlanke, hochgewachsene Palme erhebt sich aus dem weißen Sandstrand, kein Wölkchen trübt das Blau des Himmels, welchem sie ihr grünes Blätterwerk entgegenstreckt. Jetzt ins türkisblaue, glasklare Wasser eintauchen und danach im Liegestuhl womöglich einen Cocktail schlürfen – im Hochglanzprospekt, der für Urlaubsreisen in die Karibik oder Südsee wirbt, ist die Palme das bewährte Symbol, um in Sekundenbruchteilen klischeehafte Assoziationen im Kopf des Zielpublikums wachzurufen. Sie dient als Statistin einer Szenerie, die wenig mit dem tatsächlichen Leben der Orte zu tun hat, an denen sie beheimatet ist. Ein ganz anderes Bild von der Palme, universelle Pflanze der Tropen und Subtropen, vermittelt uns aktuell die Ausstellung „Palmen als Zeitzeugen“ des Berliner Fotografen Santiago Engelhardt im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem.
Archaisch ist die Palme, biologisch gesehen, wegen ihrer Art zu wachsen und aus einem Stamm Blätter auszubilden. Altertümlich mag, angesichts der modernen Möglichkeiten, die Technik anmuten, die Santiago Engelhardt anwandte, um seine Schwarz-Weiß-Fotos zu produzieren: Alle Bilder entstanden analog, zum überwiegenden Teil mit einer Panoramakamera, und wurden mit größter Sorgfalt manuell auf Barytpapier abgezogen. Sie sind das Ergebnis zahlreicher Reisen, die der Fotograf zwischen 2007 und 2011 in lateinamerikanische ebenso wie asiatische Länder unternahm.
Geboren in Buenos Aires, aufgewachsen in Bogotá und São Paulo fühlt sich Santiago Engelhardt in Lateinamerika zu Hause und ist von Asien schlichtweg fasziniert. Während er sein Geld als Fotograf für Fachzeitschriften verdient, gewährt er mit dieser Ausstellung einen seltenen Einblick in seine künstlerischen Arbeiten, die er selbst als Mischung aus Landschafts- und Street Photography charakterisiert. Die Palme, die für den Fotografen „Begleiterscheinung eines Lebensgefühls“ und in den bereisten Breitengraden allerorts anzutreffen ist, steht dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Häufigster Schauplatz unter den achtzehn ausgestellten Fotografien ist das kleine Französisch-Guayana, „ein vergessener Ort, fernab von Massentourismus und Industrie und ohne karibisches Flair, wo der Dschungel direkt ins Meer übergeht“, so Engelhardt. Dabei gehört das Überseedepartement politisch zu Frankreich und ist international noch am ehesten für den europäischen Weltraumbahnhof nahe der Kleinstadt Kourou bekannt. Nicht weit vor dessen Küste liegt die Teufelsinsel, auf der sowohl Papillon als auch Artilleriehauptmann Dreyfus unter den menschenunwürdigen Bedingungen des französischen Strafgefangenenlagers ihre Haftstrafen verbüßten. Palmenumrahmt zeugt nur noch ein Rest Gefängnismauer von dieser Epoche der Insel, an deren felsiger Küste der Fotograf einige Tage in einem einfachen Hotel mit nur einem Tagesgericht verbrachte. Der Dreyfusturm, ein ehemaliger Signalturm vor Kourou auf dem Festland, der zur Kommunikation mit der Teufelsinsel diente, erinnert auch durch seinen Namen an die Geschichte.
Wo Stücke aus der Vergangenheit auf zeitgenössischen Bildern auftauchen, kommt der Effekt der Schwarz-Weiß-Fotografie in dieser Ausstellung besonders zum Tragen: Sie ist Teil des Humboldt Lab Dahlem, eines Projekts der Kulturstiftung des Bundes und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Sinne einer experimentellen Probebühne, das sich der Frage widmet, wie sich Gegenwart in ethnologischen Museen darstellen lässt. Die Palmenbilder von Santiago Engelhardt stehen dabei für Kontinuität trotz Veränderungen. Der Kurator der Ausstellung und Leiter der Abteilung „Ozeanien und Australien“ des Ethnologischen Museums Dr. Markus Schindlbeck erklärt: „Wir haben in den ethnographischen Sammlungen sehr viele Gegenstände aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die es an vielen Orten heute gar nicht mehr gibt. Aber die Gesellschaften führen, wenn auch mit anderen Gegenständen, mit anderen Tätigkeiten und unter anderen Umständen als früher, ihre Kultur fort. Um klarzumachen, dass nicht nur etwas zu Ende gegangen ist, habe ich an diese Palmen gedacht.