Päpstlicher Beistand, Steuerprobleme und die Frage, was nach Castro kommt

Bei seinem Besuch in Kuba hat sich der Papst gegen die Blockade ausgesprochen. Auch von der UNO-Vollversammlung und vielen anderen internationalen Gremien wird das US-Embargo regelmäßig verurteilt. Es wird aber auch behauptet, daß die Blockade der kubanischen Regierung dazu dient, ihre Ideologie aufrechtzuerhalten, da die Blockade das Volk gegen die USA und ihren wirtschaftlichen Einfluß einigt. Teilen Sie diese Meinung?

Dilla Alfonso: Ich glaube, daß die Blockade im Verlaufe der letzten 30 Jahre einen politischen Konsensus in Kuba bewirkt und das Volk in seiner Einstellung gegen die Vereinigten Staaten geeinigt hat, aber ich glaube nicht, daß es ausschließlich die Blockade ist, die der kubanischen Regierung Legitimität gibt. Das politische Bewußtsein in Kuba wurde im Verlaufe des gesamten 20. Jahrhunderts stark von den Vereinigten Staaten geprägt. Gründe dafür sind der starke Einfluß der nordamerikanischen Kultur, aber auch die direkte politische Einmischung der USA in Kuba. So ist eine widersprüchliche Situation entstanden. Obwohl Kuba ein westliches Land mit einer westlichen Kultur ist, die sehr stark mit der nordamerikanischen Kultur verbunden ist, ist Kuba auch ein Land mit großen nationalen Gefühlen, mit einer großen nationalen Identität. Und aus diesem Grund wehrt es sich gegen nordamerikanische Einmischungen. Ich glaube nicht, daß ein Wegfall der Blockade einen Riß im politischen Konsens Kubas bewirken würde. Was jedoch sicherlich Auswirkungen hätte, wäre die Entstehung eines neuen Marktes nach Aufhebung der Blockade. Zweifelsohne würde dies das wirtschaftliche System verändern und damit auf Dauer auch das Bewußtsein des kubanischen Volkes. Aber ich glaube nicht, daß das auf einen Schlag geschehen würde, es wird ein langfristiger Prozeß sein.
Die Aussage des Papstes gegen die Blockade ist eine politische Haltung, die mit den politischen Grundsätzen des Vatikans übereinstimmt. Sie wendet sich gegen eine Politik der Großmächte, die den Einsatz von wirtschaftlichen Maßnahmen als Waffe erlaubt. Ich glaube daher nicht, daß die Aussage des Papstes gegen die Blockade eine Ehrbezeugung gegenüber der kubanischen Revolution ist, sondern daß diese Aussage im Einklang mit der Politik des Vatikans gegenüber der restlichen Welt steht.

Welche Vorteile brachte der Besuch des Papstes dem kubanischen Volk und der kubanischen Regierung ?

Dilla Alfonso: Zweifelsohne hatte der Besuch des Papstes vielerlei Auswirkungen für Kuba. Zunächst einmal verschaffte er dem Land für die Dauer des Besuches eine große internationale Medienaufmerksamkeit. Und die Berichterstattung war vorwiegend positiv, weil sie mit Hinblick auf das Verhältnis des Papstes und der kubanischer Regierung die Möglichkeiten zum Dialog und zu gegenseitiger Toleranz aufgezeigt hat. Dadurch hat sich das Bild von der kubanischen Regierung geändert, das bislang von vielen Medien aufgebaut wurde. Der Besuch hat sich auch für die kubanische Bevölkerung positiv ausgewirkt, da er den Menschen die Möglichkeit gegeben hat, sich mit der internationalen Presse auszutauschen. Sie konnten ihre Meinungen frei ausdrücken. Das kubanische Volk ist sehr offen und kommunikativ.

Kuba hat in den Jahren 1993 / 1994 die schlimmste wirtschaftliche Krise nach der Revolution durchgemacht. Könnte man heute von einem wirtschaftlichen Aufschwung sprechen, und ist dieser spürbar für das Volk ?

Fernández: Die schwierigste Zeit, wirtschaftlich gesehen, war der Zeitraum zwischen 1992 und 1994. Im Jahre 1989 begann eine Politik der Marktöffnung und der Anwerbung ausländischer Investitionenen. Anfangs beschränkte sich dies auf den Tourismus, danach wurden auch andere Wirtschaftsbereiche liberalisiert. Im Jahr 1995 wurde ein neues Gesetz über ausländische Investitionen erlassen. Neue Wirtschaftsbereiche wurden erschlossen, wie zum Beispiel die freien Industriezonen (zonas francas, d.Red.), von denen es zur Zeit vier gibt. All dies bedeutet nichts anderes als den Eintritt Kubas in den kapitalistischen Weltmarkt. Seit dem Jahr 1995 kann man ein leichtes wirtschaftliches Wachstum feststellen. Im Jahr 1996 wuchs die Wirtschaft um sieben Prozent. Man muß dabei aber berücksichtigen, daß die Wirtschaft zuvor um 35 Prozent gefallen ist. Die Frage aber ist, in welchen Bereichen wächst sie? Im allgemeinen findet dieser Wachstum da statt, wo große Mengen an importierten Energieträgern verbraucht werden, und natürlich in der Tourismusindustrie. Deswegen ist insgesamt gesehen die Wirtschaft in diesem Jahr nicht sonderlich gewachsen, und für das nächste Jahr sind die Aussichten auch nicht gut. Dies kann das Land in eine wirklich heikle Lage bringen. Hinzu kommt, daß Kuba weltweit keinen Zugang zu irgendwelchen Krediten hat, bis auf die kurzfristigen, die in der Regel sehr hoch verzinst sind. Die Zuckerrohrernte des Jahres 1994 wurde zum Beispiel mit Hilfe von kurzfristigen Krediten eingebracht, und was am Ende übrigblieb, der Nettogewinn, war sehr gering.
Folglich kann man heute nicht von einer wirtschaftlichen Erholung sprechen. Der wirtschaftliche Fall wurde jedoch aufgehalten, und das ist wichtig, auch politisch gesehen. Wenn der Niedergang nicht gestoppt worden wäre, hätten wir den Zusammenbruch erlebt, der die unvermeidliche Vereinigung der kubanischen Gesellschaft mit Miami bedeutet hätte. Daß dies vermieden werden konnte, ist wichtig. Die Wirtschaft schafft es noch nicht, durchzustarten, weil es noch viele staatlich kontrollierte Wirtschaftsbereiche gibt, wie zum Beispiel die sozialen Dienste oder das Erziehungswesen, die riesige Kosten für den Staat bedeuten. Und natürlich spielen auch die enormen Kosten eine Rolle, die dadurch entstehen, daß bislang auf massive Entlassungen von Arbeitskräften verzichtet wird. Wenn eine Rationalisierung der kubanischen Betriebe durchgeführt werden würde, müßte man ungefähr 600 000 ArbeiterInnen entlassen, das ergäbe eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent. Es mag zwar wirtschaftlich unsinnig sein, daß nicht rentabel gewirtschaftet wird, aber man muß die politische Seite der Sache berücksichtigen. Ein politisches Projekt wie das kubanische kann nicht auf die sozialen Dienste verzichten, da sie die Perlen des kubanischen Projektes sind. Was aus technokratischer Sicht offensichtlich notwendig ist, kann aus politischen Gründen nicht durchgesetzt werden. Der Zickzackkurs der wirtschaftlichen Reform hat mit diesen politischen Zwängen zu tun, aber auch mit dem Problem der amerikanischen Blockade. Die USA ist der wichtigste und Kuba am nächsten liegende Markt. Und solange ein Klima der politischen Feindseligkeit besteht, vergrößert jegliche Form politisch oder wirtschaftlich innovativer Handlung die Risiken einer Konfrontation.

Die kubanische Regierung verhält sich auch bei der Privatisierung zweideutig. Einerseits hat sie private Geschäfte wie Paladares (Restaurants), Vermietungen oder den freien Bauernmarkt legalisiert, andererseits hat sie kürzlich ein Steuersystem eingeführt, das die Abgabenlast für Kleinbetriebe so hochgetrieben hat, daß viele schließen mußten. Will die Regierung die Privatisierung nun fördern oder nicht?

Fernández: In der Tat gibt es seit einigen Jahren ganz neue wirtschaftliche Dimensionen auf Kuba. Das hängt zusammen mit ausländischen Investitionen, aber auch mit den fabelhaften neoklassischen Ökonomieprogrammen, die an den Universitäten Kubas gelehrt werden und denen zufolge alles privatisiert werden müßte. Sie sehen in der Privatisierung einen Ausweg. Dabei unterscheidet sich die kubanische Form der Anpassung vom typischen Neoliberalismus in vielerlei Hinsicht. Die Privatisierung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Eine davon ist der makroökonomische Bereich, wo der Staat fünfzigprozentige Beteiligungen an ausländische Investoren anbietet. Nur in sehr speziellen Fällen hat der Staat auch Investitionen zu 100 Prozent erlaubt. Das kann sich in Zukunft natürlich ändern. Eine andere Ebene ist der kleinwirtschaftliche Bereich. Der Staat sieht sich hier vor das Problem gestellt, welche Bereiche in private Hände übergehen sollen und welche nicht. Die Politik verhält sich hier unklar. Ich glaube aber, daß es Unsinn ist, wenn ein Staat, der sich mit Nickelabbau oder mit Hochtechnologieforschung beschäftigt, sich gleichzeitig um die Verwaltung von Cafeterien kümmern muß, in denen Kaffee und geschmierte Brote verkauft werden. Der Staat sollte sich nicht um das kleinere Dienstleistungsgewerbe kümmern müssen. Wir brauchen dafür ein neues Regelungssystem, das Änderungen im Steuersystem und bei Betriebskontrollen umfaßt, und auch ein Zuliefersystem, das in Kuba noch gänzlich fehlt. Die Privatgeschäfte haben keinen Markt, auf dem sie die nötigen Bedarfsgüter für ihre Dienste erwerben können. Ich glaube nicht, daß jemand, der hier in Deutschland ein Restaurant besitzt, die Hähnchen einzeln einkauft. Aus diesem Grund florieren in Kuba die illegalen Geschäfte.
Dann ist da noch das Problem mit den übermäßig hohen Steuern und der Schwarzarbeit. Heute gibt es in Kuba ungefähr 20 000 offiziell angemeldete Privatarbeiter, aber man kann hinter jedem noch einen oder zwei vermuten, die nicht angemeldet sind. Die brennendste politische Frage bezüglich der Wirtschaft heißt im Moment: Was soll mit dem privatwirtschaftlichen Sektor in Zukunft geschehen? Wird er als politisches Futter für den Antikommunismus und den Rechtsextremismus benutzt, oder wird er Bestandteil einer Wirtschaft mit solidarischen Zügen sein? Das hängt nicht mehr von der Wirtschaft ab, sondern von der Politik. Der Staat muß akzeptieren, daß es sich hier um einen Bereich handelt, der ganz anders organisiert werden muß, und dessen Interessen im politischen System vertreten sein müssen. Solange es tausende kleiner Geschäfte gibt, deren Betreiber gezwungen sind, illegal zu handeln, und unter den hohen Steuern zu leiden haben, wächst in diesem wirtschaftlichen Sektor ein brutal antikommunistisches Bewußtsein.

Es gibt mehr als fünfzig Oppositionsgruppen in Kuba, wie zum Beispiel die Corriente Socialista Democrática (CSD). Können diese politische Gruppen ohne Einschränkungen arbeiten, und nimmt ihr Einfluß zu?

Dilla Alfonso: Es gibt in der Tat viele kleine politische Gruppierungen, aber bis heute sind sie in der kubanischen Gesellschaft und innerhalb des politischen Spektrums ohne Bedeutung. Sie sind fast unbekannt und vom Gesetz nicht annerkannt. Ihr Einfluß auf das innere politische Leben ist gering, denn das politische System in Kuba ist nicht so beschaffen, daß es diesen Gruppen eine Präsenz in der kubanischen Gesellschaft verschafft. Ich glaube, daß viele dieser Personen – sehen wir mal von ihrer politischen Einstellung ab – in erster Linie Kuba verlassen wollen, und daß sie in ihrer systemwidrigen Tätigkeit eine Möglichkeit sehen, schneller auswandern zu können, indem die kubanische Regierung ihnen Visa erteilt. Ich sage systemwidrig und nicht anti-sozialistisch, denn es gibt darunter viele, die sich sogar mit sozialistischen Ideen identifizieren. Fast alle Führer dieser kleinen politischen Gruppen sind jedoch schon ausgewandert.

Aber besteht im kubanischen Volk nicht ein Bedürfnis nach opositionellen Gruppen, die nicht daran interessiert sind auszuwandern, sondern die wirklich eine andere Politik machen wollen?

Dilla Alfonso: Wenn man den Durchschnittskubaner nach seinen Wünschen für die Zukunft befragen würde, bezöge er sich auf die Jahre 88-89. Er würde sich wünschen, so wie in diesen Jahren leben zu können. Die Bevölkerung strebt nach einer gewissen Sicherheit, die vom Staat gewährleistet wird. Und ich glaube, daß es dem Kubaner klar ist, daß es diese Sicherheit in einem politischen System, in dem eine riesige Vielfalt an politischen Akteuren herrscht, wie in anderen Ländern Lateinamerikas, niemals gibt. Und ich glaube, daß hinter seinen Wünschen das Ideal einer sozialistischen Kultur steht.
Fernández: Unter diesen Gruppen gibt es welche, die völlig unstrukturiert sind, mit sehr dürftigen Parteiprogrammen oder ganz ohne, aber es gibt auch welche, die ernstzunehmen sind, die eine kohärente Struktur aufweisen, wie zum Beispiel die Corriente Socialista Democrática, die etwas bekannter ist, aber nur in bestimmten intellektuell-politischen Kreisen. Die einfachen Leute wissen nichts von ihnen und haben auch kein Interesse an diesen Gruppen. Aber wenn sie Zugang zu den Medien hätten, glaube ich schon, daß sie an Popularität gewinnen könnten. Doch dafür ist Kuba nicht geeignet. Aufgrund der Auswirkungen amerikanischer Feindseligkeiten ist Kuba ein höchst polarisierter Schauplatz, auf dem zweifelsohne auch Manipulationen durch die kubanische politische Klasse vorkommen. Entweder man steht auf dem einen Bürgersteig oder auf dem anderen, also mit seiner kritischen Meinung und für Veränderungen innerhalb des Systems kämpfend auf Seite des Staates oder auf Seite der USA. Sicherlich werden diese Gruppen auch durch amerikanische und europäische Institutionen manipuliert. Eine Auflockerung der Feindseligkeiten, die von außen hereingetragen werden, würde ein anderes politisches Klima schaffen, das neue Möglichkeiten des Dialogs erlauben würde. Und ich glaube, daß Gruppen mit sozial-demokratischem Gedankengut, mehr Raum zugestanden werden müßte. Persönlich bin ich der Meinung, daß niemand wegen seiner Ansichten unterdrückt werden sollte. Ich glaube, daß sich die politische Klasse der Zukunft innerhalb der Partei bewegt. Die kubanischen Dissidenten sind emigriert, und die, die geblieben sind, stehen auf der Seite des Staates.

Fidel Castro ist bereits über 70 Jahre alt. Wer sind seine möglichen Nachfolger? Es kursieren die Namen: Raúl Castro, Roberto Robaina, Carlos Lage und Ricardo Alarcón.

