Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Der Friedenspreis ist ein Politikum

Das literarische Werk von Vargas Llosa ist von hoher Qualität, daran besteht kein Zweifel. Daß seine Bücher millionenfach verkauft wurden und werden, hat mit bestsellerischer Seichtigkeit nichts zu tun, ist nicht allein Erfolg gekonnter Vermarktung und liegt auch nicht daran, daß er wie viele andere mit reißerischen Texten auf Modeströmungen reagiert hätte. Die Langlebigkeit der Bücher, ihre detaillierte literaturwissenschaftliche Rezeption und nicht zuletzt die Dekorierung des Autors mit hohen Preisen sind Argumente dafür, Vargas Llosa als einen der wichtigsten Schriftsteller Lateinamerikas zu bezeichnen. Daran wird sich nichts mehr ändern. Gewiß: Die sagenhafte Beredsamkeit, sein Charme bei Interviews und Reden, seine faszinierende Weltgewandtheit erinnern gelegentlich an Showtalente, machen einen vielleicht manchmal mißtrauisch und begründen den Verdacht, ganz so weit könne es mit der unerbittlichen Berufung zum Schriftsteller doch nicht her sein. Aber wenn man sich dann wieder in einen seiner Romane hineinliest und nicht mehr davon wegkommt, ist man still und möchte nichts gesagt haben. So weit, so gut.
Doch die Sache hat einen Haken. Denn der Preis beschränkt sich ausdrücklich nicht auf die Würdigung des literarischen Werks einer Person, sondern hat als Friedenspreis eine politische Dimension. Mehr noch: gerade auf die kommt es an, das unterscheidet diesen Preis von den zahllosen anderen. Und die Verleihung auf der weltweit bedeutendsten Buchmesse macht aus dem Preis ein vielbeachtetes Votum für die literarischen und politischen, ästhetischen und ethischen Äußerungen eines Autors, den der Deutsche Buchhandel sich erwählt. An diesem Punkt wird es schwierig.

Seine politischen Positionen gehen ins Extrem

Vargas Llosa hat, was seine politischen Positionen angeht, zu zwei zentralen Erkenntnissen gefunden: daß Diktaturen jeder Art, sei es von rechts oder links, verdammungswürdig sind, mit ihnen alle Autoritarismen, Despotien und Nationalismen, und daß zu einer globalen Durchsetzung liberaler Prinzipien keine Alternative besteht.
Der Wendepunkt für den jungen, vom revolutionären Kuba begeisterten Sozialisten kam bekanntlich 1968. Die schockierenden August-Ereignisse in Prag und der “Fall Padilla”, jener Maulkorb für den kubanischen Poeten Heberto Padilla, mit der Fidel Castro der Hoffnung auf einen demokratischen, pluralistischen Sozialismus einen herben Dämpfer verpaßte, brachten Vargas Llosa zu der Überzeugung: daß es den sozialistischen Regimen an Demokratie mangelte war keine Kinderkrankheit, sondern Prinzip. In der Folge wurde er zu einem wortgewaltigen Anticastristen, was er bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstrich (die Rede bei der Preisverleihung in Frankfurt bildet da keine Ausnahme). Mit den Konsequenzen fand er sich ab: In seiner heftigen, bisweilen sehr emotionalen Kritik, beispielsweise an García Márquez, den er als Hure Castros bezeichnete, oder an Günter Grass, dem er Rassismus vorwarf – darin mochten ihm viele nicht mehr folgen.
Mit Recht, denn seine Position zum Sozialismus schlug ins Extrem aus. Nicht nur, daß er sich gegen den stalinistischen Terror “sozialistischer” Regime gewandt hätte, auch dem nicaraguanischen Projekt konnte er nichts abgewinnen. Und den Zapatistenaufstand sah er in der gleichen Perspektive, als “reaktionäre und anachronistische Bewegung, noch autoritärer und obsoleter als die PRI” (taz, 17.1. 92). Denn Vargas Llosa zufolge sind es die linken Guerillas gewesen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika die vielen Putsche von rechts überhaupt erst provoziert haben und die aus Scheindemokratien Militärdiktaturen werden ließen. Das klingt nach Ernst Nolte, der ja in der sowjetischen Dikatur Stalins die Ursache für die nationalsozialistische gesehen hat.
Vargas Llosa macht sich unglaubwürdig, wenn er sich immer wieder vehement für Demokratie und gegen Gewalt ausspricht und bei seiner Kritik an der Linken die Tatsache ignoriert, daß die Rebellionen nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern aus der generationenlangen Erfahrung, daß die Demokratie in Lateinamerika oft eine Farce war und jegliche Formen gesellschaftlicher Mitbestimmung immer wieder brutal verhindert wurden. Vargas Llosa setzt blind westliche Demokratien und lateinamerikanische Schambedeckungsversuche repressiver Oligarchien ineins. Das ist Universalismus eigener, zweifelhafter Art.
Dieser Universalismus findet seine logische Fortsetzung darin, wie sich Mario Vargas Llosa die Zukunft der Welt vorstellt: Er denkt, knapp gesagt, ultraliberal. In seinem Präsidentschaftswahlkampf in Peru 1990 hat er das vielfach zu erkennen gegeben. Dem politischen Kommentator Vargas Llosa ging und geht es nicht um einen Ausgleich, einen Mittelweg, sondern – wiederum – ums Ganze. Seine politischen Leitbilder sind zum einen Margaret Thatcher, deren Politik er als wahrhaft revolutionär ansieht, weil sie die BürgerInnen von der staatlichen Bevormundung befreit und ihnen ihre Selbstverantwortlichkeit zurückgegeben habe. Zum anderen verfaßte er einen Wahlaufruf für den nunmehrigen spanischen Regierungschef Aznar. Den forderte er auf, von seinem im Wahlkampf gegebenen Versprechen, den Wohlfahrtsstaat zu erhalten, abzugehen – was Aznar ja nun auch konsequent befolgt. Mit den Sozialleistungen hat es Vargas Llosa jedenfalls nicht; das Niveau der südostasiatischen “Tiger” würde für Spanien genügen, meint er. Und wer sich ihm in seiner neoliberalen Konsequenz nicht anschließt, muß sich – beispielsweise in El País – als “Idiot” beschimpfen lassen.

Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich

Wie er die Sache sieht, mag ein Ausschnitt aus einem Interview verdeutlichen (Der Spiegel, 15/96): “Die große Frage ist: Kann eine Gesellschaft ihr soziales Netz noch verstärken und trotzdem auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben? Ich glaube, nein. Das Auffangsystem, das mit viel Idealismus und Großzügigkeit errichtet wurde, ist heute nicht mehr realistisch. Daran festzuhalten wird zum unüberwindlichen Hindernis, wenn es darum geht, Märkte zu erhalten oder gar zu erweitern. Andererseits schafft die Internationalisierung der Wirtschaft phantastische Möglichkeiten für arme Länder. Ich glaube, Politiker haben die Pflicht zu erklären, daß die Reform weg von staatlichen Subventionen hin zur Eigeninitiative der Bürger nicht länger aufgeschoben werden kann.” Wohlgemerkt, Vargas Llosa bezieht sich nicht nur auf, sagen wir mal, Schweden, sondern auch auf Peru.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels macht mit der Entscheidung deutlich, wohin seiner Meinung nach die Reise gehen soll. Es braucht nicht dabei zu bleiben, daß der Sozialstaat (wir reden von der westlichen Welt) durch Effizienz gesichert wird, er darf demontiert werden – der Markt wird’s schon regeln, und die Straßenkinder in Lima (die schließt Vargas Llosa nolens volens mit ein) sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Auf alle Fälle sind sie weniger wichtig als das Funktionieren der Wirtschaft, das steht ohnehin und seit langem fest.
Mario Vargas Llosa, der immer betont hat, daß es für einen ernsthaften Schriftsteller Bedingung ist, “Zustimmung, Unterordnung und offizielle Komplizenschaft” zu vermeiden, ist längst zum Komplizen geworden. Das naive Vertrauen, daß sich nach einer wie auch immer gearteten Übergangsphase die sozialen Probleme in der perfekt funktionierenden neoliberalen “Ordnung” von selbst lösen, hilft keinem weiter – und erinnert fatal an eben jene Versprechungen von einer besseren Welt, die Vargas Llosa am Sozialismus so heftig kritisiert hatte.
In seiner Rede zur Friedenspreisverleihung bezeichnete sich der Geehrte als Dinosaurier, der die gute Literatur gegen die Massenschwemme an “Literatur light” und visuellen Medien verteidige. Das klingt gut, aber es sind doch recht selbstgefällige Krokodilstränen, die Vargsa Llosa da vergießt. Er nimmt politisch in Kauf, daß durch Strukturanpassungsmaßnahmen die soziale Misere zunimmt – nicht nur die soziale Misere als abstraktes Phänomen, sondern als ganz konkrete Entmündigung von immer mehr Menschen. Es ist absurd und peinlich, angesichts zunehmender Armut, wachsenden Analphabetismus und der sich verschlechternden medizinischen Versorgung davon zu schwärmen, daß die Mitbestimmung aller am Gemeinwesen zunehme. Das Gegenteil ist der Fall, und für gute Literatur hat dann auch kaum noch einer etwas übrig.
Noch einmal Mario Vargas Llosa im erwähnten Spiegel-Interview: “Literatur sollte sich von dem anstecken lassen, was draußen passiert, sonst wird sie trivial und dekadent.” Eben.

Spiegelbild der Revolution

Zwischen 1959 und 1969 – dem ersten Jahrzehnt der Revolution, in dem Kuba noch in vielerlei Hinsicht einem gigantischen Labor für Experimentierfreudige ähnelte – tauchten auf der Insel Dutzende von neuen Theatergruppen auf, die sich diesem Metier hauptberuflich widmen wollten. Die noch junge Revolutionsführung, die nach Che Guevara die ganze Gesellschaft in eine Schule verwandeln wollte, unterstützte solche Initativen nachdrücklich, und es entstanden eine Reihe von bemerkenswerten Theaterarbeiten, die von der revolutionären Aufbruchsstimmung und der gesellschaftlichen Suche nach dem Neuen geprägt waren.
Eines der bedeutsamsten Werke jener frühen Jahre ist wohl das Stück von Jose L. Brene mit dem Titel Santa Camila de la Habana vieja (Heilige Camila aus Althavanna), das 1962 unter der Leitung von Adolfo de Luis uraufgeführt wurde. Das Werk war nicht nur thematisch bemerkenswert, da es sich mit den Problemen gesellschaftlicher Demokratisierung – eines der zentralen Revolutionsziele und wichtigsten Anliegen der breiten Masse – auseinandersetzte; es glänzte auch durch eine neue Stilform, der es spielerisch gelang, die sogenannte “höhere, anspruchsvolle Kultur” mit “populärer Kultur” zu versöhnen. Dabei hatte der Regisseur erstmals versucht, die Grundsätze und Techniken des russischen Theaterdramaturgen Stanislavski anzuwenden und mit dem originär kubanischen Stück zu verbinden. Mit Erfolg, wie sich zeigte: Das Stück erlangte schnell große Popularität. Das Hauptstadttheater Mella war Woche für Woche ausverkauft und die ersten Schlangen, die die Revolution gebar, beruhten nicht auf ökonomischem Mangel, sondern waren vielmehr Ausdruck des Heißhungers der KubanerInnen auf neue Kultur.