“ Die Palme ist die stille Beobachterin, die als Teil der Landschaft etwas Beständigerem angehört als es Artefakte und Beschäftigungen der Menschen über die Jahrhunderte hinweg sein können.
„Eigentlich haben mich zuerst die Regionen interessiert, in denen Palmen vorkommen, sodass ich sie jahrelang unbewusst fotografierte, bis ich bemerkte, dass sie auf vielen meiner Lieblingsbilder zu sehen waren“, erzählt der Fotograf. Erst dann habe er die filigrane Ästhetik des langen biegsamen Stammes und die faszinierenden Blätterformationen vor dem Himmel entdeckt. Im Gegensatz zu einem niedrigen deutschen Wald hätten Palmen zudem einen entscheidenden Vorteil: Der dünne Stamm mit dem Busch am Ende lässt so viel Freiraum, dass das Leben unter der Palme auf einem Foto sehr viel besser zu erkennen ist. So sehen wir zum Beispiel die Füße einer Person, die sich im Schatten ausgestreckt hat. Ein Boot, auf dem eine Silvesterparty in vollem Gange ist, während es am dichten Amazonasdschungel vorübergleitet. Oder einen Mann mit Eimer, der ohne jede Hilfsmittel den Stamm erklimmt, um Früchte zu ernten. Aus ethnologischer Sicht ist die Palme von enormer Bedeutung. Heute wie damals spendet sie den Menschen Schatten, liefert Nahrung und Material und befriedigt als Zierpflanze sogar ästhetisch-emotionale Bedürfnisse.
Die Kokospalme ist sicherlich die bekannteste innerhalb der rund 200 Gattungen und 3.000 Arten der weitverzweigten Palmenfamilie: Früchte, Palmherzen, Sago, Speiseöl, Rattan-Möbel, Hirschhornknöpfe, Carnauba-Wachs, Hauswände und Dächer – für all das bedient sich der Mensch verschiedener Palmenarten. Die Zerstörung des Lebensraums tausender Tier- und Pflanzenarten durch den großflächigen Anbau von Öl- und Kokospalmen in den Tropen ist dabei die Kehrseite unseres stetig wachsenden Konsums von Palmöl. Zugleich benötigen Palmenplantagen aber auch eine starke Pflege. „Eine Palme ist keine Pflanze, die man einfach nur so wachsen lässt, sondern man pflanzt sie. Da, wo eine Siedlung ist, da wachsen immer auch Kokospalmen“, berichtet Dr. Schindlbeck von seinen Erfahrungen in Neuguinea. „In den Mythen wird die Kokospalme oft sehr stark personifiziert. Auch die Kokosfrucht wird mit dem Kopf des Menschen gleichgesetzt“, so der Ethnologe. Schließlich zeigt sich auch in der europäischen Namensgebung der Bezug des Menschen zur Palme: Vom Lateinischen palma, „flache Hand“, leitet sich die Bezeichnung nach der Ähnlichkeit eines gefächerten Palmenblattes mit einer gespreizten Hand ab.
Mexiko, Kolumbien, Panama, Brasilien, Indien, Indonesien und Malaysia heißen neben Französisch-Guayana die weiteren Stationen der Fotoausstellung, in der sich der Blick ganz auf Konturen, Kontraste und Formen konzentriert. Nicht nur um des hohen ästhetischen Werts der Fotografien willen, sondern auch, um sich über eine Pflanze Gedanken zu machen, die dem Menschen seit Jahrtausenden so viel mehr Nutzen bringt als Urlaubsträumen in Hochglanz zu verfallen, lohnt es sich den Weg ins Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem auf sich zu nehmen. Dort wird die Ausstellung noch bis Februar 2015 im Obergeschoss der Dauerausstellung Südsee und Australien zu sehen sein.