Dilla Alfonso: Ob Fidel morgen stirbt beziehungsweise sich zurückzieht oder erst in 15 Jahren, das nachfolgende Szenario wird sich immer gleich abspielen: Der Nachfolger von Fidel ist Raúl Castro. Die Militärstreitkräfte sind heutzutage diejenige Institution mit der besten Struktur und Organisation in Kuba. Das Militär hat sich organisatorisch in einem hohen Grad bewährt, und ich möchte mit dieser Aussage beileibe nicht den Eindruck erwecken, daß ich ein Militarist bin. Die ersten Signale für wirtschaftliche Reformen kamen aus ihren Reihen. Sie führten ihre Reformen in mehreren sozialen Projekten in benachteiligte Gegenden des Landes durch, vor allem in den Bergregionen. Das kubanische Militär genießt einen guten Ruf. Raúl Castro ist der zweite Sekretär der Partei und Minister der militärischen Streitkräfte. Er vertritt damit zwei Institutionen, die einen großen und langjährigen Rückhalt in der Bevölkerung genießen.

Aber außer ihm..

Dilla Alfonso: Es gibt auch die neue Generation.

Zum Beispiel Carlos Lage, der sehr viel jünger ist und viel eloquenter über wirtschaftliche Zusammenhänge spricht. Wie steht es mit ihm?

Dilla Alfonso: Es gibt eine neue Generation Politiker, die in den letzten zehn Jahren hervorgekommen ist. Das sind unter anderem Carlos Lage und Roberto Robaina, die beide um die Vierzig sind. Hier gibt es einen Unterschied zu Alarcón, den du bereits erwähnt hast. Alarcón ist einer der alten Kämpfer, der noch gegen Batista dabei war. Lage und Robaina sind Leute, die wichtige Positionen im politischen Apparat bekleiden: Lage im Wirtschaftsbereich und Robaina im Bereich der internationalen Beziehungen. In der Zukunft hat jeder der beiden Chancen, aber es gibt auch noch eine ganze Reihe anderer Leute, denen Chancen einzuräumen sind, wenn man nicht außer acht läßt, daß es auch Änderungen in der Form des politischen Systems geben könnte. Ich glaube, daß es Raúl Castro sein wird, der unmittelbar nach einem Rückzug von Fidel Castro seine Funktionen übernehmen würde. Was dann später geschehen wird, hängt stark davon ab, auf welche Weise sich das politische System wieder konstituieren kann.

Welches Prestige genießen diese Leute in der Bevölkerung? Gibt es jemanden, der favorisiert wird?

Dilla Alfonso: In einem politischen System wie dem kubanischen sind die Aussagen aller Politiker in der Öffentlichkeit gleich. Sie unterscheiden sich lediglich durch Nuancen, aufgrund persönlicher Neigungen. Im Politbüro und im Staatsrat wird sicher vielerlei diskutiert, aber danach sind die Politiker dazu verpflichtet, genau das zu wiederholen, worüber sie sich geeinigt haben. Es ist daher schwierig zu sagen, daß ein Politiker offener als ein anderer ist. Die Popularität eines Politikers kann aber von seiner Lebensweise herrühren, oder durch den Leumund, den er genießt. Eine Person in einer hohen Position, die trotzdem bescheiden lebt, findet viel Anerkennung beim Volk. Doch mit Sicherheit rührt die Popularität eines Politikers nicht von seinen eigenen politischen Anschauungen her. Seine politischen Anschauungen decken sich mit denen der Partei.

Übersetzung: Lucia Ramos

Verwässerte Hilferufe

Das Begleitheft zum Film schließt: “Das Wasser ist die Metapher für die Suche Manuels nach dem eigenen Bild und jenem der Welt, in der er lebt“. Schon fragt man sich unweigerlich: Was ist schon von einem Film zu erwarten, der sich auf solch einfältige Weise ankündigt? Sind diese Worte wohl als aufrichtige Warnung zu verstehen, und hält „Escrito en el agua“ (wörtlich: Im Wasser geschrieben) in dem Sinne, was die so feinsinnige Metapher verspricht: pure Langeweile ?
Aber schauen wir uns erst einmal um, in der Mittelstandsfamilie im schneeweißen Haus am Rande von Buenos Aires. Sohn Manuel (Mariano Bertolino) ist ein introvertierter Computerfreak, der zum Leidwesen seiner Eltern ständig im Internet surft und damit die familiäre Telefonleitung lahmlegt. Die zurückhaltende Mutter trägt – man kann es an ihrem leidenden Gesichtsausdruck ablesen – eine profunde Frustration in sich. Es ist wohl die in den großen Räumen des Hauses auf den Ohren lastende eheliche Nichtkommunikation, die ihr zu schaffen macht. Als Therapie- und zugleich Ausdrucksmöglichkeit hat sie jedoch die Photografie entdeckt: gemeinsam mit Manuel zieht sie durch Buenos Aires und nimmt die Verlierer der Gesellschaft auf. Echtes Sozialengagement also.

Generationenkonflikt auf dem Land

Schließlich die zentrale, aber wie so oft nichts von sich preisgebende Vaterfigur Marcelo (Jorge Marrale). Der leitende Ingenieur einer großen Baufirma trägt ebenfalls von Beginn an eine schwere Last mit sich herum. Wie es sich für einen geschäftsorientierten Vater gehört, handelt es sich hierbei allerdings nicht um eine emotionale, sondern rein berufliche Frustration.
In Bewegung setzt sich das Familienkarussell, als Vater Marcelo seinen Sohn zu einem Geschäftstermin für ein paar Tage mit aufs Land nimmt. Beide quartieren sich beim in der Nähe wohnenden Großvater (Marcos Woinski) ein. Dieser wirkt zu Beginn mit zotteligem Bart und seinen Flüchen („Me cago en la hostia“) verschroben und kämpferisch, reiht sich später aber, allzu sehr unter einem Kriegstrauma leidend, mühelos in den Kreis der Frustrierten ein. Während des Aufenthaltes auf dem Lande wird es nun nicht nur zur erwarteteten Austragung – oder sagen wir eher: Berührung – des zweifach angelegten Generationenkonfliktes kommen. Clara, die Tochter des Holzhändlers des Dorfes (hübsch: Luciana Gonzales Costa), wird Manuel in die Geheimnisse der Liebe einführen und noch im Bett über die ökologischen Verbrechen seines Vaters aufklären. Dieser läßt nämlich in der Fabrik radioaktives Material verwenden, was schon zum tragischen Tod eines Arbeiters führte …

Radioaktivität und Kettensägenrasseln

Die nächste Frage drängt sich auf: Jede Figur ein wenig überkonstruiert, klischeebehaftet ? Ganz genau. Nicht, daß man aus der Figurenkonstellation von vornherein nichts mehr hätte machen können. Aber so bieder wie sie angelegt ist, hätten hier schon entweder innere Brüche offengelegt werden oder vielleicht ein in den Familienalltag einbrechendes Ereignis die Dinge gewissermaßen auf den Kopf stellen müssen.
Der in Bolivien geborene und in Kuba ausgebildete Regisseur Marcos Loayzas vertraut indes vollends auf seine Figuren und konzentriert sich entsprechend auf eine rein beobachtende Inszenierung. Vor allem liegt ihm daran, dem Zuschauer die „zarte“ – gleichsam im Wasser Kreise ziehende – Wandlung Manuels vom Jugendlichen zum Manne zu schildern, angereichert mit den Nebenschauplätzen des Generationenkonfliktes sowie des Ökologie- und Schuldthemas. Und da er dies nicht auf intelligente, sondern oftmals sehr plumpe Weise ausführt, macht sie sich tatsächlich breit, die schon in der Wassermetapher keimende Langeweile.
So wird der Zuschauer nicht etwa dezent oder gar verrätselt auf etwas hingewiesen, es wird ihm, wohl in der Angst, es könne sonst verloren gehen, förmlich unter die Nase gerieben. Also: nicht im Wasser geschrieben, sondern hineingeworfen ins selbige. Es kündet beispielsweise nicht gerade vom Einfallsreichtum des Regisseurs, das Ökologiethema mit einer rasselnden Kettensäge und dem Fall eines großen Baumes einzuleiten. Und Loayza will auch die von Kameramann Billi Behnisch sehr eindrucksvoll in Szene gesetzte Landschaft nicht für sich sprechen lassen. In langatmigen Lektionen muß der Großvater den Enkel über die Faszination der Natur und die so andere Wahrnehmung als die in der Stadt unterrichten.
Andererseits wird vieles im Film zwar plakativ aufgeworfen, aber dann nicht weiterverfolgt. Nicht ein Wort erfährt man beispielsweise über die Hintergründe der unterkühlten und konfliktbeladen angelegten Beziehung zwischen Großvater und Marcelo. Nur eines: Geständnisse, mit Tränen in den Augen, die bekommen wir in der Schluß-Emphase des Filmes. Vater Marcelo gesteht seine Schuld am Tod des Arbeiters und der Großvater bekennt, daß er nicht der vorgebliche republikanische Held des spanischen Bürgerkrieges war, sondern bereits mit sieben Jahren nach Mexiko emigrierte.
Bei einem sich derart unbeholfen-konstruiert darstellenden Gesamtbild können dem Film dann auch die eingestreuten literarischen und musikalischen Hommagen an so große Herren wie Kierkegaard, Borges und Piazzolla nicht mehr weiterhelfen. Abgesehen davon, daß sie herzlich wenig mit dem Film zu tun haben, zeigt ihre Häufung nur, was sie in Wirklichkeit sind: Hilferufe aus geistiger Leere.

„Escrito en el agua“; Regie: Marcos Loayza; Argentinien 1997; 85 Minuten.

“Das Beste hier ist die Disco – Das Schlechteste ist, daß es sonst nichts gibt”

Tzunami wird 15 Jahre alt. Wo mit sich ihr Leben gewaltig verändert. Da findet nämlich der Wechsel von der Phase der Jugend in die Phase des Frau-Seins statt und auf einmal ist nichts mehr wie es war; Man wird verantwortlicher und trifft Entscheidungen besser. Das alles ist wirklich wahr und bedeutet sehr viel. So zumindest sieht es Tzunami, die auf Kuba lebt und für die der 15. Geburtstag – die quinceanera – etwas ganz Besonderes ist.
„15 werden und die Hochzeit – das ist das Größte im Leben einer Frau“, erläutert eine ältere Dame und auch, daß die quinceanera wie der Frühling sei, heute besser als früher oder vielleicht auch umgekehrt – „Psst, sie filmen,“ zischelt der Mann neben ihr.
Eine enorme Geburtstagstorte wird aufgetischt, alle tanzen, bis es zum Höhepunkt des Festes, dem Fototermin in Havanna, kommt: Tzunami mit ernster Miene im wallenden Brautkleid, lächelnd, kokett im kleinen Roten, und dann, gewagt verführerisch – aber auch ein wenig verloren – im glitzernden Blauen. Der Träger hängt ein wenig schief, und überhaupt sitzt das Kleid nicht so recht, aber eigentlich macht das nichts. 15 wird man schließlich nur einmal. Und es ist „wie, sich als Frau zu fühlen“, eine Vorbereitung auf den Ernst des Lebens sozusagen.

Tzunami ohne Auto

Wenn Tzunami über die Liebe redet, meint sie „ja, ich hatte schon drei Freunde – ich mochte sie alle“ – Schnitt – und eine bildfüllende Gruppe von Männern in jedem Alter untermalen diese charmante Aussage – eine Mischung aus kindlicher Naivität und erwachsenem Selbstbewußtsein. Tzumani besticht sie alle, die Männer, die Filmemacherin und die Zuschauer.
Dramatische Momente des Schreckens gibt es aber auch in dieser atemberaubenden Nacht: „In der Nacht zum 15. passierte etwas.“ Nur noch eine schwarze Leinwand ist zu sehen. „Da hat mein Freund mich verlassen, ich habe wohl zuviel getanzt, mich zuwenig um ihn gekümmert, da ist er eifersüchtig geworden.“ Und jetzt – jetzt hat sie keinen Freund und kein Auto mehr.
Einfühlsam und ohne falsche Scheu gelingt es der Regisseurin des Kurzfilms „Cuba 15“, Tzunamis Eintritt in die Frauenwelt festzuhalten. Ihre Ängste vor einer Heirat, die den Verlust der Familie bedeutet, werden kurz und unsentimental angesprochen, die Bilder zeigen ihre ungezwungene Lust am Leben. Anklänge von Altklugheit bei der jungen Dame vermag die Regisseurin durch Witz und Ironie in sympathische Bahnen zu lenken, durch Schnitt und Bildauswahl versteht sie es, die liebenswerten Eigenschaften der 15-Werdenden hervorzuheben. So tanzt Tzunami durch die Bilder, wie es nur durch Filmschnitt möglich ist: vom Hausdach direkt auf das Feld, von dort unvermittelt auf die Straße – wo sie ungeniert vor dem Bildnis Chés mit dem Hintern wackelt.

Liebe auf den ersten Blick

Es scheint, als wären sich bei diesem Filmprojekt zwei Frauen begegnet, die sich auf Anhieb mochten und die mit Leichtigkeit und Spaß einen gänzlich unpolitischen Film auf Kuba drehten. So war „Cuba 15“ auch gar nicht geplant. Während eines Lehrauftrags auf dem Inselstaat begegnete Elisabeth Schub ihrer Heldin ganz zufällig. Sie war von ihrer „Magie“ so beeindruckt, daß sie beschloß, einen Film über sie zu drehen. Zwei ganze Tage hatte sie Zeit dafür, denn dann wurde Tzunami schon 15. Die Kürze der Vorbereitungszeit hat dem Film keinerlei Abbruch getan, im Gegenteil, so schnell, wie der Film entstanden ist, so schwungvoll und mitreißend ist er auch geworden.
Die Reaktionen auf den Film in den USA waren, so erzählt Elisabeth Schub, ganz unterschiedlich. Beflissene Exilkubaner sehen in „Cuba 15“ einen ironischen Kommentar zur aktuellen Lage auf der Karibikinsel. Von kubanischer Seite hingegen wird Schub telefonisch gewarnt, sie solle ihren Film nicht zeigen.
Tzunami kümmert das alles nicht, sorglos tanzt sie auf und davon, während wir dasitzen und sie vermissen werden.

Cuba 15. Regie: Elisabeth Schub. USA 1997, 13 Minuten

“Der Krieg wird in den höchsten Sphären der Regierung geplant”

Wie kann der mexikanische Innenminister Emilio Chauyffet (mittlerweile zurückgetreten, d. Red.) weiterhin darauf beharren, es handele sich bei dem Massaker von Acteal um das Ergebnis von “interkommunitären” Konflikten. Schließlich besteht kaum mehr ein Zweifel daran, daß Mitglieder der Regierungspartei PRI in den Überfall paramilitärischer Gruppen involviert waren?

So soll versucht werden, einen Konflikt zu verdunkeln, der Teil eines umfassenderen, staatlich geplanten Krieges ist. Als religiöses Problem konnte die Situation in der Region Chenalho nicht dargestellt werden, da sowohl der Bürgermeister von Acteal als auch der Bürgermeister der autonomen Gemeinde von Chenalho Presbyterianer sind. Also wird nach einem anderen Vorwand gesucht. Und deshalb wird der Konflikt als interkommunitär dargestellt. Der Innenminister versucht die Regierungsstrategie zu verheimlichen, die darin besteht, nicht die Armee sondern die PRI-Basis auf die EZLN loszujagen, und so Konflikte an der Basis auszulösen.

Die Regierungsstrategie scheint darauf hinauszulaufen, öffentlich zu erklären, daß alle Konfliktparteien, also Paramilitärs und EZLN, “verhandeln” müßten. Das Ergebnis solcher Verhandlungen kann dann natürlich nur die Rückkehr zum vorherigen Status Quo sein. Wie wird die Conai gegenüber einer solchen Strategie reagieren?