Die fünf grauen Jahre

Mit den sechziger Jahren ging auch die Experimentierphase der kubanischen Revolution zu Ende. Da alle Anläufe bei der Suche nach einem anderen Gesellschaftsentwurf gescheitert waren und die Tropeninsel immer tiefer in eine wirtschaftliche und soziale Krise schlitterte, entschloß man sich, den sowjetischen Weg des sozialistischen Aufbaus zu beschreiten. Diese Entscheidung markierte auch den Wendepunkt in der kubanischen Kulturpolitik, die bis dahin im kulturellen Uniformismus der sozialistischen Staatenwelt immer einen frechen, kreativen und lebensstrotzenden Farbtupfer dargestellt hatte. Die kubanische Kultur wurde erstmals der gleichen Staatsräson unterworfen, die den Kulturschaffenden der sozialistischen Bruderländer der Insel schon lange zu schaffen machte. Ab 1970 wurden viele KünstlerInnen im Namen der “ideologischen Reinheit” ausgegrenzt, unter ihnen auch einige der wichtigsten und schöpferischsten Figuren des kubanischen Theaters. Der kubanische Essayist Ambrosio Fornet bezeichnete die Inselkultur zwischen 1970 und 1975 treffend als El quinquenio gris (die fünf grauen Jahre), eine historische Eingrenzung, die heute in Kuba weit über den Kulturbereich hinaus geläufig ist. Vielleicht aus Protest gegenüber dieser Räson, die vor allem in der Hauptstadt wütete, vielleicht aber auch mehr aus Lust an Neuem, die sich das kubanische Theater auch in politisch “kälteren Zeiten” bewahren wollte, verließ 1971 eine Gruppe von RegisseurInnen und SchauspielerInnen die Theater von Havanna, um ein Abenteuer in den abgeschiedenen Bergregionen der Insel zu beginnen. Mit diesem wagemutigen Versuch begann die Legende des Teatro Escambray; aus den “grauen” Tagen des kubanischen Theaters entstand – Ironie der Geschichte – eine ihrer innovativsten Kapitel.

Theater im Alltag oder Alltag im Theater

Die Gruppe Teatro Escambray wollte als konzeptionellen Ausgangspunkt ihres Wirkens Theatervorstellungen erarbeiten, die die wirklichen Probleme von Berggemeinden erfaßten und darstellten. Sie suchten sich dafür zum Teil Gemeinden aus, in der sich die Bauern und Bäuerinnen bisher geweigert hatten, den Vorschlägen des Staates zu folgen und sich als landwirtschaftliche Produktiongenossenschaften zu organisieren. Um mit den verschlossenen Bauern und Bäuerinnen zu einem Dialog über ihre Ansichten und Anliegen zu kommen, wohnten und arbeiteten die Mitglieder des Teatro Escambray in den Gemeinden. Dieser Dialog wurde schließlich auf das Theater übertragen und in Szene gesetzt. Da die dabei stattfindene Annäherung der KünstlerInnen an die ihnen eigentlich fremde Welt der Berggemeinden respektvoll und infolgedessen ohne Bevormundung ablief, konnten auch tabuisierte und brisante Themen, die die Bauern und Bäuerinnen berührten, angesprochen werden. Das Teatro Escambray setzte Themen wie Alltagsprobleme der Bauern und Bäuerinnen, Doppelmoral, Religiösität oder Machismus und die Probleme der Frauen auf seinen Spielplan. Diese neue Praxis zog auf der Insel weite Kreise; denn einige Stücke wie La Vitrina (Die Vitrine) vom Teatro Escambray oder El compas de madera (Der Holzkompaß) von der Gruppe Pinos Nuevos wurden nicht nur aufgrund ihres sozialen Einschlages berühmt, sondern brillierten gleichzeitig durch ihre künstlerischen Leistungen.

Die Jahre der fetten Kuh

Der Rest des kubanischen Theaters verfolgte in den siebziger Jahren andere Stilrichtungen, die nicht immer so erfolgreich wie die des Teatro Escambray waren. Einige Ergebnisse dieser künstlerischen Bemühungen wurden von der Regierung durch einfaches Totschweigen zensiert oder stießen sogar offen auf Ablehnung. Opfer dieser Praxis wurden zum Beispiel mit Vicente Revuelta, eine der Hauptfiguren der zeitgenössischen Theaterszene Kubas oder die Gruppe Los doce.
Mit der Dekade der Achtziger begannen in Kuba los años de la vaca gorda (die Jahre der fetten Kuh). Das heißt, durch eine scheinbare Stabilisierung der Wirtschaft begann sich auf der Insel der Lebensstandard der Bevölkerung spürbar zu verbessern. Diese Erfolge hinterließen auch Spuren in der kubanischen Theaterszene: der “erste Sozialismus auf amerikanischem Boden” wollte auch international seinen wachsenden Wohlstand vorzeigen und seine kulturellen Leistungen feiern. So wurde 1980 das erste Theaterfestival von Havanna eröffnet. Dieses erste Festival schäumte über vor einem vielfältigen Angebot an Theaterstücken und der Partizipation unterschiedlicher künstlerischer Gruppen. Es wurde durchgehend zum Erfolg, leitete für die damalige Theaterszene der Insel eine neue Epoche ein und begründete eine noch heute lebendige Tradition: Seit jenem Jahr werden in Kuba immer im Abstand von zwei Jahren Theaterfestivals durchgeführt, auf denen die verschiedensten Theatergruppen, angefangen von Laien bis hin zu Professionellen, dem Publikum ihre neuesten Werke vorstellen können. Diese Plattform wollte das Theater in Kuba nicht nur noch populärer machen, sondern auch den Kulturschaffenden eine Hilfe sein; erlaubte das Treffen doch endlich, mit der gesamten künstlerischen Bewegung, die immer noch stark in Provinz- und Hauptstadttheater aufgesplittert war, in Kontakt zu treten.
Doch das Festival wurde nicht nur positiv aufgenommen, es gab auch kritische Stimmmen an dem Konzept. Sein zentralistischer Charakter, der das vielfältige Leben der kubanischen Theaterwelt im Grunde auf eine Woche und an einen Ort reduzierte, wurde öffentlich hinterfragt. Man sprach von einem festivalismo, demzufolge das Publikum verleitet wird, seine jährlichen Theaterbesuche auf eine Woche zu begrenzen und worunter die einst rege Anteilnahme der Öffentlichkeit am Theatergeschehen leiden könnte.
Das Festival lieferte nicht nur für das Volkstheater einen angemessenen Rahmen, sondern ermutigte auch neue Stilrichtungen. Dabei wurde sichtbar, daß mit den achtziger Jahren ein erster Generationswechsel in Kuba stattgefunden hatte, der den sozialen Kontext der Insel spürbar beeinflußte und auch seine Spuren im kubanischen Theater hinterließ. In jener Zeit versuchten sich bedeutende Werke des Inseltheaters häufig mit entrückten Inszenierungen und in einer verzerrten Darstellung von Gegenwart, Zukunft und Utopie. Gleichzeitig wurden – in der offiziell von Einheit und Gleichheit geprägten kubanischen Gesellschaft – erstmals individuelle Identitätskonflikte als neues Thema entdeckt und ins Theater gebracht. Konzeptionell setzten sich solche Arbeiten zum Ziel, durch eine Betonung des Rechts auf eigene Identität dieselbe vor Verfälschungen, Vermassung oder gar zerstörerischer Verleugnung zu verteidigen, sie plädierten somit für mehr Vielfalt in der Einheit.

Der Reformprozeß hinterließ seine Spuren…

Mit Beginn der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hatte der kubanische Wirtschaftsboom seinen Zenit überschritten und die alltäglichen Versorgungsprobleme wurden immer sichtbarer. Auch das internationale politische Klima begann sich gegenüber Kuba abzukühlen: Die sozialistischen Bruderländer und lebenswichtigen Wirtschaftspartner der Tropeninsel wurden zunehmend von Reformen geschüttelt, denen die kubanische Revolutionsführung mit offener Ablehnung gegenüberstand. 1986 kündigte Fidel Castro seinen eigenen Reformprozeß – die sogenannte rectificación – an, die von einigen Kritikern in Anlehung an die sowjetische Perestroika spöttisch als Castroika bezeichnet wurde. Herzstück dieser Reformen war neben einer verstärkten Zentralisierung von Wirtschaft und Politik eine ideologische Offensive, die auf einer Wiederbesinnung von authentischen kubanischen Werten und Traditionen basierte. Dieser politische Kurswechsel bestimmte auch die kubanische Theaterlandschaft der nächsten Jahre.
Der Aufschwung des Theaters schwappte anfangs noch in die zweite Hälfte der Achtziger über. Neue Theatergruppen mit Namen wie Buendía, Teatro del obstáculo, Almacén de los mundos, Teatro a cuestas, Estudio teatral de Santa Clara, die eine beachtenswerte Professionalität erreichten, erweiterten die nationale Theaterszene. Viele von ihnen existieren heute leider nicht mehr. Doch schon 1986 gab es einen ersten Bruch in der Tradition. Das für jenes Jahr auszurichtende Theaterfestival in Havanna wurde ohne Angabe von plausiblen Gründen aufs Folgejahr verschoben – und hinterließ damit gleichermaßen bei Akteuren wie Besuchern eine starke Irritation. Das verspätete Festival wurde dann schließlich als formalistisch, exzessiv und in der Umsetzung wenig kohärent kritisiert und soll qualitativ weit hinter einem ähnlichen regionalen Ereignis in der kubanischen Ostprovinz Camagüey zurückgeblieben sein.
Doch nicht nur institutionell, auch thematisch hinterließen die Reformen der rectificación ihre Spuren im Theater. Gegenüber der Verschlechterung der politischen Beziehungen Kubas wurde in der Kulturpolitik die Parole ausgegeben, daß jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt für eine Fortführung der Diskussionen und der Experimente aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre wäre; stattdessen müßten die Reihen fest geschlossen werden. Vor allem für die neue Generation von Theaterschaffenden, die mit Beginn der achtziger Jahre Morgenluft zu schnuppern begonnen hatte und die sich mit ihren Inszenierungen immer weiter vorwagte, war diese Forderung auf eine Zurücknahme und Selbstbeschränkung sehr frustrierend. Doch die KubanerInnen wären nicht KubanerInnen, wenn sie nicht auch diese neuen Frustration ausdrucksstark auf die Bühne gebracht hätten. So war das Theaterprogramm in der zweiten Hälfte der achtiger Jahre von dramatischen Stücken beherrscht, in denen sich der/die HauptdarstellerIn häufig in einem tragischen Dilemma befand, welches sich meist nur durch seinen/ihren Selbstmord auflöste. Wieviele Regisseure sich bei solchen Inszenierungen selbst in der Rolle des Protagonisten wiedersahen, kann nur geraten werden. Wichtige Werke aus dieser Zeit sind das Theaterstück accidente (Unfall) des Teatro Escambray von 1986 oder Las perlas de tu boca (Die Perlen deines Mundes) von Flora Lauten und der Gruppe Buendía aus dem Jahre 1989.

