Sieben Wochen – Sieben Bands

9.-13.Juli: CUBANISMO feat. JESúS ALEMAÑY (Descarga)
Als Trompeter blies sich der 15jährige Newcomer Jesús Alemañy zum Star der Band Sierra Maestra, die aus einer Gruppe von Musikstudenten seiner Heimatstadt Havanna bestand. Sie belebten als Reaktion auf anglo-amerikanischen Rock und Nova Trova aus Lateinamerika eine alte kubanische Musiktradition neu, den Son. 1994 verließ er die Insel als reisender Weltmusiker, kehrte jedoch inzwischen wieder zurück, um mit den Musikern der Gruppen Irakere, Los Van Van und anderen sein eigenes Projekt zu kreieren. Die Cuban Music Dance-Scheibe “Cubanismo” wurde in den USA die meistverkaufte in Kuba produzierte Platte seit Verhängung der Blockade. Auf der Platte “Malembe” findet sich eine “Salsa” der kubanischen Musiktraditionen: Son, ChaCha, Bolero, Danzas…sowie insbesondere der Descarga der 50er Jahre – Jam-Sessions, die den vorgegebenen Rahmen von Salsa aufbrechen. (Europapremiere)

16.-20.Juli: BAMBOLEO (Salsa)
Sie sind die jungen Shooting-Stars der kubanischen Salsa-Szene. Vor zwei Jahren haben sie sich gefunden. Zehn Musiker, zwei Sänger und zwei Sängerinnen namens Vannia und Haila, die Kubas Antwort auf Skunk Anansie sind.
Der Mann, der dem Enthusiasmus und dem Lebensgefühl das nötige Handwerk zur Seite stellt, heißt Lázaro Valdés – Pianist, Bandleader und Arrangeur von Bamboleo. Komponieren läßt er bei Kubas besten Songschreibern. Mit dem Debutalbum “Te gusto o te caigo bien?” schoß Bamboleo gleich in den kubanischen Salsahimmel empor und ist in den Clubs von Havanna eine der beliebtesten Bands. (Deutschlandpremiere)

23.-27.Juli: ESTUDIANTINA INVASORA (Vieja Trova)
Santiago de Cuba ist das Gegenbild Havannas, die schwärzere, afrikanische Stadt an der Südspitze der Insel und die Heimat der trovadores. Heute sind dies zwar keine fahrenden Sänger mehr, aber ihre Balladen, in denen voller Stolz Land und Leute besungen werden, sind umso beliebter.
Vertreter der alten Schule der trovadores ist Inaudo Paisán Mallet, Bandleader und Trompeter von Estudiantina Invasora. Gründungsmitglied ist allerdings der 86jährige, Kontrabaß zupfende Roberto Nápoles Castillo, der die Band als Markenzeichen des Vieja Trova bereits 1927 ins Leben rief. Auf der Bühne des Tempodroms feiern sie ihr 70. Jubiläum. Aber damit kein falscher Eindruck entsteht: “alte Schule” heißt nicht “pensioner’s home”, denn das jüngste Mitglied, Geovanis Beltrán, ist zwanzig und zupft die kleine kubanische Gitarre namens Tres. (Deutschlandpremiere)

30.Juli-3.August: SAM MANGWANA feat. WENDO (Kongo-Rumba)
Sam Mangwana ist pan-afrikanische Musikgeschichte, denn mit seiner Version des Rumba-Rocks nutzte er die afro-cuban-roots und wurde mit mehr als 100 Tonträgern weit über den Kongo hinaus bekannt. Mitte dieses Jahrhunderts tauchte die Rumbamusik in den west- und zentralafrikanischen Metropolen auf, dessen Roots hier ihren Ursprung hatten, denn die Entstehung der Rumba-Kultur in Amerika und der Karibik fand nur gewaltsam durch die damaligen Sklavenschiffe statt.
Für das Festival hat er ein besonderes Projekt herangezogen, mit dem er der Entwicklung des afrikanischen Rumba nachspüren will. Dazu bringt er bekannte Musiker aus dem Kongo mit und den zur Legende gewordenen Wendo, der mit seinen Gitarrenkompositionen kubanische Rhythmen aus dem Radio in die Musiksprache seiner Heimat übersetzt. In Wendos Version eines neuen, urban geprägten Lebensstils ist er zum Symbol für nachrückende Musikergenerationen geworden.

6.-10.August: VOCAL SAMPLING (Salsacappella)
Nichts übertrifft an Ausdruck und Intensität die menschliche Stimme. Was als Pausenspaß gedacht war, entwickelte sich bei sechs Musikstudenten aus Havanna zur Berufung. Nicht nur Lead- und Chorgesang von Salsa beherrschen Vocal Sampling, die ganze Instrumentalisierung liefern sie gleich mit: Percussion, Bläser, Bass. Alles ohne Tricks, nur mit ihren Stimmbändern.
Anders als die meisten verzichten sie beim zweiten, jüngst erschienenen Album “De Vacaciones” auf das Nachsingen kubanischer Standards und präsentieren eigene Salsa-Kompositionen. “Vocal Sampling”, so urteilt Sammy Figueroa, Ko-Produzent ihres Debutalbums “Una Forma Más”, “haben Salsa nicht einfach als a-capella übersetzt. Sie haben den Gesang in der Latin-Musik als neue orchestrale Kunstform definiert.”

13.-17.August: LOS MUÑEQUITOS DE MATANZAS (Roots Rumba Santería))
In der Hafenstadt Matanzas, knapp hundert Kilometer von Havanna entfernt, lebt und arbeitet seit 45 Jahren diese in den USA frenetisch gefeierte Band, die in Kuba eine Institution ist. Sie folgen dem Rumba, einer Mischung aus Straßenparty kubanischer Lohnarbeiter und einem Fest selbstbewußter Nachfahren afrikanischer Sklaven, zurück an seine afrikanische Wiege. Musikalische wie spirituelle Quelle ist der Yoruba Kult Nigerias, der in Westafrika bereits längst verloren gegangen ist.
Bei ihren Auftritten singen Los Muñequitos auf Yoruba, nur von Percussion-Instrumenten begleitet, und die Augen des Publikums werden von kraftvollen Machetenkämpfen und den spektakulären Formen der Rumba-Tänze gefangen. Sie haben es geschafft, die afrikanischen Roots authentisch zu bewahren, gleichzeitig aber zugängliche Unterhaltung für ein großes Publikum zu bieten. (Europapremiere)

20.-24.August: CANDIDO FABRÉ Y SU BANDA (Son Charanga)
Candido Fabré gehört zu den großen Talenten des zeitgenössischen Son. Zehn Jahre lang war er Komponist – Gallionsfiguren wie Celia Cruz, Oscar d’Leon oder Los Van Van übernahmen seine Kompositionen -, Arrangeur und Leadsänger beim Orquesta Original de Manzanillo. Vor gut drei Jahren gründete er seine eigene, vierzehnköpfige Band, die er als Komponist und vor allem als Interpret zu einer der vielseitigsten Son-Gruppen Kubas aufgebaut hat.
Fabré spielt seine Musik in der Tradition der Charanga-Bands der 50er Jahre mit dem typischen Arrangement von drei Geigen und einer Querflöte. Aus über 1000 Eigenkompositionen wählte er die Songs für sein internationales Debutalbum “Son de Cuba” aus. “Cuban son at its best”, “one of the finest vocal improvisers in the world”, urteilte die Presse. Rechtzeitig zum Festival erscheint sein neues Album “Son Charanga”.

Caribbean Currents

Peter Manuel gibt in seinem Buch einen wunderbaren Überblick über die aktuellen Stile und Trends in der karibischen Musikszene und geht dabei weit über das Aufzählen und Beschreiben hinaus. Er geht zurück in die Geschichte der Region, versucht die komplizierten Prozesse, die die vielen quicklebendigen karibischen Rhythmen und Stile entstehen ließen, nachzuvollziehen.
Wer sich ein wenig mit karibischer Musik auskennt, weiß, daß man eine gehörige Portion Mut und viel Zeit braucht, um sich in das dschungelhafte Gestrüpp dieses Themas vorzuwagen. Der musikalische Fährtenleser muß die Fußabdrücke vieler verschiedener Ursprünge erkennen, seien es die holländischer oder spanischer Kolonialherren, yorubastämmiger Sklaven in Kuba, kongostämmiger Sklaven in Haiti oder indischer Landarbeiter in Trinidad oder, oder, oder…
Wer sich bisher über karibische Musik informieren wollte, konnte fast nur auf Literatur über spezielle Länder zurückgreifen. So mußte der Interessierte über Kuba in Spanisch, über Haiti in Französisch, über Jamaika in Englisch und über Curacao in Niederländisch nachlesen. Manuels Buch schließt durch seinen regionalen Ansatz hier eine Lücke, worauf viele Freunde der karibischen Musik schon lange gewartet haben.
Der Hauptautor Peter Manuel ist in der recht überschaubaren Gruppe von Musikethnologen, die sich mit karibischer Musik beschäftigen, kein Nobody. Viele Veröffentlichungen wiesen ihn bereits als profunden Kenner der kubanischen Popularmusik aus.
Zwei Kapitel dieses Buches überließ er ausgesuchten Spezialisten. Kenneth Bilby, der das Jamaika-Kapitel schrieb, ist Mitarbeiter des Smithsonian Instituts in Washington, das spätestens seit es die Folkways-Musikaufnahmen verwaltet und wieder auflegt, auch unter Musikern und Musikfreunden bekannt wurde. Wer an begleitenden Aufnahmen interessiert ist, sollte hier unbedingt auf die Suche gehen. Kenneth Bilby veröffentlichte bisher sehr beachtete Bücher zur afrojamaikanischen und zur “Maroon”-Musik (Maroons sind entlaufene Sklaven, die in den Bergen versteckt überlebten). Michael Largey, Autor des Haiti-Kapitels, ist Assistant Professor für Musik an der Michigan State University.
Mehrere Kolonialherren (Spanien, England, Holland, Frankreich und die USA), sicher über hundert verschiedene afrikanische Nationen sowie indische, javanische und chinesische Arbeiter hinterließen, mehr oder minder stark, ihre kulturellen Spuren in der Karibik. Synkretistische Religionen wie die kubanische Santería, der haitianische Vodou oder der Shango – ein Kult auf Trinidad – sind lebendige Zeugen des Überlebens afrikanischer Kultur in der Karibik, aber auch Zeugen der Tendenz (beziehungsweise dem Zwang) zur Verschmelzung mit der Kultur der jeweiligen Kolonialherren. Genauso beeinflußte die Musik der Kolonialmächte, wie Danza und Habanera, oder Punto Guajiro und Seis, die neu entstehenden Musikstile. Diesen Prozeß nennt Manuel, in Übereinstimmung mit vielen anderen Forschern, “creolization”.

Vodou und Shango – Religion und Musik

Peter Manuel zeigt in seinem Buch anschaulich die kulturellen und geschichtlichen Prozesse, die in den verschiedenen Ländern zu den heutigen musikalischen Ausdrucksformen führten. Ein weiterer kreativer Schmelztiegel sind die barrios (Vororte) der armen, unterprivilegierten Schichten, die zum großen Teil von Schwarzen und Mischlingen bewohnt waren und sind. Es wird sehr gut verdeutlicht, wie der wachsende Widerstand gegen die Kolonialmächte zu einem neuen Nationalgefühl in vielen Ländern führte, welches seinen Ausdruck unter anderem in der Musik fand. Manche kreolisierten Musikformen, die die weißen Eliten bis dato ablehnten, wurden nun von allen Bevölkerungsschichten als “nationale” Musikform angenommen und förderten das Zustandekommen eines nationalen Selbstbewußtseins.
Die Einbettung der musikalischen Analysen in die historischen und sozialen Hintergründe ist eine der großen Stärken des Buches. Das soziale Umfeld ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis karibischer Musik.
Viele Kapitel des Buches beginnen mit kurzen persönlichen Reiseeindrücken, die das Buch auflockern und so dem Leser Eindrücke mit auf den Weg geben. Manuel gelingt es zum Beispiel, das typische Wochenendfeeling Havannas festzuhalten (es fehlen eigentlich nur die unzähligen Lockenwickler). Aufschlußreich und amüsant zugleich ist die Beschreibung eines nordamerikanischen Freundes, der in Puerto Rico heiratete und erst dann zur Verwandtschaft richtigen Kontakt bekam, als er mühsam Tanzen gelernt hatte.
Das Buch behandelt die karibischen Musikstile im wesentlichen nach Ländern geordnet, so daß man, bei Bedarf, speziell zu einem Land nachlesen kann. Alle Kapitel überzeugen mit kompakten, gut recherchierten Informationen. Leider kommen die Trends im nachrevolutionären Kuba etwas zu kurz.
Gut durchdacht und praxisorientiert ist die Tatsache, daß jedes Kapitel des Buches seine eigene kleine Bibliographie und Diskographie besitzt. So entfällt bei Interesse für ein bestimmtes Land das mühsame Herausfiltern aus einer Gesamtbibliographie. Zuweilen werden auch Filme empfohlen. Ein ausführlicher Index hilft beim Auffinden spezieller Informationen.
In musikethnologischen Büchern gehört es mittlerweile fast zum Standard, ein Glossar anzuhängen, welches gängige Fachbegriffe, Instrumente, Rhythmen, Musikstile etc erklärt. So findet man auch im vorliegenden Buch einige Seiten mit diesen Kurzinformationen. Das weit gesteckte Thema macht allerdings jede Auswahl der Begriffe zur Willkür. (Warum den haitianischen Vodou-Rhythmus Yanvalou aufnehmen, aber Kongo und Nago weglassen?) Eine Beschränkung auf die 30 wichtigsten Grundbegriffe mit etwas ausführlicheren Erklärungen würde das Buch wahrscheinlich besser abschließen.
“Caribbean Currents” ist ein sehr gelungenes Buch zur Geschichte und Aktualität der karibischen Musik. Insbesondere MusikerInnen, Musikfreunde, Musikjournalisten und Redakteure werden es zu schätzen wissen.