In der Geschichte von Chiapas hat es bereits zwei Mal Indianer-Kriege gegeben, die auch Aufstände gegen die Marginalisierung, den Rassismus, die Armut und die Ausbeutung waren. Auch damals wurden von Regierungsseite andere Konfliktursachen vorgeschoben. Heute werden paramilitärische Gruppierungen geschaffen, um sie der EZLN gegenüberzustellen. Die Regierung will dann als Vermittler auftreten, obwohl sie doch die Hauptverantwortung für diese Strategie trägt. Als Conai sprechen wir weder für die Regierung, noch für die EZLN. Wir wollen die Seiten nur einander näherbringen und die Verhandlungen erleichtern. Aber man darf nicht vergessen, daß die EZLN fünf Bedingungen gestellt hat, um die Gespräche mit der Regierung wieder aufzunehmen. Eine davon ist die Auflösung der paramilitärischen Gruppen. Die Verhandlungen sollen mit der Regierung und nicht mit den Paramilitärs stattfinden. Diese Bedingung wurde bisher nicht erfüllt. Und hier ist die Regierung gefragt und nicht die EZLN.

Eine ähnliche Situation existiert auch in Kolumbien, wo die Guerilla es ablehnt, mit den Paramilitärs zu verhandeln, da sie die Gesamtverantwortung bei der Regierung sehen. In den letzten Monaten erinnert die Situation in Chiapas stark an Guatemala und Kolumbien …

Ja, es ist das gleiche Schema, auch wenn sich die Situation in Mexiko doch unterscheidet. Die EZLN ist unter anderen Bedingungen entstanden. Es gab keine Sowjetunion und auch kein sandinistisches Nicaragua mehr. Kuba ist auch keine Unterstützung, die Berliner Mauer ist gefallen, und wir befinden uns mitten in einem Prozeß nationaler und internationaler Neuordnung der Kräfte. Dann spielt natürlich auch die Form eine Rolle, in der sich die EZLN auf internationaler Ebene bewegt hat. Das hat zu einer großen Solidarität geführt, so daß es bisher nicht zu einem Vernichtungskrieg wie anderswo gekommen ist, und wie es die Regierung ursprünglich vor hatte. Diese Bedingungen schaffen für die Zivilgesellschaft Möglichkeiten zu intervenieren. International wird von der Solidaritäts-Bewegung etwa versucht, Mexikos Ökonomie zu treffen. Zum Beispiel wird versucht, Druck auszuüben, damit die Staaten der EU sich gegen die Ratifizierung des Abkommens mit Mexiko aussprechen, wenn es nicht eine minimale Respektierung der Menschenrechte gibt.

Wie sieht die “Kriegsführung niederer Intensität” in Mexiko genau aus?

Zentral ist, daß die Regierung natürlich nicht zugibt, daß Krieg herrscht. Zudem kann man beobachten, daß die Paramilitärs genau in den Gebieten der EZLN auftauchen und geographisch eine Barriere Richtung Küste und dem Gebiet der geplanten interozeanischen Verbindung bilden. (Siehe LN 283) Dort sind die besseren Böden und in dieser Region sollen auch Freihandelszonen entstehen. Daher soll es dort, wo die unmittelbaren ökonomischen Interessen stark sind, ruhig bleiben, während es ansonsten egal ist, ob sich die Indios umbringen. Hier wird das ganze Gebiet vom Aufbau paramiltärischer Gruppen erfasst. Wenn wir uns die Karte anschauen, so stellen wir fest, daß überall erst die Nationalpolizei Seguridad Publica Präsenz zeigt. Sie schürt die Konflikte in den Gemeinden. Irgendwann tauchen dann Leichen auf und die Polizei präsentiert der Öffentlichkeit die Situation als Gemeindekonflikt, Hexerei oder anderes. Alldem liegen natürlich politische Konflikte zugrunde: Die Leute sind aufständisch geworden, sie wollen diese Regierung nicht mehr, aber auch nicht den Krieg. Es ist offensichtlich, daß dieser Krieg in den höchsten Sphären der Regierung geplant wird, und so dienen auch viele Regierungsumbildungen einzig dem Ziel, diese Kriegsführung zu verfeinern. Es wurde bereits nachgewiesen, daß jede paramilitärische Gruppe an einen Abgeordneten gebunden ist. Man sieht also, es handelt sich um ein gut durchdachtes Schema, mit dem die PRI-Gemeinden militärisch organisiert werden. Das ganze läuft in direkter Verbindung mit einer zunehmenden Militarisierung der Region. So findet sich dann auch unter dem Dokument, das die paramilitärische Gruppe Paz y Justicia von Seiten der Regierung mehrere Millionen Pesos für “Anbau und Viehzucht” zukommen läßt, keine einzige Unterschrift aus der zuständigen Behörde. Dafür aber die des Oberbefehlshabers der 7. Militärregion, Mario Renan Castillo. Die paramilitärischen Gruppen sind der Vorhang, hinter dem sich die Armee versteckt. Militär und Polizei bilden die Paramilitärs für den Krieg gegen die zapatistischen Gemeinden aus, tauchen aber selbst nicht auf und können so für die Taten nicht angeklagt werden. Daß die PRI-Gemeinden sich die Hände schmutzig machen, oder der Bürgermeister von Chenalho inhaftiert wird, ist ein tragbares Opfer, solange Polizei und Armee sauber bleiben. Dieses Vorgehen ist einerseits die Folge davon, daß Armee und Polizei in bestimmte Gebiete nicht mehr eindringen konnten und – auf Kosten der 45 Toten – andererseits der Vorwand, um jetzt genau dort hinein vorzudringen. Das System und die Regierung tauchen nicht mehr auf. So soll verhindert werden, daß man sie verantwortlich machen kann.

Der Weg entsteht beim Gehen

Erst nachdem der mexikanische Krimischriftsteller ein Buch über Che Guevaras Zeit im Kongo geschrieben hatte (“Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren, LN Nr. 269), wagte er sich an eine Gesamtbiographie heran. “Es ging darum, ein Geschichtsbuch mit der Gewissenhaftigkeit eines Historikers zu schreiben, aber mit einer Technik, die ermöglicht, das Buch zu lesen, als wäre es ein Roman”. Dadurch, daß Taibo vorwiegend aus der Sichtweise von Augenzeugen erzählt sowie lange Passagen von Che Guevaras eigenen Aufzeichnungen einarbeitet, kann so etwas wie eine weihevolle Distanz erst gar nicht entstehen.

Aufschlußreiches aus der “Frühphase”

Gerade dadurch, daß Ernesto Guevaras “Frühphase” – der Zeit, als er als abenteuerlustiger, politisch noch recht unbedarfter Medizinstudent durch den Kontinent trampte – viel Raum eingeräumt wird, entsteht zunächst das Bild einer Person mit enormer, aber keineswegs zielgerichteter Energie: Einer, der sein Medizinstudium nur halbherzig betreibt, aber leidenschaftlich gern liest. Einer, der es mit der Hygiene nicht so genau nimmt und sich trotz seines Asthmas enorme körperliche Strapazen zumutet. Einer, dem Geld nichts bedeutet, Freiheit dafür umso mehr.
Auch die Beschreibung der Exilkubaner, die Ernesto in Mexiko-Stadt kennenlernt, läßt nicht per se auf künftige Revolutionäre schließen: Während aus Ches Tagebuch zitiert wird, es sei “ein politisches Ereignis, Fidel Castro kennengelernt zu haben”, führt Taibo dessen Bruder Raúl als jemanden ein, “der von der Vorstellung besessen ist, Torero zu werden”. Seine Ironie und die Vorliebe für skurrile Details inmitten “historisch relevanter” Ereignisse machen Taibos Buch nicht nur politisch und psychologisch aufschlußreich, sondern auch unterhaltsam. Dies gilt besonders für die Episoden über Ches Reisen durch Lateinamerika sowie die ersten Jahre nach der Revolution. Dagegen ordnen sich die langen Kapitel aus der Zeit der Guerilla auf Kuba beziehungsweise später im Kongo und in Bolivien dem Rhythmus der alltäglichen Strapazen und Schlagabtäusche unter. Das ist streckenweise sehr ermüdend. Gleichzeitig bewirkt die Zähigkeit dieser Passagen, daß eine Verherrlichung des Guerilladaseins vermieden wird. Taibo wendet sich gegen die “von einigen Chronisten falsch behandelte Mythologie der Invasion”. Seiner Meinung nach ist die eigentliche Leistung nicht “in den kleineren militärischen Heldentaten Ches zu suchen, sondern im gewaltigen 47tägigen Marsch unter unmenschlichen Bedingungen, in der Hartnäckigkeit und Umsicht eines Che, der (…) eine glänzende Fähigkeit zur Durchführung von Ausweichmanövern an den Tag legt, die seinem kämpferischen Charakter ganz fremd sind.” Besonders beeindruckt Taibo, daß Comandante Che offenbar in entscheidenden Momenten auch in der Lage war, vom klassischen Heldengehabe Abstand zu nehmen. So zitiert er die Aussage des argentinischen Journalisten Rodolfo Walsh: “Ich kann mich an keinen Anführer einer Armee, keinen General und keinen Helden erinnern, der sich selbst bei zwei Gelegenheiten als Flüchtenden beschrieben hat.”

Teilen bis zum letzten Bonbon

So versiert Che Guevara als Comandante eines Guerilla-Fokus dargestellt wird, so deutlich ist die Kritik daran, daß dieser den Stellenwert subversiver Tätigkeiten in den Städten unterschätzt habe. Das gilt sowohl für den Kampf gegen die Batista-Diktatur als auch für Ches spätere Bereitschaft, in Bolivien auch ohne ausreichende Unterstützung linker Parteien und Gruppierungen zu den Waffen zu greifen. Wenn man das Projekt in Bolivien aus historischer Perspektive betrachtet, erscheint Ches aktionistische Ungeduld fatal. Wenn man, wie Taibo dessen persönliche Erfahrungen chronologisch nachvollzieht, wird die innere Logik sichtbar: Che steckte der gescheiterte Guerillakrieg im Kongo in den Knochen, die frustrierenden Querelen zwischen ihm und den lokalen Guerillaführern, die zu einer monatelangen Selbstblockade geführt hatten.
Eine Fülle von Beispielen illustrieren Che Guevaras politische Integrität, seinen kompromißlosen Egalitarismus und die gigantischen Anforderungen, die er nicht nur an sich, sondern auch an seine revolutionären WeggefährtInnen stellte. Schmunzelnd und beeindruckt zugleich gab Taibo bei seiner Buchlesung die Geschichte zum besten, wie Che nach einem langen Marsch sogar sein letztes Bonbon entzweigehackt und mit den anderen Guerilleros geteilt habe. Che als asketischer linker Säulenheiliger? Che als moralisches Über-Ich? Davor rettet ihn die Tatsache, daß Taibo mit liebevoller Akribie auch seine kleinen Laster und Inkonsequenzen kolportiert. Beispielsweise Ches Versuch, seine Ärzte, die dem Asthmakranken nur eine Zigarre pro Tag erlaubt hatten, mit einer ein Meter langen Havanna auszutricksen. Immer wieder blitzt sie auf, diese für Che offenbar typische Mischung aus Verschlossenheit und sarkastischem Humor, unverwüstlichem Optimismus und naiver Unbefangenheit körperlichen Gefahren gegenüber.
Was Ches Beziehungen zu Frauen angeht, mokiert Taibo sich darüber, daß diese bisher in der Literatur mit einer Vorsicht behandelt worden seien, die an “viktorianischen Puritanismus” grenzen. In seinem Buch erscheint der post mortem zum schönsten linken Popstar avancierte Che nicht gerade als romantischer Held, geschweige denn als “hombre nuevo”. Ches erste Ehe zu der Peruanerin Hilda Galdea lavierte laut Taibos Darstellung zwischen pragmatischer Zweckbeziehung unter politischen Gleichgesinnten und dem zerquälten Versuch, daraus eine Liebesgeschichte zu machen. Die langjährige Ehe zu der kubanischen Guerillera Aleida March scheint dagegen weitaus harmonischer gewesen zu sein. Über die “außergewöhnlich bescheidene” Aleida, die sich bis heute weigert, Interviews zu geben, taucht laut Taibo in den “Hunderten von Büchern über die kubanische Revolution” kein einziger biographischer Hinweis auf. So ist nur bekannt, daß sie nach außen hin die Aktivitäten ihres Gatten immer loyal mit getragen hat – inklusive dessen “schlechter Gewohnheit, sich außerhalb von Kuba zu befinden, wenn seine Kinder geboren werden”.

Der “hombre nuevo” als abwesender Vater

Che Guevaras ideologische Orientierungssuche versucht der Biograph mit kritischer Sympathie nachzuvollziehen. So hätte dieser erst im Laufe des revolutionären Prozesses, als er bereits Verantwortung trug, konkretere politische und ökonomische Vorstellungen entwickelt. Anschaulich schildert Taibo das produktive Chaos in Ches Industrieministerium: Während er einerseits als Direktor der Zentralbank fungierte und sich mit ungeheurem Tatendrang an Programme zur Importsubstitution machte, nahm er nebenbei noch Nachhilfestunden in Mathematik. So skurril der anfängliche Dilettantismus der jungen Revolutionäre wirkt, so beeindruckend ihre enorme Lernfähigkeit. Während das Buch darlegt, wie Ches Kritik an der Sowjetökonomie immer lauter wurde – wobei er interessanterweise noch zentralistischere Positionen vertrat – kritisiert Taibo Guevaras unkritische und unwissende Haltung in Bezug auf die politischen Deformierungen des realexistierenden Sozialismus: “Er war ein Gefangener des Neandertal-Marxismus.” Auch wenn Che sich gegen die zunehmende Bürokratisierung gewandt habe und “hinter den Kulissen als ‘Linksabweichler’ bezeichnet” worden sei, wären es paradoxerweise Che und Raúl gewesen, die den Lehrbuchmarxisten die Tür zum revolutionären Raum geöffnet” hätten. Ches Verachtung der Macht und die Tatsache, daß er in die Probleme der Industrie vertieft gewesen sei, hätten dazu geführt, daß er kaum bemerkt habe, in welchem Maße “das Sektierertum und der Autoritarismus” allmählich die Debatte innerhalb der Führungsriege beherrschten. Ab einem gewissen Zeitpunkt habe Che jedoch gespürt, “daß man zu den angeblichen Häresien des Marxismus zurückkehren und sie vorurteilslos untersuchen muß.” Gleichzeitig widerspricht Taibos Biographie energisch den Mutmaßungen, Ches Abschied aus Kuba sei Ergebnis eines Zerwürfnisses mit Fidel Castro oder gewesen – oder Ausdruck der Sehnsucht, als Guerillero den Märtyrertod zu sterben. “Che war absolut nicht suizidgefährdet.” Bei der Ungeduld, mit der er sich in die Guerillaexperimente im Kongo und in Bolivien stürzte, läßt Taibo die Frage offen, welchen Anteil dabei Ches Glaube an die Erfolgsaussichten dieser Revolutionsprojekte hatte – und welchen Anteil das, was er in einem Brief an seine Eltern als “Abenteuerlust” und “Begierde, geschichtliche Höhepunkte zu erleben”, bezeichnete.

