Die Wahrheit an höchster Stelle

Schon lange vor der Unter­zeichnung des Abkommens zur Wiedereingliederung der Kämp­ferInnen der Nationalen Revolu­tionären Einheit Guatemalas (URNG) am 12. Dezember 1996 war die Diskussion um die juri­stische Formel, die es den Gue­rilleros ermöglichen sollte, sich ins legale Leben einzufügen, von einer heftigen politischen Kon­troverse überschattet. Gestritten wurde um die Amnestieregelun­gen für die Guerilla, aber auch um die für das Militär und die paramilitärischen Einheiten, die im Auftrage des staatlicher Stel­len agiert hatten.
Die Kontro­verse wurde aller­dings jäh durch einen “bedauerlichen Zwischen­fall” beendet: Als im Herbst letzten Jahres ein URNG-Kom­mando die Unternehmerin Olga de No­vella entführt hatte, wur­den die Friedensverhandlungen zur Wie­dereingliederung abrupt ausge­setzt – das öffentliche In­teresse richtete sich von der Amnestie­diskussion weg hin zum Entfüh­rungsfall und zum grundsätzli­chen Fortgang der Friedensver­handlungen. Als die Gespräche wieder aufgenommen wur­den, waren die Verhandlun­gen zwi­schen Regierung und URNG zum Thema im Wesentli­chen abgeschlossen.
Die Verhandlungsparteien hat­ten die Gelegenheit genutzt und den Aufschrei der Bevölke­rung, die eine Generalamnestie befürchtete, geflissentlich über­hört. Ein wichtiges Sprachrohr der AmnestiegegnerInnen ist die Alianza contra la Impunidad (Al­lianz gegen die Straflosig­keit/ACI), ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisatio­nen und kirchlichen Einrichtun­gen. Die ACI betonte, daß das Abkommen nur dann in der Ge­sellschaft moralisch anerkannt werden könne, wenn es aus­schließlich politische Delikte für straffrei erkläre, also diejenigen, die von der Guerilla gegen den Staat begangen wurden. Angehö­rige beider Konfliktparteien müßten sich jedoch vor der Ge­sellschaft und der Justiz für Men­schenrechtsverletzungen ver­antworten, insbesondere für solche, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Das Hauptkriterium der ACI war, daß der Staat zwar das Recht habe, die gegen ihn ge­richteten Taten, aber auf keinen Fall Übergriffe gegen Dritte zu begnadigen. Einzig und allein die Opfer dieser Übergriffe könnten den Schuldigen verzei­hen.
Ende Dezember verabschie­dete der Kongreß hinter ver­schlos­senen Türen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” (vgl. LN 272). Wie vorher schon das Abkommen, amnestierte das Gesetz in seinem umstrittensten Teil Delikte und Menschen­rechts­verletzungen, “die began­gen wurden, um zu verhindern, daß ein politisches Delikt began­gen würde”. Der Kommentar von fort­schrittlichen JuristInnen: Das Ergebnis ist eine juristische Un­geheuerlichkeit!

Das “Gesetz zur nationalen Versöhnung”

Auch wenn die Amnestiere­gelung bislang lediglich auf Ex-Guerilleros angewandt worden ist, haben die Menschenrechtsor­ganisationen, angeführt von der ACI, eine Verfassungsklage ge­gen das Gesetz eingereicht. (Das Urteil des höchsten Gerichtes des Landes wurde für Ende April angekündigt, lag bei Redaktions­schluß aber noch nicht vor; Anm. d. Red.) Das Gesetz wird als Ge­neralamnestie angesehen und ist in puncto Reichweite und All­gemeingültigkeit bereits das zweite seiner Art in der gua­temaltekischen Rechtsprechung. Mit dem ersten amnestierten sich die Streitkräfte am 13. Januar 1986 – dem formellen Ende der Militärdiktatur – selbst für auf alle Menschenrechtsverletzun­gen, die zwischen dem 23. März 1982 und dem Tag des Inkraft­tretens des Gesetzes begangen worden waren.

Wahrheitskommission im Dienste des Verschweigens

Der internationale Vergleich zeigt, daß beim Übergang von Dik­taturen und bewaffneten Kon­flikten zu demokratischen Ord­nungen Wahrheitskommis­sio­nen eine zentrale Stellung in­nehaben. Institutionen also, de­ren Aufgabe es ist oder sein sollte, die Verbrechen der Ver­gangenheit aufzuklären und durch Erkennen und Bearbeiten zum Versöhnen zu kommen.
In Guatemala beruht die Bil­dung einer Wahrheitskommis­sion auf dem “Abkommen über die Einrichtung zur historischen Aufklärung der Menschenrechts­verletzungen und Gewalttaten, durch die der guatemaltekischen Bevölkerung Leid zugefügt wurde”, auf das sich URNG und die Regierung bereits im Juni 1994 geeinigt hatten. Allgemein wird es als eines der schwäch­sten Dokumente des gesamten Ver­handlungsprozesses angese­hen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß die Verhandlungsparteien der Wahrheitskommission von vorn­herein einen Maulkorb ver­paßt haben. Weder darf die Kom­mission die an Menschen­rechts­verletzungen Schuldigen na­mentlich benennen, noch dür­fen die Untersuchungsvorgänge oder Resultate vor Gericht ver­wendet werden. So soll verhin­dert werden, daß die Menschen­rechtsverletzer in einer persönli­chen und direkten Form zur Ver­antwortung gezogen werden. Nicht nur die Wahrheitsfindung, die ja eigentlich das Ziel besag­ten Abkommens ist, bleibt dabei auf der Strecke, sondern auch das zweite fundamentale Anlie­gen erhält keine Chance: die Ge­rechtigkeit.
Die programmierte Schwäche der Wahrheitskommission liegt zu­dem in ihrem sehr begrenzten Mandat. Trotzdem ist es denk­bar, daß deren Mitglieder ihre Aufgabe flexibler wahrnehmen könnten als es im Abkommen vor­gesehen ist, und so einen Beitrag zur nationalen Versöh­nung leisten. Darauf zielte im November 1996 der Vorschlag guatemaltekischer Menschen­rechtsgruppen, die Kommission neu zu strukturieren, die Zahl ih­rer Mitglieder zu erhöhen und eine Garantie dafür zu schaffen, daß diese über angemessene Un­ter­suchungskapazitäten ver­fügen. Die Verhandlungsparteien über­gin­gen die Vorschläge der Men­schen­rechtsgruppen jedoch er­neut.