Verfall und Neuanfang

Die achtziger Dekade endete in Kuba schließlich mit einer weitergehenden Debatte, in der der Verfall des kubanischen Theaters nachdrücklich beklagt wurde. Zentrale Kritikpunkte waren einmal die offensichtliche Dekadenz der etablierten Strukturen, die sich im Grunde nur noch durch Einfallslosigkeit hervortaten und auf der anderen Seite eine ungenügende Förderung für junge Talente, denen sich immer mehr Freiräume verschlossen und die auf wachsende Schwierigkeiten stießen, für ihre neuen Ideen materielle und ideelle Unterstützung zu erhalten. Ob diese Kritik ein erster Schritt für einen Neuanfang des Theaters war, kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit gesagt werden, denn mit den neunziger Jahren geriet Kuba in eine extreme Krise, die viele gesellschaftliche Bereiche radikal veränderte.
Ab 1990 schlitterte Kuba durch den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers in die größte Wirtschaftskrise seit dem Bestehen der Revolution. Obwohl sich die Regierung bemühte, der Kulturpolitik – die sie als eine ihrer zentralen Errungenschaften ansieht – weiterhin eine Priorität einzuräumen, mußte der ganze Kultursektor massive Einschränkungen hinnehmen. Davon war natürlich auch die Theaterszene betroffen; der Mangel an Mitteln hatte sich in Havanna schon auf dem Theaterfestival von 1991 angekündigt. Daß dieses kulturelle Treffen in den darauffolgenden Jahren überhaupt noch stattfinden konnte, war mit Sicherheit mehr als einer Heldentat der InitiatorInnen zu verdanken. Improvisationstalent und Organisationsgabe waren jetzt die vordringlichsten Tugenden, die nicht nur ein Gelingen der Festivals, sondern auch der sonstigen Inszenierungen garantierten. Dennoch mußten ein Teil der Theater geschlossen, beziehungsweise ihre Vorstellungen reduziert werden.
Doch Krisen bringen nicht nur Einschränkungen, sondern auch Chancen auf Veränderung. Obwohl viele Verhärtungen der Kulturpolitik noch nicht abgebaut wurden, haben sich andererseits einige aktuelle Theaterstükke durchaus neue Freiräume erkämpft. In solchen Aufführungen wurden mit hohem künstlerischen Niveau soziale Tabuthemen diskutiert, ohne an Polemik zu sparen. Populärstes Beispiel dafür ist vermutlich das berühmte Theaterstück La Catedral del Helado (Die Eisdiele), das sich mit dem Umgang von Homosexualität und mit der Intoleranz der kubanischen Gesellschaft sehr kritisch auseinandersetzt. Dieses Stück von Senel Paz wurde in Kuba von verschiedenen Theatergruppen mit großem Erfolg aufgeführt, schließlich verfilmt und kam als Fresa y Chocolate (Erdbeer und Schokolade) auch in Deutschland ins Kino. Nicht nur in ganz Europa, sondern auch auf der Tropeninsel selbst war der Film für Monate ein Kassenschlager, da er erstmals ein gesellschaftliches Tabuthema in der Öffentlichkeit diskutierte.
Doch auch andere kubanische Arbeiten sind in ihrer Thematik oder Inszenierung durchaus bemerkenswert. Da wäre einmal das 1991 von Victor Varela uraufgeführte Stück La ópera ciega (Die blinde Oper) zu nennen, in dem die SchauspielerInnen eine Technik der Halbtrance einsetzten. Nach Aussage von Kritikern ist es dabei gelungen, eine so konzentrierte Atmosphäre im Publikum zu schaffen, die jedes Räuspern als ein Verbrechen hätte erscheinen lassen. 1993 wurde zum ersten Mal La niñita querida (Das geliebte Kind) aufgeführt. Dieses Spektakel, das von Carlos Díaz geleitet wurde, gründete auf einen bis dahin unveröffentlichten Text von Virgilio Piñera, einem der wichtigsten Schriftsteller und der Meister des absurden Theaters in Kuba. Das Stück handelt von der Rebellion eines Mädchens gegenüber ihren Eltern. Ein weiteres wichtiges Ereignis der kubanischen Theaterwelt der Neunziger war die Uraufführung von Manteca (Schmalz). Ein Werk, das 1993 von Alberto Pedro geschrieben wurde und Mirian Lezcano in Szene setzte. Hierbei handelt es sich um eine Metapher über die unabdingbare Sehnsucht nach einem besseren Leben, die auch als eine Kritik an den Verhältnissen auf der Insel interpretiert wurde. Eine des wichtigsten Erfolge des kubanischen Theaters der letzten Zeit wurde 1995 mit La noche (Die Nacht) von Abilio Estevez gefeiert. Dieses metaphorische und universalistische Werk, das eine moderne Zivilisationskritik beinhaltet, war gleichzeitig der Publikumsliebling auf dem Theaterfestival von Havanna im Jahre 1995.
In Havanna wurde auf dem Theaterfestival von 1995 angekündigt, daß mensch versuchen will, den einst innovativen Charakter des Festivals wiederzubeleben. Dabei müssen sich die Kulturschaffenden aber deutlich veränderten Verhältnissen stellen, die die Zukunft des kubanischen Theaters trüben könnten. Denn Kuba befindet sich in einem Prozeß sozialer Umbrüche, die auch das Theater betrifft: Die Preise der Eintrittskarten haben sich deutlich erhöht. Es gibt enorme Defizite bei der Werbung für neue Stücke oder bei dem Versuch einer einheitlichen und längeren Programmgestaltung; Stattfindene Veranstaltungen leiden immer noch unter Unterbrechungen zum Beispiel durch Stromausfall. Doch das kubanische Theater kann unter dem Strich auch auf Eigenarten und Qualitäten verweisen, die für seinen Fortbestand von großem Vorteil sind. Das kubanische Theater hat eine eigene Methode erarbeitet, konkrete Elemente aus dem Alltagsleben der Gesellschaft in die Inszenierungen zu integrieren und somit den Kontakt zwischen Werk und Publikum lebendig zu halten. Dazu werden in den Handlungen Kodexe eingebaut, die auf die spezifische Kultur der Insel – die sogenannte cubania – verweisen und damit ein Ambiente von gemeinsamer Identifizierung schaffen.
Es wäre erfreulich, wenn es dem kubanischen Theater gelingen würde, sich den veränderten Umständen anzupassen, ohne seine Errungenschaften über Bord werfen zu müssen. In Zukunft wird vor allen Dingen die Entwicklung von kreativen Gruppen wie Irrumpe, Teatro Escambray und dem legendären Teatro Estudio von Bedeutung sein. Dazu kommen neue Talente wie El público, eine Gruppe, sich in Kuba schon steigender Beliebtheit erfreut. 1997 wird das nächste Theaterfestival von Havanna zelebriert werden. Wir dürfen jetzt schon darauf gespannt sein, wie es den TheatermacherInnen in Kuba gelingen wird, die Unwegsamkeiten ihrer Insel – zusammen mit ihren eigenen – auf die Bühne zu bringen. In Kuba sagt man, die Zukunft blickt auf die Vergangenheit und wird dabei von der Gegenwart geblendet. Nach dieser Volkswahrheit wird sich vielleicht auch die Zukunft der kubanischen Kultur entscheiden und hoffentlich weiterhin Geschichte machen.

Lázara Izquierdo ist kubanische Literaturwissenschaftlerin, die sich zur Zeit in einem Studienprojekt an der Universität Bremen mit kubanischer Kultur beschäftigt.

Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren

Die Mission endete tragisch. “Dies ist die Geschichte eines Scheiterns. Sie begibt sich hinab in anekdotische Details, wie es sich für Episoden aus Kriegen gehört, doch geprägt ist sie von Beobachtungen und kritischen Einschätzungen. Denn ich glaube, wenn diese Erzählung irgendeine Bedeutung hat, so die, daß sie einige Erfahrungen vermittelt, die für andere revolutionäre Bewegungen von Nutzen sein können. Der Sieg ist eine große Quelle positiver Erfahrungen, aber ebenso ist es die Niederlage, und dies meiner Ansicht nach um so mehr, wenn die handelnden Personen Ausländer sind, die ihr Leben in unbekanntem Territorium aufs Spiel gesetzt haben, in einem Land mit einer anderen Sprache, mit dem sie nur die Bande des proletarischen Internationalismus teilten, um eine Methode zu begründen, wie sie in den modernen Befreiungskriegen noch niemals angewandt worden ist.” Dies beschreibt Che Guevara selbst in einem Typoscript, das bisher nicht veröffentlicht wurde und das dem kürzlich bei der Edition ID-Archiv Berlin verlegten Werk zugrunde liegt.
Dieses Typoscript bildet den Leitfaden der zu einer interessanten Lektüre gestalteten Chronik des anti-imperialistischen Engagements Ché Guevaras in Zentralafrika. Dem Autoren-Trio Paco Ignacio Taibo II, Froilán Escobar und Félix Guerra ist es gelungen, aus Tagebuchnotizen, Interviews mit Kongo-Kämpfern und Hintergrundinformationen eine spannende Geschichte zu spinnen. Das verwundert nicht. Zwar sind die Kubaner Froilán Escobar und Félix Guerra hierzulande unbekannt, in Lateinamerika gelten sie jedoch als Kenner der Materie. Schließlich haben sie zusammen schon drei Bücher über Che Guevara publiziert. Und der dritte im Bunde, der Mexikaner Paco Ignacio Taibo II, hat sich nicht zuletzt durch seinen Roman “Vier Hände” als Kriminalautor in Deutschland einen Namen gemacht.
“Wenn diese Notizen veröffentlicht werden, wird viel Zeit seit ihrer Aufzeichnung vergangen sein, und vielleicht wird der Autor für das, was hier gesagt wird, nicht mehr verantwortlich gemacht werden können. Die Zeit wird viele Wunden geheilt haben, und wenn ihr Erscheinen noch irgendeine Bedeutung hat, mögen die Herausgeber die Korrekturen anbringen, die sie für nötig halten, um im Lichte der inzwischen vergangenen Zeit Klarheit in die Meinungen und Ereignisse zu bringen.” (Che Guevara, 1966). Das haben Paco Ignacio Taibo II, Froilán Escobar und Félix Guerra getan. Erzählt wird die Geschichte von Treffen Che Guevaras mit afrikanischen Staatschefs und Führern progressiv-nationalistischer Befreiungsbewegungen, von Vorbereitungen für die geplante Entsendung einer kubanischen Brigade, Schwierigkeiten bei der kulturellen Annäherung zwischen kubanischen und kongolesischen Kämpfern, kurzen Gefechten, Verlusten, vom schließlichen Rückzug und der Heimkehr nach Kuba.
Mit “Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren” wird eine Lücke in Che Guevaras Biografie geschlossen. Dennoch bleiben Fragen offen. Die Autoren wurden seitens der Kritik nicht nur mit Lorbeeren überschüttet. Obwohl sie mit der Veröffentlichung bisher unbekannter Tagebuchnotizen Guevaras (Originaltitel: “Passagen des revolutionären Krieges. Der Kongo”) den Spielraum für neue Interpretationen des Internationalismus-Entwurfs Che Guevaras eröffnen, geht das einigen offenbar nicht weit genug. In einem im doppelten Wortsinn einseitigen Artikel vom 24. September 1996 in der “tageszeitung” greift Gastautor Reynaldo Escobar das Autoren-Trio gleich von zwei Seiten an. Einerseits kritisiert er, daß sie nur bestimmte Teile der Aufzeichnungen des Che veröffentlicht hätten: “Und gerade, daß die Verfasser nicht den vollständigen Text von Chés Kongo-Manuskript, sondern nur Fragmente daraus zitieren, macht die Frage umso interessanter, was in dem zurückgehaltenen Rest steht.” Andererseits, und das ist die zentrale Aussage des mit “Mission Kongo: Gesang auf die Niederlage” betitelten Artikels, sei eine Veröffentlichung nur im Einverständnis Fidel Castros möglich gewesen und wahrscheinlich auch im Auftrag desselben erst erstellt worden. Ein schwerwiegender Vorwurf, den Escobar weder beweisen, noch überzeugend begründen kann. Keinesfalls sollte mensch sich jedoch dadurch von der Lektüre dieses Buches abhalten lassen.

Paco I. Taibo II, Froilán Escobar, Félix Guerra: Das Jahr, in dem wir nirgendwo waren. Ernesto Che Guevara und die afrikanische Guerrilla, Edition ID-Archiv, 253 S. 29,80 DM (ca. 15 Euro).

“Das Gespenst ist lebendig”

Paco, hier in Deutschland bist Du vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt. Was hat Dich an der Fertigstellung dieses Buches über den Che in Afrika am meisten gereizt?

Zum einen war es die Art und Weise der kriminalistischen Untersuchung. Andererseits ist es die Liebe zur Figur des Che, die Notwendigkeit, den Che zu entmystifizieren, um ihn re-mystifizieren zu können, einen neuen Mythos aus Fleisch und Knochen zu schaffen. Es geht darum, diese fotografische Ikone von der Inhaltsleere zu befreien, die T-Shirts und Poster mit Inhalt zu füllen. Ich glaube, daß genau dies eine wichtige Aufgabe ist, nicht nur für meine Generation.
Immer wenn ich beginne über das Thema zu reden, entdecke ich, daß es eine richtige Leidenschaft seitens der jüngeren Generation gibt, herauszufinden, was hinter dieser Ikone steckt: der unmögliche Revolutionär und Abenteurer – oder eine Person aus Fleisch und Blut, mit Widersprüchen, Irrtümern und Vorschlägen. Und natürlich geht es um das Interesse an einer noch nie erzählten Geschichte. Man fragt sich, warum sie bisher noch nicht erzählt wurde. Vor allem, wenn man der ureigensten Logik des Che folgt: Die Geschichte darf nicht schweigen, man muß sie erzählen. Eine Position, die auch der Che vertreten hat: Schreiten wir mit der Wahrheit voran, komme was wolle.