Neanderthaler-Marxismus und Machtverachtung

Taibo ist es gelungen, den Helden ein Stück vom Sockel zu holen, ohne ihn zu demontieren. Dadurch, daß seine Biographie weniger aus der historisch-analytischer Rückschau, sondern aus damaliger Perspektive argumentiert, entsteht ein äußerst lebendiges Bild. Und gleichzeitig so etwas wie eine schriftstellerische Reflexion über den Satz “El camino se hace andando” – “Der Weg entsteht beim Gehen”. Trotz aller spöttischen Distanz zum Che-Kult kommt Taibo zu dem Schluß: “Im Zeitalter des Schiffbruchs ist er unser weltlicher Heiliger. Fast 30 Jahre nach seinem Tod geht sein Bild quer durch alle Generationen, sein Mythos tummelt sich mitten in den Größenwahndelirien des Neoliberalismus: rücksichtslos, spöttisch, hartnäckig, moralisch hartnäckig und unvergeßlich.”

Paco Ignacio Taibo II: Che – Die Biographie des Ernesto Guevara, Edition Nautlius, 1997, 697 Seiten, 69,80 DM (ca. 35 Euro).

Cuba, Chiapas, Canudos und Cincoesquinas

Was die Anzahl lateinamerikanischer Filme angeht, wird die diesjährige Berlinale (11. bis 22. Februar) leider ziemlich unterbelichtet sein: zwei Spielfilme aus Argentinien, zwei aus Brasilien, ein kanadischer Dokumentarfilm über Chiapas sowie zwei US-amerikanische Dokumentationen über Kuba – so der Informationsstand bei Redaktionsschluß am 22. Januar. „Un Crisantemo estalla en Cincoesquinas“ („Eine Chrysantheme explodiert in Cincoesquinas“) von dem 24jährigen Argentinier Daniel Burman spielt in einem nicht näher definierten südamerikanischen Land, das von Bürgerkriegen und dem General „El Zancudo“ heimgesucht wird. Vor exzellent fotographierter, aber ohne jegliche Ironie überzeichneter Kulisse agieren Caudillos, Rächer der Entrechteten, Huren und Heilige. Der zweite argentinische Film, „Invierno, mala vida“ („Winter, schlechtes Leben“) von Gregorio Cramer, der im heutigen Patagonien spielt, erinnert dagegen mit seiner lakonischen Erzählweise und alkoholgetränkter Männermelancholie an Kaurismäkis Filme vom anderen eisigen Ende der Welt.
Die beiden US-amerikanischen Dokumentarfilme „Cuba 15“ von Elizabeth Schub und „Midnight in Cuba“ von Dimitry Falk nähern sich dem heutigen Kuba, indem sie Jugendliche porträtieren. Der Pressetext zu „Midnight in Cuba“ läßt eine gewisse Selbstüberschätzung des Regisseurs befürchten: „For the first time, the world will be introduced to the hopes and dreams of Cuba’s forgotten generations.“ A ver, a ver! Dagegen beschränkt sich der schlichte, aber amüsante und aufschlußreiche Kurzfilm „Cuba 15“ auf ein Mädchen, das seinen 15. Geburtstag feiert – für jede Kubanerin ein symbolträchtiges, von Festen und Fototerminen flankiertes Datum.
Auch wenn Brasilien, dem letztes Jahr ein Schwerpunkt des Berlinale-Forums gewidmet war, diesmal nur mit zwei Filmen vertreten ist, darf man auf diese sehr gespannt sein. Zum einen ist „Guerra de Canudos“ („Der Krieg von Canudos“) von Sergio Rezende zu sehen, der mit 6 Millionen Dollar teuerste brasilianische Film aller Zeiten. Das fast dreistündige Monumentalepos rekapituliert die blutige Niederschlagung des Aufstands der Bauern von Canudos und ihres Anführers, des messianischen Predigers Antonio Conselheiro. Im Herbst letzten Jahres kam der Film in die brasilianischen Kinos, unmittelbar nach dem 100. Jahrestag des Massakers, das auch heute noch eine offene Wunde in der brasilianischen Geschichte darstellt (vgl. LN 279/280).
Im Wettbewerb der Berlinale hat – neben dem Mexikaner Alfonso Cuaron und dessen in den USA produzierter Charles Dickens’ Adaption „Great Expectations“ – auch der Brasilianer Walter Salles einen Film plazieren können: In „Central do Brasil“ irrt ein kleiner Junge auf der Suche nach seinem Vater durch das Land. Die Suche nach den eigenen Wurzeln war schon treibendes Motiv in „Terra Estrangeira“, Salles’ wütendem, melancholischen und wunderschönen Erstlingsfilm. Darin verschlug es den Protagonisten von São Paulo nach Portugal. Nun findet Salles’ neuester Film den Weg von Brasilien nach Berlin.

Gott ist viele

Warum gerade Altäre? Wir stehen mit den Zehen im Sand an der atlantischen Küste Brasiliens, sehen das Meer rauschen, es dunkelt. Auf dem Strand sind halbmetergroße Vertiefungen gemacht, Kerzen darin, weiße Blüten, Früchte. Es ist – alle Jahre wieder – Silvester an der Copacabana, und Tausende strömen zusammen, um Yemanjá ein kleines Opfer zu bringen. Yemanjá, der Göttin der Wasser und des Überflusses in der Yoruba-Religion. Manche verspritzen Champagner, schäumend wie die Gischt; es kommen immer mehr, bis der Strand um Mitternacht ein langes Band flackernder Lichter ist.
Oder aber: Es ist – zwei Monate lang – Ausstellung in Berlin. Der Raum mit dem Meer ist kaum erleuchtet, Wellen und Wolken sind gemalt, der Strand so breit, wie ein Arm lang ist, und die Kerzen flackern elektrisch. Das Ganze ist vielleicht zwanzig Meter lang, daneben weiße Wand, um uns herum spricht man deutsch und ist warm angezogen.
Szenenwechsel. Wir sehen einen Vorgarten, im Rechteck abgezäunt von bunten, wassergefüllten, von innen erleuchteten Plastikkanistern. Ein Drahtzäunchen, an dem der Schädel eines Tieres hängt, ein Wagenrad, zwei Baumstümpfe, auf denen rote Propellerschrauben liegen. Und dann das Haus – an die Wand gemalt –, daran hängen zwei Puppen, die eine sieht dem Betrachter starr entgegen und hat einen Revolver vor dem Bauch. Die eigentliche Szene: Black Austin, Texas. Die uneigentliche: Berlin.
Das Haus der Kulturen der Welt präsentiert eine Zusammenstellung höchst unterschiedlicher Altäre der Yoruba- und der Kongo-Religion. Die Yoruba stammen aus dem mittleren Westafrika, die Kongo aus Zentralafrika – es waren die europäischen Kolonialmächte, die Millionen von AfrikanerInnen aus ihrer Heimat rissen und als Sklaven nach Amerika brachten. Die afrikanischen Sprachen sind in Amerika über die Jahrhunderte weitgehend verloren gegangen, denn auf den Plantagen waren Englisch und Spanisch, Französisch und Portugiesisch vorgeschrieben. Die Religionen sollten gleichfalls getilgt und durch christliche Konfessionen ersetzt werden, allein das gelang nicht. Zwar haben sich die vielfältigen afrikanischen Religionen vermischt, sind viele verschwunden oder in anderen aufgegangen, einige vermochten aber zu überleben. Yoruba und Kongo sind die größten davon. Nur durch Klandestinität war dies möglich – oder aber durch die Maske christlicher Heiligenbilder, denen nun wirklich nichts Afrikanisches nachzuweisen war, hinter denen sich aber andere Gottheiten verbergen ließen – und nach wie vor lassen: Die „afro-atlantischen“ Religionen haben in Amerika, vor allem in Brasilien, auf den Antillen (Kuba, Haiti, Puerto Rico) und in den USA millionenweise Anhänger. Es ist also gut und sinnvoll und an der Zeit, diese Religionen zum Thema zu machen – das hat nicht allzu viel Tradition.
Aber noch einmal die Frage: Warum gerade Altäre?
Nach Meinung der AusstellungsmacherInnen stehen Altäre „im Mittelpunkt der afrikanischen Religionen“, sie sind in vielfacher Hinsicht räumlicher Bezugspunkt der Gläubigen. Auf Yoruba und Kongo wird das bereits aus den Entsprechungen des Wortes „Altar“ deutlich: Dort heißt es „Anlitz der Götter“ beziehungsweise „Wendemarke“ im Sinne von Schnittpunkt materieller und immaterieller Welt. Altäre werden also, da sie als sichtbare Momente von Religiosität gelten, für besonders aussagekräftig über diese Religionen gehalten. Das ist sicherlich richtig, und doch ist es sehr problematisch.
Man stelle sich vor: In Brasilia werden 15 gotische Altäre aus Norddeutschland gezeigt. Was würde der brasilianische Besucher daraus über die Religiosität der spätmittelalterlichen Hansestädte ablesen können?
Es hängt also davon ab, was wir von dieser Ausstellung erwarten. Sie ist nicht „ethnologisch“, sie zeigt nicht, was und wie die Yoruba- und Kongo-AnhängerInnen glauben. Die Begleittexte geben dazu zwar einige Hinweise, aber viel zu wenige, und vor allem die Exponate selbst leisten das nicht. Manchmal läßt sich ein Detail dessen erhaschen, beispielsweise durch das Foto auf dem Ausstellungsplakat: Man sieht eine Straße, weiter hinten Autos, ganz vorn aber erleuchten an einem Bordstein Kerzen den Asphalt. Wir können ahnen, daß die Religiosität inmitten ganz normalen großstädtischen Lebens stattfindet, daß sie alltäglich ist und ihre Manifestationen weniger auf geregelte, an Tempel oder Kirchen gebundene Rituale angewiesen sind. Aber selbst das wird nicht ganz klar.
Wohl geben manche der (zu klein gedruckten und zu schlecht beleuchteten) Wandtexte Erklärungen über den erstaunlich differenzierten Pantheon und seine Versinnbildlichungen ab. Wir lesen sie mit dem gleichen Interesse wie den historischen Teil in Reiseführern, versuchen, uns Namen zu merken und vergessen die meisten wieder. Über den gelebten Alltag wissen wir immer noch nichts. Warum keine Fotos von den Altären an ihrem Originalstandort (oder, wenn sie Nach- oder Neubildungen sind, von vergleichbaren Orten)? Warum nur Altäre und keine weiteren Kultgegenstände, keine Fotos oder Filme von Menschen?
Ein ganz anderer Blickwinkel wäre – und da ist der Ausstellung weitaus mehr abzugewinnen –, es einfach dabei zu belassen: Wir sehen Altäre. Zwar von Völkern, von denen wir als NichtspezialistInnen fast nichts wissen, aber geschenkt. Was macht eigentlich das Besondere, ja Heilige an diesen Altären aus? Warum „besitzt“ das Wäldchen aus blau-weiß gestreiften Tüchern oder der Flaschenbaum oder eben die Szene am Meer eine Ausstrahlung? Beruht ihre Kraft auf der künstlerischen Komposition, auf dem musealen Rahmen – oder ist noch etwas anderes berührt? Die Altäre wirken offen, undogmatisch, man kann in ihnen lesen, ohne initiiert zu sein – haben die afrikanischen Religionen in Amerika deshalb solchen Zulauf, gerade auch von Nicht-Schwarzen? Bieten sie wie andere Religionen oder mystische Richtungen der Welt Optionen für das wachsende Bedürfnis nach Spiritualität im „Westen“? Oder bedeutet der Zulauf vielmehr, daß nach einer langen Phase westlich-rationalistischer Dominanz nun auch verschüttete und unterdrückte Kulturformen zu ihrem Recht kommen?
Solchen Gedanken läßt sich bei Berlins trüber Gräue in der Ausstellung gut nachhängen. Manches ist zu bekritteln – so, daß in einem Haus dieses Namens alle Wandtexte nur auf Deutsch sind, daß der englischsprachige Katalog ein Fachbuch und unerschwinglich ist (118 Kröten) – statt dessen gibt es ein „Special“ im Zeitungsformat mit ganzen zwei Textseiten zur Ausstellung.
Dennoch lohnt sie sich. Denn vom Strand mit den Kerzen und von den vielen anderen Altären, die einem lange nicht aus dem Kopf gehen wollen, trennt man sich ungern.

Haus der Kulturen der Welt, Berlin, John-Foster-Dulles-Allee 10: „Face of the Gods“, bis 15.3., Di-So 11-18 Uhr.

„Bora Fuera!“

Wohl nirgendwo sonst auf der Welt würde ein nationaler Fußballverband auf die Idee kommen, einen Trainer zu entlassen, der seine Mannschaft ohne Niederlage und als Gruppenerster zur WM-Teilnahme führt. Auch schwer vorstellbar ist es, daß sechs Monate vor Beginn der WM ein Teamchef, der seit über zwei Jahren die Elf leitet und bereits bei drei Weltmeisterschaften dabei war, seines Amtes enthoben wird. Und geradezu unglaublich mutet es an, wenn sein Nachfolger jener Manuel Lapuente ist, der bereits 1991 die Nationalmannschaft coachte und nach einer historischen 0-5 Niederlage gegen die USA geschaßt wurde. Inwieweit die Konzernbosse des TV-Giganten Televisa – immerhin Besitzer der erfolgreichen Erstligaclubs América, Necaxa und Atlante – bei diesem Deal ihre Hände im Spiel hatten, bleibt aber bis auf weiteres Spekulation. Denn gerade in Mexiko ist Korruption kein unbekanntes Wort.
Erfolg wird auch in Mexiko groß geschrieben. Doch während sich europäische Teams und deren KritikerInnen trotz leidlicher Leistungen ihrer Spieler mit positivem Punkte- und Torekonto – Hauptsache der Tabellenstand stimmt – zufriedengeben, werden in Mexiko die Akzente anders gesetzt. Siege müssen her, und nur deren Höhe zählt. Diese Tatsache mit sportlichem Ehrgeiz zu verwechseln, wäre fatal. Schließlich geht es dabei nur zu einem kleinen Teil um das weltweit oft zitierte Ziel, den ZuschauerInnen für das teure Eintrittsgeld ebenbürtige Leistungen zu bieten. Vielmehr offenbart sich in der jetzigen Situation ein durch und durch unangenehmer Chauvinismus. In diesem Sinne waren die Gründe für die Entlassung Boras auch nicht der mangelnde Erfolg, sondern die Tatsache, daß die karibischen, zentral- und US-amerikanischen Kontrahenten nicht deutlich genug in die Schranken verwiesen wurden. So wurde dem mexikanischen Teamchef noch immer das an der Eitelkeit der mexikanischen Nation zehrende 5-1 gegen die St. Vincent Islands 1996 vorgehalten. Zum ersten Mal wurden die Kariben nicht zweistellig nach Hause geschickt und, was noch viel schlimmer ist, sie schossen im Azteken-Stadion sogar ein Tor.

2:2 in Kanada

Nach der durch Niederlagen in Honduras und Jamaica verkorksten Zwischenrunde, schien für Bora und seine Equipe alles planmäßig zu laufen. Deutliche Heimsiege über Kanada (4:0), Jamaica (6:0) und El Salvador (5:0) versöhnten das Publikum. Auch die Auswärtsspiele in Costa Rica (0:0), den USA (2:2) und El Salvador (1:0) konnten sich sehen lassen. Dann ging es am 12. Oktober zum Gastspiel ins Commonwealth-Stadion nach Edmonton. Auf gefrorenem Boden gelang Mexiko ein 2:2 Unentschieden gegen Gastgeber Kanada und damit die WM-Qualifikation. Doch im eigenen Land war von Freude keine Spur. „Schande“ titelten die Zeitungen, da ein Punkt an den Tabellenletzten abgegeben worden war.