Begrenzte Kompetenz

Als Vorsitzender der Kom­mission war eigentlich Jean Ar­nault vorgesehen, zwischen Ja­nuar 1994 und der Unterzeich­nung des endgültigen Friedens­abkommens am 29. Dezember 1996 der von den Vereinten Na­tionen eingesetzte Vermittler im Verhandlungsprozeß. Arnault wur­de allerdings zum Leiter der UN-Mission in Guatemala MI­NU­GUA ernannt und kam daher für die Wahrheitskommission nicht mehr in Frage. Für die Ar­beit der Kommission kann dies von Vorteil sein, da er als ehe­maliger UN-Vermittler zwischen den Verhandlungsparteien si­cher­lich nicht die unabhängige Persönlichkeit gewesen wäre, die für ein derartiges Amt nötig ist. Als Ersatz stimmten die Ver­einten Nationen dem ge­mein­sa­men Vorschlag von URNG und Re­gierung zu, die sich auf den Ber­liner Völkerrechtler Christian Tomuschat geeinigt hatten. To­muschat mußte dann zwar den be­reits von Arnault eingesetzten Se­kretär der Wahrheitskommis­sion übernehmen, konnte aber die übrigen zwei Kommissions­mit­glieder ernennen. Beide, Oti­lia Coti und Alfredo Ballsels, ver­fügen über guten Rückhalt in ver­schiedenen gesellschaftlichen Grup­pen.
Der Handlungsrahmen der Wahrheitskommission ist durch die Comisión de Acompana­miento y Seguimiento de los Acuerdos (“Begleit- und Kon­trollkommission”) begrenzt, die aus VertreterInnen von Regie­rung und Ex-Guerilla gebildet wird. Diese Instanz überwacht die Umsetzung der gesamten Friedensvereinbarungen. Im Rah­men dieses Mandats wird sie letztlich den Zeitpunkt für Be­ginn und Ende der Untersuchun­gen wie auch über den Gebrauch, der von den daraus gewonnenen Resultaten gemacht wird, be­stimmen. Die Beteiligten der Wahrheitskommission sind so zwi­schen den unmittelbaren In­teressen der Vertragsunterzeich­ner eingekeilt.

Auch auf kleine Ergebnisse muß gewartet werden

Bis jetzt hat die Wahrheits­kommission ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Man wartet in Guatemala darauf, daß die Mit­glieder der Kommission die ver­schiedenen organisierten Grup­pierungen zusammenzuru­fen, damit diese “ihre” Fälle von Men­schenrechtsverletzungen vor­legen. Bereits seit einigen Jah­ren führen verschiedene Pro­jek­te unabhängige Untersuchun­gen zur Wahrheitssuche in Gua­temala durch und werden auf dieser Grundlage Berichte vorle­gen. Auch wenn diese in der Wahrheitskommission keine Be­rücksichtigung finden, werden sie sich zumindest in parallele, nicht-offizielle Informati­ons­quel­len verwandeln, um die wah­re Geschichte der Menschen­rechts­verletzungen im Lande auf­zudecken.
Die Position der Regierung, ihren eigenen Machterhalt wich­tiger zu nehmen als den gesell­schaftlichen Konsens, zeigt sich auch in anderen Bereichen der Inneren Sicherheit und Vergan­genheitsaufarbeitung. Zu nennen ist hier die Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung einer Po­li­cia Nacional Civil (“Zivilen Na­tionalen Poli­zei”/PNC), das in Form und In­halt stark vom ent­spre­chenden Abkommen zur “Stär­kung der Zivilgewalt und der Rolle der Streitkräfte in einer demokrati­schen Gesellschaft” vom Sep­tember 1996 abweicht. Das Ge­setz eröffnet jetzt den Mitglie­dern der Streitkräfte, die in den kommenden Monaten demobili­siert werden sollen, die Mög­lichkeit, in den Polizeidienst überzuwechseln. Inoffiziell ist bekannt, daß derzeit ungefähr 30 Offiziere der Streitkräfte in Spa­nien und Chile für künftige Füh­rungsaufgaben innerhalb der neu­en Polizei trainiert werden.
Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Armee keineswegs bereit ist, ohne weiteres auf ihre Positionen zu verzichten. Eine Fraktion innerhalb der Regierung hat­te versucht, das für die Ge­heimdienste zuständige Büro des Präsidenten nach zivilen Maß­stäben umzuformen. Dieser Plan hielt sich aber nur kurz: Die Zi­vilisten wurden entfernt, an ihre Stelle traten Mitglieder der Streitkräfte, die über eine lange Vorgeschichte im militärischen Geheimdienst verfügen. Dieser Vorgang wird als klares Signal für die Absicht der Regierung gesehen, die Allianz mit den Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Beide Beispiele, Polizei und Geheimdienst, bestätigen: Ob­wohl Mitglieder der Streitkräfte verstärkt Positionen besetzen, die weniger im Rampenlicht der Öf­fentlichkeit stehen, stellen sie nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor im Kräftespiel der guatemaltekischen Politik dar. Darin liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Menschenrechtsgrup­pen bei ihren Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit auf er­bitterten Widerstand stoßen.
Zusätzlich sind die Be­müh­ung­en um Aufklärung der Men­schen­rechtsverletzungen und um Ver­folgung der Täter durch den all­gemeinen politi­schen Kontext ge­prägt, der seit der Un­ter­zeichnung des ab­schließenden Frie­densabkom­mens entstanden ist. Dieser ist nicht zuletzt von zwei Entwick­lungen geprägt: zum einen von der Eingliederung der URNG in das zivile Leben und deren Auf­bau einer po­li­ti­schen Partei, zum anderen von den sozialen Kon­flikten, die durch die neoliberale Politik des Prä­sidenten Alvaro Ar­zú ver­schärft werden. Die Men­schen­rechts­organisationen könnten sich in diesem Klima in eine wich­tige politische Opposi­tions­kraft verwandeln. Der Ruf nach dem Recht der Opfer und Hin­ter­blie­benen von Menschen­rechts­ver­letzungen, die Ver­ant­wort­li­chen zu benennen und zur Re­chen­schaft zu ziehen, wird wei­ter­hin laut bleiben.
Übersetzung: Bettina Bremme

KASTEN

Der guatemaltekische Anwalt Carlos Enríquez kommentiert das vom Kongreß ver­ab­schie­dete Amne­stiegesetz und zeigt notwendige Schritte für eine wirkliche Ver­ar­bei­tung der Verbrechen des be­waffneten internen Konflikts auf:

Das “Gesetz zur Natio­nalen Ver­söhnung” ist dehnbar genug, um alle Urheber von Menschenrechts­ver­letzungen oder sonstige Kriminelle straffrei ausgehen zu lassen. Dadurch wird es – gewollt oder un­gewollt- zu einer so umfassenden Amne­stie, daß es grundlegende Rechte des guatemaltekischen Vol­kes verletzt: das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, und auf die Verurteilung der direkten Ak­teu­re der staatlicherseits aus­geübten Terrorpolitik.
Angesichts der Unterzeich­nung des Friedensvertrages scheint das eigentliche Wesen des Terrors in Vergessenheit zu geraten: Die Menschenrechte wurden in den kritischen Mo­menten des Konfliktes in Gua­temala nämlich nicht “einfach so” verletzt. Vielmehr war dies ein wesentlicher Bestandteil ei­ner staatlicherseits gezielt und bewußt durchgeführten Politik des Terrors. Das Hauptziel: mit der Strate­gie der counter­insurgency jede Form des Aufstandes einzudämmen. Bild­lich gesprochen ging es da­rum, dem “Fisch” (der Guerilla) das “Wasser” (das Volk) abzugraben. Der größte Teil der Opfer ge­hör­te daher der Zivilbevölkerung an, die als schützendes und un­terstützendes Umfeld der Auf­stän­di­schen betrachtet wurde. Unbestreitbar sind daher der guatemaltekische Staat und das Heer als wich­tigs­te ausführende Institution die Hauptverantwort­lichen für die begangenen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Um die Zivilbevölkerung in einem Kon­flikt vor ebensolchen Gewaltta­ten zu schützen, gibt es im Inter­nationalen Recht das Konzept der Menschenrechte und das Internationale Humanitäre Recht. Beides wurde in Guatemala staatlicherseits massiv und wie­derholt gebrochen.
An­dererseits ist bekannt, daß auch seitens der Aufständischen das Menschenrecht auf Leben und Un­ver­sehrtheit mißachtet worden ist. Bei solchen Taten der Guerilla handelte es sich je­doch nicht um ei­ne generelle Terrorstrategie, sondern um ver­einzelte Abrechnungen und be­grenzte Aktionen. Diese müs­sen vor dem Hintergrund der “Kultur der Gewalt” betrachtet werden, die in Guatemala, als Fol­ge­er­scheinung eines der grausamsten Kriege der letzten Zeit, das ge­samte soziale Gewebe durch­drun­gen hat. Für solche Delikte, die von nichtstaatlichen Akteu­ren begangen werden, hat das Inter­na­tio­nale Recht den Begriff der “Schweren Gewalttaten” ge­prägt. Unter Heranziehung eben dieses Kon­zeptes wurden in Ar­gentinien der Guerrillero Carlos Firmenich und in El Salvador Joaquín Vil­la­lo­bos verurteilt.
Das Beste, um den nationalen Versöhnungsprozeß voranzu­bringen, wäre, das beide Seiten öffentlich und als Institutionen getrennt voneinander eingeste­hen, daß aus ihren Reihen Ge­walttaten gegen Le­ben und Men­schenwürde begangen worden sind. Dazu gehört auf Seiten des Staates auch das Einge­ständ­nis einer Anti-Aufstands-Politik, die Menschenrechtsverletzungen als eine ihrer wesentlichen Kom­po­nenten ansah.
Übersetzung: Claudius Prößer
Gekürzt aus “Debate” vom Februar 1997

Megaescândalo

Was Brasiliens größte Quali­tätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Re­gierungsallianz zählende Kon­greß­abgeordnete er­läutern klar und unzwei­deutig eine groß­an­ge­leg­te Stimmenkaufopera­tion. Car­dosos In­tim­freund Sergio Motta von der So­zi­aldemokrati­schen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gou­ver­neu­re der Teil­staaten Acre und Ama­zonas um­gerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier aus­gezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wie­derwahl-Novelle vo­tie­rten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung al­ler­größte Be­deutung bei­ge­mes­sen wor­den.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeord­neten, die die Ver­fas­sungsänderung stets öf­fent­lich ablehnten, dann doch der No­velle zuge­stimmt. In den ab­ge­druckten Gesprächsmitschnit­ten wer­den fünf bestochene De­pu­tados aus Acre nament­lich genannt, doch weit mehr sollen Sum­men zwischen 200.000 und 300.000 Reais er­hal­ten haben. Diese bezeichen die Darstel­lungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Par­tei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld er­hielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig ange­sehen, die Mitschnitte somit als authentisch be­trachtet. Wa­rum nur diese beiden und nicht die an­deren Deputados – die zwei Gouverneure und der Mi­nis­ter?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gege­be­ne Antwort: Entläßt Cardoso Mi­ni­ster Motta, wie sogar die PFL-Spit­ze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Col­lor-Im­peach­ment von 1992.

Kurse der Stimmenbörse

Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, er­hob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Re­gierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kon­greßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kon­greßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf ei­ner Stimmenbörse. Am Mor­gen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais ge­handelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung pas­sieren würde. Einige Parla­men­ta­rier verlangten sogar 300.000 Re­ais. Kurz vor der Ab­stimmung glaub­te die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- bezie­hungs­wei­se ver­kaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamenta­rischen Untersu­chungs­ausschüssen verhin­dert, die ihr hätten gefährlich wer­den kön­nen. Zwar bekam die Oppo­si­tion die nötigen Unter­schriften der Abgeordneten zusammen, oh­ne die ein Ausschuß nicht ge­bil­det werden kann. PFL und PSDB entsandten je­doch nicht die vor­geschriebenen Repräsen­tanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokra­tisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Ge­sprächs­mitschnitte hatte die Op­po­si­tion die Unterschrif­tenliste rasch komplett – auf Anwei­sung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten las­sen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskon­ferenz CNBB hat den Me­ga­es­cândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffent­lich­tes CNBB-Dokument, in dem die Re­gie­rung der ak­tiven Kor­rup­tion beschul­digt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlno­velle heißt es, die Regierung be­sorge sich bei für sie interessan­ten Vor­lagen die nötigen Stim­men ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Un­ter­suchungen und Zeugenaus­sa­gen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf ver­wickelt. Im archai­schen Nord­osten, so Anwälte ge­gen­über den La­tein­a­me­rika Nach­richten, sei all­ge­mein be­kannt, daß der deutsch­stäm­mige PFL-Chef Jor­ge Born­hau­sen mit prall­ge­füll­tem Geld­koffer he­rum­rei­se, Politiker besteche und den Stim­menkauf organi­sie­re. Born­hau­sen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Par­tei Arena. Cardosos Vize Marco Ma­ciel gehörte ebenfalls zur Are­na und zählte zu den ak­tiv­sten Unter­stüt­zern der Folter­ge­ne­räle.