Peter Manuel: Carribean Currents; Temple University Press 1995 (engl.-spr.); ISBN 1-56639-339-6, in Deutschland zu beziehen über Lateinamerika Nachrichten

Kleine Fluchten

Big Old Macho Ernest Hemingway und seine Romane bieten eigentlich nicht gerade den Stoff, an dem sich die Phantasien junger Frauen entzünden. Auch für die Kubanerin Larita ist der berühmte Schriftsteller, der seit einiger Zeit in ihrer Nachbarschaft wohnt, zunächst eine eher abstrakte, merkwürdige Gestalt. Der einsame Bewohner der Luxusvilla auf dem Hügel, der sich von Zeit und Zeit in einer Limousine durch die Gegend kutschieren läßt, der Besitzer des Swimming Pools, in dem sie heimlich mit ihrer Cousine badet. Larita, die kurz vor dem Abitur steht, hat den Kopf voller Wünsche und Pläne. Sie will ein Stipendium für die USA ergattern, Philosophie und Literatur studieren, mit ihrem Freund Victor zusammensein – und raus aus den ärmlichen Lebensverhältnissen. Bloß nicht so enden wie ihre Mutter, die Essen auf der Straße verkauft. Als ihr die Englischlehrerin Hemingways “Der alte Mann und das Meer” schenkt, ist Larita wider Erwarten fasziniert. Je mehr sie in ihrem eigenen Leben gegen Mauern anrennt, desto stärker beginnt sie, sich mit dem Fischer und seinem Kampf gegen äußere Widrigkeiten und die eigene Erschöpfung zu identifizieren.
In “Hello Hemingway” – der bereits 1990 gedreht wurde, aber erst jetzt in Deutschland ins Kino kommt – verdichten die Drehbuchautorin Mayda Royero und der Regisseur Fernando Pérez eigene Erinnerungen aus dem Kuba der fünfziger Jahre: Einerseits die kleinen, individuellen Fluchten, das sehnsüchtige Schielen Richtung USA, der Heimat von Elvis und Hemingway. Andererseits die Proteste gegen die Batista-Diktatur, der Wunsch nach Veränderung im eigenen Land. Larita ist keine sozialistische Heldin, sondern eine zähe, individualistische Träumerin, die sich mit ihren Bedürfnissen immer weiter in die Einsamkeit, ins Abseits gedrängt fühlt – und sich selbst dorthin manövriert: Als Victor und andere Schüler zu Protestaktionen aufrufen, bleibt Larita als einzige sitzen, trotzig und verstockt.
Wer Fernando Pérez’ vier Jahre später entstandenen Film “Madagascar” gesehen hat, der unter anderem auf der Berlinale zu sehen war (siehe LN 249), entdeckt unterschwellige Gemeinsamkeiten wieder – unter anderem in Form der Gesichtzüge der Hauptdarstellerin Laura de la Uz. Beide Male spielt sie eine junge Kubanerin, die sich aus der Alltagstristesse in ihre eigene Welt flüchtet – mit dem kleinen Unterschied, daß “Madagascar” nicht während der Batista-Diktatur, sondern im Kuba der neunziger Jahre spielt.
Das Sympathische an “Hello Hemingway” ist, daß er zwar persönliche und politische Träume und Aufbruchstimmungen aufeinander prallen läßt, aber trotz der deutlichen Stellungnahme für die linke Opposition zu keinem Zeitpunkt versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil: Mit seiner poetischen Bildsprache und den pointierten Dialogen begibt sich der Film selbst in ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Polen, zwischen Verträumtheit und Schärfe. So klingt es schonungslos offen, wenn Victor zu Larita sagt: “Der alte Mann und du, ihr seid verrückt.” Aber sein Blick dabei ist zärtlich und fasziniert.

“Hello Hemingway”, Kuba, 1990, Regie: Fernando Pérez, Farbe, 90 Minuten.

Steuerreformen mit deutscher Hilfe

Steuern waren in Kuba seit lang­em aus der Mode. Zwar wurde das Steuersystem nach der Re­vo­lution von 1959 nicht ab­ge­schafft, aber da Steuern aus Sicht der Re­vo­lu­tionäre um Fidel Ca­stro als “ka­pi­tal­is­tisches Instru­ment” galten, blieben im Laufe der Jahre nur noch Rudimente da­von übrig. Pa­rallel zum Steu­er­auf­kommen sank auch die Zahl der Selbständigen auf nahe Null.
Erst im September 1993 sollte sich daran etwas än­dern. Um die Ver­sorgung der Bevölkerung zu ver­bessern, entschloß sich die Re­gierung ei­nige Berufsgruppen für die Eigeninitiative frei­zu­ge­ben: Klempner, Schuster und Sei­fen­sie­der konnten sich ge­nauso selbständig machen wie die Anbieter sogenannter leichter Le­bensmittel. Die unge­naue De­fi­ni­tion ließ den findigen Kuba­ner­In­nen vielfältige Mö­glich­kei­ten der Interpretation: Straßen­ver­käu­ferInnen, die bis dato il­legal Kuchen und Süßig­keiten feil­boten, fühlten sich ge­nauso an­gesprochen wie Imbiß- oder Res­tau­rant­be­trei­berInnen. Dies zog eine anfängliche Flut von An­trägen für die Lizenz zur “Arbeit auf ei­gene Rechnung”, wie das ganze offiziell heißt, nach sich.
Damit stellte sich al­ler­dings die Frage, wie der sich nun entwickelnde Pri­vat­sektor einen Beitrag zur Kon­so­li­dier­ung des hoch defizitären Staats­haus­halts leis­ten könne – die Er­he­bung von Steuern kam erstmals seit Mitte der sechziger Jahre wie­der ins Gespräch und dann schnel­ler als er­war­tet zum Ein­satz. Die nahezu sym­bo­lischen Ge­büh­ren, die mit der Bewil­li­gung für die Arbeit auf eigene Re­ch­nung monatlich fäl­lig wur­den, markierten den Be­ginn der Wie­der­einführung eines mehr­schich­tigen Steuer­systems.

Deutsche Hilfe

“Die kubanische Regierung wollte sich bei der Einführung der Steuern von Fachleuten – vor­zugs­weise Deutsche – beraten las­sen. Die Mit­glieder einer Bun­des­tagsdelegation und die Frie­drich-Ebert-Stiftung fragten dann bei mir an, und seit April 1995 bin ich als Be­rater des ku­ba­nischen Finanzministeriums tä­tig”, erklärt der sechzigjährige Horst Go­brecht, ehemaliger Fi­nanz­senator der Stadt Ham­burg. Viel hat sich seit Gobrechts er­stem Be­such in Kuba getan. Wäh­rend 1993 gerade fünf Pro­zent der Staatseinnahmen Steuer­ein­nah­men waren, kalkulierten die Fachleute der na­tionalen Steuer­verwaltung 1996 schon mit 50 Prozent. Ohne die Steuer­ein­nahmen wäre die Kon­solidierung des Staatshaushalts nicht zu realisieren gewesen.
Noch 1993 belief sich das Haus­haltsdefizit auf fünf Milliarden Peso oder 30 Prozent des ku­banischen Brutto­in­lands­produkts (BIP). Bereits im folgenden Jahr konnte das Defizit durch strikte Spar­maß­nahmen und Einnahme­steigerungen auf 1,4 Milliarden Peso gesenkt werden. 1995 be­lief es sich dann nur noch auf 775 Millionen, und 1996 waren es nur noch 570 Millionen Pesos.
“Der sprunghaft wachsende Steueranteil am kubanischen Haushalt zeigt, wie sehr die Ge­setze bereits gegriffen haben, obgleich sie alle noch taufrisch sind. Am 1. Januar 1996 wurde das erste Einkommensteuerge­setz in Kraft gesetzt, wenige Monate später folgte das zweite und auch das Körper­schafts­steuer­gesetz wurde vor fast ei­nem Jahr ver­ab­schiedet,” erklärt Go­brecht rückblickend.
Allerdings stöhnen die Kuba­ner­Innen auch über die Höhe der Steu­ern und Ge­büh­ren, die sie zu ent­richten haben. Inter­na­tio­nale Beo­bachterInnen spekulierten des­halb, ob der noch kleine ku­ba­nische Privatsektor nicht via Steuer­schraube erdrosselt wer­den sollte. Von den Mitte 1996 rund 200.000 Selbständigen in Kuba haben der Wochen­zei­tung tribuna zufolge bis zum Jah­res­wech­sel etwa 43.000 ihre Lizenz zu­rück­ge­ge­ben und der Selb­stän­dig­keit den Rücken ge­kehrt. Für Go­brecht ist dies aller­dings kein Grund zur Beunruhi­gung.
Er sieht die eigentliche Ur­sache für ihr Aufgeben in den Ri­siken der Selb­ständigkeit. “Viele der neuen Selbständigen haben sich schlicht ver­kal­ku­liert. Mit allzu naiven Vorstellungen – der Hoff­nung auf das große Geld – be­ga­ben sich viele in die Selb­ständig­keit und wurden ent­täuscht. Ihre Ka­pital­decke war oftmals zu dünn, so daß sich die Spreu vom Wei­zen trennte.” Auch die teil­weise willkürliche Er­he­bung zu­sätz­li­cher Gebühren durch die Ge­meinden sieht er nur als Über­gangs­problem. Fälle, in denen die kleinen in Kuba weit ver­brei­te­ten Restaurants, die so­ge­nannten pala­dares, mit Ge­bühren bedacht werden, die ihren Umsatz überschreiten, seien die Ausnahme und nicht die Regel. “Es mag sein, daß ein­zelne Un­ternehmer ihre Tä­tig­keit we­gen dieser Gebühren­schwemme ein­gestellt haben, viel­leicht haben andere auch das Hand­tuch ge­schmissen, weil sie von staat­li­chen Kontrolleuren schi­ka­niert wurden, an die sie nicht wie sonst üblich Schmier­geld ge­zahlt haben. Dies dürften al­lerdings die wenigsten sein. Was aber stimmt, ist, daß Gren­zen der Ge­bühren festgelegt wer­den sollten und daß derartige Zahl­ungen von der Steuer voll ab­zugsfähig sein müssen. Bisher sind sie es leider nur zu zehn Pro­zent.”

Mit Steuern steuern

Die Grundlage des derzeitigen ku­ba­ni­schen Steuersystems bil­det die Ein­kommens­steuer mit einem Eingangssatz von zehn und einem Spitzensatz von 50 Pro­zent, sowie die noch nicht voll­ständig eingeführte Um­satz­steuer. In absehbarer Zeit soll auch eine Lohn­steuer eingeführt wer­den, die aber erst ver­abschie­det wird, wenn der wirtschaftli­che Auf­schwung den Kuba momntan erlebt, anhält. Ihre Einfüh­rung soll mit spürbaren Lohn­er­höh­ungen kombiniert werden, um für die nö­tige Ak­zeptanz in der Bevölkerung zu sor­gen.
Doch bis dahin könnte es noch ein wenig dau­ern. Die Ar­beits­losigkeit steigt nämlich, ein Pro­blem, das den Staatshaushalt er­neut in eine Schieflage bringen kön­nte. Derzeit sind zwar nur rund acht Prozent der Er­werbs­tä­ti­gen ohne Arbeit, allerdings schät­zen ku­ba­nische Sozialwis­sen­schaftlerInnen, daß rund 500 – 800.000 ArbeitnehmerInnen in den nächsten Jahren in die Ar­beits­losigkeit ent­lassen werden müssen, um die staatlichen Be­triebe effizienter zu machen. Wo diese Arbeit­nehmerInnen unter­kommen sollen, weiß der­zeit nie­mand, denn Arbeitskräfte werden der­zeit nur in den un­attraktiven Be­ru­fen ge­sucht: in der Land­wirt­schaft oder auf dem Bau – un­an­nehmbar für viele der von Ent­las­sung bedrohten. Die dritte Al­ter­native, die Privat­wirtschaft, wur­de noch 1995 von der Re­gie­rung als aussichtsreichste Al­ter­na­tive be­zeichnet: hier sollte das Gros der Ar­beitsuchenden Fuß fas­sen. Dazu je­doch müßte Go­brecht zu­folge der Rahmen für die Pri­vatinitiative weiter gefaßt wer­den. “Letzt­lich ist dies eine ideo­logische Frage: die ei­nen wehren sich gegen eine “Ka­pita­li­sierung” der kubani­schen Wirt­schaft, die anderen be­trach­ten sie als wirtschafts­politische Not­wen­dig­keit.” Keine der beiden Frak­tio­nen hat sich bisher durch­setzen kön­nen. Die für 1996 an­ge­kündigte Entlas­sungswelle wurde zurück­genommen. Das Phä­nomen der Unter­be­schäf­ti­gung aber ist al­lerorten in Ha­van­na zu beob­achten, wo die Men­schen durch die Straßen fla­nieren, da sie schon nach ein, zwei Stunden Arbeit nach Hause ge­schickt werden. Eine Lösung die­ses Pro­blems ist auch nach Ein­führung von Steuern nicht in Sicht.

“Der Privatsektor hat nur marginale Be­deu­tung”

Die offizielle Arbeitslosen­quo­te in Kuba be­trägt knapp acht Pro­zent. Allerdings müs­sen viele KubanerInnen nur wenige Stun­den am Tag arbeiten, weil die Betriebe bei­spiels­weise keine Roh­stoffe für die Produktion ha­ben oder weil sie aufgrund von Ra­tio­nali­sierungen beur­laubt werden. Kubanischen Schätz­ungen zufolge müssen über kurz oder lang rund 500.000 bis 800.000 Leute ent­las­sen wer­den. Wie will die ku­ba­ni­sche Regierung die­ser Massen­arbeitslosigkeit begeg­nen?

Unterbeschäftigung ist ein ernst­zuneh­men­des Problem in Ku­ba. Sie hängt mit unse­rer hi­s­tor­ischen Entwicklung zusam­men. Wir ha­ben ein Ausbil­dungs­system aufgebaut, das die Aus­bildung von Geistes­wis­sen­schaft­ler­In­nen stark fördert. Al­ler­dings fehlt es uns an Tech­niker­Innen, IngenieurInnen usw. im pro­duk­tivem Bereich. Kuba ist ein Agrarland und die Zahl der Fachleute in diesem und im in­dus­triellen Sektor ist verhält­nis­mäßig nie­drig. Dieses Miß­ver­hältnis muß langfristig ver­än­dert wer­den, die Arbeit in der Land­wirt­schaft, aber auch im in­dus­triellen Sektor muß wieder at­trak­tiver werden. Wir brauchen wen­iger Menschen im Dienstlei­stungs­bereich und mehr im ge­werb­lichen Bereich. Deshalb wird das Ausbildungssystem um­strukturiert wer­den. Außer­dem müs­sen die Leute mobiler wer­den und bereit sein, aus den Zen­tren des Lan­des in die Pro­vinz zu gehen.

Aber eine Veränderung der Aus­bil­dungs­struktur wird allein kaum ausrei­chen, um die stei­gen­de Arbeitslosenquote zu re­du­zieren!

Ja, es gibt viele Sektoren der ku­ba­ni­schen Wirtschaft, in denen Fa­briken ge­schlos­sen werden oder die Belegschaft re­du­ziert wird. In einigen Betrieben teilen sich drei Leute die Arbeit, die eine Person pro­blem­los schaffen kön­nte. Das können wir uns nicht mehr leisten, denn wir müs­sen uns in den internationa­len Markt integrieren, uns den al­lgemeinen Produktions-, Effi­zienz- und Kosten­kriterien an­pas­sen. Diejenigen, die durch die Schließungen arbeitslos werden, wer­den oftmals nicht in ihrem eigent­lichen Be­ruf weiterarbei­ten können. Das ist eine schmerz­liche Erfahrung, aber es hilft nichts. Der Staat wird auch weiter­hin jedem und je­der Kuba­nerIn einen Arbeitsplatz ga­rantie­ren, aber den Arbeitslo­sen wer­den Arbeits­plätze in den Be­reichen angeboten bekommen, wo es einen Arbeitskräftemangel gibt – in der Landwirtschaft oder in der Bau­wirt­schaft. Die dritte Mö­glichkeit für sie besteht da­rin, sich eine Nische im kubani­schen Pri­vat­sektor zu suchen, in dem rund 200.000 Selb­ständige ar­beiten.