0:0 gegen die USA

Am 2. November, dem „Tag der Toten“, empfing Mexiko im mit rund 100.000 ZuschauerInnen nicht ganz ausverkauften Azteken-Stadion die USA. Nach einem munteren Beginn entwickelte sich das Spiel zu einem katastrophalen Kick. Die USA zogen sich nach einem Platzverweis ihres Verteidigers Jeff Agoos in die eigene Hälfte zurück. Rund eine Viertelstunde vor Schluß wurde es dann plötzlich laut im Stadion. Das Publikum war aus der Lethargie erwacht, die Stimmung drehte sich. Mit frenetischem Beifall wurden alle Aktionen der Gäste beklatscht, während jeder Ballkontakt der mexikanischen Spieler ein gellendes Pfeifkonzert nach sich zog. Die „Bora Raus“-Chöre waren unüberhörbar.

3:3 gegen Costa Rica

Nur eine Woche später sollten die ZuschauerInnen für die desolate Vorstellung entschädigt werden. Doch nur 60.000 Menschen strömten in das gigantische Betonmonument in Mexiko-Stadt, um das vorletzte WM-Qualifikationsspiel gegen Costa Rica live mitzuerleben. Am Ende gab es das erste Unentschieden überhaupt, das die „Ticos“ in Mexiko erreichten, eine Tatsache, die ebenfalls Bora angekreidet wurde.

0:0 in Jamaica

Das letzte Spiel hatte für Mexiko, das als Gruppensiegerschon feststand, nur noch statistischen Charakter. Die USA hatten sich durch einen 3:0 Auswärtssieg in Kanada qualifiziert. Somit blieb am letzten Spieltag der CONCACAF-Gruppe nur noch offen, ob Jamaica oder El Salvador nach Frankreich fahren würden. Die weitaus besseren Chancen besaßen die Spieler aus der Karibik, da sie in der Vorwoche dem direkten Konkurrenten in San Salvador ein 2:2 abgetrotzt hatten. Diese spannungsgeladene Begegnung war zwar vorentscheidend, theoretische Chancen besaßen die Zentralamerikaner jedoch weiterhin. Aber trotz einer bravourösen kämpferischen Leistung – nach einem 0:3 Halbzeitrückstand kamen sie auf 2:3 heran – verlor El Salvador mit 2:4 in den USA. Gleichzeitig erspielten sich Jamaica und Mexiko in Kingston ein unansehnliches 0:0. Mexiko wollte nicht verlieren, Jamaica benötigte einen Punkt, die Taktik bestimmte das Spiel. Ob schön gespielt oder nicht, in Kingston herrschte Karnevalsstimmung. Nach Kuba 1938 und Haiti 1974 ist Jamaica nun das dritte Land der Karibik, das an einer Fußball-WM teilnimmt.
Das 0:0 in Kingston bedeutete für Mexiko, die Endrunde der CONCACAF ohne Niederlage beendet zu haben, für Bora jedoch das Aus. Am 25. November wurde er gefeuert. Wie sinnvoll diese Entscheidung war, wird sich zeigen. Denn eins ist sicher. Kaum ein Trainer der Welt hat derartig viel Erfahrung mit WM-Turnieren wie Bora Milutinovic. 1986 erreichte er mit Mexiko die zweite Runde und scheiterte erst im Elfmeterschießen an der BRD. 1990 – Mexiko war von der FIFA wegen Fälschungen von Spielerpässen gesperrt worden – gelangen ihm mit Costa Rica spektakuläre Siege über Schottland und Schweden, und seine Mannschaft scheiterte erst – allerdings mit 1:5 deutlich – an der CSFR. 1994 führte er Gastgeber USA nach einem historischen 2:0 Sieg über Kolumbien in die zweite Runde. Der 53-jährige Manuel Lapuente, 1995 und 1996 zweimaliger mexikanischer Meister mit Necaxa, hat ein schweres Erbe angetreten.

Kooperation mit dem Heiligen Stuhl

Die erste Einladung Castros aus dem Jahre 1989 war vom Vatikan ausgeschlagen worden, doch gleichzeitig bildete sie den Auftakt einer Annäherung auf höchster Ebene. Kein geringerer als der Außenminister des Vatikans, Erzbischof Jean-Louis Tauran, hatte die Voraussetzungen des päpstlichen Besuches ausgehandelt und die tiefen Gräben zwischen katholischer Kirche und Staat zumindest teilweise zugeschüttet.
Zum über lange Jahre angespannten Verhältnis zur kubanischen Regierung hatte der katholische Klerus allerdings viel beigetragen: Einerseits waren zahlreiche Geistliche recht eng mit Diktator Batista und seinen Handlangern liiert, andererseits opponierten sie früh gegen die Politik der Revolutionsregierung. Eindringlich wurde von der Kanzel vor der ersten Agrarreform vom Mai 1959 gewarnt, da die katholische Kirche wie auch der in ihr beheimatete Ober- und Mittelstand befürchtete, von den Enteignungen negativ betroffen zu werden. Eine Unterstützung der tiefgreifenden sozioökonomischen Veränderungen kam für sie nicht in Betracht, was mittlerweile selbstkritisch zugegeben wird. Bis Ende 1960 veröffentlichten die kubanischen Bischöfe eine Serie von Hirtenbriefen, in denen sie die Legitimität der Regierung in Zweifel zogen und vor kommunistischen Einflüssen warnten – aus religiösen Prozessionen wurden in der Folgezeit wiederholt antirevolutionäre Demonstrationen, und Priesterseminare dienten als Informations- und Planungszentren für den Umsturz der Regierung.
Zum endgültigen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen den bärtigen Revolutionären um Castro und ‘Che’ Guevara und der Kirche wurde die Invasion in der Schweinebucht. Zahlreiche Kleriker hatten die Invasion begrüßt, einige an deren Vorbereitung teilgenommen, und drei von ihnen setzten ihren Fuß mit der Invasionsbrigade auf die Insel, womit das Tischtuch zwischen der katholischen Kirche und der Regierung endgültig zerschnitten war. Den im Gegensatz zu den sozialistischen Regierungen Osteuropas nicht von vornherein atheistisch ausgerichteten kubanischen Revolutionären riß der Geduldsfaden. Katholische Priester wurden festgenommen und ausgewiesen, Einrichtungen der Kirche, wie das Belén-Gymnasium oder Klöster, geschlossen, und fortan wurde die katholische Kirche mit wenig Wohlwollen betrachtet. Binnen weniger Monate sank die Zahl katholischer Geistlicher auf der Karibikinsel von über 700 auf gerade noch 200. Über 400 von ihnen wurden in ihrem eigenen Interesse in ihre Heimatländer zurückgerufen, 132 andere von der Regierung Castro ausgewiesen.
Der Preis für die sogenannten “konterrevolutionären Aktivitäten” war hoch – die Kirche verlor einen Gutteil ihres gesellschaftlichen Einflusses und sah sich gezwungen, ihre seelsorgerliche Arbeit auf Sparflamme zu betreiben. Bis Mitte der 70er Jahre währte die “Zeit des großen Schweigens”, so der katholische Begriff jener Jahre. Die andere christliche Konfession hingegen hatte wesentlich weniger Probleme mit der Revolutionsregierung. Wenige Monate nach der Revolution machte sie, die früh die Sozialreformen begrüßt hatte, ihren Frieden mit den “Bärtigen”. Auch als sich die kubanische Revolution unter dem Einfluß der Sowjetunion in den siebziger Jahren atheistischer gab, wurde das Verhältnis zwischen der evangelischen Kirche und der Regierung nie ähnlich unterkühlt wie mit der katholischen Kirche.
Erst Mitte der achtziger Jahre sollte es mit der Einrichtung der Abteilung für religiöse Angelegenheiten in der kommunistischen Partei Kubas (PCC) zu einer Annäherung zwischen Kirche und Klerus kommen, und forciert durch das Interview Castros mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto nahm die Debatte über die Rolle der Kirche in der kubanischen Gesellschaft Konturen an. An dessen vorläufigem Ende stand 1991 die Öffnung der PCC für Religionsangehörige – die formelle Diskriminierung der Kirche war Geschichte.
In den letzten Jahren hat die katholische Kirche, genauso wie die evangelische und die afrokubanischen Religionsgemeinschaften, einen enormen Zulauf zu verzeichnen, wodurch sie auch an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen hat. Sie tritt seit einiger Zeit für eine pluralistische Gesellschaft unter Beibehalt der sozialen Errungenschaften der Revolution ein, ohne die Position der USA oder die der Exilgruppen einzunehmen. Der Erzbischof von Havanna, Jaime Ortega mahnte in Hirtenbriefen 1991 und 1993 die Regierung, ihr Reformtempo zu forcieren, um gewalttätigen Auseinandersetzungen vorzubeugen, verurteilte aber gleichzeitig auch das Embargo der USA. Zudem ließ er seine Kontakte zum Vatikan spielen, um Castros spektakulären Besuch beim Papst und dessen Visite in Kuba vorzubereiten. Für Castro sind der Besuch des Papstes und dessen deutliche Worte gegen das US-amerikanische Embargo ein außenpolitischer Erfolg, der in den USA als “schwerer Schlag für unsere Kubapolitik” kommentiert wurde. Dieser außenpolitische Erfolg hat allerdings auch seinen Preis, denn der Vatikan fordert sowohl mehr Autonomie für die Kirche in Kuba als auch die Demokratisierung der kubanischen Gesellschaft. Inwieweit Castro dem nachkommen wird, bleibt abzuwarten. Ende 1996 erhielten allerdings immerhin 40 der 80 auf ein Visum wartenden ausländischen Priester und Ordensfrauen das gewünschte Papier, und auch mit seinem Begehren, öffentliche Messen halten zu können, konnte sich der Papst durchsetzen. Nicht irgendwo, sondern auf dem Platz der Revolution wird Johannes Paul II. am 22. Januar seine erste Messe in Kuba lesen.

Ein Virtuose der Macht

In der Mitte der Straße läuft es sich doppelt gefährlich: Man wird aus beiden Richtungen vom Verkehr bedroht. Diese Lebensweisheit der Eisernen Lady Margaret Thatcher hat Jorge Mas Canosa nicht nur oft und gern zitiert, er hat sie auch zeit seines Lebens beherzigt. Er war jähzornig und unberechenbar, grenzenlos eitel und unsäglich egozentrisch, doch in einem blieb er bei allem Opportunismus zuverlässig bis zum Schluß: Welche Wege er auch immer beschritt, die rechte Außenspur hat er niemals verlassen.

Vom Scheitern vor der Schweinebucht…

Jorge Mas Canosa kam am 21. September 1939 in Santiago de Cuba zur Welt. Sein Vater war im Range eines Majors als Tierarzt für die Armee tätig, der Sohn wuchs zwar nicht gerade in aristokratischen, aber doch in gesicherten Verhältnissen auf. Eifrige Biographen bemühten sich später, eine oppositionelle Haltung des Heranwachsenden zum damaligen Diktator Batista nachzuweisen. Zweifel sind allerdings erlaubt: Ehe der Offizierssohn 1957 für knapp zwei Jahre zum Jura-Studium in die USA ging, durfte der noch nicht einmal Volljährige bereits gemeinsam mit einem Freund an den Wochenenden ein eigenes Rundfunkprogramm bestreiten, – bemerkenswert viele Freiheiten für einen angeblichen Regimegegner.
Der sich zunehmend radikalisierenden Revolution, die zudem den Vater die Anstellung gekostet hatte, begegnete Jorge Mas Canosa von Beginn an mit Ablehnung. Er schloß sich illegalen Widerstandsgruppen in seiner Heimatstadt an, verteilte konterrevolutionäre Flugblätter, wurde verhaftet und wieder laufengelassen. Im Juli 1960 ging er schließlich nach Miami und ließ sich dort als Mitglied der von der CIA finanzierten Brigade 2506 einschreiben. Während aber das Gros der Truppe im April 1961 in der Schweinebucht landete und dort von den kubanischen Milizen binnen 72 Stunden restlos aufgerieben wurde, hielt das Schicksal schützend seine Hand über Mas Canosa: Das Schiff, das ihn und seine Gefährten zu einem Entlastungsangriff in der Provinz Oriente absetzen sollte, erreichte nie sein Ziel.
Glücklich zurück in den USA, absolvierte Jorge Mas Canosa einen Offizierslehrgang in Fort Benning. Dort kann er nicht durch besondere Fähigkeiten aufgefallen sein, denn wenig später verließ er die Armee wieder, ohne es weiter als bis zum Unterleutnant gebracht zu haben. Er schloß sich der Kubanischen Exil-Repräsentanz (RECE) des enteigneten Bacardí-Miteigentümers José Pepín M. Bosch an und organisierte die Umrüstung einer B-26 für Bombenangriffe auf kubanische Wirtschaftsanlagen. Dann zog er sich jedoch zurück. Zwar rechtfertigte er bis zu seinem Tod den Terror als legitimes Mittel, den Sturz Fidel Castros voranzutreiben. Die Drecksarbeit aber überließ er von nun an anderen.

..zum Boss der Exilkubaner

Mas Canosa widmete sich zunächst einem anderen Ziel: Seinem wirtschaftlichen Aufstieg. Großzügig mit Krediten versorgt, die die US-Regierung den in Florida gestrandeten Castro-Gegnern vermittelte, stieg er binnen weniger Jahre vom nahezu mittellosen Milchverkäufer zum Inhaber eines florierenden Betriebes auf, der Telefonkabel verlegte. Was nun geschah, spricht Bände über den Instinkt, mit dem sich Jorge Mas Canosa trotz seines miserablen Englisch mittlerweile in der neuen Umgebung zu bewegen wußte: Als eine seiner ersten Amtshandlungen benannte er das Unternehmen um – aus Iglesias & Torres (den Namen der puertoricanischen Firmengründer) machte er Church & Tower. Der angehende Millionär hatte begriffen, worauf es ankam. Mas Canosas Einstieg in die große Politik datiert aus dem Jahr 1980. In Abstimmung mit dem siegreichen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Ronald Reagan, einigen Quellen zufolge sogar auf dessen unmittelbare Anregung hin, rief er die Kubanisch-Amerikanische Nationalstiftung (CANF) ins Leben. Binnen kürzester Zeit entwickelte sich die selbst nach US-Maßstäben rechtskonservative Stiftung zum unangefochtenen Zentrum der kubanischen Emigranten-Szene. In einem durch pathologische Zersplitterung geprägten Milieu ist sie heute mit ihren an die hunderttausend regelmäßigen oder sporadischen Spendern als einzige Organisation praktisch überall präsent.
Ein Blick auf die Führungsstrukturen der Stiftung erlaubt zugleich eine tiefere Einsicht in das Demokratieverständnis ihres Gründers. An der Spitze stehen zunächst der Chairman – bis zu seinem Tode Jorge Mas Canosa, wer sonst – und der Präsident José Pepe Hernández. Daneben aber zählt die CANF rund 110 (!) Direktoren und Treuhänder, die eigentlich nur eine Bedingung zu erfüllen hatten, um in den erlauchten Kreis aufgenommen zu werden: Sie mußten sich verpflichten, einen jährlichen Mindestbeitrag von 10.000 beziehungsweise 5.000 Dollar zu entrichten.
Gestützt auf die Stiftung, machte sich Mas Canosa daran, die Exilkubaner aus einer zahlenmäßig eher unbedeutenden nationalen Minderheit in eine veritable Macht im Staate zu verwandeln. Als ersten Schritt brachte er seine Landsleute in Miami und Umgebung dazu, die Staatsbürgerschaft der USA anzunehmen und an die Wahlurnen zu gehen. Damit war die bisherige ungefähre Balance zwischen dem konservativen und republikanischen Norden und dem liberal gesonnenen und eher den Demokraten zuneigenden Süden Floridas dahin. Je nachdem, welcher der beiden Parteien die wenigen hunderttausend kubano-amerikanischen Wähler sich auf den Rat der CANF hin anschlossen, konnte sich die Waage leicht zugunsten des einen oder anderen Kandidaten neigen, und da der Bundesstaat Florida nach der Zahl seiner Wahlmänner an vierter Stelle in den USA steht, wagte es fortan kein Präsidentschaftsbewerber mehr, dieses Potential zu ignorieren.