Dreckige Spuren unter der Lupe

Milliarden mit Rohstoffen heißt das Buch der schweizer Menschenrechtsorganisation Multiwatch, in dem sie die Aktivitäten des Großkonzerns Glencore Xstrata unter die Lupe nimmt. Geplant war ursprünglich ein Titel, der deutlich darauf verwiesen hätte, wie diese Milliarden zustande kommen: Sehr oft mittels zweifelhafter Geschäftspraktiken. Doch der Konzern reagierte darauf mit einer Klageandrohung.
Das schweizer Unternehmen Glencore Xstrata entstand im Mai 2013 aus der Fusion der Konzerne Glencore und Xstrata. Beide waren vorher bereits miteinander verflochten: Glencore hielt mehr als 30 Prozent der Anteile an Xstrata. War Xstrata schon seit Längerem ein öffentliches, an der Börse notiertes Unternehmen, konnte Glencore bis zum Börsengang im Jahr 2011 in Verschwiegenheit agieren. Verschwiegenheit war auch der Grundsatz von Glencore und des Firmengründers Marc Rich. Zu seinen Kund_innen zählte unter Anderem der damalige Apartheidstaat Südafrika. Die Entwicklung der beiden Unternehmen seit ihrer Gründung zeichnet Milliarden für Rohstoffe im ersten Teil des Buches kompakt nach und widmet sich dort auch der Rolle der Schweiz als global bedeutsamer Drehscheibe des Rohstoffhandels.
Brauchte es einer letzten Bestätigung, was für ein Schwergewicht mit globaler Marktmacht mit Glencore Xstrata im Entstehen war, erfolgte diese durch die chinesische Wettbewerbsbehörde: Sie stimmte der Fusion nur unter der Bedingung zu, dass Glencore Xstrata ein großes, milliardenschweres Bergbauprojekt aus seinem Portfolio verkauft. Der „Riese unter Riesen“ gehört nun zu den fünf größten Bergbaukonzernen der Welt. Er nennt Bergwerke und Raffinerien auf allen Kontinenten sein Eigen, handelt global mit metallischen, energetischen und Agrarrohstoffen und bietet auch logistische Lösungen. Dabei entstehen Gewinne im zweistelligen Milliardenbereich. Eine der Grundlagen: Ein sehr hoher Anteil der Produktionsstätten befindet sich – so die Deutsche Bank in einer Studie – in äußerst korrupten sowie hoch konfliktreichen Ländern.
In Lateinamerika agiert Glencore Xstrata schwerpunktmäßig in Kolumbien, Peru, Chile und Argentinien. Da sind zum Einen die Kohleminen in Kolumbien, wo Glencore Xstrata massiv und entgegen bestehender Arbeitsrechte gegen die gewerkschaftliche Organisation von Arbeiter_innen vorgeht. Bei Streiks sind oftmals Entlassungen die Folge. Es sind auch die Kohleminen, in denen die Gesundheit der Arbeiter_innen aufs Spiel gesetzt wird, die Umwelt und Trinkwasserquellen verschmutzen und die Luft verpesten. Im Umfeld von Kupferminen in Peru finden sich in Wasser und Boden erhöhte Konzentrationen an Schwermetallen. Betroffen davon ist auch die Bevölkerung, bei der sich erhöhte Schwermetallwerte in Blut und Urin finden. Der Konzern zieht sich gern aus der Verantwortung und behauptet, Grenzwerte seien nicht überschritten oder es bestehe kein Zusammenhang mit dem Bergbau.
Es sind ernüchternde Berichte über die globalen Operationen des Konzerns und ihre Auswirkungen, denen sich der Hauptteil des Buches widmet. Hier und da taucht ein Fünkchen Hoffnung auf, wenn juristische Urteile den ansonsten allmächtig wirkenden Konzern in seiner Macht zu beschränken scheinen. Das Buch macht mittels der global ausgewählten Fallbeispiele deutlich, dass es sich bei den Konflikten um keine Einzelfälle, sondern eher um eine systemisch bedingte Begleiterscheinung der Konzerntätigkeit handelt.
Vielleicht hätte Milliarden mit Rohstoffen ein kurzes Kapitel gut getan, das Erfolge und Erfolgskriterien im Widerstand gegen den Konzern und Menschenrechtsverletzungen herausarbeitet. Wichtig ist das Buch aber allemal, im Sinne eines „alternativen Unternehmensberichtes“, der eine Widerrede zur unternehmenseigenen Nachhaltigkeits-PR bietet. Und wer sich engagieren möchte, findet im Abschlusskapitel kritische Perspektiven für den Widerstand – denn derartige Konzerne verdienen unsere Aufmerksamkeit.

MultiWatch (Hrsg.) // Milliarden mit Rohstoffen. Der Schweizer Konzern Glencore Xstrata // edition 8 // Zürich 2014 // 18,20 Euro // ww.edition8.ch