Allerdings haben rund 25 Pro­zent der etwa 200.000 Selb­stän­digen im letzten Jahr das Hand­tuch geworfen und ihre Li­zenz zu­rück­gegeben. Ist es unter den derzeitigen Ge­ge­ben­hei­ten überhaupt reali­s­tisch zu glau­ben, daß Arbeitsu­chende ihr Glück im Pri­vat­sektor fin­den können?

Es ist in der Tat so, daß die Zahl der Selb­ständigen auf etwa 160.000 gesunken ist. Da wir vor­her kein Steuersystem hatten, ha­ben mit der Einführung des pro­gressiven Steuer­systems die Selb­ständigen eine neue, zum Teil bittere Erfahrung machen müs­sen. Die­jenigen, die im Gas­tro­nomiebereich tätig sind, ver­dien­ten vorher zwischen 2.500 und 3.500 Peso im Monat und zahl­ten etwa 100 Peso Abgaben. Das ist nun vorbei. Zudem wur­den Kontrollen sowohl von steu­er­licher Seite als auch den Kauf der Lebensmittel be­tref­fend er­wei­tert. Hinzu kommen neue Be­stim­mungen vom Gesund­heits­amt, aber auch die steigende Kon­kur­renz, wodurch sich die Qua­lität vieler Produkte verbes­sert hat. Nicht alle Selbständigen kon­nten oder wollten da mithal­ten.
Die Zunahme an Betriebs­kon­trol­len wie Re­vi­sionen und In­ven­turen, hat den Dieb­stahl von Res­sourcen eingeschränkt. Auch das hatte Folgen für den Privat­sek­tor. Ge­stoh­lene Pro­dukte sind nun einmal billiger zu kaufen als legal erworbene. Wenn ein Re­stau­rant das benö­tigte Mehl, das Bier u.a. zum Ladenpreis kaufen muß, muß es neu kal­kulieren.

Ist die Erweiterung der Mög­lich­keiten, auf ei­gene Rechnung zu arbeiten, für die kuba­ni­sche Re­gierung trotz ideologischer Pro­ble­me eine Option gegen stei­gende Ar­beits­losen­zahlen?

Der Grund für die Zulassung des Privat­be­reichs war, die Ver­sor­gung der Be­völ­ker­ung zu ver­bessern. Das Angebot sollte er­wei­tert und die Ernährung ver­bes­sert wer­den, besonders in den Be­reichen, wo der Staat dazu nicht in der Lage war. Dieser Pro­zeß ist unumkehrbar. Auf der an­deren Seite ist die “Arbeit auf ei­gene Rechnung” keine Quelle so­zialistischen Bewußtseins. Die Ein­kommenspyramide wurde auf den Kopf ge­stellt, weil die Selb­stän­digen zumeist besser le­ben, als der Rest der Bevölkerung. Aber das ist nun mal so. Ziel des Staates ist es aller­dings nicht, daß sich die Händler von Tag zu Tag mehr bereichern, sondern die Be­dürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen – nicht eine reiche Klas­se in Kuba zu erzeu­gen. Aus diesem Grunde ist es auch not­wen­dig, diesen Sektor zu kon­trol­lieren, damit der vorge­gebene ge­setzliche Rahmen einge­hal­ten wird. In der Tat ist es so, daß vom so­zialistischen Standpunkt aus die Er­weiterung des Privat­sek­tors über ein ge­wisses Maß hi­naus nicht vertret­bar ist.

Was wird sich an der Versor­gung des Privat­sektors verän­dern? Bisher hatten die “Pri­vaten” es äußerst schwer Mate­rialien und Res­sourcen legal zu er­werben – in vielen Be­rei­chen mußten sie quasi zu halblegalen Me­tho­den greifen, um Produk­tions­materialien zu kau­fen, weil die staatlichen Betriebe ihnen nichts verkaufen durften. Wer­den Groß­mär­kte, wie für die pri­vaten Re­stau­rant­be­trei­ber­Innen ge­plant, auch für Hand­werker und andere eingeführt werden?

Die Versorgung des Pri­vat­sek­tors kann keine Priorität ge­nie­ßen, da es an allen Ecken und En­den an Produktionsmate­ria­lien, an Rohstoffen oder Halb­fer­tig­produkten fehlt. Es kann also nur Stück für Stück vor­an­ge­hen.
Seit über dreißig Jahren gab es keinen Privat­besitz in Kuba. Dies hat sich nun in den letzten Jah­ren geändert, da die ökonomi­sche Situation es gebot. Was aber fehlt, sind Er­fahrungen: die Er­fahrungen, wie man so etwas kon­trolliert, wie man verkauft, wie man die Produktion ver­marktet. Das braucht alles Zeit und hängt auch davon ab, wie sich das ganze Land entwickelt und wie die wirt­schaft­liche Er­hol­ung weiter voranschreitet. Unser Hauptziel ist, die Exporte zu steigern, um der Bevölkerung mehr Reis, mehr Milch, mehr Brot und mehr Nahrungsmittel ga­ran­tieren zu können. Wir wollen nicht vorrangig den Pri­vat­sektor ent­wickeln oder den Pri­vat­be­sitz för­dern. Der Pri­vatsektor ist ein zu­sätz­liches Mittel, um die Ver­sor­gung der Be­völ­ker­ung zu ver­bes­sern, nicht mehr und nicht we­niger. Letzt­lich hat der Pri­vat­sek­tor nur eine marginale Be­deu­tung für die wirt­schaft­liche Ent­wick­lung Ku­bas. Die wichtig­sten Ein­nahmequellen für Kuba sind der Tou­rismus, der Zucker- und Nickel­export so­wie die Ausfuhr von Tabak und Meeres­pro­duk­ten. In allen diesen Bereichen spielt die Pri­vat­initiative keine Rolle.

“Rumba ist ein Lebensgefühl, nicht nur Musik”

LN: Bei kubanischer Musik fällt vielen zuerst Salsa oder Son ein. Warum hast Du Dich so in­tensiv mit Rumba beschäftigt?

Cristina Piza: Salsa existiert nicht, Salsa ist kein Rhythmus, Rumba ist Rhythmus. Rumba ist der Anfang von allem. Hier in Europa wissen wir ein­fach nicht, daß es Rumba ist, was wir hören. Die Rumba ist die Mutter aller kubanischen Rhythmen. Ich kann mir nichts vorstellen, was
kubanischer ist als die Rumba.

Gilt das auch heute noch?

Die Rumba ist immer noch lebendig, aber es ist heute schwierig, eine gute rumba de solar zu fin­den. Havanna zerfällt und damit auch die solares. Der solar de Africa zum Beispiel ist schon eine Ruine. Darüberhinaus braucht man neuerdings eine Erlaubnis, um eine Rumba auf der Straße zu ma­chen.

Warum denn das?

Ich weiß es nicht. Den rumberos sagen sie, es sei wegen der “Sonderperiode”. Eine offizielle Erlaubnis für eine Rumba – das ist eine der Dinge, die ich nie verstehen werde.

Hast Du das Gefühl mit “Rumba del solar” Fotografien von etwas gemacht zu haben, das langsam stirbt oder zerfällt wie Havanna?

Nein eigentlich nicht. Zum einen sind die rum­beros, mit denen ich sprach und die ich fotogra­fierte, dafür viel zu lebendig. Du mußt verstehen, Rumba ist ein Lebensgefühl, nicht nur Musik. Sie ist unsterblich, weil sie Teil des Lebens auf Kuba ist. Sicher, sie verändert sich, aber das ist wie mit dem Wassertrinken in Deutschland. Auch wenn es nicht mehr aus der Leitung, sondern aus der Flasche getrunken wird, bleibt es doch immer Wasser.

Ist Rumba eine Musik der Schwarzen?

Es sind vor allem Schwarze, die die Rumba spielen und feiern, aber genauer wäre es zu sagen, daß sie eine Musik der Armen ist, von denen na­türlich wiederum die meisten schwarz sind. In den feineren Gegenden Havannas, wie in Miramar, wo fast nur Weiße leben, hört niemand Rumba. Natürlich gibt es jetzt auch Rumba, die gefördert wird, zum Beispiel als Attraktion für Touristen. Aber dieser Rumba fehlt etwas. Bei der echten wird gesoffen, da wird gerangelt und gekämpft, je­der kennt die Tänzer und die Musiker, es ist ein­fach wunderbar.

Hast Du Dich vor Deinem Projekt über Rumba informiert?

Da ist wenig aufgeschrieben. Um sie zu verste­hen, mußt du sie ohnehin vor allem fühlen. Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie ist partizipativ, und deshalb ist es geradezu fa­tal, sie in feste Bahnen lenken zu wollen. Vieles entsteht im Moment, wenn Du versuchst, sie festzuhalten, stirbt sie.

Aber sind nicht deine Fotografien der Versuch, genau das zu tun, nämlich den Augenblick einzu­frieren?

Nein, die Fotografien sollen ja nicht erzählen, was die Rumba ist. Ich habe sie gemacht, um das Leben in den Seitenstraßen und Hinterhöfen Havannas zu zeigen; die Rumba ist Teil davon. Ich hoffe, es ist mir gelungen, die Atmosphäre einzu­fangen, in der die Rumba entsteht. Meine Bilder sollen die Rumba in einen Kontext setzen. Ich halte das für ausgesprochen wichtig.

Also doch mehr als ein Gefühl, ein Moment.

Ja, denn ich wünsche mir, daß lateinamerikani­scher Musik wirklich wieder zugehört wird. Was mit ihr zur Zeit vor allem verbunden wird, ist Party, Party, Party. Sie ist viel zu schön, um nur auf den Party-Effekt reduziert zu werden.

Cristina Piza lebt als freie Fotografin in London und Berlin. Sie befaßt sich seit vier Jahren mit der Alltagskultur Havannas. Ihr jüngstes Projekt ist die Rumba. Ihre Schwarz-Weiß-Fotografien suchen die Menschen und das Ritual der Rumba in allen Facetten.
Fotografien aus “Rumba del solar” sind über den LN-Musikschwerpunkt verteilt.

Der doppelte Boden der US-amerikanischen Kubapolitik

Generell verlaufen die Positionen innerhalb der EU gegenüber der US-amerikanischen Kuba-Politik über ein breites Spektrum. Die einen halten die US-Politik für überzogen, ohne der USA aber die Bemühungen um Demokratie in Kuba absprechen zu wollen. Andere sehen in ihr einen Affront gegen Handelsliberalisierungs- und Entspannungsbemühungen während manche wiederum sie als neuesten Ausdruck der Hegemoniebestrebungen der USA interpretieren. Alle Positionen haben jedoch eines gemeinsam: sie empfinden die Blockade als einen unzumutbaren Schlag unter die Gürtellinie, der den Beziehungen der Weltgemeinschaft äußerst abträglich ist. Diverse Kuba-Experten sprechen in neueren Erklärungsversuchen der US-amerikanischen Kuba-Politik von einer emotional geleiteten “Irrationalität”, die in einer “Verletzung des imperialen Stolzes” der USA begründet liegt. Irrational nicht zuletzt deshalb, weil die USA dadurch immer mehr eine internationale politische Isolation riskieren.
Ohne einer solchen Argumentation jegliche Relevanz abzusprechen, gibt es aber durchaus eine rationale Erklärung für die Ignoranz der Vereinigten Staaten gegenüber den EU-Staaten: denn Kuba hat als Handelspartner für die Europäische Union kaum Gewicht. Das gemeinsame Handelsvolumen beträgt weniger als ein Prozent des EU-Gesamthandelsvolumens. Vor diesem Hintergrund schrumpft so manche vollmundige Drohgebärde der EU zum Papiertiger, was die USA bei ihrer starren Haltung mit Sicherheit ins politische Kalkül gezogen haben: sie spekulieren darauf, daß es sich die EU wegen Kuba kaum mit dem wichtigsten politischen Bündnis- und Handelspartner ernsthaft verscherzen wird. Diese Spekulation scheint aufzugehen. Denn die EU zog vorerst ihre angedrohte Beschwerde in Sachen Helms-Burton zurück. Schließlich hatte die USA via Clintons Sonderbeauftragtem Eizenstat schon angekündigt, daß sie sich mit einer Berufung auf “nationale Sicherheitsinteressen” einer WTO-Verurteilung entziehen würde (siehe LN 274).

Ruhe an der Klagefront

Eine Klage der EU würde nicht mehr als Symbolcharakter zukommen. So schien eine Verhandlungslösung geboten und kam denn auch zustande. Die US-Regierung versprach der EU, sich im Kongreß für eine Abmilderung des Helms-Burton-Gesetzes einzusetzen. Im Gegenzug will die EU mit neuen Bestimmungen die Unternehmen von Investitionen in enteignetes Vermögen abhalten. Damit herrscht erstmal Waffenstillstand an der Klagefront. Jedoch halten sich beide Parteien für den Fall, daß die beiderseitigen Zugeständnisse nicht umgesetzt werden, die Klageoption offen: die EU hat ihre Klage ebenso nur für sechs Monate ausgesetzt wie die USA das Inkrafttreten des Kapitels III.
Die Ignoranz der USA gegenüber der EU läßt sich zudem aus der Sicht der traditionellen US-Außenwirtschaftspolitik erklären. Das absolute Exportvolumen der USA ist weltwirtschaftlich von erheblichem Gewicht. Die Bedeutung des Außenhandels für die US-Wirtschaft selbst, ist demgegenüber relativ gering: der Außenhandel macht nur einen Anteil von weit unter zehn Prozent des heimischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Aus diesen ökonomischen Verhältnissen hat sich in den USA traditionell eine Außenwirtschaftspolitik entwickelt, die unilateral geprägt ist, oft sehr unsensibel reagiert und mehr die Funktion einer verlängerten Innenpolitik erfüllt. Und dies trifft in vollem Umfang auch auf die US-amerikanische Kubapolitik zu.
Die Clinton-Administration konnte sich mit ihrer letzten Verschärfung der Blockade den gewichtigen innenpolitischen Einfluß der exilkubanischen Gemeinde in Florida sichern. Denn das Helms-Burton-Gesetz ist bei genauerem Hinsehen ein Wirtschaftsförderprogramm für exilkubanische und aus Kuba vertriebene Industriekreise. Diese bemerkenswerte Interpretation über die wirkliche Funktion der Blockade liefert uns zumindestens der Exilkubaner Louis F. Desloge III, der sich selbst zum konservativen Teil des Exils zählt und eine Destabilisierung des Castro-Systems durch eine Aufhebung der Blockade erreichen will. Nach ihm folgt die letzte Blokkadeverschärfung “einem raffinierten Plan”: denn nach dem dritten Absatz jenes Helms-Burton-Gesetzes könnten ExilkubanerInnen und sonstige Ex-EigentümerInnen ausländische Unternehmen vor US-Gerichten verklagen, wenn sie in ihren einstigen Besitz investieren. So könnte zum Beispiel Bacardí den französischen Spirituosenhersteller Pernod Ricard verklagen, der zur Zeit weltweit die kubanische Rummarke Havana Club vertreibt. Oder die nordamerikanische Tabakindustrie den Konzern British-American Tobacco, der die Zigarettenmarke Lucky Strike herstellt und auf Kuba im Tabakanbau ein Gemeinschaftsunternehmen unterhält. Dieses Drohpotential führt dazu, “daß Klagen als Druckmittel benutzt werden dürfen, um außergerichtliche Vergleiche zu erreichen.” Denn das Helms-Burton-Gesetz verfügt über ein juristisches Schlupfloch, nach dem die Streitparteien zu einer außergerichtlichen Schlichtung kommen können. Die Forderungen des Klägers werden dann hinfällig und die Einigung muß auch nicht von der US-Regierung abgesegnet werden. Die praktischen Folgen dieser Bestimmung liegen für Louis F. Desloge III auf der Hand: “Es ist nicht anzunehmen, daß ausländische Unternehmen wie Pernod Ricard oder Unilever profitable Geschäftszweige in Kuba aufgrund einer Klage aufgeben. Wahrscheinlicher ist, daß diese Konzerne kubanische Exilierte, die unter dem Helms-Burton-Gesetz klagen, widerwillig mit Geld abfinden werden.” Bisher bestehen diese Klagemöglichkeiten nur potentiell, da das Kapitel III, ausgesetzt ist. Aber eben nur für jeweils sechs Monate.