Der Machiavellist hinterläßt ein Vakuum

Der gezielte Einsatz von jeweils einigen zehntausend Dollar Spenden pro Wahltermin sorgte bald auch im Rest des Landes dafür, daß republikanische wie demokratische Kongreßabgeordnete es sich dreimal überlegten, ehe sie sich mit der CANF überwarfen. Die Investitionen der Stiftung begannen Früchte zu tragen: 1985 ging das ausschließlich nach Kuba ausstrahlende Radio Martí auf Sendung, in dessen Führungsgremien Mas Canosa den Ton angab. 1992 beziehungsweise 1996 traten das Torricelli- und das Helms-Burton-Gesetz in Kraft, mit denen die USA ihre Wirtschaftsblockade gegen Kuba verschärften. Im Gegenzug stellte die CANF ihre Kontakte zur lateinamerikanischen Unterwelt zur Verfügung, als die Reagan-Administration entgegen einem Kongreß-Veto die antisandinistischen Contras in Nicaragua unterstützen wollte. Die Stiftung half auch mit, im Parlament Militärhilfe für die UNITA-Rebellen in Angola durchzuboxen, schließlich unterstützte die kubanische Armee die MPLA-Regierung in Luanda.
Der Wachwechsel im Weißen Haus 1993 verlangte noch einmal einiges an Umstellungsvermögen von Jorge Mas Canosa, der aus seinen Sympathien für die Republikaner nie einen Hehl gemacht hatte. Tatsächlich tauchten plötzlich ungewohnt gemäßigte Töne in seinen Reden auf. Glaubte er sich jedoch unter Gleichgesinnten, kam sofort wieder der alte Revanchist zum Vorschein, dem jedes Mittel recht war, um die Uhren auf Kuba um 40 Jahre rückwärts zu drehen. Der frühe Tod des erst 58jährigen hat nun das bisher straff geführte Exillager mit einem Schlag enthauptet. Wie kein zweiter seiner Landsleute hatte Mas Canosa die Mechanismen der politischen Machtausübung in der neuen Heimat verinnerlicht; virtuos wie kein anderer hatte er es verstanden, die vorgefundenen Strukturen für seine Zwecke nutzbar zu machen.
Ein ebenbürtiger Nachfolger für den Verblichenen ist weit und breit nicht in Sicht. Ob die CANF ohne ihren autokratischen Führer in Miami und Washington künftig an Einfluß verlieren wird; ob die drei kubanischstämmigen Kongreß-Abgeordneten Lincoln Diaz-Balart, Ileana Ros-Lehtinen und Bob Menendez die Meinungsführerschaft unter den Kubano-Amerikanern übernehmen werden; ob gar die liberalen Exilgruppen in das entstandene Vakuum stoßen können, darüber läßt sich trefflich spekulieren. Sicher scheint derzeit lediglich eines: Eine Abkehr des US-Kongresses von seiner sturen Blockade-Politik gegenüber Kuba wird es auch in der neuen Konstellation wenn überhaupt, dann frühestens mittelfristig geben. In diesem Sinne hat Jorge Mas Canosa ganze Arbeit geleistet.

Schwerpunkt: Lateinamerika

Eine Ausgabe der traditionsreichen “horen” veröffentlicht 24 kürzere Prosatexte aus Puerto Rico, versehen mit einem einführenden Essay der Heidelberger Karibikspezialistin Frauke Gewecke. Daß gerade Puerto Rico erwählt wurde, ist vielleicht einem Jahrestag geschuldet:
Es ist 100 Jahre her, daß Spanien mit Kuba und Puerto Rico seine letzten lateinamerikanischen Kolonien verlor. Gerade betreffs Puerto Rico ist dieses Datum Anlaß zu widerstreitenden Meinungen, denn seit eben diesen hundert Jahren gehört die kleinste der Großen Antillen zum direkten Machtbereich der USA. Weder die relativ schwache Unabhängigkeitsbewegung zu Anfang des Jahrhunderts noch die weltweite Phase der Entkolonialisierung in den 50er und 60er Jahren hat daran etwas zu ändern vermocht.
Diese und andere Tatsachen – wie beispielsweise die, daß derzeit 2,7 Millionen PuertoricanerInnen in den USA leben, 3,8 Millionen auf der Insel selbst – werfen beinahe unumgehbar Fragen nach Identität auf, nach topographischen wie geistigen Herkunftsorten und Lebenswelten, Fragen nach Reibungen und Brüchen. In Puerto Rico und für Puertoricaner besteht zudem noch die Spannung zwischen spanischer und englischer Sprache. Der vielfältige Niederschlag, den diese Themen und Konflikte in der Literatur gefunden haben, braucht also nicht zu verwundern.
Verwunderlich ist bei der Lektüre des “horen”-Bandes dennoch zweierlei. Zum einen erstaunt, daß so viele Stücke Literatur zusammengetragen werden konnten, allermeist von ganz unbekannten Namen, dennoch aber Texte, bei denen der wunderbare literarische Funke überspringt: als würde mir jemand die Augen öffnen. Zum anderen ist auffällig, wie wenig es in den vierundzwanzig Erzählungen explizit um die großen politischen Zusammenhänge geht. Die Konflikte spielen sich vielmehr häufig im ganz Persönlichen ab, und durch die individuellen Geschichten lassen sich die Zusammenhänge erahnen. Umfassende Weltentwürfe finden sich kaum.
Der Band wird von zwei in den sechziger Jahren publizierten Beiträgen eingeleitet; der zweite davon – Emilio Díaz Valcárcel: “Der Sohn” – greift sehr wohl engagiert ein Thema mit politischem Bezug auf. Darin gelingt es Díaz Valcárcel, anhand von Begebenheiten einer einzigen schlaflosen Nacht, in der ein Ehepaar um den Sohn fürchtet, der im Krieg ist, die Grauenhaftigkeit von sinnlosem Morden darzustellen – und zugleich zu zeigen, wie dieses Paar die Grauenhaftigkeit zu leugnen, zu ignorieren versucht. Eine Geschichte, die scharf unter die Haut geht.
Andere Texte sind weniger politisch; mag sein, daß das daran liegt, daß sie aus späteren Jahren stammen und diese Anthologie auch ein Dokument thematischen Wandels ist, eines Wandels von weitreichender Sozialkritik hin zur Konzentration auf das scheinbar Beiläufige, alltäglich-Untergründige, das in vielen Erzählungen ausgeleuchtet wird.

Skepsis gegenüber großen Entwürfen

Am Schluß des Bandes steht eine längere Erzählung: “Weißes Blatt Papier in staccato” von Manuel Ramos Otero aus dem Jahre 1987. Für mich war sie die eigentliche Überraschung. Ramos Otero (1948-1990) beschreibt in diesem hochaufgeladenen, komprimierten Text die Begegnung zweier Männer in New York. Der eine, Sam Fat, ist Sohn eines Chinesen und einer Puertoricanerin, hinter dem anderen läßt sich durch einige autobiographische Andeutungen der Autor selbst vermuten. Es ist die Geschichte einer fast unbemerkten, raschen Berührung, einer “augenblicklangen Empfindung einer körperlichen Teilung in der Zeit”, in der sich die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Ich und Du einen Moment lang aufhebt. Aber in dieser Berührung liegt zugleich der Schmerz über eben diese Unterscheidung, der Schmerz über die Frage nach Identität.
Die Odyssee der Herkunft steht dabei zu beschreiben, die für Sam Fat eine kaum entwirrbare Mischung aus chinesischen, puertoricanisch-hispanischen, schwarzkaribisch-afrikanischen und US-amerikanischen Herkünften ist. Den anderen, Ramos, bedrängt eher die Ungewißheit des Wohin: er ist sterbenskrank, und lebt unter dem Zwang – so ließe sich der Titel “Weißes Blatt Papier in staccato” verstehen –, in sehr begrenzter Zeit das zu schreiben, was aus ihm heraus muß.
Nicht jede Passage erschließt sich leicht, aber dem Text tut das keinen Abbruch. Die Fundamente von Lebensläufen werden in atemberaubender Weise sichtbar, zeitliche und räumliche Distanzen verlieren in einem konkreten Menschen alle Unüberwindbarkeit. Manuel Ramos Otero verzichtet weitgehend auf beschauliche Töne, um dem drohenden Tod Worte abzutrotzen.
Wenn eine Anthologie erreicht, daß man sie unglücklich aus der Hand legt, weil man mehr von den einzelnen AutorInnen lesen möchte, dann ist es eine gute Anthologie. Der “horen”-Band erreicht das mühelos. Edgardo Sanabria Santaliz, einer der im Heft vertretenen puertoricanischen Autoren, wird wohl bald umfangreicher auf Deutsch zu lesen sein: Der Züricher Rotpunkt-Verlag hat für Frühjahr 1998 die Übersetzung eines seiner Erzählungsbände angekündigt.
Aber auch derartige Zeitschriften-Anthologien machen Lust auf mehr. Nach einem Heft über Mexiko (Nr. 164, 4/91) und einem über Peru (Nr. 176, 4/94) nun über Puerto Rico – es dürfte auch in anderen Ländern viel zu entdecken geben.
“Das Gedicht”, eine junge, einmal im Jahr erscheinende “Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik”, nahm sich neuer lateinamerikanischer Poesie als Schwerpunktthema an. Die sorgfältige Edition der Zeitschrift insgesamt ist genauso vorbildlich, wie die Edition des Schwerpunktes anregend ist, nur: Er ist so kurz und knapp, daß man statt von Schwerpunkt eher von leichtem Anriß sprechen müßte.

Wenn weniger nicht mehr ist

Acht LyrikerInnen sind mit je einem oder höchstens zwei Gedichten vertreten. Ihre Auswahl begründet Mitherausgeber Tobias Burghardt damit, daß sie 1997 auf Poesie festivals in Lateinamerika aufgefallen sind, sie erlauben so einem Blick auf jüngste Produktionen, die in Lateinamerika auch tatsächlich in größerem Maße gelesen werden. Dennoch ist die Auswahl zu klein, um sich einen Überblick verschaffen zu können. Auch der Kommentar von Burghardt formuliert den Anspruch, daß der Rückstand, in dem sich lateinamerikanische Poesie in der hiesigen Wahrnehmung befindet, verringert werden müßte. Die im “Gedicht” publizierten zehn DIN-A5-Seiten Lyrik sind jedenfalls lesenswert und ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch nur ein kleiner.

die horen, Nr. 187, 3/1997, “Das besetzte Erinnern”: Vierundzwanzig Erzählungen aus Puerto Rico, hg. von Wilfried Böhringer. Mit Fotos aus Puerto Rico von Bernd Böhner.
Das Gedicht, Nr. 5, Oktober 1997, darin: Poesie aus Lateinamerika, hg. und übersetzt von Juana und Tobias Burghardt.

Effizienzbeschwörung hinter verschlossenen Türen

Eine Analyse der gesellschaftlichen Situation hatten sich Revolutionäre der ersten Stunde wie jugendliche Kader versprochen. Klartext wollte man reden, die gesellschaftlichen Probleme benennen und nach Lösungen suchen, um die auseinanderdriftende kubanische Gesellschaft zu festigen. So war es in den Straßen Havannas vor Beginn des Parteitags am 8. Oktober zu hören.
Dafür wurde es auch höchste Zeit, denn selbst eine Studie des Zentralkomitees der PCC vom April 1996 kam zu einem beunruhigenden Ergebnis: nur noch rund 45 Prozent der Bevölkerung würden verläßlich hinter der Regierung Fidel Castros stehen, rund 25 Prozent seien hingegen als prinzipielle Regierungsgegner anzusehen und die verbleibenden 30 Prozent der Bevölkerung würden ihre Unterstützung von ihrer ökonomischen Situation abhängig machen. Doch im wirtschaflichen Bereich sieht die Bilanz der Regierung Castro nicht allzu rosig aus: nach dem ökonomischen Höhenflug vom letzten Jahr, der dem Land 7,8 Prozent Wirtschaftswachstum und ein höheres Binnenangebot beschert hatte, sieht es im diesem Jahr wieder schlechter aus: 2,5–3 Prozent wird es geben, wenn der Wirtschaftsstratege der Regierung, Carlos Lage, mit seiner Parteitagsprognose recht behält. Damit hinkt die Konjunktur nicht zum ersten Mal hinter den Erwartungen und dem Plan hinterher, der 5 Prozent Wachstum vorsah.

Fehlendes Konzept

Woran es liegt, wissen die kubanischen SpezialistInnen nur allzugut: am fehlenden Konzept der Regierung. Doch was sie nicht wissen, ist, wo besagtes Konzept herkommen soll. Sechs Jahre wurde nur reagiert und improvisiert statt agiert. Was ebenfalls fehlt, ist der offene Umgang mit dieser Situation – eine breite Diskussion über die Nöte und Zwänge, denen sich die Regierung gegenübersieht, über Ziele und Probleme der derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung, wie Omar Everleny Perez, Vizedirektor am Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC), unumwunden zugibt. „Ich hoffe, daß unsere gesellschaftlichen Probleme, die eng mit der Legalisierung des US-Dollars im Juli 1993 verknüpft sind, auf dem Parteikongreß diskutiert werden, und daß es zu einer breiten öffentlichen Diskussion darüber kommt.“ Der Wunsch des Sozialwissenschaftlers ging jedoch nicht in Erfüllung, denn der Kongreß tagte hinter verschlossenen Türen. Eine Praxis, die erstmals beim letzten Parteitag 1991 angewandt wurde. Zudem erweckt die Berichterstattung in den kubanischen Medien bisher nicht den Anschein, als ob es die erhoffte tiefgründige Analyse und Diskussion gegeben hätte. Zwar wurden in den Redebeiträgen der Delegierten immer wieder Probleme wie die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, ansteigende Korruption, Doppelmoral, Diebstahl oder die fehlende Arbeitsmotivation und -produktivität angesprochen.Zu einer Analyse der Ursachen und der Entwicklung von Lösungsansätzen kam es den zugänglichen Informationen zufolge aber nicht.
Symptomatisches Beispiel dafür ist die seit Monaten auf der Stelle tretende Diskussion um den aktuellen Rückschlag in der kubanischen Zuckerproduktion, die das Vorjahrsergebnis um rund 300.000 Tonnen unterschritt. Der neuerliche Einbruch wird auf vielfältige Versäumnisse und die schwierige Kreditsituation zurückgeführt – eine tiefergründige Analyse blieb aus. Diese Tatsache wiegt um so schwerer, führt man sich vor Augen, daß gerade 76 der 1210 Agrarkooperativen (UBPC), die den Großteil der Anbaufläche beackern, schwarze Zahlen schreiben. Die Ursache für die mangelnde Rentabilität liegt jedoch auf der Hand, wie auch Everleny zugibt . Es ist der fehlende Arbeitsanreiz, resultierend aus dem staatlichen Ankaufssystem für Agrarprodukte: „Der Staat legt die Preise vorher fest, zu denen er ankaufen wird. Und er legt die Preise so fest, wie er es für richtig hält. Dies sind eben keine Preise von Angebot und Nachfrage, es sind ziemlich niedrige Preise, die nicht unbedingt die Produktivität der Kollektive steigern,“ so der Sozialwissenschaftler. Zu lesen ist in der offiziellen Presse über derartige Hintergründe allerdings nichts, da wird an die ArbeiterInnen appelliert, mehr und effizienter zu arbeiten. Gleiches geschah allem Anschein nach auch auf dem Parteitag, wo kaum ein Wort so oft zu hören war wie Effizienz. Eine kritische Diskussion wird dadurch nicht angeregt. Eher wird damit Verlogenheit und Doppelmoral gefördert, aber das scheint bei der politischen Führung noch nicht angekommen zu sein.