Warum wurden nur Teile aus Che Guevaras Aufzeichnungen veröffentlicht und nicht der gesamte Text?

Das ist schnell gesagt: Das entscheidende Kriterium war die historische Information. Alle Texte des Che, die uns wichtig erschienen, sind abgedruckt. Diejenigen, in denen Che Geschichten aus zweiter Hand erzählt und zu denen wir direkte Zeugen zur Verfügung hatten, fielen raus. Wenn zum Beispiel Che von einer Geschichte schrieb, die ihm sein Mitkämpfer Viktor Dreke erzählt hat, lassen wir diesen zu Wort kommen. Denn Victor Dreke lebt und kann die Ereignisse selbst schildern.

In der “tageszeitung” vertrat der kubanische Journalist Reynaldo Escobar die Auffassung, das Buch sei wohl ein Auftragswerk Fidel Castros, da nur dieser selbst die Publikation von Ches Aufzeichnungen genehmigen könne. Was denkst Du darüber?

Die Frage ist doch: Woher will der Verfasser des Artikels das denn wissen? Falls sich Fidel entschlossen hätte, das Tagebuch des Che zu veröffentlichen, hätte er das getan. Er hätte nicht uns als “U-Boote” mit einem Manuskript vorschicken müssen. Woher will der Journalist wissen, wie das Manuskript in unsere Hände gelangt ist? Er weiß es nicht.
In Kuba existiert eine sehr zentralisierte Herangehensweise gegenüber diesen Themen der geschichtlichen Debatte. Aber Kuba ist ein Land, in dem die Leute sich unterhalten, sich gegenseitig Sachen erzählen, in dem die Geschichte lebendig ist. Was man nicht mithilfe von Freunden im Staatsapparat löst, gelingt mithilfe von unzähligen Bekannten, mit compinches und compadres, die den Che ebenfalls bewunderten.
Ich traf bei meinen Recherchen in Kuba auf zwei völlig unterschiedliche Reaktionen: auf der einen Seite Funktionäre, die mir alle Türen versperrten, mich beleidigten und mir vorhielten, ich wolle nur die Figur des Che gegen die von Fidel ausspielen. Andere wiederum waren sehr hilfsbereit, öffneten die Schubladen und zeigten uns die Dokumente, die uns von den anderen verweigert worden waren.

Das Buch ist sicher wichtig für eine Neubewertung des philosophischen und politischen Denkens Che Guevaras. Aber haben denn seine Auffassung von Internationalismus und seine Utopie vom Neuen Menschen fast 30 Jahre nach seinem Tod noch Relevanz?

Eine Gesellschaft ohne Utopie ist eine absterbende Gesellschaft. Das philosophische Gedankengut der Konservativen benötigt keine Utopien. Es operiert unter einer Logik der Verfälschung: Du streichst die alltägliche Realität grün an, und verkaufst sie weiter. Das reaktionäre Denken braucht keine Utopie, es braucht nur eine Verkleidung der Realität.
Die Linke jedoch kann ohne die Formulierung einer Utopie, die den gegenwärtigen Alltag mit der Idee der Zukunft verknüpft, nicht überleben. Deshalb ist die Suche nach einer komplexen Utopie so wichtig: simple Utopien – schwarz-weiß gefärbt und verlogen – gibt es genug. Ich glaube, daß uns Che in zweifacher Hinsicht Material bietet, anzufangen nachzudenken: Seine Idee von Gerechtigkeit und die Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Dies waren zwei zentrale Elemente in Ches alltäglichem und politischem Leben. Man muß nicht nur betrachten, was er sagt, sondern auch, was er macht. Das ist fundamental für die Reformulierung eines utopischen Denkens.

In Mexiko erschien vor wenigen Tagen eine umfangreiche Che-Biographie von Dir. Welchen Stellenwert hat darin die Kongo-Episode?

Die Kongo-Episode nimmt darin einen wichtigen Platz ein. Wichtiger noch ist jedoch die Geschichte des Che als Industrieminister. Diese Geschichte ist niemals in geordneter Weise dargestellt worden. Was machte Che dreieinhalb Jahre im Industrieministerium? Welches industrielle Modernisierungsmodell entwarf er? Wie sah seine Beziehung zu den ArbeiterInnen aus? Wie kämpfte er gegen die Bürokratie? Obwohl die Industrieminister-Tagebücher noch nicht veröffentlicht wurden, konnte ich all’ diese Probleme in lebendiger Form diskutieren, da ich Einblick in die Akten der Direktion des Ministeriums bekam.

Sowohl die “Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung” (EZLN) als auch das seit kurzem agierende “Revolutionäre Volksheer (ERP) beziehen sich auf den Che. Gibt es in Mexiko eine Renaissance guevaristischer Ideen?

Dies bedeutet doch vor allem, daß das Gespenst lebendig ist. Diese Renaissance gibt es jedoch nicht nur bei den bewaffnet kämpfenden Gruppen, sondern auch und vor allem auf der Ebene der städtischen Bewegungen, die das Problem der Gerechtigkeit debattieren, den Stil der Machtausübung. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, den Che nicht auf den Guerrilla-Krieg zu reduzieren, auf eine Methodik. Wenn Du das tust, verwandelst Du ihn eine Guerilla-Option mit ziemlich abenteuerlichem und avantgardistischem Zuschnitt; mit Konzepten, wie sie in den siebziger Jahren formuliert wurden. Das ist sehr dürftig. Die historische Distanz darf den Blick nicht überschatten; die Vergangenheit darf nicht mechanisch in die Gegenwart übertragen werden. Es gibt viele Ches, man muß sie alle sehen, nicht nur einen.

Berlin, 11. Oktober 1996

Es gibt keinen dritten, sondern nur einen einzigen Weg!

Die neueren Entwicklungen auf Kuba können ohne einen Rekurs auf die kubanische Historie nicht verstanden werden. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er überblicksweise die wirtschaftliche Entwicklung von 1959 bis 1989 darstellt. Dabei räumt er mit manchen durchaus verbreiteten Ansichten zum kubanischen Revolutionsverlauf auf. So war die kubanische Revolution weder in ihren politischen Zielsetzungen noch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine Revolution im marxistisch-leninistischen Sinn. Es gab keine Arbeiterpartei als Avantgarde. Die Bewegung des 26. Juli um Fidel Castro wird vielmehr als radikaldemokratische, jakobinische Gruppe kleinbürgerlichen und populistischen Ursprungs verortet. Dies erklärt auch den sozialdemokratischen Charakter des Aufstandsprogrammes, das Castro 1953 in seiner legendären Verteidigungsrede nach dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne formulierte. Noch nach 1959 beschrieb Castro die Revolution als “weder kapitalistisch noch kommunistisch”. Denn der Kapitalismus gibt den Menschen preis, der Kommunismus mit seinen totalitären Vorstellungen opfert seine Rechte.” Der Autor versteht demgemäß die kubanische Revolution als nationalen, antiimperialistischen Befreiungskampf mit sozialreformerischen Inhalten.
Die Verkündung des sozialistischen Charakters der kubanischen Revolution erfolgte erst 1961. Sie war Reaktion und nicht ursprüngliches Programm der kubanischen Revolutionäre. Reaktion auf den fundamentalen Interessenkonflikt zwischen den sozialen Inhalten der Revolution und den dazu im Widerspruch stehenden Besitzverhältnissen, denn ein großer Teil der Unternehmen sowie der landwirtschaftlichen Produktion wurde von US-Kapital kontrolliert. Reaktion auf die sich seit der Agrarreform von 1959 verschlechternden Beziehungen zu den USA, die mit der Invasion in der Schweinebucht 1961 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.

Zwischen CEPAL und Sowjets

Die kubanische Entwicklungsstrategie war in den ersten Jahren von den Positionen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) und von sowjetsozialistischen Entwicklungsmodellen geprägt. Die Überwindung der strukturellen Abhängigkeit vom Zucker und damit vom Außenhandel stand im Zentrum. Erreicht werden sollte dies durch eine Diversifikation der landwirtschaftlichen Produktionspalette, eine beschleunigte Industrialisierung sowie einen Ausbau der sozialen Sektoren mit dem gemeinsamen Ziel, Importe zu ersetzen und somit die Außenhandelsabhänigkeit zu reduzieren. Burchardt macht eine fehlende Koordination der Produktionsumstellung in der Landwirtschaft und die Vernachlässigung der Zuckerproduktion als Ursachen des Scheiterns dieser Strategie aus.
Ab 1964 wurde wieder dem Zuckersektor Priorität eingeräumt. Preis- und Abnahmegarantien seitens der Sowjets ließen den Zuckersektor vom Hemmschuh zum Hoffnungsträger avancieren. Durch seine als Agroindustrialisierung bezeichnete Modernisierung sollte das für eine Industrialisierung notwendige Kapital erwirtschaftet werden. Den Höhepunkt dieser Strategie bildete die gran zafra (große Ernte) von 1970. Utopische 10 Millionen Tonnen Zukkerrohr wurden als Produktionsziel vorgegeben. Alle Ressourcen wurden auf dieses Ziel hin mobilisiert. Trotz einer Rekordernte von 8,5 Millionen wurde das Ziel verfehlt. Mit fatalen Folgen: Die Wirtschaft lag am Boden und mit ihr das kubanische Volk, dessen immenser Arbeitseinsatz nicht von Erfolg gekrönt war.
Kennzeichen dieser ersten 10 Revolutionsjahre ist nach Ansicht des Autors ein zentrales und bis heute gültiges inneres Strukturmerkmal: “Eine aus spezifischen historischen Bedingungen entstandene zentralisierte Macht- und Herrschaftskonzentration in der Form einer militärischen Kommandostruktur, die vor allem in Krisensituationen ihre Dominanz über alle sozioökonomischen Sphären präsentierte.”
Nach dem Scheitern der gran zafra erfolgte ein erneuter Kurswechsel. Die Mechanisierung und Rationalisierung der Zukkerproduktion wurde als zentrales Entwicklungsziel postuliert. Die mit dem Zucker eng verbundenen Produktionsbereiche sollten auf hohem Niveau stabilisiert – und zudem nachgelagerte Wachstumspole in der Landwirtschaft und der Industrie aufgebaut werden. Der Eintritt in den Rat gegenseitiger Wirtschaftshilfe (RGW) 1972 und die sukzessive Übernahme sowjetischer Lenkungsmethoden bildeten weitere Schritte in Richtung Übernahme des sowjetsozialistischen Modells. Relativ hohe jährliche Wachstumsraten von 3,5 bis 7 Prozent bis 1985 schienen die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zu bestätigen. Eine stagnierende Binnenproduktion und fallende Zuckerpreise bereiteten der von den KubanerInnen als “Jahre der fetten Kuh” (1980-85) bezeichneten Phase ein Ende. Ein zweites zentrales inneres Strukturmerkmal wurde laut Burchardt spätestens jetzt überdeutlich. Das Vorherrschen extensiver Produktionsformen, die insbesondere durch geringe Arbeitsproduktivität und geringe Effizienz charakterisiert sind. Die Notwendigkeit intensiven Wachstums wurde offensichtlich. Zu diesem Zweck wurde das sowjetsozialistische Modell ab 1986 nun einer Korrektur, der sogenannten rectificación unterzogen. Aufrufe zur Massenpartizipation, moralische Appelle, rhetorische Entbürokratisierungskampagnen, Anti-Korruptionspolitik und der Abbau bisheriger Lenkungsmechanismen läuteten die Korrektur ein. Die Ausschaltung von Marktmechanismen wurde zum Fixpunkt der neuen Entwicklungsstrategie. Zudem wurde die staatliche Wirtschaftslenkung rezentralisiert. Die qualitativen Wachstumsziele wurden indes verfehlt. Steigende Abwesenheit vom Arbeitsplatz ging mit sinkender Arbeitsproduktivität einher. Der Zusammenbruch des RGW nach 1989 beendete diese Phase abrupt und ließ grundlegende Reformen dringlich werden.