Das lohnende Damoklesschwert

Die europäischen und sonstigen Investoren stehen permanent unter dem Damoklesschwert des Kapitels III. Dies machen sich die alten Eliten Kubas zu Nutze. Sie drohen unverhohlen damit, ihren Einfluß bei Clinton geltend zu machen und auf die Aufhebung der Aussetzung zu drängen, wenn sie nicht in Form einer Gewinnsteuer von den Investoren beteiligt werden – um sich so vom wirtschaftlichen Aufschwung auf der Insel auch eine Scheibe abschneiden zu können. Da nach dem neuen Gesetz nur diejenigen ein potentielles Klagerecht haben, die früher ein Eigentum von mindestens 50.000 US-Dollars besaßen, ist auch der Adressat dieser Wirtschaftsfördermaßnahme ganz eindeutig, so Louis F. Desloge III: “Man muß schon sehr reich gewesen sein, um 1959 in Kuba so viel besessen zu haben. Ein kubanischer Schlachter, Bäcker oder Kerzenmacher hat da Pech gehabt. Für ihn ist das Gesetz nicht gemacht.”
Unter diesem Blickwinkel kann auch die Politik Clintons, insbesondere die Aussetzung des Artikels III neu bewertet werden. Was weltweit als erste Konzession auf den wachsenden Protest gegenüber der US-Kubapolitik interpretiert wurde, folgt einer ganz anderen Logik: denn die Aussetzung des Klagerechts verringert das Drohpotential des Exils gegenüber ausländischen Investoren nicht im geringsten, da es alle sechs Monate erneuert werden muß. Es ist deshalb davon auszugehen, daß das Exil dank Bill Clinton schon kräftig an der Blockade mitverdient. Dies läßt auch die Politik der reaktionärsten Kreise des Exils, die sich um den Multimillionär Mas Canosa und seiner Cuban American National Foundacion (CANF) scharen, in einem anderen Licht erscheinen: hier geht es nicht nur um eine anachronistische ideologische Auseinandersetzung, sondern um handfeste Wirtschaftsinteressen. Zwar ist die Prognose von Louis F. Desloge III, daß das Helms-Burton-Gesetz “einen großen Strom neuer ausländischer Investitionen in Kuba” fördert, da die alten Eliten des Exils den neuen Investoren jetzt legal “das volle Anrecht auf ihren Besitz gegen einen Anteil an den Gewinnen anbieten” können, deutlich übertrieben. Immerhin gibt es schon erste Investoren, die sich aufgrund der Blockadeverschärfung aus dem Kubageschäft zurückgezogen haben – auch kam in den letzten zwölf Monaten auf der Insel kein großes Joint-Venture mehr zur Unterschriftsreife. Aber nur solange die Blockade in ihrer jetzigen Form weiterexistiert, garantiert sie den einflußreichen ExilkubanerInnen auch Gewinne. Denn es ist höchst zweifelhaft, daß das kubanische Exil nach einem Systemwechsel auf Kuba seine Besitzansprüche gegenüber ausländischen Investoren international durchsetzen könnte. Auf solche Ansprüche würden die EU und Kanada aus prinzipiellen wirtschafts- und handelsrechtlichen Gründen wesentlich heftiger reagieren als auf die jetzige Blockadepolitik – würden sie doch die Rechtssicherheit bei Direktinvestitionen im Ausland weltweit in Frage stellen. So besteht das Interesse von Teilen des Exils auf einen Erhalt der Blockade nicht in erster Linie darum, um eine weitere Destabilisierung des Castro-Systems voranzutreiben. Es geht vielmehr um eine Absicherung der eigenen Einnahmen. Wie weit diese Interessen die US-amerikanische Kubapolitik beeinflußen, zeigte eine Initiative Clintons Anfang 1997: dabei versprach er der kubanischen Bevölkerung in einem medienwirksamen Auftritt Unterstützungen in Höhe von acht Milliarden US-Dollar. Wichtigste Bedingung für diese Hilfestellung wäre ein “demokratischer Wandel auf Kuba ohne Castro”. Doch sogar dieser Versuch, die Bevölkerung Kubas abzuwerben, verzichtete nicht auf die Blokkadepolitik. Er beinhaltete die Aufrechterhaltung des Helms-Burton-Gesetzes für mindestens weitere sechs Jahre! Der kubanische Parlamentspräsident Alarcon fand auf diesen Vorschlag die treffende Antwort, als er ihn als “machiavellistischen Plan zu Rekolonialisierung Kubas” bezeichnete. Teile des Exils haben inzwischen aber offensichtlich gelernt, bei ihren Rekolonialisierungsgelüsten auf die Kolonie verzichten zu können…

Diese höllische kleine Republik

“Ich bin so wütend auf diese höllische kleine kubanische Re­publik”, rief US-Präsident Theo­dor Roosevelt im Jahre 1906 aus und brachte das Problem der USA südlich von Florida auf den Punkt: “Alles was wir von ihnen wollen, ist daß sie sich beneh­men und wohlhabend sind und glücklich sind, so daß wir uns nicht einmischen müssen. Und jetzt, Gott sei’s geklagt, (…) ha­ben wir keine andere Wahl, als zu intervenieren.”
Viel verändert hat sich nicht in 90 Jahren. Immer noch be­nimmt sich die kleine kubani­sche Republik daneben. Und noch immer sind die USA der Meinung, daß sie keine andere Wahl haben, als sich einzumi­schen, um den KubanerInnen zu Wohlstand und Glück zu verhel­fen. Acht Milliarden Dollar wür­den die USA für ein von Castro befreites Kuba bereitstellen, so Präsident Clinton in seinem jüngsten Bericht an den US-Kongreß mit dem Titel “Hilfe für den demokratischen Übergang in Kuba”.
So weit das Zuckerbrot, mit dem versucht wird, die Kubane­rInnen auf der Insel und die öf­fentliche Meinung der restlichen Welt zu beeindrucken. Letzteres mag derzeit vielleicht sogar der wichtigere Punkt für Washington sein. Denn seit der US-Kongreß vor einem Jahr das sogenannte “Helms-Burton-Gesetz” verab­schiedet hat, das die bisherige Blockade-Politik der USA gegen Kuba nicht nur weiter verschärft, sondern die Sanktionen auch über die Grenzen der USA hin­aus auf Firmen anderer Länder ausweitet, haben die USA noch mehr Probleme als zuvor, dem Rest der Welt ihre Kuba-Politik schmackhaft zu machen. Die Eu­ropäische Union rief bereits die Welthandelsorganisation (WTO) an, in der Hoffnung, daß das dortige Schiedsgericht das Ge­setz für unrechtmäßig erklärt. Auch in den USA mehrt sich die Kritik am Helms-Burton-Gesetz. Der republikanische Kongreßab­geordnete Jim Kolbe nannte das Gesetz “einen Fehler”, bei dem die USA “nur verlieren” könne. In die gleiche Kerbe hieb Wayne Smith, der unter Jimmy Carter einst Leiter der US-amerikani­schen Vertretung in Havanna war: “Das Helms-Burton-Gesetz bereitet uns mehr Probleme als Fidel Castro”. Unter Ronald Reagan hatte Smith seine Stelle aufgegeben. Seitdem agiert er als unermüdlicher “Mr. Entspan­nungspolitik” in Sachen US-amerikanischer Kuba-Politik. Ein Jahr nach der Verabschie­dung des Helms-Burton-Geset­zes organisierte er nun zusam­men mit dem Center for Interna­tional Policy in Washington, dem in Madrid ansässigen La­teinamerika-Institut der EU, IRELA, und der Fondation Ca­nadienne pour les Amériques (FOCAL) eine große internatio­nale Konferenz in der US-Haupt­stadt. Gegenstand: die Auswir­kungen des Gesetzes und die Aussichten für eine etwaige Rücknahme. Zudem sollte ein Weg zu einer verträglicheren Kuba-Politik der USA aufgezeigt werden.
Allzu große Hoffnungen sollte man sich auf letztere indes nicht machen, so der Eindruck nach drei Konferenztagen, einem hal­ben Dutzend Podiumsdiskussio­nen und zahllosen Redebeiträ­gen. Weder der Schiedsspruch der WTO, noch der Widerstand der Europäischen Union wird die Kuba-Politk der USA maßgeb­lich ändern. Klar ist, daß der “extraterritoriale Effekt” des Helms-Burton-Gesetzes, das ei­nem nationalen Gesetz der USA Geltung in anderen Ländern ver­schaffen will, für die anderen Staaten inakzeptabel bleibt. Auch ist mit einiger Sicherheit eine Verurteilung der USA durch das Schiedsgericht zu erwarten, ist das Gesetz doch ein elemen­tarer Verstoß gegen die Regeln des Welthandels.
Zum “Showdown zwischen den USA und Europa”, wie es die Financial Times unlängst auf ihrer Titelseite hochstilisierte, wird es deswegen kaum kom­men. Zunächst werden die USA den Schiedsspruch der WTO eine ganze Weile verzögern, und, wenn sie ihn eines Tages nicht mehr verhindern können, einfach ignorieren. Stuart Eizenstat, Clintons smarter Sonderbeauf­tragter in Sachen Helms-Burton, kündigte auf der Konferenz schon recht unverblümt die tech­nisch-legale Ausrede dafür an: Die USA werden sich auf die Klausel berufen, daß ein Land nicht an den WTO-Spruch ge­bunden ist, wenn die “nationale Sicherheit in Gefahr” ist. Daß dies im Falle des europäischen Handels mit Kuba offensichtlich ein absurdes Argument ist, spielt keine Rolle. Was die nationale Sicherheit der USA gefährdet oder nicht, so Eizenstat, ent­scheide allein die USA.

“Die Antwort unserer Ver­bündeten war extrem posi­tiv!”

Von den Regierungen Euro­pas, Kanadas und Lateinameri­kas wird es dann den obligatori­schen Protest geben. Aber bereits jetzt sind Zeichen der Resigna­tion zu erkennen. Schon längst wird nicht mehr die Rücknahme des Gesetzes gefordert (weil die nicht realisierbar erscheint), son­dern nach einem Modus Vivendi mit dem Helms-Burton-Gesetz gesucht. Stuart Eizenstat präsen­tierte dann auch stolz den Punkt­sieg der USA: Helms-Burton hat zwar dazu geführt, daß die Euro­päerInnen geschlossen gegen die Ausweitung der Embargo-Be­stimmungen auftreten; gleichsam als Kompensation und Beweis dafür, daß sie aber keinesfalls “soft on Castro” seien, hat die EU jedoch eine spürbare Ver­härtung ihrer Politik gegenüber Kuba als “Gemeinsame Position” verbindlich festgeschrieben. So ist eine erhöhte Wirtschaftshilfe sowie der Abschluß eines Ko­operationsabkommens nun sehr viel expliziter als zuvor an “Fortschritte in Richtung Demo­kratie” gebunden. Nicht nur für Spaniens konservative Aznar-Regierung, die diese Wende an­geführt hatte, sondern auch für die EU insgesamt war Eizenstat des Lobes voll: “Die Antwort unserer Verbündeten war extrem positiv!”
Im Gegenzug belohnen die USA die EU lediglich damit, daß sie das Damokles-Schwert, daß Washington mit dem Helms-Burton-Gesetz über sie verhängt hat, nicht in vollem Umfang her­absausen lassen. Dies betrifft das von den Kuba-Investoren beson­ders gefürchtete Kapitel III des Helms-Burtons-Gesetzes, das exilkubanischen Alteigentüme­rInnen das Recht gäbe, vor US-Gerichten europäische Firmen wegen unrechtmäßiger Nutzung ihres einstigen Besitzes zu ver­klagen. Präsident Clinton hat bisher von seinem Recht Ge­brauch gemacht, die Anwendung dieses Kapitels für jeweils sechs Monate auszusetzen. Damit bleibt es zwar weiter außer Kraft – aber als Drohung permanent im Raum. Und Eizenstat nutzt dies munter aus: Wenn die Europäer weiterhin ihre politische Position gegenüber Kuba verhärten – “ihre Bemühungen um die De­mokratisierung in Kuba verstär­ken”, heißt es im O-Ton – würde Clinton auch in Zukunft dieses Klagerecht unter Kapitel III aus­setzen. … Der Deal ist einfach. Wer will, kann dies Diplomatie nennen, wer will, Erpressung. Dan Fisk, der jung-dynamische Mitarbeiter von Jesse Helms, dem Hauptbetreiber des Gesetzes im US-Kongreß, wählte dafür diese charmanten Worte: “Die Konzentration der Gedanken ei­nes Mannes wird ganz wunder­voll erhöht, wenn er weiß, daß er in 14 Tagen gehängt wird.”
Eizenstat und Fisk erklären das Helms-Burton-Gesetz in sei­nem ersten Jahr zu einem vollen Erfolg. Sie führen dabei bemer­kenswerterweise einzig die Ver­änderungen in der europäischen Politik an, nicht jedoch Erfolge bei der Demokratisierung Kubas, die ja angeblich doch Zweck des Gesetzes ist. In der Tat läßt sich da wenig vorweisen. Was kein Zufall ist, wie Wayne Smith meint: “Wann auch immer in der Vergangenheit die USA den Druck auf Kuba erhöht haben, war die Antwort der Regierung in Havanna eine stärkere Diszi­plinierung, eine Einschränkung der Spielräume und das Schlie­ßen der Reihen gegen den äuße­ren Feind. Und genau das ist wieder passiert: Seit Helms-Burton haben wir in Kuba eine Verhärtung der Situation erlebt, nicht einen Liberalisierungspro­zeß.”
Diese Verhärtung bekommen im übrigen nicht nur die abwei­chenden Stimmen auf der Insel selbst zu spüren, sondern auch gerade die moderaten Kräfte in den USA: Nur wenige Wochen vor der Washingtoner Konferenz war in der New York Times ein Kommentar erschienen, der die Blockade-Politik der US-Regie­rung massiv kritisiert hatte, da sie jeglichen demokratischen Wandel in Kuba verhindere. Dies nahm Kubas KP im Zen­tralorgan Granma zum Anlaß für einen eigenen Leitartikel, der just diesen Anti-Blockade-Kommentar als gefährliche Sub­version und ideologische Unter­wanderung geißelte, um ihn im Schlußsatz gar als “eine Art der Kriegsführung” einzuordnen (Granma Internacional, 22.1.97). Nein, auf beiden Seiten haben die Kräfte, die für eine Normali­sierung und Entspannung der Beziehungen eintreten, derzeit keinen Rückenwind.