Alte Kameraden

Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korrup­tion und Machtmißbrauch abge­setzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Fol­ha de Sâo Paulo die Mit­schnitte erhielt, hat in­zwischen be­tont, weitere Tonbänder zu be­sitzen, auf denen noch mehr Per­so­nen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanter­weise vor der Veröf­fentlichung der Mitschnitte gegen­über dem Nachrich­tenmagazin Veja, sie sei­en überzeugt davon, daß der PFL-Gou­verneur von Amazo­nas mit der Ab­sicht des Stimmen­kaufs nach Brasi­lia gekommen sei. Mit Kof­fern voll Geld sei der Gou­ver­neur in den Wiederwahl-Pro­zeß hi­neingegangen. Warum stell­te die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Mei­nungs­umfrage führt die Popula­ri­täts­kurve des Staatschefs nach lan­ger Stabilität erstmals deut­lich nach unten. Brasiliens Bör­sen reagierten auf die Ver­öff­ent­li­chung der ersten, brisanten Mit­schnit­te in der Folha am 13. Mai so­fort mit Kursabfall. Die Echt­heit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Je­ne zwei Ab­ge­ordnete, die den Wortlaut des Ab­drucks bestritten, ste­hen bös’ da. Ganz zu schwei­gen von den an­deren Ver­wickelten.

Das vielstimmige Lied Paraguays

Roa Bastos, Bankangestellter, Journalist, schließlich und vor allem Schriftsteller, ist in Deutschland durch seine Ro­mane Hijo de Hombre (1960, dt.: “Menschensohn”) und Yo el Supremo (1974, dt.: “Ich, der Allmächtige”) bekannt gewor­den. In Lateinamerika wurden Literaturfreunde schon einige Jahre früher auf ihn aufmerksam, nämlich nach der Veröffentli­chung seines Erzählbands El trueno entre las hojas (Der Donner zwischen den Blättern) Anfang der 50er Jahre. Damals lebte er schon nicht mehr in Pa­raguay. Sein Exil beginnt nach der gescheiterten Revolution 1947, die dem Voranpreschen der Militärdiktatur nicht Einhalt gebieten konnte. In Buenos Aires findet er ein vorübergehendes Zuhause, wird von der Gesell­schaft Argentinischer Autoren zum Präsidenten ernannt und be­reist mit Jorge Luis Borges und Miguel Angel Asturias als la­teinamerikanischer Literaturbot­schafter Europa. Mitte der 70er Jahre läßt er sich im südfranzösi­schen Toulouse nieder, wo er an der Universität lateinameri­ka­ni­sche Literatur und Guaraní unter­richtet, neben dem Spanischen wich­tigste Sprache Paraguays.

Der Blick des Exilanten

Die Biographie Roa Bastos’ steht, wie bei vielen Künstlern und Intellektuellen Lateinameri­kas, unter dem Zeichen des Exils, dem Verbot von Heimat, dem Blick von außen auf das ge­liebte, gepeinigte Land. Auch seine Jugend beginnt ähnlich wie die anderer Literaten des Konti­nents. Wie Mario Benedetti ar­beitet er zunächst als eine Art Buchhalter oder Bankangestell­ter, gerade mal 16 Jahre war er da alt, und wie viele seiner Kol­legen kam er über den Journa­lismus, gelegentliche Artikel, Sozialreportagen und Kriegsbe­richterstattung aus Europa, zur literarischen Fiktion. Ort seiner Romanhandlungen ist stets Para­guay, Thema stets die Ge­schichte, die Allgegenwart der Unterdrückung.
Sohn eines Brasilianers fran­zösischer Abstammung und einer Guaraní könnte er als typisches Beispiel der paraguayischen Me­stizen gelten, die auf dem Lande Guaraní, in der Stadt Guaraní und Spanisch sprechen, oder vielmehr Jopará, die spanisch-paraguayische Umgangssprache. Allerdings war sein Vater weder campesino noch Gele­genheitsarbeiter, sondern ein an­gesehener Ingenieur, der den Sohn in die Hauptstadt zur Schule schicken konnte. Die Mutter erfüllte ihm die Ohren und die Phantasie mit den Le­genden, Mythen und der Gegen­wart des Guaraní.

Lied des Volkes

Roa Bastos ist nicht getrennt von Paraguay und seinen zwei­sprachigen Kulturen denkbar. Die mündliche Tradition des Guaraní, der immer wieder er­zählten Geschichten und Legen­den, die doch jedesmal anders klingen, jedesmal neu erfunden werden, spiegelt sich in seinen spanischen Texten wider. Immer sind verschiedene Stimmen zu hören, der Erzähler läßt die ande­ren zu Wort kommen, Unter­drücker wie Unterdrückte. Nicht die Chronologie ist vorrangig, nicht das Übereinstimmen, son­dern das vielstimmige Lied eines Volkes, ausgedrückt durch die Melodie der hörbaren Stille, das Donnern zwischen den Blättern, die Gitarre des toten Gaspar Mora, der Lärm der Trommler­pfeife und der wirbelnden Trommeln, das Kreischen der Nachteule Suindá. Die Musik des Erzählten, verwoben mit Mythen und immer wieder dem Gehörten, formt die imaginäre Welt Augusto Roa Bastos’. Sein Landsmann Rafael Barrett for­mulierte Ende der 20er Jahre, was auch Roa Bastos sich zu ei­gen macht: “Die Wurzeln des Volkes sind, wie die des Bau­mes, unter der Erde. Es sind die Toten. Die Toten sind lebendig. Unsere Nöte sind die Verzwei­gungen früherer Nöte, die weder aufgehalten, umgeleitet, noch in ihrem Keim erstickt werden konnten”.
Diese Nöte, dieses Nicht-Le­ben, sind für den Autor Aus­druck jener Irrealität, zu der die Ge­schichte seines Landes unter dem Joch der Unterdrük­kung ge­ron­nen ist. Der Schatten auf einem vergessenen Stück nächt­li­chen Brachlands, der sich zu ei­nem wimmerndem Körper wan­delt, der starblinde Marcario, Ein­siedler und Bildschnitzer von Itaipé, die unschuldige Mätresse des deutschstämmigen Diktators, my­thische Realitäten oder reale Fiktionen, erhalten von Roa Bas­tos ihren Platz in der Ge­schichte.
Der, dem es ein Anliegen ist, die Stimme des kollektiven Ge­dächtnisses zu formulieren und das Echo des Echos der Geschichte niederzuschreiben, ist vor einem Jahr dauerhaft in seine Heimat zurückgekehrt. Noch zu Beginn der 80er Jahre war Roa Bastos in Paraguay zur persona non grata geworden. Bleibt zu wünschen, daß ihm ein sol­ches Schicksal in Zukunft erspart bleibt.

KASTEN

Nicht ganz ein Roman

In seinem jüngsten Buch “Madama Sui”, das noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, erzählt Augusto Roa Bastos die Geschichte einer jungen Frau, die zwei Jahre lang die Geliebte Stroessners war.