US-Blockade versus Sowjet-Hilfe

Neben den beschriebenen zentralen inneren Strukturelementen des kubanischen Reformprozesses arbeitet Burchardt zwei zentrale äußere Strukturelemente heraus. Da ist zum einen die US-Blockade, deren Kosten in Geldwerten schwer zu fassen ist. Klar ist hingegen, daß Kuba durch die Blockade bis 1990 kaum Alternativen zum sowjetischen Entwicklungsmodell hatte und sich seitdem die entwicklungshemmenden Wirkungen verstärkt haben, da kompensatorische Effekte aufgrund sowjetischer Hilfe nun entfallen. Zudem konterkarieren die USA durch den Druck auf potentielle Handelspartner den Versuch Kubas, sich politisch und wirtschaftlich in die Region zu reintegrieren. Innenpolitisch wird der Strukturkonservatismus, der die Reformen kennzeichnet, durch die Blockade noch verstärkt. Wenn eine falsche Entscheidung alles kosten kann, werden nur vorsichtige Reformschritte unternommen. Der Reformprozeß kommt nur langsam voran.
Als zweites äußeres Strukturmerkmal macht Burchardt den massiven externen Ressourcenzufluß aus. Über die Einbindung in den RGW erlangte Kuba Kredite und direkte Wirtschaftshilfen in beträchtlichem Ausmaß. Durch den RGW-Handel konnte es so nach offiziellen Angaben seine Importkaufkraft verdoppeln. Umso stärker traf die Insel der Zusammenbruch des RGW und damit der Verlust von zwei Dritteln der Absatzmärkte und sämtlicher Kreditgeber. Eine schwere binnenwirtschafliche Krise folgte, der die Regierung mit Reformen zu begegnen versuchte.

Von Reformen und anderen Unbekannten

Nachdem sich die Außenhandelskrise bereits deutlich abzeichnete, verkündete die kubanische Regierung im August 1990 den período especial in tiempos de paz (Sonderperiode in Friedenszeiten). Mit diesem Notstandsprogramm sollte eine weitere Verschärfung der Krise vermieden und die wirtschaftliche Erholung eingeleitet werden. Dabei standen vier Ziele auf der Prioritätenliste. Eine totale Rationierung aller verfügbaren Güter und Dienstleistungen sollte den Fortbestand der egalitären Versorgung sichern. Die sozialen Errungenschaften im Bildungs- und Gesundheitswesen, die politische Stabilität und die nationale Unabhängigkeit sollten aufrechterhalten werden. Des weiteren sollten die Importverluste durch gezielte Spar- und Importsubstitutionsmaßnahmen abgemildert werden. Schließlich wurde durch den Handel mit traditionellen Exportgütern sowie einer verstärkten Exportdiversifizierung (pharmazeutische Produkte) eine Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft angestrebt.
Burchardt beschreibt diese neue Wirtschaftspolitik als eine Kriegswirtschaft mit zentral gesteuerter Ressourcenlenkung und -verteilung. Dabei wurde die Wirtschaft in zwei Segmente aufgeteilt: ein nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktionierender Exportsektor kontrastierte mit einem nachgeordneten planwirtschaftlich organisierten Binnensektor. Dieser sollte mittels Subventionen über die Krisenphase hinübergerettet werden. Ein grundlegender Strukturwandel blieb aus. Vielmehr sollte die Gesamtwirtschaft allein durch den Devisensektor stabilisiert werden. Eine graduelle Weltmarktöffnung einzelner Wirtschaftszweige bildete das Fundament der neuen Wirtschaftsstrategie. Im Rahmen der apertura (Öffnung) wurden ausländische Direktinvestitionen und Joint-Ventures zugelassen, die Tourismusindustrie und Forschungszentren ausgebaut sowie rechtliche und politische Rahmenbedingungen angepaßt.

Scheitern der ersten Reformetappe

Im Herbst 1993 scheiterte auch diese Strategie. Verschiedene Fehlentwicklungen und Strukturdefizite werden vom Verfasser als Ursachen herausgestellt. Die Deviseneinnahmen schrumpften aufgrund eines Einbruchs in der Zuckerproduktion. Die anderweitig zu verzeichnenden Erfolge in der Weltmarktintegration reichten nicht aus, um auch nur die Devisen für das minimale Importvolumen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft bereitzustellen. Gleichzeitig scheiterte auch das 1990 gestartete Programm zur Importsubstitution (programa alimentaria) in der Lebensmittelproduktion. Ein erhöhter Importbedarf an Lebensmitteln und an Erdöl stand nun erheblich verringerten Deviseneinnahmen gegenüber. Mit der Legalisierung des Dollarbesitzes als Zweitwährung reagierte die Regierung auf die drohende Liquiditätskrise. Über diese Maßnahme sollten die Schwarzmarktdollars und die Dollarüberweisungen aus den USA angezapft werden. Für Burchardt markiert diese Dollarlegalisierung das Scheitern der bisherigen Reformschritte, mußte die Regierung nun doch zum ersten Mal offiziell das von ihr vertretene Gleichheitsprinzip aufgeben. Schließlich verfügt vermutlich nur ein Fünftel der Bevölkerung über ein regelmäßiges Deviseneinkommen. Brisant wird die Dollarlegalisierung dadurch, daß zwei besonders staatsloyale Gruppen diskriminiert werden. Die Funktionsträger, die während des Kalten Kriegs alle Verbindungen zum westlichen Ausland abbrachen und die ehemals schwarze Unterschicht, aus der nur wenige in die USA emigrierten.
Dennoch gab es zur Dollarfreigabe nach Meinung des Verfassers zu diesem Zeitpunkt keine Alternative. Die Freigabe war zwangsläufige Folge einer strukturkonservativen Anpassungsstrategie, die durch den trägen Reformverlauf die kritische Situation heraufbeschwor.
Eine zusammenhängende Strategie eines qualitativen Strukturwandels blieb während der ersten Reformetappe 1990-93 also aus. Das System hatte sich nicht gewandelt, sondern lediglich ausgedehnt. Die soziale und politische Stabilität des Systems konnte jedoch aufrechterhalten werden. “Die Existenz einer offensichtlich hochgradigen Einheit des sozialen und nationalen Konsens” wird so von Burchardt als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal des Umbruchs festgemacht.

Wandel statt Wende

Während in der theoretischen Reformdiskussion ab 1993 einem fundamentalen Systemwandel das Wort geredet und für eine dauerhafte Einführung von Marktmechanismen plädiert wurde, machte die Regierung klar, daß die Marktmechanismen nur vorübergehend zur Rettung des Sozialismus angewandt werden sollten. Dennoch wurden zentrale Strukturmerkmale als Folge weitergehender Reformen teilweise reformiert und umgestaltet: die Zentralverwaltung und die extensive Produktion. In erster Linie sind hier die Zulassung des Privatgewerbes, die Kooperativierung der staatlichen Agrar- und Zuckerbetriebe und die Wiederzulassung der freien Bauernmärkte nach den Unruhen im Sommer 1994 zu nennen. Indirekte Regulierungsformen wie Steuern ergänzen nun die direkten Kontrollmechanismen der Zentralverwaltung. Extensive Produktion wurde zum Teil durch arbeitsintensive Produktionsformen ersetzt. Allerdings läßt sich darin nach Burchardt noch keine zusammenhängende Reformstrategie erkennen. Daß die zweite Reformetappe über die erste hinausgeht, ist seiner Ansicht nach dem steigenden Reformdruck geschuldet. Eine offensive Transformation der Strukturelemente läßt indes weiter auf sich warten. Zwar kann die zweite Reformetappe schon als qualitativer Transformationsprozeß bezeichnet werden, aber eben nicht als zusammenhängender. In einer Währungsreform am Anfang und einer anderen Abfolge der Reformschritte hätte nach Burchardt eine zusammenhängende Alternative bestehen können. Das Ergebnis eines solch alternativ-fiktiven Reformverlaufs bleibt natürlich spekluativ. Klar ist jedoch, daß der unkoordinierte, tatsächliche Reformverlauf zu einer sozialen Fragmentierung geführt hat, die den weiteren Umbruch gefährdet. Den ReformgewinnlerInnen aus dem informellen und Privatsektor sowie den im Devisensektor Beschäftigten stehen die ReformverliererInnen gegenüber. Die letzteren sind in der Mehrheit und setzen sich aus den öffentlichen Angestellten, den schlechtverdienenden Industrie- und LandarbeiterInnen sowie den Kooperativisten zusammen. Der voher als drittes zentrales inneres Strukturmerkmal ausgemachte soziale Konsens beginnt so zu erodieren. Bisher ist es der Regierung gelungen, durch ihr Monopol auf die politische Macht die Integrität des Systems trotz divergierender sozialer Interessen zu sichern. Burchardt hält aber eine umfassende ökonomische Wende für unabdingbar, weil eine sich fortsetzende Spaltung der Gesellschaft durch die Regierung dauerhaft kaum aufgefangen werden könnte.

Perspektiven statt Spekulationen

Wie eine solche umfassende ökonomische Wende aussehen könnte, beschreibt Hans-Jürgen Burchardt in seinem abschließenden Kapitel. Eine zusammenhängende Entwicklungsstrategie müßte demnach zwei grundlegende Faktoren berücksichtigen: Zum einen müßten vorhandene produktive Kräfte in der Binnenwirtschaft mobilisiert werden, zum anderen müßten neue entwickelt und im Weltmarktkontext eingesetzt werden. Als theoretischen Hintergrund benützt der Autor das Konzept der assoziativ-autozentrierten Entwicklungsstrategie. Dieses Konzept hat drei entwicklungstheoretische Imperative abgeleitet: eine zeitweise Abkopplung vom Weltmarkt durch Protektionismus, eine breitenwirksame Erschließung der Binnenmärkte und eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation. Dabei wird das Konzept ausdrücklich nur als theoretischer Orientierungspunkt verstanden, eine Allgemeingültigkeit dieses Konzepts dagegen zurückgewiesen.
Die Landwirtschaft müßte demnach in der zukünftigen Entwicklungsstrategie Priorität erhalten. Dort könnten Produktivitätssteigerungen ohne massiven Ressourceneinsatz realisiert werden. Große Bedeutung käme auch dem Zucker zu. Aber nicht mehr in erster Linie als Exportprodukt, sondern vielmehr als Ressourcenträger. So könnte Papier auf der Basis von Zuckerrohrbagasse hergestellt werden. Die dazu benötigte Technologie wurde bereits entwickelt.

Zukunft des Sozialismus

Burchardt geht jedoch über die Forderung nach einer ökonomischen Wende für Kuba hinaus. Er begibt sich generell auf die Suche nach einer Alternative zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus. Im Mittelpunkt einer neuen Sozialismuskonzeption steht für ihn die Demokratisierung der betrieblichen Sphäre, die die ProduzentInnen gemeinsam zum unmittelbaren Eigentümer ihrer Produktionsmittel macht. Diese Demokratisierung vermochte der Staatssozialismus nicht zu leisten. Ein solcher Marktsozialismus würde als zentrale Komponente die Verknüpfung von demokratisierten Wirtschaftsunternehmen in verschiedenen Eigentumsformen und eine gesamtwirtschaftliche Steuerung durch einen demokratisierten, dezentralen Staat beinhalten.
Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs zum Kapitalismus bleibt für Burchardt somit weiter auf der Tagesordnung. In der gemeinsamen bewußten Überwindung des Kapitalismus im Norden wie im Süden sieht Burchardt die Zukunft der Weltgesellschaft. Ein einsamer Rufer in der Wüste oder doch mehr. Zumindest ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur Kuba-Interessierten ausgiebige Einblicke verschafft, sondern die Diskussion um gesellschaftliche Gegenentwürfe neu beleben könnte.