Der Ärger der US-Firmen

Der vielleicht wichtigste Ver­bündete für eine Aufhebung des US-Embargos gegen Kuba, so der Eindruck nach der dreitägi­gen Konferenz, sind nicht die Proteste der anderen Regierun­gen, sondern die Unternehmen der USA selbst. Genauer: die ex­portorientierten Firmen, für die die weltpolitischen Ambitionen der USA zunehmend das kon­krete Geschäft behindern. Kuba ist dabei nur der prominenteste Fall, nicht der wichtigste. Seit 1993 wurden nicht weniger als 60 US-Gesetze verabschiedet, die in der einen oder anderen Form Handelssanktionen gegen insgesamt 35 Staaten von Afghanistan bis Trinidad und Tobago verhängen, wie Marino Marcich von der National Asso­ciation of Manufacturers, dem Verband der US-amerikanischen Industrie, vorrechnete. Und die Liste wächst weiter. Firmen werden zunehmend als “unzuverlässige Lieferer” be­trachtet, teilweise werden sie so­gar schon mit “Risiko­zuschlägen” belegt: Eine kana­dische Fluggesellschaft hat un­längst den Preis für ihre bei einer US-Firma geleasten Flug­zeuge um mehrere Millionen nach unten gedrückt, weil diese ja Havanna nicht anfliegen dür­fen – für den wachsenden Markt des kanadischen RentnerInnen-Tou­rismus’ sind die kubanischen Strände ein wichtiges Ziel.
Eindrücklich bestätigte diese Kritik auch der Vizepräsident der US-amerikanischen Handels­kammer, Willard A. Workman. Bei jeder x-beliebigen Krise, die eine politische Antwort verlange, würden als Ersatzhandlung in­zwischen Wirtschaftssanktionen gefordert: Allein 1996 wurde die Rekordzahl von 125 Gesetzes­vorlagen mit entsprechenden Sanktionsmaßnahmen einge­bracht. Bei den export- und han­delsorientierten Firmen in den USA macht sich daher langsam aber sicher Alarmstimmung breit. In einem Land, in dem der Satz “Was gut ist für General Motors, ist gut für die USA” einst als berühmtes Leitmotiv der staatlichen Wirtschaftspolitik fungierte, wird der Kongreß nicht unbegrenzt gegen die Inter­essen von General Motors & Co. agieren können. Daß allerdings die Trendwende ausgerechnet mit einer Aufhebung oder zu­mindest Lockerung des Kuba-Embargos anfangen wird, er­scheint eine allzu optimistische Annahme.

Kein Ende der Blockade in Sicht

Die politischen Kräfteverhält­nisse im US-Kongreß und in der Regierung lassen kurzfristig kein Ende der Blockade-Politk er­warten. Vielleicht würde der Kongreß in vier oder fünf Jahren so weit sein, mit Mehrheit das Helms-Burton-Gesetz wieder auf­zu­heben, so die wenig eupho­risch stimmende Einschätzung von Wayne Smith. Aber dann versucht er, selbst diesem noch etwas Positives abzugewinnen: “Immerhin werden die USA dann so viel an Öffnung und In­ves­titionsmöglichkeiten verpaßt haben, daß sie nicht mehr die kubanische Ökonomie so domi­nieren wie vor der Revolution.”

Die Kinder der Verschwundenen

Warum habt ihr H.I.J.O.S. ge­gründet und ar­beitet nicht in ei­ner der bestehenden Men­schen­rechtsorganisationen mit?

Nach einer Reihe von Ge­denk­veranstaltungen für “Ver­schwun­dene” unter der Mili­tär­diktatur gab es Ostern 1995 von der Stadt La Plata aus die In­iti­ative zur Gründung von H.I.J.O.S. Derzeit gibt es un­gefähr 15 Regionalgruppen und da­rin sind über 1.000 Leute or­ganisiert, in Buenos Aires-Stadt kom­men zu den Treffen zwi­schen 70 und 100 Leu­ten. Einige von uns haben bei anderen Men­schen­rechts­gruppen mitgemacht.
Ich bin in Kuba aufgewachsen, nach­dem wir in den 70er Jahren flüch­ten mußten. 1993 kam ich zu­rück nach Argentinien und ar­bei­tete bei den Madres mit. Aber vie­le der Kinder von Ver­schwun­den­en machen nichts, und so ver­suchen wir, eine Art politischen Kri­stal­lisationspunkt zu schaf­fen. Bei H.I.J.O.S. arbeiten Kin­der von Ermordeten, Ver­schwun­denen, politischen Gefan­ge­nen und Exilierten während der letz­ten Militär­dik­tatur mit. [siehe LN 262] Die mei­sten sind so um die 20 Jahre und ha­ben wenig politische Er­fah­rung.

Wie geht das zusammen und welches sind eure Schwer­punkte?

Wir sind in der Tat sehr hete­ro­gen. Das ist ein Vorteil, denn da­mit haben wir ein breites Spek­trum an politischen Per­spek­tiven und Meinungen. Aber gleich­zeitig ist es auch ein Nach­teil, denn viele Themen können nicht vertieft werden. Zur Zeit sind wir in einer Phase, in der wir sehr intensiv ver­schiedene Din­ge diskutieren und ver­suchen, Min­destkonsense zu er­ar­beiten.
Im vergangenen Jahr ging es angesichts des 20. Jahr­es­tages des Militärputsches vor al­lem um die Geschichte und de­ren Interpretation, um die Auf­ar­beitung der Kämpfe in den 70er Jah­ren und die damaligen po­li­tischen Einschätzungen und Per­spektiven, aber auch darum, was in den 80er Jah­ren geschah: die Straf­freiheit für die Mörder, die von der Regierung verordnete Ver­söhnung und an­de­res. In jüng­ster Zeit geht es uns stärker da­rum, die aktuelle Situation der Men­schenrechte in Ar­gen­tinien in den Mittelpunkt der Arbeit zu stel­len: Das Verhalten der Po­lizei, vor allem die zuneh­men­den Razzien, das Thema der poli­ti­schen Ge­fan­genen, die staatliche Re­pression, die Situation in Ar­men­vierteln und anderes. Auch das hat etwas mit der Geschichte und ihrer gegenwärtigen Be­hand­lung zu tun.

Wie arbeitet ihr politisch in der Öffentlichkeit?

Nun, im letzten Jahr haben wir sehr viele Ge­denkfeiern für ge­fallene Compañeros der Mi­li­tär­diktatur veranstaltet. Wir be­su­chen sehr viele Schulen und spre­chen mit den SchülerInnen über die jüngste Geschichte. Ei­ne Komission kümmert sich um Kin­der von Verschwundenen, die nach der Ge­burt ihren Eltern weg­genommen und häufig von Mi­litärs angeeignet wurden. Wir ma­chen eine Zeitung, Kam­pag­nen gegen konkrete Leute unter dem Titel “Die Mörder laufen durch die Straßen” oder “Die Mör­der sind Teil der Regierung”.

Wie ist das Verhältnis von H.I.J.O.S. zu den anderen Or­ga­nisationen wie den Madres der Asociación und Línea Fun­dadora, den Fami­li­en­mit­glie­dern (sog. Familiares) und den Groß­müttern (Abuelas de Plaza de Mayo)?

Mit dem Wachsen von H.I.J.O.S. nehmen auch die Span­nungen zu. Wir wollen mit al­len zusam­menarbeiten, und das ist angesichts der Heteroge­nität von uns selbst schon schwierig, da wir natür­lich einzelne Prä­fe­renzen für die eine oder andere be­stehende Organisation haben. Die Frage der Men­schen­rechts­ar­beit ist in Argentinien ziemlich kom­pliziert, und wir wollen of­fen bleiben – und den Kampf um Men­schenrechte auch nicht auf ei­ne Art und Weise festlegen.

Mein Eindruck ist, daß es Hof­fnungen gibt, H.I.J.O.S kön­nte den Madres als wichtige Men­schenrechtsgruppe folgen?

Ja, das glaube ich auch. Aber da müssen wir noch viel lernen. Wenn wir bestimmte Traditionen auf­nehmen, müssen wir gleich­zeitig viele Fehler korrigieren. Es gab z.B. zu viel internen Streit und Spaltungen in der ar­gen­ti­ni­schen Menschenrechts­bewegung.

Was gilt es heute für dich aus den sozialrevolu­tionären Käm­pfen der 70er Jahre in Argen­tinien zu lernen?

Mei­ne persönliche Meinung, nicht die von H.I.J.O.S. ist, daß wir von den bewaffneten Käm­pfen in den 70er Jahren lernen müs­sen, vor allem aber von den brei­ten Volksmobilisierungen und -kämpfen. Seit Ende der 60er Jahre gab es diese breiten Mo­bi­lisierungen, die sogenannte Neue Linke, und es entstanden auch bewaffnete Grup­pen. In die­ser Zeit hatte die dominante Klas­se wie nie zuvor in der argen­tinischen Geschichte Legi­ti­mi­tätprobleme und Schwierig­kei­ten ihre Projekte durch­zu­setzen. Diese Probleme sind auch der Grund für den Mili­tärstreich. Bis heute wurde die po­litische und wirtschaftliche Macht nie mehr auf diese Art und Weise in Frage gestellt. Wir kön­nen also viel lernen, was Werte, Denkweisen und an­de­res be­trifft. Aber wir müssen auch kri­tisch blei­ben und fragen, was zu der damaligen Niederlage ge­führt hat. Dafür ist es wichtig, die Geschichte auf­zuarbeiten – die des Landes und die der ra­di­ka­len Linken.

Guerilleros im Festivaldschungel

Aus Argentinien waren die Filme “Moebius” und “Picado Fino” zu sehen – interessanterweise beides Low-Budget-Produktionen von FilmhochschulabsolventInnen. Beide Filme bedienen sich einer kühlen, verrätselten Ästhetik, um labyrinthische Innenwelten metaphorisch widerzuspiegeln, die ihre äußere Entsprechung in den abweisenden Fassaden moderner Stadtlandschaften finden, “Moebius”, ein physikalisch-philosophisch angehauchter Thriller, spielt zum größten Teil im U-Bahnsystem von Buenos Aires: Ein junger Topologe erhält den Auftrag, einen im Untergrund verschollenen Zug zu suchen und taucht in doppeltem Sinne immer weiter ab. Thomas, der 18jährige Protagonist von “Picado Fino” (“Weißes Pulver”) zirkuliert dagegen rast- und schlaflos durch die abgewrackten, von Verkehrzeichen und rätselhaften Symbolen dominierten Straßen einer tristen Industriestadt, verschlingt “Ulisses” von James Joyce und träumt davon, in den Norden abzuhausen. Esteban Sapirs collagenhafter Schwarz-Weiß-Film ist ein Trip auf der Kippe zwischen surrealem Witz und bedeutungsschwangerer Überfrachtung. In beiden Filmen findet sich der politische Impetus, der vor 30 Jahren das Neue Lateinamerikanische Kino prägte, allenfalls in Form verrätselter Spurenelemente wieder: So betont das Studentenkollektiv von der Universidad del Cine in Buenos Aires, das “Moebius” inszenierte, das Verschwinden des U-Bahnzuges sei eine Metapher für das Verschwinden von Menschen während der Militärdiktatur.
Im Gegensatz zur Epoche der Militärdiktaturen ist es heute der ökonomische Druck des “freien Marktes”, der das Filmschaffen in fast ganz Lateinamerika gnadenlos kleinhält. Von Argentinien und Brasilien abgesehen sieht die filmerische Landkarte des Kontinentes zur Zeit recht finster aus: Die Filmproduktion Mexikos, traditionell neben Brasilien, Argentinien und Kuba das vierte wichtige Kinoland auf dem Kontinent, ist seit dem “Tequila-Crash” vor gut zwei Jahren wirtschaftlich sehr angeschlagen. Der kubanische Film liegt ebenfalls seit Jahren aus den allseits bekannten ökonomischen Gründen weitgehend brach. Wenn größere Filme entstehen, dann fast immer als Koproduktion mit dem Ausland. So plant zur Zeit der kubanische Regisseur Daniel Díaz Torres (“Alicia im Ort der Wunder”) einen Film in Zusammenarbeit mit einer deutschen Produktionsfirma. Aus den anderen lateinamerikanischen Ländern, wo die Filmindustrie noch kleiner und krisenanfälliger ist als in den vier oben genannten Fällen, wurden nach Angaben der Programmgestalter vom Internationalen Forum des jungen Films nur wenige Bewerbungen eingereicht.

Das neue Cinema Novo Brasiliens

Dank eines neuen Fördersystems, das seit 1995 in Kraft ist, gelingt es dem brasilianischen Film allmählich, sich von dem kulturellen Kahlschlag zu erholen, den die Amtszeit des Neoliberalen Collor de Mello hinterließ. Der hatte nämlich 1990 unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung das staatliche Institut Embrafilme aufgelöst und nebenbei sämtliche Filmförderungsgesetze liquidiert. Für das brasilianische Kino eine Katastrophe. Die Filmproduktion sank zwischen 1990 und 1994 fast bis auf den Nullpunkt, viele Projekte mußten für Jahre auf Eis gelegt werden.
Erst in den letzten zwei Jahren ist durch eine neue Filmförderungspolitik wieder Leben und Dynamik in die brasilianische Kinoszene gekommen. Zum einen richteten das Kulturministerium sowie mehrere Bundesländer Filmförderungsfonds ein, deren Volumen im vergangenen Jahr umgerechnet 120 Millionen Mark umfaßte. Des weiteren wurde 1995 ein neues Filmförderungsgesetz verabschiedet. Dessen Richtlinien setzen allerdings weniger auf staatliche Unterstützung als vielmehr darauf, steuerliche Investitionsanreize für Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, die im Filmbereich investieren. Laut Aussagen des Regisseurs Joao Batista de Andrade sind es zur Zeit allerdings in erster Linie staatliche Unternehmen wie PetroBras, ElectroBras oder RadioBras, die im Filmbereich investieren. Des weiteren erlaubt der Artikel 3 des Audiovisionsgesetzes ausländischen Verleihern, bis zu 70 Prozent der Einkommenssteuer, die sie für ihre Profite aus einem brasilianischen Film entrichten müßten, stattdessen in eine neue einheimische Produktion zu investieren. “Die Guerilleros sind müde” von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb der Berlinale lief, war der erste Film, der von dieser Klausel profitierte.