Roa Bastos erklärt im Vor­wort von “Madama Sui”, er habe versucht, seine Erzäh­lung aus der Sicht einer Frau niederzu­schreiben: mit der uns eigenen Sensibilität und Wahr­nehmung, unserer natürlichen Intuition, al­les zu wissen, ohne uns dessen bewußt zu sein. Die Welt mit den Augen einer Frau zu sehen, ist der Versuch, gegen den auto­ritären, dominanten, “männ­li­chen” Diskurs, die Schwin­gun­gen zwischen der Di­chotomie von Gut und Böse auf­zufangen.
In diesem Sinne ist es Roa Bas­tos gelungen, das Leben von “Ma­dama Sui” in eine “weib­li­che” Form zu bringen. Die Hel­din ist nicht gut oder böse, schul­dig oder unschuldig, sondern ein jun­ges Mädchen, Kind und Frau, die Geliebte des Diktators und eines Guerilleros, Hure und Jung­frau. Das Buch selbst ist weder Roman noch Be­richt, keins davon und beides. “Wer ist Madama Sui? Gab es diese seltsame Persönlichkeit wirklich oder nur als erfundene Er­zäh­lung? Diese Geschichte, dem Na­tür­lichen entnommen, mit re­alen und authentischen Personen, ist weniger als ein Be­richt und mehr als eine Erfin­dung”, gibt Roa Bastos den Le­serInnen mit auf den Weg.
Eine hybride Erzählung, in der der Autor durch Gespräche mit Signore Ottavio Doria, Freund und Mentor von Sui, und durch ihre Tagebuchaufzeich­nun­gen ihr kurzes Leben zu be­greifen versucht. Lágrima Gon­zá­lez Kusugüe, genannt Sui, wurde nur zwanzig Jahre alt. Sui, wie Suindá, die Eule aus den pa­raguayischen Wäldern, die ihre Beute durch ihre gellenden Rufe anlockt; Sui, wie viele Frauen aus Japan, der Heimat ihrer Mutter.
Sui wächst in dem kleinen Ort Manorá auf, ihre Eltern sterben früh, einige Jahre später stirbt auch ihre Großtante. Eine kleine Vagabundin, auf sich selbst ge­stellt, lebensfroh und glücklich, weil es ihr niemals in den Sinn gekommen ist, unglücklich zu sein. Dafür wird sie von Signore Ottavio Doria, dem Architekten, der seine Resignation gegenüber der Welt in unvollendeten Ar­chitekturprojekten ausdrückt, verehrt und beneidet. Mit fünf­zehn Jahren zieht sie in die Stadt, um Anwältin zu werden. Der einzige Mann, den sie liebt, ER, geht in die Wälder und schließt sich der Guerilla an. Mit der juri­stischen Ausbildung wird es nichts. Sui gewinnt einen Schön­heitswettbewerb, und von da an ist der Übergang zur Geliebten des Diktators fließend. Nach zwei Jahren kehrt sie nach Manorá zurück – mit achtzehn Jahren ist sie zu alt für die Vor­lieben des Diktators -, wo sie zwei Jahre später stirbt. In die kurze Biographie von Madama Sui sind viele Episoden einge­webt, so ihre Reise nach Japan, ihre Begegnung mit der Ver­mittlerin des Diktators, vor allem aber Gespräche zwischen Sui und der Vermittlerin, Roa Bastos und Ottavio Doria, wodurch der Text eher eine gewisse Annähe­rung an die Person, als eine Chronologie der Ereignisse wird.

“und plötzlich sahen wir den Himmel…”

“Der Tag meiner Verhaftung war grau, grau, grau. Als ich aufwachte war er grau, er blieb den ganzen Tag über grau und am Abend war er immer noch grau. Auf der Polizeistation gab es dann auch keinen Tag und keine Nacht, keine Zeit mehr, nur elektrisches Licht.” Gefühl­voll, poetisch erzählt Graciela Jorge von ihrer Vergangenheit als Revolutionärin. Um gegen die Militärdiktatur in Uruguay zu kämpfen, schloß sie sich Ende der 60er Jahre der Bewegung zur nationalen Befreiung (MLN) Tu­pamaros an, ging in den Un­tergrund, wurde verhaftet und zu 13 Jahren Gefängnis verur­teilt.
18 Jahre Gefängnis hatte Mo­nika Berberich aus Deutschland zu verbüßen. Als Mitglied der RAF ging auch sie in den Unter­grund und gab ihre bürgerliche Identität auf, war Teil einer Stadtguerilla und kämpfte gegen den Staat. Sie schildert die Ge­schehnisse von damals rational, analytisch versucht sie, ihre Ver­gangenheit zu begreifen.
So unterschiedlich die beiden Frauen auch sind, und so unter­schiedlich die Situation war, in der sie sich für einen bewaffne­ten Kampf entschlossen, etwas haben sie doch gemein:
Sie sind Frauen. Frauen, die Widerstand leisteten und Frauen, die von der offiziellen Ge­schichts­schreibung vergessen wer­den.
Der deutsch-uruguayische Do­kumentarfilm “und plötzlich sahen wir den Himmel …” erin­nert an genau diese Frauen, setzt der offiziellen Geschichte, die sich zumeist auf männliche Pro­tagonisten bezieht, etwas entge­gen. Fünf Frauen aus Uruguay, die den Tupamaros angehö­ren, und fünf Frauen aus Deutschland, die im Widerstand aktiv waren, befragen sich ge­genseitig, erzählen, manchmal sehr intim, was sie damals be­wegt hat, was sie heute bewegt. Themen wie Liebe im Unter­grund, Schwangerschaft und die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern während der Haft werden aufgegriffen. “Für mich war das normal. Ich habe ihnen gesagt, daß sie im Gefängnis sind, weil sie Brot an arme Kin­der verteilen wollten – aber klar habe ich mich gefragt, warum sie sich soviel um andere Kinder kümmerten und nicht um mich”, antwortet Gabriela, die Tochter von Graciela, auf die Frage, wie sie ihren Freunden damals er­klärt hat, daß ihre Eltern im Ge­fängnis sind.