Hans-Jürgen Burchardt: Der lange Abschied von einem Mythos. Schmetterling Verlag, Stuttgart 1996. 264 Seiten. 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Das Schiff der Verdammten

Als sich zeigte, daß die USA jüdische Flüchtlinge nur be­grenzt aufnahm, und als selbst solche, die auf den Quo­tenlisten standen, wegen der langen War­tezeit ihre Aussichten auf recht­zeitige Rettung schwinden sahen, ergriffen viele die Möglich­keit, zunächst in süd- und mittelame­rikanische Länder auszuwan­dern. Dort hofften sie dann, ent­sprechend den Quoten für das jewei­lige Geburtsland, ein Vi­sum für die USA zu erhalten. Wichtig­ste Zwischenstation auf dem Weg in die Verei­nigten Staaten war Kuba. Vor allem nach der Pogrom­nacht im No­vember 1938 er­schien Kuba we­gen seiner Nähe zu den USA und seiner damals noch li­beralen Ein­wanderungspolitik am ge­eignetsten für einen vor­läufigen sicheren Aufent­halt.
Curt Eichelbaum, Berliner Rechtsanwalt und Notar, schrieb seinem Freund Hans Engelmann in Berlin über die Reise von Le Havre nach Havanna Anfang April 1939: “Wir genießen die Fahrt ins Ungewisse, erst recht, daß man uns durchaus als Men­schen behandelt. Tausend Kilo­meter und zwei Visa-Barrieren trennen uns noch von den USA … In drei Ta­gen werden wir auf den Ba­hamas sein; wenn alles gut geht, einen Tag später in Ha­vannna. Noch knapp 100 weitere Passagiere steigen dort aus, die rund 300 ande­ren reisen weiter nach Me­xiko, Panama, Costa Rica, Chile, einer sogar nach Neu­seeland. Wer hätte je ge­dacht, daß wir soweit her­umkämen. Join the Jews and see the world …!”1 Die Reina del Pacífico, auf der Eichelbaum und seine Familie reisten, war das letzte Schiff, dessen Kuba-Passagiere zumin­dest zur Hälfte an Land gehen durf­ten, zum Teil aber zunächst im Gefängnis Ca­stillo del Morro festgehalten wurden.
Ein hartes Schicksal traf dann jene, die sich am 13. Mai 1939 mit dem Dampfer der Hapag, St. Louis, von Hamburg nach Kuba ein­schifften. Dr. Oskar Schwartz war einer der Pas­sagiere: “In die­ser Zeit (Ende 1938) hatte sich die Möglichkeit erge­ben, für einen Betrag von einigen hundert Dollar ein Permit für Kuba zu erwerben. Wir nutzten diese Gelegenheit aus und erhielten von dem Agenten, der diese Sa­che durchführte, die Nachricht, da uns das Permit zugesagt sei und daß wir für sofortige ber­weisung des Betrages aus Paris Sorge tragen soll­ten … Durch Telegramm­wechsel und Tele­fonat mit Paris erreichte ich schließ­lich noch die rechtzeitige Überweisung nach Kuba, und wir erhielten umgehend das Permit. Die Be­schaffung der Schiffsplätze ging auch nicht ohne Schwierig­keiten vor sich. Die Hapag hatte für 1000 Passa­giere, die alle das gleiche Permit für Kuba hatten, ein besonderes Schiff, den größten Die­selmotordamp­fer, die St. Louis in Dienst gestellt … So fuhren wir am 13. Mai 1939 mit der St. Louis von Hamburg nach Kuba … Nach einer wunder­baren Reise in schönstem Wetter auf dem Atlantik kamen wir frohen Mutes in Havanna an. Als alle Passa­giere sich bereits zur Aus­schiffung bereit gemacht hatten, kam die katastro­phale Meldung, daß der Prä­sident von Havanna im letz­ten Moment die Landung verboten habe, und kubani­sche Polizei kam an Bord, um uns zu bewachen. Gründe für dieses Verbot sind uns nicht be­kannt.”2
Tatsächlich hatten die Passa­giere nicht erfahren, daß die Permits, die Lan­dungserlaubnisse der kuba­nischen Einwanderungsbe­hörde kurz vor dem Auslau­fen der St. Louis am 4. Mai ungültig gewor­den wa­ren.3 Anfang Mai 1939 hatte der kubanische Präsident Fede­rico Laredo Bru ein Dekret unterzeichnet, das von den Flüchtlingen ein Visum ver­langte, das vom Außen-, Ar­beits und vom Finanzmini­sterium in Kuba genehmigt sein mußte. Damit waren alle Blankogeneh­migungen, die der Hamburg-Amerika-Linie zum Weiterver­kauf überlas­sen worden waren, ungültig. Die Schiffahrtsgesell­schaft hatte die Reise mit den 936 Passagie­ren aber dennoch gewagt, weil die Hapag die Zusi­cherung er­hielt, daß die Flücht­linge an Land gehen dürften. Das Gegen­teil trat ein, wie Oskar Schwartz be­richtete: “Der amerikani­sche Joint nahm sich sofort der Sache an, es kamen führende Persönlichkeiten aus New York herübergeflogen, aber alle Be­mühungen blieben ver­geblich, selbst das Ange­bot des Joint, eine halbe Million Dollar für den Fall der Erlaubnis zu be­zahlen, wurde abgelehnt. So mußte die St. Louis mit allen jüdi­schen Auswanderern Ha­vanna verlassen, nachdem der Kapitän aus Hamburg die tele­grafische Weisung ‘Kurs Ham­burg’ erhalten hatte. Die Stim­mung an Bord war verzweifelt. Jetzt aber griff die Weltöffent­lichkeit durch Vermittlung des Joint ein, und als dies bekannt wurde, legte sich der erste Schock … Es trat keine Panik ein, nicht zuletzt durch das Ver­halten des Kapitäns Schröder, eines wahrhaften Menschen, dem alle Pas­sagiere nicht genug dankbar sein konnten. Schließ­lich gelang es dem Vertreter des amerikanischen Joint in Pa­ris, Monsieur Tropper, die Länder Belgien, England, Frankreich und Holland dazu zu bewegen, je ein Viertel der Passagiere gegen Zahlung des dem kubani­schen Präsidenten an­gebotenen Betra­ges bei sich aufzunehmen. Wir kamen auf die englische Liste und landeten im Juni 1939 in Southampton; wir waren geret­tet.”4 Andere hatten weniger Glück, sie gerieten später, nach der deutschen Besetzung, etwa in Holland oder Frankreich, erneut in die Verfolgungsmaschinerie der Natio­nalsozialisten und wur­den, soweit ihnen nicht abermals die Flucht gelang, deportiert und ermordet.
Erst in den Jahren 1940/1941 nahm Kuba dann erneut eine libe­ralere Haltung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen ein; so konnten durch kubanische Visa noch eine großere Zahl von Ju­den und Jüdinnnen auf dem Weg über Lissabon gerettet werden.

1 Bernt Engelmann, Die unfreiwilli­gen Reisen des Putti Eichelbaum, Mün­chen 1986, S. 124.
2 Oskar Schwartz, Frustrated Emi­gration to Cuba, Sammlung Wiener Li­brary, P IIf, Nr. 200.
3 Vgl. Hans Herlin, Die Reise der Verdammten. Die Tragödie der St. Louis, Wiesbaden, München 1977, S. 16ff.
4 Schwartz, Frustrated Emigration.

Madagaskar statt Miami!

“Wenn ich etwas im Kopf habe, was ich nie ver­lieren werde, sind das meine Illu­sionen”, meint Juventino, Bankräuber im Ruhestand, in dem kuba­nischen Film “Quiéreme y verás”. Vor mehr als dreißig Jahren hatte er, dem Orakel einer Wahrsa­gerin folgend, versucht, in der Silvester­nacht eine Bank auszurauben. Tragi­scherweise wurden die Safeknacker nach sechsstündiger harter Ar­beit im Morgen­grauen vom Ausbruch der kubanischen Revolution überrumpelt. Aus der Traum vom schnel­len Geld. Nun sitzen die er­grauten Ex-Ganoven auf einer Parkbank in der Altstadt von Havanna und hängen den Zeiten nach, als sich Bankraub auf Kuba noch lohnte. Heute hat die Wanduhr in der Schal­terhalle, die ihnen damals die Schicksalsstunde schlug, längst die Zeiger verloren, fungiert die ehemalige Börse Havannas als Speisesaal für alte Leute, vor dem ver­witterten Bankportal blüht der Schwarzmarkt. Da fällt Juventino durch Zufall die Beute eines Straßenräubers in die Hände: ein Bündel mit dicken Geld­scheinen. Die Frau, der das Geld geklaut wurde, erinnert Juventino an seine ver­schollene Jugendliebe. So stellt das Schicksal ihn vor eine schwere Ent­schei­dung…
“Quiéreme y verás” – “Liebe mich und du wirst schon sehen” ist der Titel einer alten Schnulze und eines neuen Films von Daniel Díaz Torres. Dessen surreale Satire “Alice im Wunderland” wurde vor drei Jahren auf der Berlinale zum Publikums­erfolg und in seinem Heimatland Kuba zum politischen Skandal.
Sein neuestes Werk hat dagegen einen wesentlich milderen Unterton. Die Bilder sprechen allerdings für sich: Während die Außenaufnahmen die Alt­stadt von Ha­vanna zeigen, wie sie in einer Mischung aus morbider Schönheit und profaner Kleinkriminalität verfällt, sind die Rück­blenden aus der Zeit vor der Revolution von no­stalgischer, plüschiger Eleganz.
An der Wahrsagerin, die Juventino nach Jahrzehnten wieder aufsucht, um sie um Rat zu fragen, scheint der Zahn der Zeit kaum genagt zu haben: Sie war da­mals zwar diejenige, die als erste die re­volutionäre Flagge vom Balkon hängte. Ihr eigentliches Universum war und ist je­doch ihre von Räucherstäbchen umne­belte und mit Kitsch­figuren, Groschenromanen und Kristallkugeln voll­gestopfte Woh­nung – ein Mikrokosmos, der ein wenig an das Refugium von Diego erinnert, dem schwulen Bohemien aus Tomás Gu­tiérrez Aleas “Erdbeer und Schokolade”.