Exotismus als grelle Farce

So konzentrierte sich der Blick des Festivalpublikums über den großen Teich also auf Brasilien. – “Ich war nie in Brasilien, weil ich gehört habe, daß dort riesige Schmetterlinge den Leuten das Gehirn auslutschen”, meint die zehnjährige Schottin Yolanda gruselnd, als ihr in dem Film “Carlota Joaquina, Prinzessin von Brasilien” (Carlota Joaquina, Princesa do Brasil”) die unglaubliche Geschichte einer spanischen Infantin aus dem 19. Jahrhundert erzählt wird: Während der napoleonischen Kriege mußte besagte Carlota mit ihrem Gatten, dem debilen portugiesischen Prinzen Joao, in die Kronkolonie Brasilien fliehen. Der Film von Carla Camurati ist eine lustvoll, opulent und schrill inszenierte historische Farce, ein grell kolorierter karikaturhafter Bilderbogen. Der Blick der gekrönten Häupter, die nach langer Überfahrt verlaust am Strand von Rio de Janeiro landen, auf das tropische Völkergemisch ist konsterniert und fasziniert zugleich. Der Film, der in Brasilien zum Kassenschlager wurde, wirft einen bitterbösen, aber gleichzeitig äußerst amüsierten Blick auf die Kolonialgeschichte. Er führt die exotischen Stereotype, die die Europäer auf Brasilien projizierten, vor und kokettiert gleichtzeitig mit ihnen.
Auch “Der Indio Brasiliens” (“Yndio do Brasil”) von Silvio Black, eine Collage aus Dokumentar- und Spielfilmmaterial ist eine schonungslose, aber gleichzeitig humorvoll-unterhaltsame Abrechnung mit Rassismus und Exotismus, romantischer Verklärung der “edlen Wilden” und paternalistischer Zwangsbeglückung.

Von Blinden und Gläubigen

Ganz anders dagegen der Tonfall bei “Der Sertao der Erinnerungen” (“O Sertao dos memorias”). José Araujos Essay über den kargen brasilianischen Nordosten erinnert in seiner intensiven, symbolhaften Bildsprache an Klassiker des brasilianischen Cinema Novo. Gleichzeitig ist das Ganze von einer starr-religiösen, voraufklärerischen Geisteshaltung durchdrungen, die trotz sozialer Kritik weit hinter bereits existierende Filme zurückfällt. Auch bei “Glaube mir” von Bia Lessa, einem bei Workshops auf dem Lande entstandenen Film, der durch die Erzählung “Der Erwählte” von Thomas Mann inspiriert ist , mischen sich paradoxerweise eine experimentierfreudige, poetische Inszenierungsweise und ein krudes Beschwören religiöser und archaischer Elemente. Das Problematische bei beiden Filmen ist nicht, daß sie sich mit einem im Volk verankerten Mystizismus beschäftigen, sondern, daß sie sich unreflektiert und distanzlos hineinfallen lassen.
Bei “Der Blinde, der nach Licht schrie” (“O cego que gritava luz”) fällt ebenfalls die Liebe zum Symbolismus ins Auge: Ein Blinder, der seit Jahren vergeblich nach einem Mörder sucht, ein trauriger alter Geschichtenerzähler, der beim Erzählen eben jener Mordgeschichte regelmäßig die Fassung verliert und nicht mehr weitersprechen kann, ein Seegrundstück, um das vor Jahren ein Kampf zwischen Spekulanten und Landbesetzern entbrannte. Altmeister Joao Batista de Andrades melancholischer Abgesang auf herumirrende Gestalten und ihre gescheiterten Hoffnungen hat starke und intensive Momente. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist die Dramaturgie jedoch so offenkundig, daß man schon blind sein müßte, um nicht den weiteren Verlauf vorauszusehen.
Die stilistische Bandbreite der acht Filme, die das diesjährige Forum präsentiert, ist enorm, die Themenpalette so heterogen wie die gesellschaftliche Topographie Brasiliens. Eine kleine Sensation ist – nicht für brasilianische (Geschlechter)Verhältnisse in der Medienbranche, sondern auch im internationalen Vergleich – daß die Hälfte der in Berlin präsentierten Werke von Regisseurinnen stammen. Keiner der acht Forums-Filme ist von seiner Bildsprache her besonders experimentell, alle scheinen sich – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund des durch das neue Filmförderungsgesetzes etablierten Vermarktungsdrucks – um ein breiteres Publkum zu bemühen.

Reality-TV ist immer dabei

So bedient sich beispielsweise auch Lúcia Murat in ihrem Film “Süße Mächte” (“Doces Poderes”), der eine intelligente, schonungslose Abrechnung mit den Verflechtungen zwischen kommerziellen Fernsehsendern und korruptem, populistischen Polit-Business darstellt, einer an den Sehgewohnheiten von Fernsehzuschauern orientierten Bildsprache.
Auch bei “Ein Himmel voller Sterne” (Um céu de estrelas”) und “Wie Engel geboren werden” (“Como nascem os angos”), wird die Rolle des Fernsehens nicht gerade positiv dargestellt. Beides sind Großstadtfilme, die Geiselnahmen als Verzweiflungstat zum Thema haben – und immer ist ein geiferndes Reporterteam des Fernsehens sofort zur Stelle. In “Ein Himmel voller Sterne” versucht ein junger Arbeitsloser mit allen Mitteln, seine Ex-Freundin zurückzuerobern. Die Klaustrophobie eines schäbigen Appartments, die eskalierende Haßliebe zwischen den beiden wirde von der jungen Filmemacherin Tata Amaral atmosphärisch dicht inszeniert – mit verwackelter Handkamera und in Echtzeit. Sex and Crime. Die Regisseurin bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Erotisierung von Gewalt und gnadenlosem Blick auf desperates Machotum.

Geiselnahmen und Geschlechterkampf

Bei “Wie die Engel geboren werden” von Murilo Salles schlittern zwei Dreizehnjährige in die Rolle von Geiselnehmern hinein, als sie mit dem flüchtigen Drogenboß ihres Viertel unterwegs sind. Das Kidnapping eines reichen Nordamerikaners und dessen verwöhnter Tochter gerät für beide Seiten zu einer Begegnung der dritten Art, einer Mischung aus Annäherung, Aberwitz und sinnloser Gewalt. Der größte Wunsch der Kidnapperin Branquinha ist, ins Fernsehen zu kommen. Und wie bei “Ein Himmel voller Sterne” tun ihr die Medien den zweifelhaften Gefallen, sind als sensationslüsterne, verständnislose Zaungäste mit von der Partie.
Auch “Die Guerilleros sind müde” (“O que é isso, companheiro?”) von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb präsentiert wurde, handelt von einer Geiselnahme – allerdings einer politisch motivierten aus der Zeit der Militärdiktatur. Der Film über die Entführung des US-amerikanischen Botschafters Charles Burke Elbrick durch linke Guerilleros 1969 in Rio ist der Versuch, sich mit einem politischen Reizthema auseinanderzusetzen und gleichzeitig “ausgewogen” zu sein. So saßen in der Berlinale-Pressekonferenz der Ex-Guerillero Francisco Gabeira, nach dessen Literaturvorlage der Film entstand, und die Tochter des Entführten gemeinsam auf dem Podium, um den Film zu präsentieren.

Im Schatten von “Mars Attacks”

Auch die größere Präsenz Lateinamerikas auf dieser Berlinale hat noch nichts an der Grundproblematik geändert, daß Filme und Themen aus diesem Teil der Welt inmitten des Berlinalezirkus ein peripheres Dasein führen. Oder, um es netter mit den Worten des Ex-Tupamaro Pepe Mujíca auszudrücken – “man fühlt sich ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß”. Weltbewegende Konflikte wie der Krieg der menschlichen Zivilisation gegen glitschige giftgrüne Alienmonster wie bei “Mars Attacks” – ein der US-amerikanischen Wettbewerbsbeiträge – saugen natürlich weitaus mehr Presse und Publikum an. Oder der bizarre Rummel um den “Hustler”-Gründer und Porno-Veteranen Larry Flynt: Im Kielwasser von Milos Formans kontrovers diskutiertem und schließlich mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Film avancierte Larry Flynt für Teile der linksliberalen Kulturschickeria zu einer Mischung aus standfestem Bürgerrechtler und ulkigem Spaßguerillero.
Neben dem uruguaischen Ex-Tupamaro Pepe Mujíca, der eingeladen war, um den deutsch-schweizerischen Dokumentarfilm “Tupamaros” von Heidi Specogna und Rainer Hoffmann vorzustellen, waren dieses Jahr mit Fernando Gabeira und Lúcia Murat, der Regisseurin von “Süße Mächte”, zwei weitere lateinamerikanische Ex-Guerilleros als offizielle Festivalgäste anwesend. Auch wenn diese drei von ihrer Persönlichkeit und ihren derzeitigen politischen Aktivitäten her sehr unterschiedlich sind – siehe LN-Interviews – ist dies doch ein interessantes Zusammentreffen. Einerseits ist es sehr begrüßenswert, wenn ein Filmfestival einem so wichtigen Abschnitt lateinamerikanischer Geschichte wie der Guerilla zu Zeiten der Militärdiktatur ein Forum gibt. Gleichzeitig könnte man auch polemisch sagen “Die Guerilleros sind salonfähig” – zumindest diejenigen, deren bewaffneter Kampf der Vergangenheit angehört und daher den vielbeschworenen “historischen Abstand” ermöglicht. Ob sich die Festivalleitung wohl auch trauen würde, einen Film über aktuellere Entwicklungen in Lateinamerika zu zeigen und dazu jemanden von der mexikanischen EZLN oder der peruanischen MRTA aufs Podium zu bitten? Wahrscheinlich müssen wir aber noch etliche Jahre warten, bis die Botschaftsbesetzung in Lima oder die Lebensgeschichte von Comandante Marcos verfilmt wird. Schade, denn dem wäre bei der Berlinale die Aufmerksamkeit von Presse und Publikum sicher.

Ein Präsident unter Zugzwang

Was ist passiert? Ein Kom­mando einer Guerillaorganisa­tion, deren Untergang von Präsi­dent Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die di­plomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Bot­schafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phan­tasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaff­neten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fuji­mori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Ka­pitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Gei­seln sind teilweise international und/oder prominent, Medienin­teresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.

Und es gibt sie doch

Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine unterge­ordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Ausein­andersetzung mit Sendero kul­minierte 1993 in einer großen In­szenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsen­tierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Er­folg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbeset­zung der MRTA aber läßt Fuji­mori wie einen Schwergewichts­boxer erscheinen, dem ein wen­diges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentli­chen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie die­ser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er we­nigstens beim Ausgang der Gei­selnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Ent­scheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder aus­ländische Spezialeinheiten kön­n­ten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklär­ten japanischen Willen das Ge­lände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zu­künftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmög­lich machen würde. Kein Wun­der, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzich­tet.
Wenn keine gewaltsame “Lö­sung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Op­tionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jeden­falls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Priori­täten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselneh­mer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könn­ten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzep­table Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-Mitkämpf­er­In­nen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Ge­fangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil ge­flogen. Abgesehen vom prinzi­piellen Problem, keine Nachah­mungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Re­gierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wür­den die Freigelassenen im Exil­land bleiben und vielleicht ein­mal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Gei­selnehmer sich der Tatsache be­wußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwär­tig auch keine Zukunftsaussich­ten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirk­lich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen kon­kret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse ver­breitet wurde, ist von unverbind­licher Allgemeinheit. Nicht ein­mal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Er­fahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ih­rem kompromißlosen Kampf da­für, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, son­dern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Ein­fluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen De­partement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Haupt­stadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minder­heit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unter­stützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der ein­zig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehr­heit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ih­rem “Glück” gezwungen werden sollten.

Guerilla ohne Zukunft?

Die MRTA dagegen, orien­tiert an den revolutionären Er­fahrungen in Kuba und Mittel­amerika, war aus ihrem Ver­ständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewie­sen, die Massen wirklich zu ge­winnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozi­stische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minder­heit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesell­schaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Ba­sisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Op­tion dagegen setzen wollte. Wäh­renddessen befand sich die Ver­einigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Ein­flusses und sammelte einen großen Teil des linken Spek­trums in ihrem Umfeld. Vorherr­schend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Eini­gung der Linken in einem Wahl­bündnis, en vogue war Selbstor­ganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal al­ler traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Be­deutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Ge­genteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwi­schen Militär und Polizei, Sen­dero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereit­schaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliede­rung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exil­regelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terror­isten” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fu­jimori bei der letztlichen Ent­scheidung über das weitere Vor­gehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interes­sen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Be­setzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochris­kantes Spiel. So, wie es zu Re­daktionsschluß dieser Ausgabe aus­sieht, könnte nur ein Ver­hand­lungskompromiß zwischen Re­gierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Be­set­zung sorgen.

KASTEN

Die MRTA – wer ist das und was will sie?

Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhän­gig von ausländischem Kapital ist, das will die Mo­vi­miento Revolucionario Tupac Amaru (Re­vo­lu­tionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitge­gründet, ide­ologisch in der Tradition von Kuba und Mit­tel­amerika stehend, kämpft die MRTA seit über ei­nem Jahrzehnt gewaltsam gegen den pe­ru­a­ni­schen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Re­volution münden, die als Teil der Weltrevolu­tion…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Ama­ru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschie­dener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revo­lu­tionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantrei­ben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Ge­werkschaften und durch Gründungen von Nach­barschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Pe­rus: Im November und Dezember 1988 wurden ver­schiedene Dörfer, hauptsächlich im Departe­ment San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktio­nen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kund­gebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen in­formiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. No­vember 1988 die Präfektur von Lima mit Rake­tenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft statt­gefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidi­gungsminister General Albujar auf offe­ner Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem ent­führte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-ame­rikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Ver­fü­gung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Gue­rilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Ver­teilungen von Lebensmitteln in den Armen­vier­tel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zu­sam­men mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hoch­sicherheitsgefängnis von Lima; einer der spek­takulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jah­ren.
Während des Wahlkampfes um die Präsident­schaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstan­den.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 ge­wonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung al­ler progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Lumi­noso hingegen bezeichnete die MRTA als kon­ter­re­volu­tionär, als zuwenig radikal, so wie alle Or­ga­nisa­tionen, die sich nicht Sendero unter­ordnen woll­ten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Ver­fassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anfüh­rer der MRTA Victor Polay Campos wieder fest­ge­nom­men.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft ver­urteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, über­nimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des ja­panischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill

Krieg um die Umwelt?

In der Einleitung des Buches wird der spektakuläre Titel gerechtfertigt: “Wenige würden leugnen, daß Lateinamerika und die Karibik Zeugen eines Umweltkrieges geworden sind, der dramatischer, verbreiteter und sicherlich traumatischer als jeder militärische Konflikt ist.” Wirklich? Tatsächlich wird das Buch weder dem Titel noch dieser Feststellung der Einleitung gerecht. Damit ist schon die zentrale Schwierigkeit, die ich mit dem Buch habe, angedeutet: In dem Reader finden sich eine Vielzahl von Beiträgen zu den unterschiedlichsten Themen, die sich aber nicht mehr zu einer zentralen These verdichten lassen. Das Buch bestätigt meine Abneigung gegen Sammelbände und Bücher, die gleich einen ganzen Kontinent behandeln. Solche Unterfangen können eigentlich nur gelingen, wenn sie paradigmatisch einige zentrale Fallbeispiele analysieren, um so zu diskutierbaren Schlußfolgerungen zu kommen. Ansonsten ist ein Sammelband so sinnvoll und öde wie etwa das Zusammenbinden von LN-Artikeln unter zwei Buchdeckeln.