Schokolade für den Frieden

Es scheint derzeit nicht gut bestellt um die Akzeptanz des Friedensprozesses zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung von Juan Manuel Santos. Anders ist es kaum zu erklären, dass Anfang September hunderte Radio- und Fernsehstationen, Zeitungen sowie zahlreiche kolumbianische Unternehmen eine Kampagne zur Unterstützung der seit Ende 2012 im kubanischen Havanna stattfindenden Friedensgespräche starteten. Unter dem Hashtag #SoyCapaz (deutsch: „Ich kann es“) sollen die Menschen ihre Unterstützung für den Friedensprozess kundtun und die Bereitschaft signalisieren, Feindschaften und Konkurrenzen im Sinne der Versöhnung zu überwinden. Fußballmannschaften der kolumbianischen Profiliga kündigten an, beim Stadioneinlauf in den Trikots des jeweiligen Gegners aufzulaufen und zahlreiche Lebensmittelfirmen wollen einen Tag lang ihre Produkte in den LKWs der Konkurrenz ausliefern. In den Regalen der großen Supermarktketten können die Kund_innen nun Produkte in weiß gehaltenen Verpackungen erwerben, auf die die Herstellerfirmen Sprüche gedruckt haben. „Ich schaffe es, die Hoffnung zu nähren“ heißt es da auf einer Tüte mit Kakaopulver, und die Verpackung eines Schokoriegels behauptet, dieser könne„Freude ins Leben bringen“.
Ziel der Kampagne sei es, die Kolumbianer_innen anzuregen, über ihren eigenen Beitrag zum Frieden im Land nachzudenken, hieß es von Seiten der Organisator_innen. Ins Leben gerufen wurde die Kampagne von einem Journalisten und dem mächtigen Unternehmerverband ANDI Neben zahlreichen Medien ließ sich auch die katholische Kirche einspannen. Kardinal Rubén Salazar, immerhin Erzbischof der Hauptstadtdiözese Bogotá, zog sich symbolisch die Stiefel eines Guerillero an. „Die Schuhe eines anderen anzuziehen, bedeutet, sich in die Situation dieser Person zu versetzen, sie zu verstehen und ihr die Hand zu reichen“, sagte Salazar.
Zumindest in den ersten Tagen erhielt die Kampagne viel Aufmerksamkeit in den großen Medien des Landes: Der Hashstag #SoyCapaz war – ebenso wie zahlreiche Verballhornungen – viele Tage unter den beliebtesten Tagesthemen in Kolumbien wiederzufinden.
Mehr noch als den nun bald zwei Jahre dauernden Verhandlungen zu einem Popularitätsschub zu verhelfen, gibt die Kampagne Aufschluss über eines der größten Probleme der Friedensgespräche: Auch wenn Umfragen zufolge eine Mehrheit der Kolumbianer_innen immer noch eine politische Lösung des Konfliktes unterstützt, ist die Skepsis groß, wenn es darum geht, den FARC Zugeständnisse in Form von Sitzen im Kongress oder Strafminderungen für die von ihnen begangenen Verbrechen zu gewähren. Diese Skepsis spiegelte sich auch in den guten Wahlergebnissen wider, die die Friedenskritiker_innen der extremen Rechten um Álvaro Uribe zum Teil bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen einfahren konnten.
Bei drei von insgesamt fünf vereinbarten Verhandlungspunkten – der Agrarpolitik, dem Drogenhandel und der politischen Teilhabe – haben die Verhandlungsparteien bereits Einigungen erzielt. Um dem politischen Druck gerecht zu werden, schnellstmöglich weitere Ergebnisse präsentieren zu können, konnte sich die Regierungsseite damit durchsetzen, über die zwei verbleibenden Themen parallel zu verhandeln: den Umgang mit den Opfern und die Frage nach dem Vorgehen im Falle eines Friedensschlusses, worunter unter anderem die Niederlegung der Waffen durch die Guerilla fällt. Dazu haben die Delegationen in Havanna in den vergangenen Wochen mehrfach Besuch erhalten: Zunächst reiste eine Gruppe hochrangiger Militärs in Kubas Hauptstadt, um direkt mit den Kommandeur_innen der FARC zu sprechen. Es sei einzigartig in der Geschichte der weltweiten Friedensprozesse, dass sich die Feinde gegenübersitzen und miteinander sprechen, kommentierte der für Kolumbien zuständige UN-Beauftragte Fabrizio Hochschild.
Ende August reiste nach mehreren Regionalforen erstmals eine Gruppe von Opfervertreter_innen nach Havanna, um mit ihrer Sicht auf den Friedensprozess einen Beitrag zur Überwindung des jahrzehntelangen Konflikts und der Entschädigung der Opfer zu leisten. Darunter waren nicht nur Opfer der FARC-Guerilla, sondern auch Personen oder deren Angehörige, die Menschenrechtsverletzungen von Militärs und Paramilitärs zum Opfer gefallen waren.
Rund um den ersten Besuch hatte es eine angeregte, teils heftige Debatte über den Umgang mit den Opfern gegeben. Der uribismo – dem dank zahlreicher Sitze im Senat noch mehr mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde als ohnehin schon – kritisierte, die Opfer der FARC würden bei der Auswahl der insgesamt 60 Opfervertreter_innen, die nach Kuba reisen sollten, nicht genügend berücksichtigt. Im Rahmen der Foren kam es teils zu tumultartigen Szenen. Die FARC hingegen, die kurz vor der Präsidentschaftswahl anerkannt hatten, für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, bekräftigten im Rahmen des Aufeinandertreffens mit der ersten, 15-köpfigen Opferdelegation ihren Willen zur Versöhnung. „Iván Márquez ist auf mich zugekommen und hat mich um Entschuldigung gebeten. Und es war keine automatisierte Entschuldigung“, sagte Constanza Turbay, deren Brüder und Mutter Ende der 90er Jahre von den FARC getötet wurden.
Wenige Tage später allerdings machten die Gueriller@s das möglicherweise gesunkene Misstrauen in der Bevölkerung durch gravierende Fehler in der Öffentlichkeitsarbeit wieder zunichte. Sie veröffentlichten ein Schreiben, in dem eine Rebellin, die an der Bewachung der langjährigen Geiseln Ingrid Betancourt und Clara Rojas beteiligt gewesen war, teils private Details über deren Alltag während der sechsjährigen Gefangenschaft kundtat. Über einen Polizisten, der beinahe zehn Jahre Gefangener der Guerilla war, machte sich die Kämpferin mit einem zweifelhaften Geschlechterverständnis lustig: Luis Mendieta habe „wie eine Frau geheult“. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten, ein Zurückrudern durch die FARC-Delegation wenige Tage darauf kam viel zu spät. Da hatten die Medien bereits mit empörten Kommentaren reagiert und den Kritiker_innen der Friedensgespräche die Mikrofone vor die Nase gehalten. Clara Rojas, seit wenigen Wochen Kongressabgeordnete, erklärte ihr freiwilliges Ausscheiden aus der Friedenskommission, die als Stimme des Parlaments im Rahmen der Verhandlungen gilt. „Meiner Ansicht nach ist das nicht der Weg, der uns zur Versöhnung führt“, hieß es in ihrem kurzen Statement.
Ein erfolgreicher Abschluss der Gespräche noch in diesem Jahr ist trotz des beschleunigten Verhandlungsprozesses nicht in Sicht. Selbst die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos scheint nicht mehr so recht daran zu glauben, dass sie bereits 2015 damit beginnen muss, die in Havanna beschlossenen Maßnahmen umzusetzen. Der Jahresetat für das Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, das für den Frieden wohl am entscheidendsten ist, wurde um mehr als 20% auf umgerechnet rund 1,2 Milliarden Euro gekürzt. Optimismus sieht anders aus.