Der kubanische Regisseur Fernando Pérez entwirft in dem Film “Madagascar” ebenfalls das Bild eines Kubas zwischen realsozi­alistischer Tristesse und der Flucht ins Esoterisch-Abgedrehte. Laura, Phy­sikprofessorin und al­leinerziehende Mut­ter, beklagt sich beim Arzt, daß sie nur noch in der Lage ist, vom alltäglichen Le­ben zu träumen, welches sich eintönig da­hin­schleppt. Die KollegInnen an der Uni­versität scheinen von Lähmung und Apa­thie ergriffen zu sein, hängen Tag für Tag im Lesesaal der Uni­versität herum, lesen sich mit teilnahmsloser Mimik die neue­sten Zeitungs­meldungen vor oder putzen ihre Brillengläser, die “so halbblind sind wie dieses Land”. Manchmal packt die nach außen so diszipliniert agierende Laura die Lust, eine Bombe hochgehen zu lassen.
Währenddessen vertreibt sich Lauras greise Mutter den Lebensabend mit “Mo­nopoly”-Spielen. Ihre halb­wüchsige Toch­ter Laurita klettert mit Walkman auf den Ohren wie eine Schlafwandlerin aufs Dach, schwankt zwischen puber­tärer Schwer­mut, reli­gi­öser Abgehobenheit und dem Fernweh nach einem Ort namens Madagaskar.
Der “Magische Rea­lismus”, das selbst­ver­ständliche Gleiten zwi­schen schnöder Realität und alltäglichen Wundern, was jahrelang fast zum Klischee für das latein­amerikanische Kino wurde, hat sich in diesem Film verflüchtigt. Traum und Wirklichkeit sind schmerz­haft voneinan­der getrennt.
Die Sehnsucht nach “Ma­dagascar” wird zur eso­terischen Massenbewegung, die Realitätsflüchtlinge auf die Dächer treibt. – Tatsächlich nur auf die Dächer? “Ich kann jede Interpretation akzeptieren, mit einer Ausnahme: daß jemand bei­spiels­weise behauptet, Ma­dagaskar stünde für Miami, Laura verkörpere Kuba und Lau­rita die kommunistische Jugend,” wehrt sich Fernando Pérez gegen Beifall von der falschen Seite. “Ich will ein Gefühl zum Ausdruck bringen, das sich nicht in kon­krete Worte fassen läßt, in dem sich vie­lerlei vermischt: der Zweifel, die Desori­en­tierung, die Enttäuschung und vor allem ein Gefühl der Unbeweglich­keit.”
Pérez weiß, wovon er redet, denn auch Kubas FilmemacherInnen leiden in den Zeiten des “período especial” unter gravie­renden Hemmnissen. Sowohl “Quiéreme y verás” als auch “Madagascar” sind nur ungefähr 50 Minuten lang – für mehr reichten die finanziellen Mittel nicht. Trotz verstärkter Bestre­bungen des staatli­chen Filminstitutes ICAIC, sich durch Serviceleistungen für und Koproduktionen mit dem Ausland neue Ein­nahmequellen zu verschaf­fen, ist die Situation un­verän­dert desolat: Die Dokumentarfilmproduk­tion wurde weitgehend einge­stellt, und statt wie frü­her acht werden jetzt höchstens drei Spielfilme pro Jahr reali­siert.
Hinzu kommen Probleme mit der staat­lichen Zen­sur, unter der ja gerade “Alice im Wunderland”, Daniel Díaz Torres’ letz­ter Film, zu leiden hatte. Was die jet­zige Ar­beitssituation angeht, be­tonte der Regisseur auf der Berlinale: “Die Pro­bleme liegen nicht in­nerhalb, sondern außerhalb des ICAIC. Was Zensur an­geht, hängt dies auch mit der individuellen Ri­si­kobereitschaft des Regis­seurs zusam­men. Es kann Po­lemik bis hin zur Zen­sur geben. Die gravie­rendsten Probleme sind al­lerdings im Moment ökonomischer Art.”
Angesichts der Knappheit der Mittel entwickelten Fernando Pérez, Daniel Díaz Torres und Rolando Díaz die Idee, einen dreiteiligen Episoden­streifen zu drehen. Ge­meinsames Thema: das Kuba von heute im Spiegel kleiner, metaphernreicher Ge­schichten. “Wir woll­ten”, so Fernando Pérez. “keine Chronik der lau­fenden Er­eignisse, der Stromsperren, der Schlan­gen vor den Geschäften, der nicht funktionie­ren­den Omnibusse schaffen.” Bei dem Kurzfilm von Ro­lando Díaz, der noch nicht abgedreht ist, soll es sich laut Fer­nando Pérez um eine “furiose Komödie” namens “Melodrama” han­deln, “deren Hauptfigur eine Fernsehansagerin ist, die den Wetterbericht vorliest”. Entsprechend soll auch das Gesamtwerk den vieldeuti­gen Titel “Wettervorhersage” tragen.
Wettervorhersagen und Kartenlesen sind risi­koreiche Methoden der Zu­kunfts­deutung: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist…” Bei “Quiéreme y verás” schaut die Wahr­sagerin tief in die Kri­stallkugel und prophezeit dem Bankräuber: “Ich sehe Frustration und Rettung. Aber Letzeres kommt erst langfristig. Wie lange, hängt von dir ab.” – Womit wir doch wieder beim Menschen als historischem Subjekt wären.

“Madagascar”
Kuba, 1994, 50 Minuten
Regie: Fernando Pérez
“Quiéreme y veras”
Kuba, 1995, 47 Min.
Regie: Daniel Díaz Torres

Die VerräterInnen sind immer die anderen

Die Spaltung der FSLN war spä­testens seit dem zweiten Par­teitag im Mai 1994 nur noch eine Frage der Zeit. Bis dahin waren die unter­schiedlichen Parteiströ­mungen relativ gleich­berechtigt an der Natio­nalen Leitung beteiligt worden, um die Einheit der sandinisti­schen Bewegung zu wahren. Im vergangenen Mai wurde der Pro­porz aufgegeben und die FSLN-Spitze fast durchgängig mit An­hänger­Innen von Ex-Präsident Daniel Or­tega be­setzt (vgl. LN 240). Die angekün­digte Par­tei­reform, ins­besondere eine Demo­kra­tisierung der Entscheidungs­strukturen, blieb jedoch aus.
Die Inhalte des Streits
Die “Demokratische Linke” (ID) um Daniel Ortega warf den FSLN-Par­la­ments­abgeord­neten um Ser­gio Ramí­rez vor, daß diese sich nicht an die Partei­be­schlüsse hielten und wie­derholt gegen den Willen der “Asamblea Sandi­nista”, dem höch­sten FSLN-Gremium zwischen den Par­teita­gen, in vielen Fragen mit der Re­gierung von Violeta Chamorro zusam­men­arbeiteten. Daniel Or­tega hatte diese Po­li­tik aller­dings selbst jahrelang mitge­tragen be­ziehungsweise war bei Streiks wiederholt als Vermitt­ler zwischen Regie­rung und Ge­werkschaften aufgetreten. Erst seit 1993 hatte er seinen Dis­kurs ra­dikalisiert und sich ein­deutig auf die Seite des sandinistischen Gewerkschafts­zusam­men­schluß “Nationale Ar­beiterInnenfront” (FNT) und an­derer Ba­sisorganisationen ge­stellt, die die Errungenschaf­ten der Re­volution durch die Mobilisierung der ver­armenden Ar­beiterInnen und Angestellten zu erreichen versuchen. Ser­gio Ramírez setzte jedoch weiter auf eine Zu­sam­menarbeit mit der Regierung, um so die neo­libera­len Refor­men sozial abfedern zu kön­nen. Um er­neut an die Macht zu kom­men sei zudem grundsätz­lich eine stärkere Öff­nung der FSLN zur Mitte hin not­wendig. Außer­dem, so die sogenannten “Re­formerInnen” um Ramírez, sei die Zu­sam­mensetzung der Asam­blea Sandinista längst nicht mehr repräsentativ für die FSLN, eine Unterordnung unter deren Be­schlüsse da­mit hinfäl­lig. Die Distanz zwi­schen Par­lamentsfraktion und Parteifüh­rung vergrö­ßerte sich immer mehr.
Bei dem Streit ging es nicht nur um die po­litische Ausrich­tung, sondern insbeson­dere um personelle Entscheidungen in­nerhalb der Frente. Eine Ver­härtung der Auseinanderset­zung gab es nämlich, seit Sergio Ra­mírez vor gut einem Jahr erst­mals sein Interesse bekun­dete, 1996 für die FSLN bei den Prä­sidentschaftswahlen zu kandi­dieren. Dies war natürlich eine klare Herausforderung an Da­niel Ortega, der, “falls die Partei es wolle”, ebenfalls wieder an­treten will. Auch der Durch­marsch der Ortega-Frak­tion beim Par­tei­tag im vergan­genen Mai läßt sich zu­min­dest zum Teil aus dieser Konkurrenz er­klä­ren. Öffentlich wurde al­lerdings stets auf inhaltli­che Differenzen verwiesen.
Wie um die Unvereinbarkeit der beiden Tendenzen innerhalb ei­ner Partei zu be­weisen, wurden die inhaltlichen Unter­schiede zwi­schen “ReformerInnen” und der Demokrati­schen Linken – vom Ramí­rez-Flügel als “Orthodoxe” bezeichnet – von beiden Seiten immer stärker betont. Eine Dis­kussion war kaum noch möglich, und dort wo sie noch ansatz­weise statt­fand, wurde sie mit allen Mitteln unter­bunden. So zum Beispiel als Ende Ok­tober die Parteizeitung Barricada auf die Linie der Parteiführung ge­bracht und ihr langjähriger Di­rektor, der “Reformer” Carlos Fernando Chamorro kurzerhand ab­gesetzt wurde. Da war dann beispiels­weise zu lesen, daß die “Ramírez-Gruppe” eine “rechtsradikale Politik” be­treibe und “gemeinsame Sache mit den Somozisten ma­che” (vgl. LN 246).
Zum beherrschenden Streitthema der letz­ten Monate wurde die Verfassungsre­form, bei der die Mehrheit der FSLN-Parlaments­fraktion mit einem Teil der rechten Parteien zusammenarbei­tete. Mittlerweile ohne Einfluß in den Partei­gremien scherten sich die FSLN-Abge­ordneten tatsächlich kaum noch um Be­schlüsse und Richtlinien ihrer gesamten Partei. Nachdem sie bis zum 25. Novem­ber 1994 be­reits einmal verabschiedet wor­den sind, müs­sen die Reformen bis März 1995 nochmals ratifi­ziert werden. Neben einigen sinnvollen Änderungen, die den Einfluß der Legislative gegen­über der Exekutive stärken sol­len und die Wie­derwahl des/der Präsidenten/in ver­bietet, ist beispielsweise der Artikel, der den An­gehörigen des/der amtie­renden Präsiden­ten/in die Kan­didatur verbietet, eindeutig von wahltaktischen Gesichts­punkten ge­leitet und soll die mögliche Kandidatur von Präsi­dialamtsminister Antonio La­cayo, Schwieger­sohn von Violeta Cha­morro und potentieller Ver­bündeter von Daniel Ortega, bei den näch­sten Wahlen verhindern. Äußerst fragwürdig ist zudem der neue Asylparagraph, der “Terroristen” von diesem Recht ausschließt – also eine Legali­sierung von Abschiebungen bei­spielsweise von (potentiellen) ETA-An­ge­hörigen ermöglicht. Vor allem aber: Die­ser Paragraph in anderen Ländern an­ge­wandt hätte in den siebziger Jahren die San­dinistIn­nen selbst von Asyl ausge­schlossen. Und selbst Ser­gio Ramírez, Ende der siebziger Jahre immerhin Chef der mit der FSLN ver­bündeten zivilen “Grup­pe der Zwölf” und in Costa Rica im Exil, wäre wegen seiner Zu­sammenarbeit mit “Terroristen” Abschiebungskandidat ge­wesen.
Spätestens seit diesen Verfas­sungs­re­formen war klar, daß ein Kom­promiß zwischen den beiden Tendenzen nicht mehr möglich ist. Durch die wieder­holten per­sönlichen Diffa­mierungen des Gegen­spielers wurden die Grä­ben zwi­schen den beiden Tendenzen weiter ver­tieft. In den Augen der Ortega-Fraktion galten die Mit­glieder der “Sandinistischen Er­neu­er­ungs­bewegung” (MRS) um Ramí­rez nur noch als “Rechte”, “Bourgeois” oder sogar als “Ver­räterInnen” – so als hätte nicht die gan­ze Partei jah­relang die Zusammen­arbeit mit der Regierung und einem Teil der UNO-Fraktion mitgetra­gen. Außer­dem haben die sieben FSLN-Abge­ord­neten, die zur “Demokratischen Linken” ge­hö­ren, auch schon zusammen mit den Ab­geordneten ge­stimmt, die dem rechts­extremen Bürgermei­ster von Mana­gua, Arnoldo Ale­man, nahestehen.
Die Schmutzkampagne gegen die “Re­for­mer­Innen” gipfelte im Ja­nuar in dem “Vorwurf” von Car­los Guadamuz, María Ra­mírez und Dora María Téllez führten eine les­bische Beziehung. Für Sergio Ramírez Grund genug, die Partei zu verlassen, zumal Guada­muz seinen Po­sten als Chef von “Radio Ya” behielt und von To­mas Borge – der Daniel Ortega als FSLN-Vorsitzender vertritt, seit dieser wegen einer Herz­krankheit auf Kuba be­handelt wird – lediglich eine halbher­zige Entschuldigung kam.
Allerdings verhielten sich auch die Refor­merInnen nicht viel besser. Ernesto Cardenal, der bereits im November aus der FSLN aus­getreten war und den Re­formerInnen nahe­steht, verg­lich Daniel Ortega in einem In­terview indirekt mit Hitler, Stalin und So­moza. Und Sergio Ramírez erklärte bei seinem Austritt aus der FSLN in Mana­gua: “Ich kann nicht länger in einer Partei bleiben, wo Delin­quenten mit Parteibuch unge­straft blei­ben.”
Für Ramírez war der Ausfall von Gua­da­muz eine willkommene Gelegen­heit, sich von der FSLN zu trennen – auch wenn er vor­gibt, es sei lediglich eine “persönliche Entschei­dung” ge­wesen (vgl. das folgende Inter­view). Bereits seit Mo­naten ist er mit den Vorberei­tungen zur Gründung einer neuen Partei be­schäftigt und hatte vergeblich auf einen Par­teiausschluß ge­wartet, der die Chancen erhöht hätte, daß ihm ein größerer Teil der FSLN-Ba­sis folgt. Die neue Partei wird vermutlich am 21. Februar, dem Todestag von Augusto César Sandino, der Öf­fentlichkeit vorgestellt. Wie die sandini­stische Basis sich verhalten wird, ist noch nicht klar abzusehen. Es wird allge­mein davon ausgegangen, daß sich annähernd die Hälfte der FSLN-Mitglieder keiner der bei­den Tendenzen zugehörig fühlt – was es unwahrscheinlich macht, daß sie den “ReformerInnen” folgen werden und ebenfalls die Partei verlassen. Allerdings hat National­leitungsmitglied Henry Ruíz mittlerweile seine Sympathie für die “ReformerInnen” bekundet. Lange Zeit galt der an der Basis we­gen seiner per­sönlichen Inte­grität sehr beliebte Ex-Komman­dant als möglicher Konsenskan­didat für beide Seiten. Er führte bislang die “Strömung der Strömungslosen” an und hatte sich stets um Ausgleich zwi­schen den beiden Lagern be­müht. Trotz seiner kürzlichen Par­teinahme für die “ReformerInnen” will Henry Ruíz jedoch in der FSLN bleiben: “Ich bleibe in der Partei bis sie mich rausschmeißen.”