Ein zu breiter Überblick

Vielleicht ist das ungerecht. Will man es positiv sehen, so ließe sich anführen, daß der Sammelband eine Vielzahl von Themen angeht und damit die Wahrnehmung von Umweltkonflikten in Lateinamerika, die oft doch sehr auf die Tropenwaldzerstörung fixiert ist, erweitert. Zwar stellt auch “Green Guerrillas” Regenwald und indigene Völker in den Mittelpunkt, aber ein Kapitel widmet sich den Kosten der Modernisierung, ein anderes den Umweltkonflikten in Städten. Der Kauf des Buches wird mit Artikeln belohnt über Ökotourismus in den ecuadorianischen Küstenregenwäldern, über Puerto Ricos Energiepolitik, über Fischer in Honduras und Pionierfrauen in Mexiko, um nur einige Beispiele zu nennen.
Kaum überraschend, daß bei dieser Vielfalt von Themen die Qualität der einzelnen Beiträge extrem schwankend ist. Die Amazonasproblematik zum Beispiel ist mit zwei exzellenten Artikeln vertreten. Stephen Nugent rückt auf knappen acht Seiten einige häufige Wahrnehmungsverkürzungen zurecht. Er plädiert dafür, die Forschungen von Uhl und Mattos zur Kenntnis zu nehmen, die zeigen, daß in einigen Regionen Amazoniens Landwirtschaft und Viehzucht keineswegs in die sofortige ökologische Katastrophe führen. “Die Debatte geht nicht mehr darüber, ob Vieh zu Amazonien paßt. Viehzucht ist gekommen, um zu bleiben.” Diese ist eine These, die in das Zentrum einer wichtigen Diskussion führt, denn längst sind Rinder nicht nur auf den großen fazendas anzutreffen.
Der zweite, ausgezeichnete Artikel zum Thema Amazonien stammt von Anthony Hall und behandelt die Geschichte der Kautschukzapfer, insbesondere nach dem Tod von Chico Mendes. Hall gelingt es trotz der Kürze, einen kleinen Überblick über Erfolge und Schwierigkeiten dieser bedeutenden ökosozialen Bewegung zu geben. Bemerkenswert ist, daß Hall weder den üblichen Heiligenschein verbreitet, noch in das andere Extrem der Denunziation verfällt, sondern Schwierigkeiten der Bewegung, insbesondere beim Versuch, ökonomische Perspektiven zu entwickeln, markiert. Ärgerlich ist lediglich der Titel “Ist Chico Mendes umsonst gestorben?” Soll der Mord, den ein verkommener Großgrundbesitzer begangen hat, tatsächlich historischen Sinn bekommen? Das Lebenswerk Chico Mendes’ mag Früchte tragen, sein Tod bleibt grausam und gemein.
Nach dieser hoffnungsvollen Lektüre dann gleich die Ernüchterung.

Niveau einer Lokalzeitung

Der dritte Beitrag über Amazonien ist so schwach, daß es schon ärgerlich wird. Catherine Matheson kündigt einen Beitrag über “Fruit farming in the Brazilian Amazon” an, der sich als Erlebnisbericht über den Besuch einer Kooperative in Marabá entpuppt. Da ich die dort entwikkelte Arbeit aus eigener Anschaung und Begleitung über mehrere Jahre kenne, kann ich nur bestätigen, daß der Artikel von Ungenauigkeiten und Fehlern nur so wimmelt und alle schlechten Merkmale einer schnellen journalistischen Schreibe trägt. Der Autorin gelingt es nicht, eine einzelne Erfahrung zu analysieren, um daraus diskutierbare Schlußfolgerungen zu ziehen.
Dieses Manko teilt sie leider mit einer Reihe anderer Artikel, die konkrete Fälle oder Projekte behandeln, zum Beispiel über Pionierfrauen oder Ökotourismus in Ecuador. Es ist wohl die Vielzahl relativ belangloser Artikel, die in jeder Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung ihren Platz hätten, die den Sammelband diffus und disparat erscheinen lassen.
Schade für die zahlreichen guten Artikel, die in dem Sammelsurium unterzugehen drohen. Tatsächlich finden sich in dem Band eine Reihe von lesenswerten Beiträgen, etwa über Haiti (Charles Arthur) oder Kuba (Peter Rosset). Diesen Artikel gelingt die Balance zwischen konkreter Beschreibung und dem Aufgreifen von Aspekten, die über den Einzelfall hinaus wichtig sind.

Stadtplanungsguerilla

Enttäuschend ist auch das Kapitel über Städte. Die durchaus annehmbare Einleitung versucht zu recht, Gegenakzente zu den allzu leichtfertig vorgetragenen Katastrophenszenarien über Stadtentwicklung in Amazonien zu setzen. Leider findet sich dann kein Beitrag mehr, der die Frage der Entwicklung der Megastädte aufgreift. Die Fallstudien, mit Ausnahme des Artikels über Santo Domingo, bleiben dann wieder zu sehr auf den Einzelfall beschränkt. Brasilien ist mal wieder mit dem unvermeidlichen Curitiba vertreten und einem Artikel, der nur das wiedergibt, was alle, die sich für Lateinamerika interessieren, an verschiedensten Orten (auch in den LN) nachlesen könnten. Curitiba ist sicherlich ein interessantes Beispiel für eine effektive und innovative Stadtplanung – aber Green Guerrilla?

Green Guerrillas. Environmental Conflicts and Initiatives in Latin America and the Caribbean, hg. v. Helen Collinson, London 1996, 250 S., 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Castro contra Aznar

Die Regierung Aznar vom konservati­ven Partido Popular (PP) tut sich schwer mit der Ausübung der traditionellen Vorreiter­rolle Spa-niens in der Beziehung Kuba – eu­ropäische Außenpolitik. An den seit 1993 ent­standenen joint-venture-Un­ternehmen auf kuba-nischem Bo­den, vorwie-gend in der Tou­ristenbranche, ist mehr-heitlich spanisches Kapital be­teiligt. Die BewohnerInnen der ibe­rischen Halb­insel machen auch einen Großteil der Urlau-berInnen auf dem Antillen-Ei-land aus, das ehedem von ihnen “entdeckt” wurde. Die Regierung Aznar fühlt sich jedoch sichtlich der etwas weiter nördlich gelten­denden Argumentationsweise verpflichtet und unter­breitete in diesem Sinne dem politischen Au­ßenminister­kommitee der EU eine Textvorlage, in der zu einer gemeinsam zu verabschie­denden härteren Vorgehensweise gegen­über Kuba aufgefordert wurde. Knackpunkte die­ses Textes wa­ren die bereits bei vorange­gangenen Gelegenheiten aufs Tapet gebrach­ten Forderungen nach Demokratisierung, Re­spektierung der Menschenrechte und wirt­schaftlicher Öffnung, und – als Novum – die Aufforde­rung, die Türen der jeweiligen Bot­schaften der 15 Mitglieds­staaten sollten “jederzeit der (kubanischen) Opposition” of­fenstehen.
Letzteres brachte auf kubani­scher Seite das Faß zum Über­laufen und führte dazu, daß Ca­stro am 26. Novem­ber 1996 dem neu designierten Botschaf­ter der spanischen Re­gierung, José Co­derch, das Diplomatenplazet ent­zog. Eine Vorgehensweise, die einerseits als Über­reaktion, als ein Zei­chen wachsender Nervo­sität Castros gedeutet wird, ande­rerseits aber auch als improvisa­to­rische Geste eines alten Gueri­llero-Hasen: Angriff und Ver­tei­digung zu­gleich.

Remis oder schachmatt?

Die Interpretation der EU-Vorlage von ku­banischer Seite fiel denkbar leicht, paßt doch alles ins vorgestrickte Schema: Es han­dele sich um eine “Blaupause” der Empfeh­lungen des Sonderbeauftragten der US-Re­gierung, Stuart Eizenstadt, was sonst ? In einer ersten Erklä­rung, die dem noch amtie­renden spanischen Botschafter Edualdo Mira­peix, den Coderch Mitte Dezember hätte ablö­sen sollen, überbracht wurde, heißt es unmißverständ­lich, die spanische Regie­rung habe sich “in die Speerspitze der nordamerikani­schen Interessen im Rahmen der EU” verwandelt. Um den aktu­ellen bila­teralen Zu­stand der beiden Länder ins rechte Licht zu rücken, bezeich­nete Castro Aznar als “Pferdchen”, das mit der Karibik­insel wohl eine Schach­partie führen wolle.
Die Begründung Havannas für den Ent­zug des Diplomatenpas­ses für Coderch grün­det auf drei Argumenten: Die Einmischung in in­nere Angelegenheiten Ku­bas, die “grobe Will­kür”, eine derartige Eskalation der Span­nungen herbeizuführen, und die Verletzung der Normen der Wiener Konvention über diplo­matische Be­ziehungen – so ein Kommuniqué des ku­banischen Außenministeriums.
Provokationen spanischer Diplomatie
Coderch selbst, der zum be­treffenden Zeitpunkt ja noch gar nicht Amtsinhaber war, ist hier eher als “Zugpferdchen” in ei­nem ohnehin schwelenden Kon­flikt zu sehen. Dennoch wurde seine Erklärung in einem ABC-Inter­view, “jede Botschaft habe zwei Türen”, von Kuba als Pro­vokation wie auch Drohung auf­gefaßt, erin­nerte sie doch an die sogenannte “Botschaftskrise” vom Juli 1990, als sich zahlrei­che kubanische Dissidenten in die spanische Botschaft in Ha­vanna flüchteten. In ähnlicher Weise ist die Gründung der “His­pano-Kubanischen Stiftung” in Madrid durch den Hardliner Mas Canosa und PP-Politiker noch nicht verwunden, die Kuba als Akt der offenen Feind­se­lig­keit und als Komplizenschaft der spa­nischen Regierung mit der “an­ti­revolutionären Mafia” be­zeich­nete.
Coderch provozierte zudem mit einer Anspielung auf das histori­sche Datum 1898. Damals “verlor” Spanien Kuba im Krieg an die USA, was mittlerweile als koloniale “Un­abhängigkeit” ge­feiert wird. Coderch äußerte den frommen Wunsch, das 100-jäh­rige Ju­biläum in zwei Jah­ren möge in einem de­mokratischen Kuba gefeiert wer­den. Natürlich Wasser für die rhetorische Mühle Castros: Da­mals wie heute sei man an den Yankee-Im­perialismus ausgelie­fert wor­den.
Das kubanische Außenminis­terium von Ro­berto Robaina legte indes Wert darauf, das Pro­blem als ein bilaterales darzu­stellen, und lud alle europäischen Bot­schafterInnen ausschließlich des spanischen zu einer Erklä­rung. In dieser betonte Vizemini­sterin Isabel Allende, die derzei­tige Eskalation sei für beide betei­ligten Länder kontrapro­duktiv und nutze allein der “antikubanischen Mafia in Miami”. Es wurde Dialogbereit­schaft signali­siert und die indi­rekte Zusage gemacht, man werde einem neu vorgeschla­genen Bot­schafter nicht die An­erkennung verwei­gern – dies habe man schließlich bisher nie getan. An Aznar erging dennoch die Auffor­derung, unter dem Vorzeichen der Nicht-Einmi­schung noch ein­mal alles zu überdenken. Insgesamt eine ku­banische Haltung, die Rücken­deckung ausgerechnet von den spanischen Investoren auf Kuba erfährt. Besonders die Hotel­ branche zeigt sich indig­niert: ei­ner von 450 spani­schen Unter­nehmern, der an einer interna­tionalen Handelsmesse in Ha­vanna teilnahm, sprach von einer “unglaublichen Fehlein­schätzung eines Marktes”, den die spani­schen Unternehmer schließlich geöffnet hät­ten, hier­bei Hürden für andere in­vestitions­willige Staaten aus dem Weg räumend. In der Tat sitzen potentielle In­vestoren, al­len vo­ran Mexiko, in den Startlöchern, sollten sich die ku­banisch-spanischen Beziehun­gen nach­hal­tig verschlechtern.

Stürmische Liebe

Die jetzige ist nicht die erste Bezie­hungskrise in besagtem bi­lateralen Verhältnis. Es gab be­reits seit Castros ersten Regie­rungsjahren teilweise heftige Auseinander­setzungen mit Spa­niens damaligem Franco-Re­gi­me, zu dem Castro jedoch nie Ge­genposi­tion bezog – bis heute nicht. Im Gegenteil: auf die spa­nische EU-Vorlage vom 16. No­vember folgte drei Tage später der Aus­spruch Castros, Franco habe mehr Würde be­sessen als Aznar, da er dem amerikani­schen Druck widerstanden habe.
Das Franco-Regime seines Zeichens stand Anfang der 60er Jahre der neuen kubani­schen Führung mit einer Mischung aus Vor­sicht und Hoffnung ge­genüber. Bald entstand eine ern­stere Krise, ausgelöst durch einen Fernsehauftritt in Kuba, bei dem sich der spanische Bot­schafter Lojendio und Castro ge­genseitig mit Verbalinjurien be­schuldigten, eine Diktatur auf­rechtzuerhal­ten. Das diplo­ma­tische Niveau wurde darauf­hin auf Handelsbeziehun­gen he­run­ter­ge­schraubt. Zu einem Eklat kam es dann, als Castro die auf der Insel tä­tigen etwa 700 spani­schen Pries­ter vor die Al­ternative stellte, entweder Zuk­kerrohr zu schneiden, oder nach Hause zu fahren – die Wahl fiel dann doch eher zu­gunsten der Heimat aus. Dieser Faux Pas Ca­stros ist wohl mittlerweile durch seine Papst­au­dienz im November ausge­merzt.
Trotz der Eklats stellte sich das Franco-Regime jedoch nie auf die Seite der USA und ihrer Strategie des Wirtschaftsembar­gos. 1973 wur­den die vollen di­plomatischen Beziehungen wie­derhergestellt, und als Franco 1975 starb, ord­nete Fidel Castro eine dreitägige Volkstrauer an.
Francos demokratisch ge­wählter konser­vativer Nachfol­ger Suarez war dann auch der er­ste westli­che Staatschef, der 1978 Kuba be­suchte. Mit dem sozialisti­schen Präsidenten Gon­zález ge­stalteten sich die Beziehungen später ohnehin un­komplizierter – seit 1993 setzten schließlich die spanischen Di­rekt­investi­tio­nen in Form von joint-ven­tures in großem Um­fang ein.