Widerstand damals und heute

Aber auch die Bedeutung der Vergangenheit für heute be­schäftigt all diese Frauen: Wäh­rend die einen mit offenen Ar­men und voller Herzlichkeit nach ihrer Entlassung aus dem Ge­fängnis aufgenommen wurden (Uruguay), kämpfen andere noch heute mit der Einsamkeit, die sie damals empfangen hat (Deutsch­land).
Die Form des Widerstandes der Frauen ist vielfältig. Nicht alle der interviewten Frauen sind wie Graciela und Monika in den Untergrund gegangen, nicht für alle bestand die einzige Hoff­nung im bewaffneten Kampf. Widersprüche und ganz unter­schiedliche Auffassungen von Widerstand greift dieser Film auf, stellt sie gegenüber und wägt ab, ohne zu bewerten. Einig sind sich alle darin, daß Wider­stand geleistet werden mußte und muß.
Drei Jahre, von 1994 bis 1997, hat die Fertigstellung die­ser Videoproduktion von intero­ce­ana video Montevi­deo /München gedauert, in denen die Beteiligten Unfälle, Über­fälle, etc. überstehen mußten. Die Vielfalt der angesprochenen The­men ist enorm, beinahe zu­viel wird an- und ausgesprochen. Überladen scheint die Verbin­dung der Bilder von brennenden Häusern in Rostock, Naziprozes­sen in den 60er Jahren, Asylpo­litik in Deutschland und Militärs in Uruguay und einem Interna­ti­o­nalismus der zwischen all dem ei­ne Brücke schlagen soll. Etwas we­niger wäre mehr gewesen.
Obwohl die Frauen sehr per­sön­liche Erlebnisse schildern, sorgt eine statische, eintönige Ka­meraführung für Distanz. Der ver­schmitzte Humor, der den Do­kumentarfilm “Tupamaros” kenn­zeichnet, der auf der dies­jährigen Berlinale zu sehen war und ebenfalls die Geschichte der Tupamaros thematisiert, ist hier, vor lauter Frauen-Vertraulichkeit kaum wiederzufinden. Meta­phern kommen allzu oft plakativ daher, etwa wenn eine davon spricht, in “der Blüte des Le­bens” gestanden zu haben, und wir tatsächlich auf der Leinwand eine bunte Blüte präsentiert be­kommen. Gullis symbolisieren das Abtauchen in den Unter­grund, Bilder von reichen Villen verdeutlichen die Notwendigkeit eines antiimperialistischen Kam­pfes und zwischendrin im­mer wieder Einstellungen vom Meer. Ja, ja die Freiheit.

Erinnerungen an die Zukunft

Aber, und das ist ja auch das Schöne an dem Film, wie die Frauen selbst sagen, sind sie keine Profis, sondern einfach Frauen, die Lust hatten, über Frauen im Widerstand einen Film zu machen. Der Spaß an der Sache und eine Unbe­schwertheit, die im professio­nellen Film kaum möglich ist, sind bei dieser Produktion be­stimmt entscheidend gewesen, ge­nauso wie Intuition und Zufall die ständigen Begleiter der Frau­en waren.
“und plötzlich sahen wir den Himmel…” ist, trotz aller tech­nischer und filmsprachlicher Mängel, ein sehr informativer Film. Er verleiht denen eine Stim­me, die sonst nicht gehört werden, stellt gängige Klischees der lateinamerikanischen Linken in­frage, und er versucht, eine Brücke zu bauen zwischen Men­schen, die hier, genauso wie in Uruguay, ihre Vergangenheit bewältigen müssen – die gegen das Vergessen kämpfen und da­bei ähnlich skeptisch in die Zu­kunft blicken.
JedeR, die/der sich für die Ge­schichte von Frauen, für Ge­schichten von Widerstand und Untergrund, Liebe und Poesie, Vergangenheit und Gegenwart in Deutschland und Lateinamerika interessiert, sei dieser Film empfohlen. “und plötzlich sahen wir den Himmel … ” ist ein Do­kument, das die Vergangenheit am Leben erhält und Perspekti­ven für die Zukunft aufzeigt; und die Realisierung dieses Projektes hat Vorbildcharakter für all jene, die davon träumen, ein großes Projekt mit kleinen Mitteln zu verwirklichen.

Urteilsverkündung in zehn Jahren

Die brasilianische Verfassung von 1988 sieht vor, daß unpro­duktives Land für die Agrarre­form enteignet werden kann. In Bra­silien verfügen 2,8 Prozent der Grundeigner über 56,7 Pro­zent des Bodens. Brasilien weist damit die zweitstärkste Landbe­sitz­konzentra­tion der Welt auf. Der politische Prozeß, der eine ge­rechtere Verteilung des Bo­den­besitzes anvisiert, kommt seit Jahr­zehnten kaum voran. Die Land­losenbewegung, die 4,8 Mil­lio­nen Kleinbauern­familien ohne Landbesitz vertritt, drängt die Regierung zur Beschleu­ni­gung der Agrarre­form.
Im August 1994 begannen Ver­treterInnen der brasiliani­schen Landlosenbewegung Ver­hand­lungen mit Beamten der staat­lichen Agrarreformbehörde in Marabá, einer Pro­vinzstadt im Süden Parás. Sie forderten die Behörde auf, abzuklären ob der 42.500 Hektar umfassende Ma­caxeira-Komplex, ein Groß­grund­besitz von 13 Farmen, die Be­dingungen zur Enteignung für die Agrarre­form erfülle. Die re­gio­nale Agrarreformbe­hörde be­fand den Komplex für produktiv, obwohl sich nur wenige Rinder auf den Far­men befanden. Um diesen offensichtlich durch Be­stechung zustande gekommenen Ent­scheid zu decken, wurde auf Bundesebene entschieden, eine der dreizehn Farmen – die 6.000 Hektar große Macaxeira-Farm – dem Be­sitzer für zwei Millionen Dollar abzukaufen. Empört über diesen Kaufentscheid, der nur einen Bruchteil des umstrittenen Bodens be­traf, mobilisierte die Landlosenbewegung 3.000 Per­sonen, welche Anfang März 1996 die benachbarte Formosa-Farm besetzten. Am 9. April starteten 650 Besetzer einen Protest­marsch Richtung Belém. Als der Protestzug eine Woche später in Eldorado dos Carajás Station machte, hatten sich Hun­derte spontan dem Marsch ange­schlossen, in der Hoffnung, auf diesem Weg ein Stück Land zu erhalten. Als die vom Gouver­neur versprochenen Auto­busse, die einen Teil der Landlosen zu Ge­sprächen nach Belém bringen sollten, nicht bereitgestellt wur­den, blockierten die Land­losen die Hauptstrasse.

Der Gewaltexzeß der Militärpolizei

Am frühen Nachmittag des 17. Aprils – die Straße war be­reits wieder freigegeben – tauch­ten aus zwei Richtungen mehrere Busse auf. Aus den Fahrzeugen stiegen 155 Militär­polizisten. Sie schossen mit Tränengaspetar­den und gaben Maschinengewehrsal­ven in die Luft ab. Die Landlo­sen reagierten mit Stein­würfen und rannten mit drohend erho­benen Sensen und Macheten auf die Polizisten zu, was von einem lokalen Fernsehteam aufge­zeichnet wurde. Überrascht schos­sen die Mi­litärpolizisten mit Maschinenpistolen in die Menge und suchten hinter den Autobussen Schutz, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Eine Fernsehjournalistin, die zu verhandeln versuchte, wurde bei­seite geschoben; ein Mi­litärpolizist riß die Videokassette aus der Kamera. Anschließend schossen die Beamten nochmals in die Menge. Die ge­richts­medizini­sche Untersu­chung er­gab, daß die tödlichen Schüsse ge­zielt in den Brust- und Kopf­be­reich der Opfer abgege­ben wor­den waren. Sieben der 19 To­ten wurden mit ihren eige­nen Ma­cheten hingerichtet; zwei wei­tere durch Genickschüsse um­gebracht.