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Regenerative Energien im Aufwind

Die wirtschaftlichen Probleme Kubas sind mehr als nur eine Folge der Ölknappheit. Zum simplen Fehlen von Erd61 kommt noch der eklatante Mangel an Ersatzteilen für die Kraftwerke, Omnibusse und landwirtschaftlichen Maschinen, die über-wiegend aus den ehemaligen COMECON- Staaten stammen. Nach den Erfahrungen, die ich während eines halbjährigen Aufenthalts von September ’93 bis April ’94 in Kuba machen konnte, gewinnt dieser Mangel immer größere Bedeutung, da sich die Versorgung mit Erdöl, wenn auch auf niedrigem Niveau, einigermaßen stabilisiert hat. in Richtung Stabilisierung zielt auch das kürzlich abgeschlossene Jointventure-Abkommen mit Mexiko über den Raffineriebetrieb in Cienfuegos. Die mit einer täglichen Verarbeitungskapazität von 65.000 Barre1 größte kubanische Raffinerie soll zukünftig mexikanisches Erdöl sowohl für den Inlands- als auch für den Exportrnarkt verarbeiten. 200 Millionen Dollar sollen zu diesem Zwecke als Anfangsinvestition getätigt werden.
Krisenmanagement mittels Energieprogramm Die Maßnahmen des kubanischen Staates zur Verbesserung der Situation reichen von der massenweisen Einfuhr von Fahrrädern bis zur Wiederbenutzung von Ochsengespannen in der Landwirtschaft. Die zentrale Rolle spielt jedoch das “Programm zur Entwicklung der nationalen Energiequellen”. Im Juni war das Programm Diskussionsgegenstand in der Nationalversammlung des Poder Popular. Alle Institutionen und die Bevölkerung wurden daraufhin aufgerufen, an der Verwirklichung mitzuarbeiten. Ziel des Programms ist es, in einer ersten Etappe den Beitrag der nationalen Energiequellen auf ein Äquivalent von 3 bis 4 Millionen TonnenErdö1 zu steigern, um im weiteren Verlauf diesen Anteil zu verdoppeln und somit Ca. ein dem Ölimport von 1992 entsprechendes Energiepotential zu erreichen. Gleichzeitig soll eine rationellere Energieverwendung vorangebracht werden.
Zucker, Sonne und Erdöl
Neben dem einheimischen Erdöl stehen Zucker und andere regenerative Ener­giequellen im Mittelpunkt des Vorhabens. Innerhalb der Zuckerindustrie soll durch Strom-und Prozeßwärmeerzeugung mittels dem Verbrennen von Preßrückständen des Zuckerrohrs, der Bagasse, ein Anteil von 45 Prozent bei der heimischen Energieerzeugung zum Ende der ersten Etappe erreicht werden. An zweiter Stelle steht der Ausbau der heimischen Erdölförderung. Die Erschließung neuer Erdöl-vorkommen mit Hilfe ausländischer Unternehmen und Technologie soll eine Bedarfsdeckung von 40 Prozent gewährleisten. Last but not least sollen regenerative Energiequellen wie Wasserkraft, Solarenergie, Windenergie, Biogas etc, gefördert werden und die restlichen 15 Prozent des Energiesolls abdecken. Zusammen kämen die regenerativen Energiequellen nach Abschluß der ersten Etappe somit auf einen Anteil von 60 Prozent an der inländischen Energieerzeugung.’
Das Programm konnte relativ schnell aus-gearbeitet werden, da in Kuba bereits seit 1983 systematischen der Erforschung und Anwendung der regenerativen Energie- quellen gearbeitet wird. in diese Zeit fällt
z. B. die Gründung des “Solarforschungszentrums” in Santiago de Cuba (“Centro de Investigación de la Energía Solar” -CIES) oder die Gründung der “Nationalen Energiekommission” (“Comisión Nacional de Energía” -CNE). Dieser Kommission oblag die Ermittlung der verschiedenen Energiepotentiale und das Er-arbeiten von Verbreitungsprogramrnen (z. B. Verbreitungsprogramm für Klein-und Kleinstwasserkraftwerke), aber auch von Energiesparprogrammen. Die Kommission wurde jedoch im Zuge einer Kabinettsreform im Sommer dieses Jahres wieder aufgelöst. Die Atomenergie und damit das auch in Kuba umstrittene Kernkraftwerk in Cienfuegos spielt im Programm keine Rolle. Allerdings gibt es auch keinen Beschluß, das zu 80 Prozent fertiggestellte Kraftwerk nicht weiter zu bauen. Sollte sich” also ein geeigneter Investor finden, würde
aller Wahrscheinlichkeit nach zu Ende gebaut werden. Viele der NukleartechnikerInnen satteln indes aber bereits auf regenerative Energien um.
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Ein entscheidendes Manko des Programms ist das Fehlen eines konkreten Zeitrahmens, in dem die Bauetappen-: abgeschlossen werden sollen. Begründet wird dies mit der mißlichen Finanzsituation, die eine Aussage über den Zeitpunkt : der notwendigen Investitionen nicht zu; ließe. Damit fehlt aber auch der entscheidende Druck für die Verwaltungen des betroffenen Bereiche, das Programm mit der notwendigen Konsequenz umzusetzen. Alles in allem bedeutet es dennoch einen. enormen Auftrieb für den Ausbau. der Nutzung von regenerativen Energiequellen auf Kuba.
Um Kuba bei der Lösung seiner gravierenden Energiekrise behilflich zu sein, führte KarEn in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Projekte durch. Die guten Rahmenbedingungen, wie die gute Unterstützung seitens der politischen Institutionen und das vorhandene Wissen über Anwendungsbereiche und -formen von alternativen Energien erleichterten die Umsetzung der Vorhaben Zu den wichtigsten gehören: die Finanzierung eines Werkstatt- und -, Laborfahrzeugs zur Installation und Wartung von Photovoltaikanlagen (PV-Anlagen) durch den “Verteilerrat Nord -Süd“ . und KarEn.
-die Elektrifizierung von “Casas del Medico de la Familia” (Arztehäusern) in abgelegenen (Berg-)Regionen mit PV-Anlagen, in Kooperation mit “Sodi e. V.”.
“CubaSi-Dresden” U. a. Dies im Rahmen -eines Gesamtprogramms für ca. 900 solcher “Arztehäuser” in Kuba.
Für die Montage dieser Anlagen wird das oben . genannte Fahrzeug verwendet.

-ein halbjähriger Arbeits-und Weiterbildungsaufenthalt eines kubanischen Ingenieurs beim Elektrotechnikerkollektiv “Wusetronik” in Berlin.
-die Einschätzung des kubanischen Windpotentials. Ein Projekt, das’ vom “Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung (MUNR) in Brandenburg finanziert wird. Es beinhaltete zudem die Fortbildung von zwei kubanischen Ingenieurlnnen in Windmessung und an den Windmeßgeräten.
-die Vernetzung von drei bestehenden Kleinwasserkraftwerken und ihr Anschluß an das nationale Energienetz in Kooperation mit “InterRed” aus Frankfurt/M.
-die Planung eines Wind-Diesel-Hybrid- Systems für Netzparalellbetrieb in einer Fischereikooperative. Dieses Projekt soll die KubanerInnen in die Lage versetzen, selbst solche Systeme aufzubauen. Hierfür ist KarEN noch auf der Suche nach Finanzmitteln.

Bei diesen Projekten arbeitet(e) KarEn mit Forschungseinrichtungen wie dem CIES und mit kirchlichen Organisationen zusammen. in letzter Zeit vertiefen wir die Zusammenarbeit mit neu gegründeten Nichtregierungsorganisationen in Kuba, die sich mit der Verbreitung von alternativen Energien und mit Umweltschutz beschäftigen (z. B. CUBASOLAR und ProNATURALEZA). Dabei stehen bei der gesamten Arbeit von KarEn folgende Ziele im Vordergrund: –die Unterstützung von fortschrittlichen Menschen in Kuba, die sich für die Verbreitung und verstärkte Anwendung von regenerativen Energien einsetzen, und die sich natürlich auch in Kuba gegen gewachsene Strukturen und Vorurteile behaupten müssen.
-die Lösung lokaler Energieprobleme und damit Initiierung einer Dezentralisierung der Energieproduktion in Kuba. Somit wird eine stärkere Einbindung der Bevölkerung erreicht.
-der Transfer von Technologie und Know-How.
-die Unterstützung konkreter Projekte durch Geld und fachliche Begleitung und Beratung, die wir von Dritten (Firmen, WissenschaftlerInnen etc.) erhalten können
-die Forderung direkter technisch-wissenschaftlicher Kontakte, zB. zwischen Forschungseinrichtungen, die Ermöglichung von Praktika oder Forschungsarbeiten hier und in Kuba. Durch solche Kontakte wer-den neue Ansätze und Lösungsmöglichkeiten vermittelt und ausgetauscht.

Zukünftig sollen zusätzlich ‘Projekte durchgeführt werden, die einen “innerkaribischen” Austausch fördern.
Bei der Arbeit hat KarEn mit zwei grundlegenden Problemen zu kämpfen. Erstens werden die anstehenden Arbeiten von den
-noch immer zu wenigen aktiven -Mit-gliedern von KarEn ehrenamtlich bewältigt. Zweitens sind viele staatliche und europäische Fördertöpfe für Entwicklungspmjekte wegen der Blockadehaltung der Bundesregierung und der EU nicht anzapfbar, so daß andere Finanzierungsmöglichkeiten gesucht werden müssen. Dies fordert oft viel. Überzeugungsarbeit, was eine zusätzliche Arbeitsbelastung mit sich bringt.
Somit kann die Arbeit von KarEn vor allem durch eine (aktive) Mitgliedschaft unterstützt werden, aber auch Spenden (auf die unten genannten Konten) sind herzlich willkommen Wer noch mehr über uns er-fahren will, kann uns gerne (an die unten genannte Adresse) schreiben

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