Spielsüchtige Duz-Freunde

Mit Aznar jedoch herrscht ein anderes Klima – aller Duzerei und der Geste des Kra­wattentauschs auf dem ibero­amerikanischen Gipfel im No­vember in Chile zum Trotz. Hier redete Aznar Tacheles: “Ich habe nichts ge­gen Kuba, aber ich habe alles gegen Dein Regime”, sagte er zu Ca­stro, und tags drauf: “Wenn Castro eine Schachfigur bewegt, wird auch Spanien eine bewegen”.
Während Castro am 2. De­zember mit Pomp und der nach zehn Jahren ersten Militärparade den 40. Jahrestag der Ab­fahrt des Revolu­tionsschiffs Granma be­ging, verabschiedete die EU zeitgleich die strittige Resolu­tion. Dies jedoch in einer stark abge­mil­derten Form, die nicht wesentlich von der bisherigen Kuba-Position der Gemeinschaft ab­weicht.
Die EU-Linie in der Kuba-Politik un­terschied sich seit jeher von der US-ameri­kanischen da­hingehend, daß Funktionalismus und Empfehlungen vorherrschen – “sanfter” Druck ohne Anschuldi­gungen. So wird auch in der jetzt ver­abschiedeten Re­solution die Forde­rung nach Demokratisie­rung, Öffnung und der Einhal­tung der Menschen­rechte ledig­lich positiv akzentu­iert, und ohne Terminangabe – “in dem Maße, wie Refor­men auf Kuba voran­schreiten” – eine über huma­nitäre Hilfe hinausge­hende wirt­schaftliche Hilfe in Aussicht ge­stellt. Von den ur­sprünglichen spanischen Forde­rungen, die – so die Kritik vor al­lem von schwedischer, belgi­scher und französischer Seite – fast sklavisch an der US-amerikani­schen Rhetorik orien­tiert waren, ist in dem Dokument nicht mehr die Rede. Anzu­mer­ken ist auch, daß die “gemein­sa­me Position” nicht vom Mini­ster­rat, sondern vom Ausschuß für Wirtschaft und Finanzen ver­ab­schiedet wurde, im Vor­der­grund standen also eher wirt­schaft­liche als politische Inter­essen.
Spa­nien machte schließlich auch nicht von seinem Recht Ge­brauch, den Entwurf noch einmal zu disku­tieren. Hierin ist wohl eine Re­aktion auf die scharfe Kritik aus den eige­nen Reihen zu sehen. Denn nicht nur die spani­schen Unterneh­mer, die auf Kuba inve­stieren, zeigten ihr Be­fremden, auch PP-Mitbegründer Manuel Fraga, der Gouverneur von Gali­zien, machte sich für eine ver­söhnliche und de-es­kalie­rende Kuba-Politik stark. Er beklagte, Aznar befände sich auf einem “emotionalen Irrweg”.

Demokratisierung – auf wessen Rücken?

Gerade mit der galizischen Provinz ver­binden viele Kubaner “familiäre Bande”, nicht nur die Castros. Dies ist jedoch nicht der alleinige Grund für Fragas Di­stanz zu Aznars Politik. Fraga, der von 1962 bis 1969 Minister unter Franco war, gehört zu der Generation, die den spanischen Übergang zur Demokratie aktiv und nicht wie die Altersgenossen Az­nars als passive Zuschauer mitbekommen ha­ben, von daher ist die Sichtweise eine an­dere und differenziertere.
Die spani­sche Zeitung El País kommen­tierte die Überreaktion Aznars ge­genüber dem Castro-Regime als eine Art Kompen­sation für die eigenen “weißen Sei­ten” in der politischen Bio­gra­phie, was De­mokratisie­rungs­pro­zesse angeht. Eine He­ran­ge­hensweise, für die letztendlich die um Demokratie bemühten Ku­ba­nerInnen die Ze­che zu zah­len hätten. Gerade das Bei­spiel Spa­niens habe gezeigt, wie die Demon­tage eines dikta­torischen Systems vonstatten ge­hen könne: Ohne eine Invasion von außen, einen bewaffneten Aufstand oder einen Bür­ger­krieg, vielmehr durch ausge­handelte Überein­künf­te zwischen reformistischen Kräf­ten des alten autoritären Re­gimes und der de­mo­kratischen Op­po­sition. Unter Aus­schluß der mi­litanten Flügel beider Gru­p­pie­rungen sei damals die Basis für einen politi­schen Konsens ge­legt worden, der trag­fähig war, die Konflikte ge­mäß den Regeln ei­nes Rechts­staates aufzulösen.

Wie gehabt: David gegen Goliath

Die Reaktion Castros auf Az­nars Affront war in ge­wisser Weise vor­aus­seh­bar. Bereits die Tat­sa­che, daß es ganze zwei Mo­nate dau­erte, bis Coderch das be­an­trag­te Diplomaten-Pla­zet über­haupt bekam, zeug­te von ei­ner ge­stör­ten politischen Be­zie­hung. Ein ge­fähr­li­cher Schachzug war dann der Entzug der di­plo­mati­schen Aner­ken­nung al­le­mal, da er Spa­nien durchaus in Kon­fron­ta­tion mit der EU hätte brin­gen kön­nen, die kein Inter­esse hat, von ih­rer nicht US-ame­ri­ka­nischen Po­si­tion ab­zu­rücken. Nun aber bleibt die Krise zwi­schen Spa­nien und Ku­ba vorerst auf bi­late­ra­ler Ebene.
Außenminister Jor­ge Matutes deutete be­reits unmittelbar nach dem Entzug des Pla­zets für sei­nen Unter­ge­benen an, man wer­de moderat vorge­hen, sich Zeit lassen. Bis auf weiteres wird sich die Auf­ent­haltsdauer des am­tierenden Bot­schaf­ters Mira­peix verlängern, Co­derch kann sich um seine Di­plomatenschule in Madrid küm­mern. Matutes freut sich, daß die EU endlich zu ei­ner einstimmi­gen Außenpo­litik ge­genüber Ku­ba gefunden hat, während sein Amts­kol­le­ge Ro­baina betont, ei­nen neu ge­fun­denen Bot­schaf­ter-Kan­dida­ten werde Kuba wohl anerkennen.
Für Cas­tro ist diese Schach­partie letztendlich alles andere als er­folglos, macht es sich doch im­mer wieder gut in der Rolle des David, für den ohnehin durch das Helms-Burton- Ge­setz mit der Verschär­fung des US-Em­bargos eine gro­ße Sympathie­wel­le in Latein­amerika losge­tre­ten wur­de. Dies zeigte sich erst kürz­lich auf dem chile­nischen Gip­fel. Auch in­nerhalb der spa­ni­schen Gesell­schaft überwiegt nach Umfragen neueren Datums die Solida­rität mit Kuba gegen­über einem Verständnis für Az­nars Hardli­ner-Politik.
Die anti­castristische Haltung ist sicher nicht der beste Weg, eine Demokrati­sie­rung in Kuba zu beschleuni­gen. At­tacken von au­ßen erwec­ken Na­tionalismus und bieten sich an, in autori­tärem Sinne ausge­schlachtet zu wer­den. Tou­ristische und sonstige wirt­schaftliche Pro­jekte sind wesent­lich besser geeignet, eine Öff­nung nach außen zu erzielen, was zwischen­zeit­lich bis hin zur Papstau­dienz von Castro ge­führt hat. Was auch immer man davon halten mag, so hat auch das Recht auf Religi­onsausübung zu­min­dest irgendetwas mit Freiheit zu tun.

Gemeinsame Realitäten

Nahezu sieben Jahre ist es her, daß Vanete Almeida aus Pernambuco die Idee zu diesem Treffen hatte, als sie während des 5. lateinamerikanischen Fe­ministinnentreffens feststellte, daß unter 3000 Teilneh­merinnen lediglich sieben Landfrauen wa­ren.
Sie ist eine der Hauptorgani­satorinnen des Treffens und seit 20 Jahren in der Landfrauenbe­wegung im brasilianischen Nord­osten tätig. 1993 begannen die eigentlichen Vorbe­reitungen mit Tref­fen von Basisgrup­pen, Ko­ope­rativen und Gewerk­schaften auf regionaler bzw. na­tionaler Ebene. Hier wurden die The­men­schwer­punkte des 1° ENLAC dis­ku­tiert und an die in­ter­na­ti­o­na­le Ko­ordination, die sich eben­falls 1993 das erste Mal in Forta­leza und ein zweites Mal 1995 am Rande der Weltfrauen­kon­fe­renz in Peking traf, weiter­ge­ge­ben.
“Die meisten Landarbeiterin­nen leben sehr isoliert, ohne Te­lefon, und es mußten viele, viele Ki­lometer zu Fuß zurückgelegt wer­den, um an die Frauen heran­zu­kommen.”

Begriffsbestimmung

Auf der Suche nach einer ge­mein­samen Diskussionsgrund­lage stellte sich in Kleingruppen und den anschließenden Ple­nen heraus, daß unterschiedlichste Be­reiche und Beschäftigungs­ver­hält­nisse berück­sichtigt wer­den müs­sen. So zum Beispiel unter­schei­det sich die älltägliche Ar­beit einer boliviani­schen Mi­nen­ar­beiterin ganz erheblich von dem, was man allgemein unter Land­frauen­arbeit verstehen wür­de. Die Defini­tion, die für alle Frau­en gleicherma­ßen paßte, war fol­gende: Sie lebt auf dem Land, er­nährt sich und ihre Fa­milie, ihre Arbeit wird oft nicht als Extraarbeitskraft erwähnt und sie lei­det fast immer unter der Dop­pel­belastung Landar­beit­/Haus­ar­beit. Bei Kreditver­gabe­pro­gram­men werden Land­frauen so gut wie nie berück­sichtigt, da sie als Fa­milienvor­stände nicht aner­kannt werden. Auch der Land­erwerb ist in vielen Ländern den Män­nern vorbe­halten, ge­nau­so wie der Verkauf von Pro­duk­ten.
Das Schicksal des Ehren­gastes Dona Elisabeth Alpina Teixeira, die nach der Ermor­dung ihres Mannes 17 Jahre un­ter falschem Namen lebte, ist leider keine Seltenheit. Während des Erfah­rungsaustausches zum The­ma “Gewalt gegen Land­frau­en” berichteten erschüttern­der­wei­se viele Frauen über sehr ähn­liche Er­fahrungen mit physi­scher, psychischer, sexueller und öko­no­mischer Gewalt in­nerhalb der Familie, bei der Arbeit, in Or­ganisationen und durch die Re­gierung. Vergewaltigungen von Ehefrauen und Töchtern mit an­schließenden Mord­drohungen, falls die Opfer es wagen sollten sich zu wehren, sind keine Sel­ten­heit.
Die Landarbeite­rinnen über­leg­ten sich Strategien, wie sie ihre Situation und die ihrer Kin­der verbessern können. Wichtige As­pekte waren die Erziehung der Kin­der im Hin­blick auf Gleich­be­rechtigung und die Stärkung der Landarbeiterinnenorganisa­tio­nen.

Verarmung und Globalisierung

Auch ökologische Themen spielten eine wichtige Rolle wäh­rend des Treffens. Vor einem imaginären Tribunal klagten die Cocaleiras (Kokapflanzerinnen) aus Kolumbien ihre Regierung an, die Herbizide im Kampf ge­gen den Drogen­handel versprüht und dabei die Ver­giftung von Arbei­terinnen und deren Kindern in Kauf nimmt. Für viele Land­arbeiterinnen ist der Anbau von Koka die einzige Chance zu überleben, denn der ehemals be­triebene Kaffee­anbau bringt kei­nen Gewinn mehr.
Im Laufe der Dis­kussion wurde ein Zusammenhang zwi­schen zunehmender Verarmung im rura­len Sektor und Globali­sierung der Wirtschaft bzw. neo­liberaler Politik hergestellt, da die Staaten ihre Aus­gaben für Bildung, Gesundheit und techni­scher Unter­stützung mit fort­schrei­tender Glo­balisierung re­duzieren, wovon Frauen beson­ders betroffen sind. He­lena Selma (Universidade Fede­ral do Ceará) for­derte eine differen­zierte Agrarpolitik im Sinne von “positiver Diskrimi­nierung” von Min­derheiten wie z.B. Kleiner­zeugerInnen, um überhaupt eine Kon­kurrenzfähigkeit gewährlei­sten zu können.
Zwischen Diskussi­onsrunden und Ple­nen hatten die Veran­stalterinnen bewußt Raum für kulturelle Veran­staltungen gelas­sen, der den Frauen die Mög­lichkeit gab, ihre eigene kul­turelle Identität mit Musik, Kunsthandwerk und typischer Kleidung in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu stellen. Hier wurde die Hetero­genität, die sich vorher in den Diskussionsbeiträ­gen gezeigt hatte, noch einmal sichtbar.
Trotz einiger organisatori­scher Mängel bedeutet das 1° Encontro Latino-Americano e do Ca­ribe da Mulher Tra­balhadora Rural einen wichtigen Schritt für die Landarbeiterinnenbewegung in Lateiname­rika und der Kari­bik. Für die meisten Landarbeite­rinnen und vor allem für die, die noch nie die Möglichkeit hatten ihre Region, geschweige denn ihr Land zu verlassen, war die wichtigste Erfahrung, zu wis­sen, daß es sehr viele Frauen mit den gleichen Problemen, Ängsten und Hoff­nungen gibt, die für diesselbe Sache kämpfen.

KASTEN

Ehrengast Dona Elisabeth Altina Teixeira

Dona Elisabeth Altina Teixeira, eine heute 71jährige Bäuerin aus Paraíba, wurde 1984 be­rühmt, als der Dokumentarfilm “Cabra Marcado pra Morrer” (“Die zum Sterben verurteilte Ziege”) den goldenen Tukan auf dem Filmfestival in Rio gewann. Der Film erzählt die Geschichte ihres Le­bens und der Ermordung ihres Ehemannes Joâo Pedro Teixeira.
Der Regisseur Eduardo Coutinho hatte Dona Elisabeth bei einem Protestmarsch sieben Tage nach dem Mord angesprochen, um mit ihr einen Film zu drehen, in dem sie sich selber darstellen sollte.
Einen Monat nach Drehbeginn gab es den Mi­litärputsch. Das Filmaterial, von dem sich ein großer Teil schon in Rio befand, wurde beschlag­nahmt und die Leute unter dem Verdacht der Gründung einer Guerilla verhaftet. 1981, also 17 Jahre später, drehten sie den Film zuende.
Dona Elisabeth, die die erste Tochter eines Großgrundbesitzers war, heiratete 1942 den Land­arbeiter Joâo Pedro Teixeira, was ihr ihr Vater nie verziehen hat. Ihr Mann gründete in den 50-er Jah­ren in Sapé die Landarbeitervereinigung Associa­çâo dos Trabalhadores Rurais, die, obwohl sie zu damaliger Zeit nicht als Gewerkschaft registriert werden konnte, nach kurzer Zeit rund 1700 Mit­glieder hatte. 1962 wurde Joâo Pedro Teixeira in einem Hinterhalt ermordet.
Wenn Dona Elisabeth sich gefügt hätte, hätte sie mit der Unterstützung ihrer Familie rechnen kön­nen, aber sie entschied sich, den Kampf ihres Ehemannes fortzuführen. Sie wurde kurz nach dem Militärputsch für vier Monate ins Gefängniss ge­sperrt und flüchtete nach ihrer Freilassung mit ih­rem jüngsten Sohn nach Rio Grande do Norte, wo sie 17 Jahre unter dem falschen Namen Marta Ma­ria da Costa lebte. Ihre anderen neun Kinder mußte sie zurücklassen und sah sie erst nach der Amne­stie Anfang der 80er Jahre wieder.
In den folgenden Jahren setzte sie sich uner­schrocken für die Landlosen ein und wurde 1988 Zeugin wie einer ihrer Söhne, der zusammen mit 30 Landarbeitern die Landarbeitervereinigung As­sociaçâo de Pequenos Produtores Rurais gegrün­det hatte, ermordet wurde. Ihr Mut und ihre Uner­schrockenheit brachten ihr sogar eine Einladung von Fidel Castro ein, der nach dem Tod ihres Mannes ein Beileidstelegramm schickte und einem ihrer Söhne ein Jurastudium in Kuba ermöglichte.
“Wenn ich heute so viele companheiras aus so verschiedenen Ländern hier sehe, dann weiß ich, daß sich all das Leiden gelohnt hat”, sagte Dona Elisabeth auf dem 1° Encontro Latino-Americano e do Caribe da Mulher Trabalhadora Rural.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

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