„Wir sind kriegsmüde“

Am 20. Juli feierte die Nationale Befreiungsarmee (ELN) ihr 50-jähriges Bestehen. Im Rahmen dessen feuerte sie zwei explosive Zylinder auf ein Ölfeld in Arauca ab und verletzte 13 Personen. Wie wirkt sich das auf mögliche Verhandlungen mit dieser Guerilla aus?
Grundsätzlich sind mögliche Verhandlungen dadurch nicht betroffen, weil der Regierung klar ist, dass mit den FARC und möglicherweise mit der ELN mitten im Konflikt verhandelt werden muss. Einerseits ist das Militär verfassungsrechtlich verpflichtet, die Guerilla weiter zu bekämpfen, bis diese die Waffen abgegeben hat. Andererseits tun die ELN und die FARC das, was sie seit 50 Jahren tun, nämlich Krieg führen. Ein grundlegender Unterschied zwischen den aktuellen und früheren Friedensverhandlungen ist, dass wir uns zum ersten Mal der Unterzeichnung eines Friedensvertrags nähern. In Kolumbien haben wir aus der Vergangenheit gelernt: Drei verschiedene Präsidenten versuchten bereits Frieden zu schließen. Jedes Mal war der Waffenstillstand eine grundlegende Voraussetzung, die keine Seite einhielt. Unter der Präsidentschaft Pastranas (1998-2002) konnten sich beispielsweise die FARC in eine entmilitarisierte Zone so groß wie die Schweiz zurückziehen; dennoch benutzten sie das Gebiet dazu, alle Arten von Gräueltaten zu begehen und ihre militärische Macht zu festigen. So hätte man sich nie auf ein Abkommen einigen können.

Wovon hängt der Erfolg der laufenden Verhandlungen in Havanna ab?
Dass kein Waffenstillstand vereinbart wurde, ist nur ein Teil der Voraussetzungen. Der Erfolg der laufenden Verhandlungen hängt von der Art und Weise ab, wie die Diskussionen geführt werden, und von der militärischen Lage, in der sich die Guerillas zurzeit befinden. Vor den Verhandlungen, das heißt, während der zwei Amtszeiten Uribes und der ersten Amtszeit Santos’, wurden die FARC schwer getroffen. Als sie einen beträchtlichen Teil ihrer Gründer verloren hatten, wurden ihre militärische Schwäche und das Fehlen eines politischen Motivs offensichtlicher. Der „Dritte Weg“, den Santos als Alternative für Kolumbien entwirft, beinhaltet eigentlich zwei Optionen für die Guerilla: entweder weiterzukämpfen und zu versuchen, die militärische Überlegenheit zurückzugewinnen. Das wäre unter Berücksichtigung des technologischen Fortschritts der kolumbianischen Armee unwahrscheinlich. Oder sich als Guerilla die Frage zu stellen, ob ihre historische Mission bereits erfüllt ist. Das hieße, die Waffen niederzulegen und sich in das politische Leben zu integrieren.

Das Abkommen wird jedoch durch ein Referendum vom Volk bewilligt…
Ja, und deswegen ist die öffentliche Meinung entscheidend, wenn auch klar geteilt. Denken Sie daran, dass die meisten Kolumbianer die Guerillas völlig ablehnen und, nach 50 Jahren Kampf, ein allgemeiner Hass ihnen gegenüber herrscht. Die Diskussion konzentriert sich auf die Art und Weise, wie der Konflikt zu beenden sei. Ein Teil der Bevölkerung fordert die Inhaftierung und Verurteilung der Kämpfer, ohne über die Strafen zu verhandeln. Sie verlangen eine bedingungslose Kapitulation. Bis dies der Fall ist, hat die Regierung die Pflicht, die FARC militärisch weiter zu bekämpfen. Diese Position wird vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe Vélez vertreten. Auf der anderen Seite erkennt die Hälfte der Kolumbianer an, dass die Möglichkeit zu einem baldigen und friedlichen Ende des Konflikts wahrgenommen werden muss. Die Verhandlungen sollen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Guerilleros nach ihrer Entwaffnung in die Gesellschaft und in das politische Leben integriert werden.