Ein Heer von Landlosen

Der Bundesstaat Pará ist eine der kon­fliktreichsten Gegenden Bra­siliens. Seit dem Beginn der Militärdiktatur 1964 bis zum Jahr 1995 wurden 527 Menschen bei Landkonflik­ten umgebracht.
Die strukturellen Gründe für das hohe Gewaltniveau der Re­gion sind in der chaoti­schen Be­siede­lung des einstmals ge­schlos­senen Urwaldgebietes und der damit zusam­menhängenden star­ken Landbesitzkonzentra­tion zu su­chen.
Die Besiedlung des Südens von Pará be­gann, als in den Hü­geln der Serra dos Ca­rajás Ei­sen­erz entdeckt wurde. Der Ta­gebau von Carajás, der vom halb­staat­li­chen Berg­baukonzern Vale do Rio Doce betrieben wird, wurde zum Kernstück des größten “Regionalentwicklungspro­gramm” der Welt. Mit Hilfe von Kre­diten der Europäischen Ge­mein­schaft, von deutschen und ja­panischen Banken sowie der Welt­bank wurde ein Gebiet von 895.000 Quadratkilometern als Pro­jeto Grande Carajás er­schlossen.
Neben der Mine, einer Eisen­bahnlinie und einem Hochseeha­fen für den Eisenerzexport um­fasste das Großprojekt ein gi­gan­tisches Wasserkraftwerk für die Ton­erde- und Alu­mini­um­herstellung. Auch die land- und forstwirtschaftliche Erschlies­sung der Region wurde von Großbetrieben dominiert. In den Nutzungsplänen des Projekts wa­ren nur ge­rade 17 Prozent der Landwirtschaftsfläche für Klein­bau­ern vorgesehen. Zu wenig für das Heer von Landlosen, die aus allen Teilen Brasiliens in den Süden Parás zogen. Die meisten hatten der Mechanisierung der Land­wirtschaft wegen ihren Hof aufgeben müssen oder waren von Großgrundbesitzern vertrieben wor­den.
Als in der Serra Pelada in der Nähe der Eisenerzmine Gold ge­funden wurde, zog der Gold­rausch noch einmal hunderttau­send Men­schen in den Süden Pa­rás. Nur wenige machten das schnelle Geld; das Heer von Land­losen und Arbeitsuchenden wuchs weiter an. Seit der Fertig­stellung der Großprojekte gibt es in der Region kaum mehr Arbeits­möglichkeiten.

Schockierende Fernsehbilder

Landkonflikte sind den brasi­lianischen Medien oft keine Zei­le wert. Das Ausmaß der Bru­talität der Täter beim Massa­ker von Eldo­rado, die vielen Op­fer, vor allem aber die Bilder des Kon­flikts im Fernsehen, haben die städtische Mittelklasse, die sich sonst kaum für Vorkomm­nis­se im Hinterland interessiert, geschockt und empört. Ange­sichts der hefti­gen Reaktionen aus dem Ausland war die brasi­lianische Regierung bemüht, den Ima­ge­schaden zu begrenzen. Raul Jungmann, der Minister für “Grundbesitzpolitik”, ver­sprach den Landlosen im Süden Parás ein Millionenbudget für Schulen und Gesund­heitsposten. Das Büro der staatlichen Agrar­reformbehörde in Marabá wurde direkt Brasília unterstellt und ein Teil des Perso­nals ausgewech­selt. Zudem wurde der Mili­tärpolizei Parás verboten, bei Landkonflikten einzugreifen.

Die Landlosen als Feindbild

Für Carlos Guedes do Amaral, Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer, ist der Befehlsha­ber des militärpolizeilichen Einsatzes, Oberst Pantoja, eine der Schlüs­selfiguren des Mas­sakers. Pan­toja wurde seit Beginn der neun­ziger Jahren nicht müde, in der lokalen Presse zu verbreiten, er werde alles daran setzen, die Landlosenbewegung aus Pará zu vertreiben. Er brachte falsche In­formationen in Umlauf, um die Landlosen zu diskreditie­ren und hetzte seine Polizisten gegen diese auf.
Wie stark die Basis der Mili­tärpolizei ge­gen die Landlosen­bewegung aufgebracht wurde, zeigte sich wenige Tage nach dem Massaker. In den Kasernen der Militärpolizei in Marabá drohten die Militärpolizisten mit einer Rebellion, falls die Landlo­sen nicht vor Gericht gestellt würden. Daraufhin klagte das Kommando der Militärpolizei willkürlich und ohne Beweise drei Mitglieder der Bewegung wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt an.

Unsachgemässe Untersuchungen

Die zivil- und militärpolizeili­chen Unter­suchungen des Mas­sakers wurden von An­fang an nicht sachgemäß angegangen. Die Militärpolizei brachte die Toten zur nächsten Ortschaft und verunmöglichte damit eine kor­rekte kriminaltechnische Unter­suchung am Tatort. Die Staats­anwaltschaft des Militärge­richts in Belém nahm bereits am 18. April ihre Arbeit auf. Eine Wo­che später reichten die Staatsan­wälte jedoch ihren Rücktritt ein. Sie begründeten dies damit, daß ihnen weder Personal noch eine Transportmöglichkeit zur Verfü­gung gestellt worden war. Sie hätten den Tatort nicht innerhalb einer angemessenen Frist auf­suchen können. In ihrem Rück­tritts­schreiben warnten die Staats­an­wälte davor, nur die Mili­tärpoli­zei für das Massaker haft­bar zu machen. Die Rolle des Gou­ver­neurs und anderer staat­licher In­stanzen sollte ebenfalls un­ter­sucht werden. Zu oft sei in sol­chen Fällen lediglich die Militär­polizei zur Ver­antwortung gezo­gen worden, die Rolle der ande­ren Organe jedoch im Dunkeln geblieben.
Die in der Folge eingesetzte zweite Equipe schloß ihre Arbeit im Juli ab. Gemäß Guedes do Amaral wurde in dieser wie auch in der zivilpolizeilichen Untersu­chung etli­ches Beweismaterial zerstört, zurückgehalten oder schlicht ignoriert. Die Befehls­kette, die vom Gouverneur des Bundesstaates Pará, Al­mir Ga­bri­el, bis zum Militärpolizei-Kommando reiche, könne nicht mehr rekonstruiert wer­den. Die staatliche Telefongesellschaft Te­le­pará registrierte am Vor­mittag des Massakers 26 Direkt­verbindungen zwischen dem Gou­verneurspalast in Belém und dem Hauptquar­tier der Militär­polizei in Marabá. Weder sei dieser Sachverhalt in den Ge­richtsakten vermerkt worden, noch ein Exekutivvertreter – Gou­verneur Almir Gabriel oder einer seiner Untergebenen – ver­nommen worden, monierte der Anwalt der Hinterbliebenen. Auch die Aussage des Geschäfts­führers der Autobus­firma Trans­brasiliana, wonach der halbstaat­liche Bergbaukonzern Compan­hia Vale do Rio Doce den Trans­port der Militärpolizei nach El­dorado bezahlt habe, liege den Akten nicht bei.