Bittere Pille für den Zuckerminister

Andererseits scheinen die gesellschaftlichen Krisenphänomene aber auch nicht ganz unter den Tisch gefallen zu sein, denn nach dem Parteitag kam es zu den ersten Personalveränderungen: Ende Oktober wurde der bisherige Zuckerminister Nelson Torres entlassen, dem der neuerliche Erntereinfall dem Vernehmen nach angelastet wurde. Die Kastanien aus dem Feuer holen – sprich die Zuckerproduktion ankurbeln – soll nun Ulises Rosales del Toro. Del Toro ist nun allerdings nicht irgendwer, sondern ranghöchster General nach Raúl Castro und Mitglied des engsten Führungsstabs um Fidel Castro – ein klares Indiz dafür, wie wichtig die Wiederbelebung des Zuckersektors den Verantwortlichen ist. Was einen General nun dazu befähigt, einen ganzen Industriezweig zu reorganisieren, wird sich hier so mancher/manche fragen, nicht aber in Kuba, denn dort spielt das Militär seit etlichen Jahren eine aktive Rolle in der Wirtschaft. Nicht nur zahlreiche Unternehmen des Landes, wie das drittgrößte Tourismusunternehmen – Gaviota Sociedad Anónima – befinden sich in den Händen der revolutionären Streitkräfte. Sondern auch in der Landwirtschaft hat die Arme einiges zu bieten. Seit Jahren verfügt sie über eigene landwirtschaftliche Betriebe, welche die Versorgung der gesamten Streitkräfte mit Nahrungsmitteln sicherstellen und Überschüsse auf den Bauernmärkten verkaufen. Aufgrund dieser Erfolge, die unter anderem auf die Einführung westlicher Managementmethoden zurückzuführen sind, ist die Armee wohl die letzte Option, um den Zuckersektor, an dem 500.000 Jobs hängen, wieder flott zu machen. Auf die positiven Effekte eines Personalwechsels scheint man auch beim kommunistischen Jugendverband (UJC) zu setzen. Neue Gesichter sollen frischen Schwung bringen, den viele Parteimitglieder, wie der 48jährige Hochschullehrer Ivan, angemahnt hatten. Für die Jugend müsse einfach mehr getan werden, auch von Seiten der Partei, denn sonst wäre angesichts fehlender Perspektiven die heranwachsende Generation schnell für die sozialistische Gesellschaft verloren, so die niederschmetternde Prognose. Prostitution und Diebstahl wären nur zwei Phänomene, die auf den Verfall der sozialistischen Moral hindeuten würden und denen man entgegensteuern müsse.
Doch sowohl der UJC als auch Rosales del Toro stehen vor nahezu unlösbaren Aufgaben, deren Ursache dieselbe ist. Weder den Zuckerbauern noch den perspektivsuchenden Jugendlichen hat der kubanische Staat einen angemessenen Lohn bzw. Job anzubieten. Nahezu alle Werktätigen kommen mit ihrem Durchschnittslohn von rund 200 Pesos nicht aus, da aufgrund des geringen Angebots die Preise seit langem der Lohnentwicklung vorausgeeilt sind. Letztlich müssen alle KubanerInnen sich nach zusätzlichen, oft illegalen Einnahmequellen nach Feierabend umschauen, um über die Runden zu kommen; weshalb die Arbeitsmotivation nicht die beste ist.
Ursache für diese Situation ist zum ersten die niedrige Produktivität, zum zweiten der Geldüberhang und zum dritten die Einführung des US-Dollar quasi als Leitwährung, der immer noch 22mal mehr wert ist als der heimische Peso. Aus diesem irrwitzigen Verhältnis resultiert denn auch das kubanische Dilemma, was allenfalls intern in ganzer Tragweite thematisiert und diskutiert wurde. Nach außen drang nichts, und vielleicht sollte das auch so sein angesichts der anhaltenden Strangulierungspolitik des übermächtigen Nachbarn USA. Deren „Kapitulation oder Tod“-Politik, unterstützt und getragen vom kubanischen Exil in Miami, das höchstwahrscheinlich die Bombenserie der letzten Monate lanciert hat, läßt wenig Spielraum für eine pragmatische Auseinandersetzung. Jedes Zeichen von „Schwäche“ gilt in Miami wie Washington nach wie vor als Signal, die Daumenschrauben enger zu ziehen. Und den dortigen Herren ist noch immer etwas eingefallen, wenn es darum ging, den ungeliebten Fidel Castro ins Straucheln zu bringen. So gilt es, zumindest nach außen hin die Reihen eng geschlossen zu halten, was seinen Niederschlag auch im Machtzuwachs der Armee findet, die immerhin ein Viertel des Politbüros stellt – unter ihnen auch der neue Hoffnungsträger für die Zuckerindustrie: General Ulises Rosales del Toro.

Der Fotograf an Castros Seite

Reich hätte er mit diesem einem Foto werden können, das weiß Alberto Korda – so sein Künstlername – selbst. Doch darüber schmunzelt er heute nur, während er die zahlreichen Poster, Bildbände und Fotos aus seinem Werk signiert, die ihm in der Hochschule für bildenden Künste in Hamburg gereicht werden. Hier, so hat er sich entschieden, wollte er den dreißigsten Todestag des ‘Che’ verbringen, obwohl er in aller Welt sein Werk hätte präsentieren können. „Ich habe die Einladung der chilenischen Jugend und der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba angenommen, weil ihre Arbeit ein Beispiel für die Solidarität, die Freundschaft mit der kubanischen Revolution ist und ich ihnen diesen Tag, den 9.Oktober 1997 und meine armselige fotografische Arbeit widmen möchte.“ Ein wenig pathetisch klingt das schon, aber vielleicht besser als die einfache Tatsache, daß er schon immer mal gerne nach Deutschland wollte, sich aber nie die Gelegenheit bot, wie es im August in Havanna von ihm zu hören war. Wahrscheinlich ist es denn auch eher die Mischung, die den Mann, der zehn Jahre lang Fidel Castro im In- und Ausland als dessen persönlicher Fotograf begleitete, nach Deutschland führte. Zehn Jahre, in denen er die kubanische Revolution und ihre wichtigsten Repräsentanten dokumentierte. Allein von Fidel Castro hat er mindestens 10.000 Fotos gemacht, von denen viele unveröffentlich blieben und die er größtenteils dem historischen Studienzentrum der Revolution überantwortet hat.

Die Karriere Castros

Begonnen hat Korda seine Fotografenkarriere allerdings mit der Modefotografie. Mitte der fünfziger Jahre gehörte sein Atelier zu den angesehensten in Kuba, und einige Arbeiten aus dieser Zeit sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen. Für renommierte Häuser wie Magnum hat er damals gearbeitet, kubanische Models in Designerroben abgelichtet – „meine Liebe gehörte damals den Frauen, bevor ich die Liebe zur Revolution entdeckte und das aus ganzem Herzen,“ erklärt er. Er spendete Geld und Medikamente für den Kampf in der Sierra Maestra und als die „Bärtigen“, so wurden die Revolutionäre damals genannt, am 8.1.1959 in Havanna einzogen nahm er seine Kamera und hielt die historischen Momente fest. Korda begann unentgeltlich für die Revolucíon, Vorläuferin der Granma, der heutigen Parteizeitung, zu arbeiten und wurde vom Chefredakteur beauftragt, bei Fidels erstem Staatsbesuch in Venezuela zu fotografieren. Weitere Aufträge folgten – bis Korda seine Anwesiungen direkt von der Sicherheitsabteilung Fidel Castros bekam und die folgenden Jahre bei keinem Auslandsaufenthalt und bei keinem wichtigen Ereignis in Kuba fehlte. Er wurde zum persönlichen Fotografen des „comandante en jefe“ – von Fidel Castro. In den zehn Jahren hatte Korda alle Freiheiten. „Nie hat er zu mir gesagt, schieße nicht dieses Foto. Er ließ mir alle Freiheiten und ich habe ihn oft sehr menschlich fotografiert, mit offenem Hemd, auf dem Boden sitzend, im Gespräch mit Leuten aus der Bevölkerung und fast nie mit dem Blitz.“
Sein bekanntestes Bild schoß Korda am 6. März 1960. Als Reporter für die kubanische Zeitschrift Revolucíon, hatte er den Auftrag, Fotos bei einer Rede Fidel Castros zu machen. Es war ein trauriger Anlaß. Am Vortage war die „La Coubre“, ein französischer Munitionsfrachter im Hafen von Habana eingelaufen. Beim Löschen der explosiven Fracht detonierte, so Korda, eine Bombe mit Zeitzünder, die 136 Menschen den Tod bescherte. Für die Beerdigungszeremonie auf der 23. Straße, der legendären Rampa, war eine Tribüne aufgebaut worden, vor der Korda stand und Fidel und die Ehrengäste, wie Jean-Paul Sartre, ablichtete. „Dann tauchte Che auf, und ich hatte gerade genug Zeit, um zweimal auf den Auslöser zu drücken,“ erinnert sich Korda, der die Bilder damals seinem Redakteur anbot, welcher sich jedoch für ein Bild von Fidel entschied. Erst acht Jahre später sollte das Bild mit dem verträumt heroischen Konterfei Che’s veröffentlicht werden – von einem italienischen Verleger, dem Korda 1966 nichtsahnend zwei Abzüge geschenkt hatte. Ein Jahr später, nach dem Tode des argentinisch-kubanischen Revolutionärs in Bolivien, vermarktete der Italiener Kordas Foto eiskalt als Poster und verdiente Millionen, während Korda leer ausging.
Zwar ist auch für Korda dieses Bild, das er eher zufällig machte, ein Foto, welches die Persönlichkeit des comandante gut wiedergibt. „Aber warum die Leute auf der Welt gerade dieses Foto als Symbol, nicht nur für den Menschen, sondern für die ganze Idee, für den Charakter aussuchten, ist auch weiterhin rätselhaft für mich. Ich fühle mich angesichts der Persönlichkeit dieses Menschen, wie ein Insekt, wie ein Ameischen, aber die Anwesenheit von Ihnen hier zeigt, daß er noch weiterlebt, das sein Beispiel unsterblich ist.“ Allerdings weiß der 69jährige durchaus zu differenzieren. Denn die heutige Vermarktung des Ernesto ‘Che’ Guevara ist für ihn nicht mehr als eine intelligente Strategie des Kapitalismus, mit der eine politische Figur in eine Ware verwandelt wird. Jüngstes Beispiel, dem die kubanische Regierung einen Riegel vorschob, war die Absicht einer britischen Brauerei, ein „Che-Bier“ auf den Markt zu bringen.

Der Che lebt!

Die diesjährig in Frankreich erschienene CD „EL CHE VIVE !“(Last Call / Arcade) fällt einem beim Durchstreifen der Plattenregale unweigerlich ins Auge. Die für den Che typische, von Alberto Korda 1960 aufgenommene, Portraitfotografie ziehrt auf rotem Hintergrung das Cover des Silberlings. Im innenliegenden Begleitheft finden sich neben der deutschen Übersetzung der „Botschaft an Ernesto Guevara“ von Herausgeber Egon Kragel auch die Liedtexte in französischer und spanischer Sprache. „Die Musik hat die Macht, unseren Eifer, unsere Überzeugungen und unsere schönsten Träume unbeschadet zu befördern“, schreibt Egon Kragel in seiner „Botschaft“ an den Che und stellte eine 15 Lieder umfassende Sammlung zusammen.
So wie auch der Che sich mehr als „Lateinamerikaner“ als Argentinier oder Cubaner sah, so stammen auch die Lieder auf der CD, neben Griechenland und Frankreich, zum Großteil aus diversen Ländern Lateinamerikas. Allesamt preisen sie den unentbehrlichen Robin Hood und leidenschaftlichen Wortführer des Antiimperialismus. Jedes auf seine Art.

„Hasta Siempre“ als Motto der CD

Gleich zu Beginn wird der Hörer mit der Ode an den Comandante, „Hasta Siempre“, beglückt. Es ist das wohl bekannteste Lied über Che Guevara. So erstaunt es nicht, daß es auf dieser CD gleich drei Mal erscheint. Gerade die unterschiedlichen Interpretationen verdeutlichen auch unterschiedliche Herangehensweisen an diesen Mythos. Carlos Puebla y sus Tradicionales zum Beispiel präsentieren das Lied als typische kubanische Guajira, einen Musikstil, der noch heute zu den populärsten des Landes zählt. Das Lied selbst ist eine reine Liebeserklärung an Che Guevara und wird von Puebla mit einer Inbrunst vorgetragen, wie es wohl nur ein Cubaner kann.
Soledad Bravo aus Venezuela steht mit ihrer Version des „Hasta siempre“ Carlos Puebla keineswegs nach. Im Gegenteil, mit Abstand ist ihre Interpetation die eindrucksvollste der vorliegenden CD. Sie singt mit einer solchen Hingabe und Leidenschaft, daß man unweigerlich eine Gänsehaut bekommt. Dabei erinnert sie ein wenig an die nordamerikanische Protestsängerin Joan Baez, wobei Bravo jedoch nicht als simple Kopie derer, sondern eher als lateinamerikanisches Pendant gelten kann.
Eine weitere Ausführung dieses Stückes, ebenfalls von einer Frau vorgetragen, beendet dann auch die CD. Maria Farantouri aus Griechenland nähert sich dem Lied recht poppig und jazzig und besonders im Refrain mit einer Prise Rock. Eine sicherlich interessante Version, wobei mir jedoch der Gehalt des Textes und die musikalische Interpretation zu weit voneinander entfernt scheinen.
Interessant wird diese CD vor allem auch durch die musikalische Spannbreite. Nicht nur geographisch ist ganz Lateinamerika vertreten, auch musikalisch. Kubanische Guajiras finden sich genauso wie die Musik der Andenvölker. Manche Lieder sind melancholisch oder klagend, andere animieren zum Mitsingen. Fast jede Instrumentierung ist vertreten, von einfacher Gitarrenbegleitung über den Einsatz einer Streichergruppe wie bei „Su nombre ardio como un pajar“ des Chilenen Patricio Manns bis hin zu spannenden Synthesen aus Folk, Pop und traditioneller Musik. Diese ist in den Stücken des Argentiniers Miguel Angel Filippini „Siembra tu luz“ und „Alma morena (El sueño del Che)“ zu hören. Bei beiden live aufgenommenen Liedern verschmelzen Piano, Bass und Keyboards mit Andeninstrumenten wie Quena und Charango sowie diversen Percussionsinstrumenten.
Atahualpa Yupanqui dagegen, ebenfalls Argentinier, ehrt den Che mit einfühlsamen, fast zaghaft wirkendem Gitarrenspiel und ausdrucksstarkem Gesang. In seinem Lied „Nada mas“ umgibt er den Zuhörer mit einer warmen, intimen Atmosphäre.
Zwei weitere Interpretationen beschränken sich auf einfache Gitarrenbegleitung, die von Victor Jara sowie das Stück des Uruguayer Daniel Viglietti. Victor Jara, seinerzeit chilenischer Protestsänger, besingt in seiner „Zamba del Che“ dessen Ermordung und klagt die Verletzung der Menschenrechte in Lateinamerika und das „mörderische Verhalten des Militärs“ an. „San Guevara“, so Jara, gab Kuba Glorie und Freiheit und folgte dem Weg, den Bolivar ihm gab. Der Sänger selbst wird später unter dem Pinochet-Regime im Fußballstadion in Santiago de Chile ebenfalls umgebracht.
Daniel Vigliettis Lied von 1967 dagegen ist ein Lied des Aufbruchs, welches den bei den meisten anderen Liedern vermißten „Funken“ Optimismus enthält. Er greift Guevaras Theorie vom „neuen Menschen“ auf. Auf metaphorische Art beschreibt er dessen Erstellung: Der Körper aus Tonerde, das Blut der über Jahrhunderte hinweg Hungernden und Ängstlichen und natürlich das Herz Che Guevaras. Dies erinnert an ähnliche Beschreibungen bei Miguel-Angel Filippini in dessen „Siembra la luz“. Er vergleicht den Che mit „einem Fluß, der zu einem Meer verschmilzt, mit einem Vulkan, der niemals schläft. Er nahm den Schlüssel der zahlreichen Schlösser mit in den Tod, so daß jetzt diejenigen schreien, die noch hinter diesen Schlössern gefangen sind.“
Che Guevara animiert auch heute noch Dichter und Musiker. Angel Parras „Guitarra en duelo mayor“ entstand erst 1996. Es ist eine Anklage, keine Predigt, auch wenn dies erst nicht so scheinen mag. Mit dynamischem und melancholischem Gesang spricht er zu einem bolivianischen Soldaten mit US-amerikanischem Gewehr, den er geringschätzig „soldadito“ nennt und beschuldigt, für den sogenannten „Mister Dollar“ seinen Bruder zu töten. „Kennst Du nicht den Toten, Soldat?“, fragt Parra. „Es ist der Argentinier und Kubaner Che Guevara.“ Unzweifelhaft gehört sein Beitrag zu einem der Höhepunkte der CD.