Was bedeutet die Wiederwahl von Santos für die Friedensverhandlungen?
Mit der Wiederwahl konsolidiert sich der Friedensprozess. Wenn es Santos nicht gelingt, das Friedensabkommen in naher Zukunft zu unterzeichnen, müssen die Kolumbianer wahrscheinlich wieder mehrere Jahre auf eine neue Chance warten. Es ist wichtig zu bedenken, dass Santos im rechten politischen Lager einzuordnen ist und Uribes Verteidigungsminister war. Zwischen 2006 und 2009 führte die Armee eine Reihe von militärischen Schlägen gegen die FARC durch, die sich dadurch strukturell verändern mussten. 2012 distanzierte sich Santos endgültig vom uribismo und beschloss, über den Frieden zu verhandeln. Dies wurde von Uribe als Verrat empfunden und stellt somit einen Aspekt der jetzigen politischen Auseinandersetzungen im Land dar. Ein anderer Punkt ist, dass Santos auf die Unterstützung wirtschaftlicher Kreise zählt. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ohne das Stigma eines bewaffneten Konflikts könnte sich das Land ökonomisch entwickeln. Da die Geschäftsleute den Militarismus Uribes überdenken und beginnen ihn abzulehnen, erhöhen sich die Chancen auf erfolgreiche Gespräche in Havanna.

Allerdings gibt es Kritik in Bezug auf den Mangel an Bürgerbeteiligung. Wie sehen Sie das?
In einer Demokratie müssten die Bürger in bestimmte politische Entscheidungen mit einbezogen werden. Aber der Konflikt in Kolumbien ist sowohl wegen seiner Dauer als auch wegen der Vielfalt seiner Akteure sehr komplex geworden. Da die Verhandlungen mitten im Konflikt stattfinden, ist es wichtig, einen Rahmen der Diskretion zu schaffen, der konstruktive Gespräche in Richtung Frieden zulässt. In Kolumbien ist die Möglichkeit latent, dass die Gegner des Friedensabkommens nach dem politischen Interesse ihrer eigenen Gruppen (wie im Fall von Uribe) versuchen, die bereits gemachten Fortschritte zu boykottieren. Erst wenn alle Punkte der Verhandlungen in Havanna abgestimmt sind, werden sie der Bevölkerung als Referendum vorgelegt. Dies ist eine Maßnahme der Regierung, die für notwendig gehalten wird, obwohl sie nicht ideal für die Demokratie ist, sondern nur praktisch.

Welche Rolle spielen die Opfer des Konflikts?
Da die Opfer eine zentrale Rolle in diesem Konflikt spielen, werden sie in Havanna einbezogen. Diejenigen, die nach Kuba gereist sind oder reisen werden, sollen alle Verbrechen rekonstruieren, die im Rahmen des Konflikts begangen worden sind. Dies ist wichtig, weil bei früheren Friedensprozessen die Opfer ausgeschlossen wurden. In diesem Moment werden die direkten Opfer des Konflikts auf fünf Millionen geschätzt. Sie haben ein Recht auf die Aufklärung der Verbrechen der Guerillas, Paramilitärs und der staatlichen Armee: wer die Täter waren, wo die Vermissten sind.

Denken Sie, dass in Kolumbien ein anhaltender Frieden geschaffen werden kann?
Der Frieden in Kolumbien muss auf Basis von „Vergeben und Erinnerung“ geschlossen werden, nicht auf Basis von „Vergeben und Vergessen“. Dieser Prozess ist kompliziert, weil die Kolumbianer sich mit den Traumata von 50 Jahren Gräueltaten auseinandersetzen müssen. Ich denke, dass wir jetzt in der Lage sind, durch Dialog und Wahrheitsfindung die Wunden zu heilen. Wir sind kriegsmüde und wollen Aufklärung. Auf diese Weise kann ein Prozess der Rationalisierung unserer Traumata stattfinden und der Frieden mittels Gedenken, Konfrontierung und Wahrheitsfindung langfristig gefestigt werden.

Infokasten

Carlos Miguel Ortiz
ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er lehrt in Bogotá, Paris und Valencia. Er untersucht den kolumbianischen Konflikt, die daraus entstandene Gewalt und deren Folgen für das kollektive Gedächtnis der Kolumbianer_innen.

Zwölf Sommer und elf Winter

Wir sitzen im hohen Gras im Schatten eines der wenigen Bäume der Savanne. Keine fünf Meter von uns graben Alejandro, Karen und Pablo ein Loch in den harten Boden. Sie suchen nach den Überresten Felicianos, eines der vielen Opfer der Paramilitärs in Kolumbien. Fast zwölf Jahre liegt er nun schon dort. „Zwölf Sommer und elf Winter“, erklärt Martín*, einer der Männer, die den Mut aufgebracht haben, mit uns hier raus zu fahren und Feliciano zu suchen.
Wir befinden uns in Charras im Bundesstaat Guaviare, einer vergessenen kleinen Siedlung im Südosten Kolumbiens. Die Region liegt zwischen den trockenen, weiten Ebenen der Llanos und den Urwäldern des Amazonas. Ein kurzer Flug und eine lange Autofahrt über unbefestigte Straßen trennt Charras von der Metropole Bogotá. Die gleiche Strecke nahmen vermutlich auch die Paramilitärs, die im Oktober 2002 in die Gemeinde einfielen und sie menschenleer zurückließ. Die Dorfbevölkerung flüchtete – jene, die konnten, in die Provinzhauptstadt San José. Die Alten und viele, die nicht wussten wohin, in die Wälder und zu entlegenen Bauernhöfen. Aber auch dort waren sie nicht sicher vor den paramilitärischen Todesschwadronen. Charras blieb für viele Jahre eine Geisterstadt. 2007 kehrten die ersten Bewohner_innen zurück – der Beginn eines langen und beschwerlichen Wegs des Wiederaufbaus und der Erinnerungsarbeit.
Wir spannen einen Schirm auf, damit uns die Sonne nicht verbrennt. In den dürren Ästen über uns flattert die Fahne, die uns als internationale Begleiter_innen und Beobachter_innen ausweist. Wir begleiten den Jesuitenpater Javier Giraldo, der seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Erinnerungsarbeit aktiv ist und sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt. Die Forensiker_innen begeben sich unter ein provisorisches Sonnendach. Karen misst den Bereich ab, in dem das Team graben soll.
Zwei Bauern kommen auf einem Motorrad aus dem Dorf. Beide tragen die obligatorische Machete am Gürtel und einen Spaten in der Hand. Sie grüßen mit einem stummen, aber freundlichen Nicken und begeben sich an die Arbeit. Hinter ihnen strampelt ein kleines Mädchen auf einem rosa Fahrrad. Es müht sich durch das hohe Feld, wirft sein Rad ins Gras und läuft unter die Stoffplane zu der beginnenden Exhumierung. Eine surrealistische Szene. Der Ermordete ist ein ihr unbekannter Freund von María, ihrer Mutter, sie hat ihn nie kennengelernt.
Die Anwesenheit von Freunden und Verwandten ist etwas Neues für die Forensiker_innen. Sie sind jung, Alejandro studiert noch, normalerweise sind sie umgeben von Personal der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung. Zivile Exhumierungen, ausgeführt von einem unabhängigen Expertenteam, sind eine neue Methode in Kolumbien, um Angehörigen von Opfern des andauernden bewaffneten Konflikts zu helfen, die sterblichen Überreste ihrer Familien zu finden. Das Spezifische an den zivilen Exhumierungen ist, dass sie weder von einem Richter angeordnet werden, noch staatliche Institutionen wie Polizei oder Gerichtsmedizin bei der Exhumierung vor Ort sind. Im Kontext des kolumbianischen Konflikts ist dies noch Pionierarbeit und wird eine Tätigkeit bleiben, die Kolumbien und die Angehörigen der mindestens 16.000 Verschwundenen noch lange beschäftigen wird. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 50.000 Opfern des gewaltsamen Verschwindenlassens aus. Pablo schwitzt in seinem weißen Plastikoverall und meint sarkastisch: „Das wird die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern in den nächsten Jahrzehnten sein. Noch unsere Enkel werden Opfer exhumieren.“
Karen leitet das Kolumbianische Forschungsteam für Forensisch-Anthropologische Ermittlungen (ECIAF). Fein säuberlich wird das Umfeld gerodet. Die Spatenstiche tönen klingend in der heißen und zum Zerschneiden stehenden Luft. Karen erklärt den Bauern, dass sie nicht zu tief graben dürfen, um ja nicht etwas zu übersehen, nur fünf Zentimeter darf jeder Spatenstich sein. ECIAF hat sich als eigenständige Nichtregierungsorganisation das Ziel gesetzt, die Verbrechen des kolumbianischen Konflikts unabhängig und unparteiisch aufzuarbeiten. Sie widmen sich dadurch auch der aktiven Erinnerungsarbeit und der Schaffung eines kollektiven, nationalen Gedächtnisses. Dabei unterstützen die professionellen Forensiker_innen die Angehörigen bei der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.
Padre Giraldo ruft uns zu sich. Es ist ein bewegender Augenblick. Aus dem staubigen Boden schauen die Stiefelspitzen von Feliciano. María erklärt uns, dass er sie trug, als er an jenem tragischen Tag im Oktober 2002 aus dem Haus ging. Sie hatten sich für später im Dorf verabredet. „Er hat nicht mal sein Frühstück aufgegessen, so in Eile war er.“ Sie erinnert sich noch an jedes Detail dieses Morgens. „Er wollte an diesem Tag einen Zaun reparieren und nur schnell im Dorf noch etwas besorgen. Ich sollte ihn mittags dort treffen und ihm was zu essen bringen. Als er nicht kam, lief ich den Weg zurück zu unserem Hof. Als er dort auch nicht war, bekam ich Angst.“ Sie fand ihn später an der Stelle im hohen Gras, an der wir jetzt sitzen. „Sie hatten ihn erschossen, drei Kugeln in den Kopf und zwei in die Brust, die Bäume dort waren voller Blutspritzer.“