Che ein Heiliger?

Phantasie und Realität liegen bei vielen Texten nicht weit auseinander. Gerade die Lieder des Kubaners Carlos Pueblas lassen einen Mythos entstehen. In „Lo eterno“ aus dem Jahr 1968 beschreibt er Che Guevara als unsterblich und verallgemeinert dies auf alle, die sich wie der Comandante verhalten würden. Es wird deutlich, daß Guevara für ihn, und sicherlich für viele andere auch, mehr als „nur“ ein Mensch, nämlich ein „Heiliger“ ist. Er ist ein „unsterbliches Licht, welches die Nacht aufhält und in die Morgenröte führt.“ Der Einfluß Guevaras auf die Menschen Lateinamerikas ist und bleibt zeitlich ungebunden und prägt sie fort. Carlos Puebla beschäftigte sich viel mit dem Leben und Wirken des kubanischen Revolutionärs. Alle seine Stücke sind sicherlich hörenswert, aber vier, bei einer Gesamtzahl von 15 Liedern, ist eindeutig zuviel.
Bei „Che Esperanza“ meldet sich dann der Herausgeber der CD, Egon Kragel, selbst musikalisch zu Wort. Das 1996 in Frankreich aufgenommene Stück ist hauptsächlich mit Andeninstrumenten eingespielt worden. Textlich nähert sich Kragel in seinem Lied dem Mythos Guevara auf ganz besondere Art und Weise. Er läßt zwei Protagonisten, Großmutter und Kind, in einer Schlaflied-Situation, zu Wort kommen läßt. (ähnlich Father & Son/Cat Stevens) Die Großmutter beruhigt das Kind, es solle schlafen, denn der Che sei da. Daraufhin fragt das Kind, wer der Che sei, was auch gleichzeitig den Refrain darstellt. Die Großmutter antwortet schließlich in bildlich formulierten Phrasen, der Che sei „das Weinen des Windes und die Hoffnung, die Seele der Revolution und ein neuer Mensch, der immer in ihrem Lied fortleben wird.“ Mit eindringlicher Stimme stellt Kragel die Großmutter-Kind-Situation dar und steigert das Lied bis hin zum finalen Refrain. („Que siempre, siempre vivirá en mi canción“). Ohne Frage, Poesie und Melodie machen dieses Lied zu einem Lichtblick der CD.

Kritik fehl am Platz

Die CD „El Che vive!“ ist eine Huldigung Guevaras, kein Zweifel. Obwohl ich positiv überrascht gewesen wäre, auch kritische Töne hören zu, kann ich die doch sehr einseitige Darstellung Guevaras einigermaßen nachvollziehen.
Doch auch derjenige, der mit dem Namen Che Guevara weniger anfangen kann, lateinamerikanische Musik aber zu schätzen vermag, wird mit diesem Silberling seine Freude haben, denn die musikalische Bandbreite reicht von cubanischen Guajiras bis hin zu modernen Folk-Pop Liedern.
Als 16. Stück findet sich auf „El Che vive!“ die Rede Che Guevaras vor der UNO aus dem Jahr 1964. Besser als in jedem Lied kommt hierbei seine Leidentschaft für die Revolution, der eiserne Wille gegen Unterdrückung der Bauern und Indiginas zu kämpfen und sein Traum vom „freien“ Lateinamerika zum Ausdruck. In diesem kurzen Ausschnitt wird deutlich, welche Bedeutung Che Guevara für Lateinamerika hatte und noch hat. Seine Sensibilität für die Ungerechtigkeit und sein Mut dagegen anzugehen und für sein Ideal zu sterben, machen ihn zu einem Märtyrer, dessen Legende ungebrochen fortwirkt.

Schlag ins Gesicht

Wütend, ungläubig und letzlich verzweifelt reagierte Alcides Sagarra, langjähriger Erfolgscoach der kubanischen Boxequipe, auf die Vorstellung seiner Faustkämpfer bei der Weltmeisterschaft der Boxamateure in Budapest. Frustriert stand der „Professor“, wie er gerne genannt wird, an den Seilen und schaute sich die Niederlage des letzten kubanischen Finalisten Alexis Rubalcaba an. Der hatte es in den Fäusten, das Minimalziel des 61jährigen Nationaltrainers noch zu erreichen: erster Platz in der Nationenwertung. Doch was der Superschwergewichtler, mit 2,05 Metern der größte Boxer des Turniers, seinem ehrgeizigen Trainer bot, spottete jeder Beschreibung. Ängstlich tänzelte er durch den Ring, und auch die verzweifelte Aufforderung Sagarras endlich zuzuschlagen, ignorierte der 108,3 Kilogramm schwere Koloß. Er verlor sang- und klanglos und wird wohl, wie von zahlreichen Kommentatoren prognostiziert, als „Hasenfuß” in die Annalen der Box-WM eingehen.
Überraschend an diesem Kampf war nicht nur dessen Verlauf, sondern auch die Art und Weise wie der maestro des kubanischen Boxsports die Niederlage seines Schützlings hinnahm: beinahe teilnahmslos. Sagarra schien mit seinem Latein am Ende, nachdem er schon am vorangegangenen Finaltag die Niederlage seines Musterschülers, Félix Savón, miterleben mußte. Dessen Auftritt war symptomatisch für die Vorstellung der kubanischen Equipe. Savón, unbestrittener König im Schwergewicht, hatte seit seinem Debüt 1986 in Reno (USA) Weltmeisterschaften wie Olympische Spiele nach Belieben dominiert, wirkte aber nicht nur im Finale seiner sechsten WM ausgebrannt. Nachdem ihn der Ringrichter mit zwei umstrittenen Verwarnungen schon frühzeitig auf die Verliererstraße gebracht hatte, agierte der für seine Eleganz und Schnelligkeit berühmte Modellathlet beinahe desinteressiert. Sagarra versuchte verzweifelt seinen Champion aufzuwecken, ihn anzutreiben, schrie ihn an, schlug ihn zwischen den ersten beiden Runden auf die Brust und forderte ihn vor der letzten Runde auf, nun alles auf eine Karte zu setzen und den Gegner k.o. zu schlagen. Doch all das half nicht: Savón agierte durchsichtig, langsam und ohne Feuer. Der Mythos Savón hatte nach einer beispiellosen Siegesserie von über einhundert Kämpfen seinen ersten Kratzer erhalten. Diese vollkommen unerwartete Niederlage zeigte dann auch Wirkung bei seinem Coach. Nach dem Ende des Kampfes kam es zu tumultartigen Szenen am Tisch der Punktrichter, doch den Protesten der kubanischen Offiziellen wurde zu Recht nicht stattgegeben: zwar wurde der „unbesiegbare“ Savón benachteiligt, aber dies war kaum entscheidend. Am nächsten Tag saß dann ein vollkommen verwandelter Sagarra am Ring: er durchlitt die Niederlage Rubalcabas nicht wie bei Savón, sondern nahm sie fast regungslos hin, obgleich er allen Grund gehabt hätte, sich über die Arbeitsverweigerung des Superschwergewichtlers aufzuregen.

Große Ziele

Noch im August hatte der 61jährige in der Ciudad Deportiva, dem Mekka des kubanischen Sports im Herzen Havannas, gewohnt ehrgeizig sein Ziel für die WM ausgegeben: „Mir persönlich gefallen die zwölf Goldenen sehr gut, und wir wollen in allen Gewichtsklassen den Titel gewinnen. Nach allen zwölf Medaillen zu greifen ist meiner Meinung nach viel einfacher, als sich auf eine zu konzentrieren, denn das kann viel schneller in die Hose gehen.“ Daß dieser Traum des alten Hasen, der seit 1964 an der Spitze des kubanischen Boxsports steht und auf die stolze Bilanz von 82 Weltmeister- und 23 Olympiatiteln zurückblicken kann, nicht in Erfüllung gehen würde, das hatten sowohl internationale wie nationale Fachleute erwartet, daß allerdings die kubanische Equipe die WM gewohnt dominieren würde, daran hatte niemand gezweifelt. Doch unterm Strich blieben den kubanischen Faustkämpfern gerade drei Goldene, womit sie in der Nationenwertung hinter Rußland den zweiten Platz belegten, obgleich sie in sieben Finals eingezogen waren. Eine bittere Bilanz für den ergrauten Boxguru Sagarra, der zwar einerseits die fragwürdigen Urteile der Ring- und Punktrichter ins Feld führen kann, andererseits aber auch Ursachenforschung betreiben muß.
Die Leistungskurve seiner Schützlinge zeigt nach unten, die internationale Spitze ist enger zusammengerückt, was auch Alberto Brea, verantwortlicher Trainer für die Equipe der Stadt Havanna zugibt. „Noch 1992 bei der Olympiade in Barcelona oder 1993 bei der WM im finnischen Tampere konnten sich die übermächtigen kubanischen Faustkämpfer in nahezu allen Gewichtsklassen ihre Gegener wie lästige Fliegen vom Leib halten. Sieben beziehungsweise acht Titel gingen an die imposanten Boxer von der Zuckerinsel, doch diese Zeiten scheinen vorbei. Die Ursachen hierfür sind jedoch nicht allein bei der internationalen Konkurrenz zu suchen, die sich das eine oder andere von den Kubanern abgeschaut hat, sondern auch beim wirtschaftlichen Niedergang, mit dem die Karibikinsel seit der Auflösung des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Sowjetunion zu kämpfen hat. Es muß gespart werden – auch beim so prestigeträchtigen Sport.

Zerfallende Strukturen

Anlagen wie die Provinzakademie Mulgabo, wo sich unter anderem die Boxequipe von Havanna auf die nationalen Meisterschaften vorbereitet, sind auf den Hund gekommen. Die Wände der Halle, in der trainiert wird, haben schon lange keine Farbe mehr gesehen. Der Putz bröckelt und läßt den nackten Stein zum Vorschein kommen, und eine Mauer, die das Trainingsareal bislang unterteilte, wird von den kommenden und aktuellen Weltmeistern eigenhändig per Vorschlaghammer pulverisiert, um Platz zu schaffen. „Um die materielle Basis unseres Sports steht es nicht zum besten, aber wir geben uns Mühe, ein gutes Training zu machen. Genau das ist unser Job – wir bauen neue Champions auf. Natürlich stimmt es, daß wir nicht für alle einen passenden Kopfschutz haben, daß es immer mal wieder an Boxhandschuhen oder Bandagen fehlt und daß viele der jungen Boxer keine Turnschuhe, keine Sportbekleidung besitzen. Aber das wesentliche ist, daß sie hier etwas lernen können, ihre Technik verbessern und sich mit besseren oder ähnlich guten Boxern messen können“, erläutert beinahe trotzig der 42jährige Alberto Brea, selbst vierfacher kubanischer Meister, die Situation. Ganze vier Paar Boxhandschuhe stehen dem Trainerteam um Brea zu Verfügung, neben Sandsäcken baumeln alte Reifen von der Decke und die Turnschuhe der Boxer werden durch Leukoplast zusammengehalten.
Trotz der schwierigen Bedingungen liefert Brea gute Arbeit ab. Zu seinem Kader gehört Juan Carlos Quesada (24), ein ehemaliger Juniorenweltmeister im Superschwergewicht, sowie der 19jährige Yurkis Strelin, der als amtierender Vizeweltmeister der Junioren im Schwergewicht ebenfalls über internationale Erfahrung verfügt. Derzeit sind es laut Brea neun Boxer aus Havanna, die im A-Kader der Nationalmannschaft boxen. Unter ihnen der aktuelle Olympiasieger im Fliegengewicht, Maikro Romero, der als einiger der wenigen die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte und den WM-Titel gewann. Mit Trainer wie Brea oder dem überaus erfolgreichen Coach der Junioren, Pedro Roque, wird sich Sagarra zusammensetzen, um die Weichen neu zu stellen. Roque, der bei der Junioren-WM vom letzten Jahr acht Titelträger und zwei Vizemeister präsentieren konnte, gilt in Kuba als potentieller Kandidat für die Nachfolge Sagarras. Dem 40jährigen wird ein flexibles Händchen bei der Arbeit mit dem Nachwuchs attestiert und auch im Ausland hat er schon erfolgreich gearbeitet. 1994 und 1995 coachte er die französischen Amateurboxer zu einer Goldenen und einer Bronzenen Medaille bei der WM in Berlin – ein Novum in den französischen Boxannalen. Roque arbeitet dabei mit weniger strikten Trainingskonzepten als die graue Eminenz Sagarra, bei dem die Disziplin über allem steht:: Auf der streng abgeschirmten Finca Orvein Quesada hat der Altmeister seine 40 besten Boxer den Großteil des Jahres um sich geschart. In seinen Händen laufen alle Fäden zusammen. Alles wird minutiös vorbereitet, jeder Interviewwunsch geht über seinen Schreibtisch, und auch über den Lebenswandel seiner Schützlinge ist Sagarra genauestens informiert. Doch was jahrzehntelang wie am Schnürchen funktionierte, zeigt die ersten tiefen Risse: Einige Weltklasseboxer haben sich ins Ausland abgesetzt, wie Juan Carlos Gómez, der beim Hamburger Promoter Klaus-Peter Kohl unter Vertrag steht, oder Diosvelis Hurtado und Jorge Luis, die in den USA als Profis boxen. Andere scheinen mit Motivationsproblemen zu kämpfen, denn anders läßt sich die Vorstellung von Alexis Rubalcaba kaum erklären. Brea will zwar nicht bestätigen, daß es an den durch die Legalisierung des US-Dollars stark veränderten Verhältnissen liegt, aber auch er hat Schwierigkeiten, mit seinem Pesogehalt über die Runden zu kommen.

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