Die Forensiker_innen arbeiten nun vorsichtiger. Unter den Pinselstrichen kommt eine graue Arbeitshose zum Vorschein. Karen erläutert den Umstehenden, dass die Knochen des Beckenbereichs am besten erhalten bleiben. Die Erde in Guaviare ist sehr säurehaltig und absorbiert deshalb schnell die Überreste der Opfer. Der Körper von Feliciano ist besser erhalten als der vieler anderer, die nach ihrer Ermordung mit einer Machete oder Motorsäge zerteilt wurden. „Die Knochen sind von außen mit einer Membran umhüllt, die sie vor Verwesung schützt“, erläutert Alejandro, „sobald ein Knochen aber aufbricht, können Mikroorganismen ihn zersetzen.“
Karen entdeckt den Schädel. Stumm schreiend erscheinen die Augenhöhlen in der trockenen Erde. Die Forensiker_innen pinseln ihn frei – die Schädeldecke ist aufgeplatzt, aber ein grau-blau kariertes Hemd hält ihn zusammen. María erzählt uns: „Er hatte diese Angewohnheit, sich das Hemd um den Kopf zu binden, um sich vor der Sonne zu schützen. Obwohl er ja noch jung war, 32 Jahre, ging ihm schon früh das Haar aus.“
Unzählige Opfer forderte der Konflikt in Kolumbien im Norden von Guaviare. In Charras erzählt man uns, dass man bei einer Dorfgemeinschaft von 70 Personen von 23 Verschwundenen ausgeht, die in der Gegend verscharrt wurden. Teils von Paramilitärs, um Spuren zu verwischen, teils von Angehörigen, die in angstvoller Eile ihre ermordeten Freund_innen und Verwandten vergruben, um sie nicht wilden Tieren auszuliefern. Auch María kehrte nach ein paar Tagen mit befreundeten Bauern und Bäuerinnen aus dem Dorf zurück, um Feliciano zu beerdigen. Die Paramilitärs waren noch in der Gegend und ließen keine Bestattung der Toten zu, um auf diese Weise weitere Angst in der Bevölkerung zu schüren. Miguel diskutiert mit María, welcher Tag es genau war. „Es war der 12. Oktober, mein Geburtstag, ich erinnere mich noch genau, Camilo war auf den Baum geklettert, um Ausschau nach den Paramilitärs zu halten. Als wir den Körper hochhoben, tropfte mir etwas Klebriges auf die Schuhe.“
Feliciano liegt nun frei, er hat nichts Furchtbares oder Trauriges an sich. Man spürt, wie es den Umstehenden Kraft gibt – es ist ein Zeichen, dass sie sich nicht von der Gewalt unterkriegen lassen. Diese Art der Exhumierung hat einen großen Vorteil. Die Hinterbliebenen können auf diese Weise aufarbeiten, was ihnen und ihren Familien angetan wurde. Die Dorfgemeinschaft fördert dadurch die kollektive Erinnerungsarbeit und bricht das Schweigen.
Padre Giraldo spricht ein Gebet und benetzt die Knochen Felicianos mit geweihtem Wasser aus einer Plastikflasche. Im Dorf werden sie kurz vor unserem Abschied noch eine Messe halten, eine der ersten seit vielen Jahren. Fünf Tage waren wir in Charras. Vier Opfer konnte das Team exhumieren. Drei von ihnen sind durch Kleider und Fundstelle von Angehörigen vorläufig identifiziert worden. Nun reisen mit uns vier Kartons, jeder nicht größer als eine Bananenkiste. Karen übergibt sie der Fiscalía, der Staatsanwaltschaft, die nun mit der Beweisführung beginnt und DNA-Tests durchführen wird. Der Prozess wird ein bis zwei Jahre dauern, dann werden die Überreste den Angehörigen in einer staatlich organisierten Zeremonie übergeben. Die Sterbeurkunde und das gerichtsmedizinische Gutachten helfen ihnen, vom kolumbianischen Staat Gerechtigkeit zu fordern, zum Beispiel durch Entschädigungen oder indem Täter_innen gesucht und zur Rechenschaft gezogen werden. Durch das im Juni 2011 ratifizierte „Opfergesetz“ (Ley de Víctimas) können Opfer und ihre Angehörigen vom kolumbianischen Staat finanzielle und symbolische „Wiedergutmachung“ fordern, wenn sie nachweisen können, dass sie „individuell oder kollektiv seit dem 1. Januar 1985 einen Schaden infolge von Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht oder schwere und deutliche Verletzungen gegen die internationalen Normen der Menschenrechte im Rahmen des internen bewaffneten Konflikts erlitten haben.“ Die juristische Anerkennung, dass es sich bei ihren Familienangehörigen um zivile Personen gehandelt hat, die keiner der Konfliktparteien angehört haben, kann als großer Schritt in Richtung Gerechtigkeit gesehen werden. Auch wenn die Durchsetzung der rechtlichen Grundlage schwierig ist, hilft es den Hinterbliebenen moralisch und seelisch, dass sie die Rechtsprechung auf ihrer Seite haben. Ihr Verlust wird endlich anerkannt – doch ein Schlussstrich ist es nicht. Die Erinnerungsarbeit in Charras und in Kolumbien geht weiter.

* Die Namen von Opfern und deren Angehörigen wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

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