Urteilsverkündung im Jahre 2007

Die Staatsanwaltschaft ent­schied, alle 155 beteiligten Mi­litärpolizisten anzuklagen, ob­wohl laut Guedes do Amaral be­kannt sei, daß sich unter ihnen eine Todesschwadron be­fand, eine Gruppe von etwa zehn Männern, die im Auftrag von Großgrundbesitzern Morde ver­übt habe und die bei ihrem Ein­satz in Eldo­rado carte blanche erhalten habe. Da nach bra­si­lianischem Recht jeder An­ge­klagte Anrecht auf acht Zeugen hat, wird sich das Geschwo­ren­engericht über 1240 Personen an­hören müssen. Die Ur­teilsverkündung ist deshalb früh­estens im Jahre 2007 zu er­war­ten. Es ist zu vermuten, daß dieser Prozeß als längstes Ge­richts­verfahren vor einem Ge­schworenen­gericht in die Ge­schich­te Brasiliens eingehen wird.
Ein Jahr nach dem Massaker in Eldorado dos Carajás ist es angesichts der lücken­haften poli­zei­lichen Untersuchungen mehr als ungewiß, ob jemals je­mand für das Verbre­chen haftbar ge­macht werden kann. Die Straflo­sigkeit bei Morden im Zu­sam­menhang mit Landkonflikten hat in Pará Tradition. Bei den 527 Fällen zwischen 1964 und 1995 kam es zu vier Verurtei­lungen. Von rechtsstaatli­chen Verhält­nissen ist das brasiliani­sche Hin­terland weit entfernt.

“Kunst: eine Leidenschaft mit Risiko”

Ein kühles, stilles Morgenlicht liegt noch wie ein zartes Luftgewebe über Barranco. Noch ist die Straße menschenleer, ab und an nur braust ein zeternd hupendes Taxi vorrüber oder ein scheppernder Bus poltert mit klirrenden Scheiben durch die Schlaglöcher. Die Calle Domeyer zweigt von der Hauptstraße ab, und sie endet schon nach wenigen Metern an einem Tor hoch über den Klippen der Bucht von Lima. Víctor Delfín, ein kleiner alter Mann mit in Würde zerfurchtem indianischem Gesicht, langem grauem Haar, die sehnigen Beine ragen aus farbbeklecksten Shorts, schaut einen Moment lang listig wachsam hinter seinen großen Brillengläsern hervor. Freundlich heben sich seine Augenbrauen, und er läßt ein in sein Atelier, vor dessen weiten Fenstern von Horizont zu Horizont der Pazifische Ozean tobt.
Geboren 1927 als Sohn eines Erdölarbeiters im Norden des Landes, verschenkte er bereits als Kind selbstgebastelte Spielzeugautos aus Holz, Draht, und Blechdosen, und als Schüler verkaufte er Zeichnungen, um sich Zeichenutensilien kaufen zu können. Mit zehn Jahren mußte er von der Schule, und wie so viele peruanische Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Jahre verbrachte er als Straßenhändler, Hilfsarbeiter in Fabriken und auf Baustellen, doch vom Zeichnen ließ er nie. Er bestand die Aufnahmeprüfung für den Eintritt in die Kunstakademie von Lima, seinerzeit für einen Bewerber ohne Schulabschluß eine Sensation, die ihm ein Stipendium einbrachte.

Eine Generation von Künstlern auf der Suche nach ihren Wurzeln

Lateinamerika schien in den fünfziger Jahren nach Krieg und Zuwandererwelle kulturell neu zu erwachen. Der Kunststudent Víctor Delfín stürzte sich in die Bohème von Lima, die so sein wollte wie jene in Paris oder New York.
“Zu Beginn habe ich all diese “-ismen” aufgesaugt wie ein trockener Schwamm, die Befehle der Generäle Bréton, Picasso, Henry Moore, beinah bis zur Selbstvergessenheit. Doch da gab es in mir einen rebellischen Geist, der mir keine Ruhe ließ, der fragte: Wo bleibt die Seele?” Er ging auf die Suche, und gehörte zu jener Generation peruanischer Künstler wie auch Alberto Quintanilla, Tilsa Tsuchiya und Fernando de Szyzlo, die ihre indigenen Wurzeln neu entdeckten in einer Zeit, in der die politische und kulturelle Nomenklatura des Landes voller rassistischer Ressentiments und Ignoranz auf die “cholos”, wie sie Mestizen und Indios abfällig nennt, herabblickte. Nicht etablierte Ausstellungen und Wettbewerbe besuchte diese junge Generation, sondern Dörfer und Märkte und Werkstätten, sie stiegen hinauf nach Macchu Picchu, durchschritten die Ebenen von Nazca, studierten in den Museen die lustvolle, bunte Formenwelt der Keramiken und der farbenprächtigen, meisterhaft gewebten Stoffe präkolumbiner Kulturen. Während Künstler wie Szyzlo die Farben und Formen der indigenen Tradition in ihre abstrakte Malerei zu integrieren suchten, wandte sich Delfín dem Figurativen zu.

Bilder von Alltagsszenen im Altiplano

Nach Abschluß seines Kunststudiums wurde er Dozent und schließlich Direktor der Kunstakademien von Puno am Titicacasee und Ayacucho, Zentrum des peruanischen Kunsthandwerks. “Ich ging morgens auf den Markt von Ayacucho, sah die Stoffe aus Lamawolle, Hüte, Sättel aus Leder, kleine Spielzeugkühe aus Quinoafasern, so vieles und mehr, und fühlte mich wie in einer riesigen Akademie”. In dieser Zeit entstander flach und geometrisch wirkende, rationalistische Bilder; Landschaften und Porträts, streng durchkomponiert und in traditionellen Farben gehalten. Bilder von täglicher Arbeit: Maurerkolonnen auf dem Gerüst, Marktfrauen mit ihrer Ware, der Bauer auf der Scholle. Die Farbe des Bildes atmet den herben Duft der Erde des Altiplano. Dem Kulturministerium war dies schon zu revolutionär: Delfín wurde von seinem Posten entlassen.
Er ließ das reaktionäre Lima hinter sich, ging nach Santiago de Chile. Die sechziger Jahre lösten hier eine Welle der Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln Lateinamerikas aus. Pablo Nerudas “Canto General” erscholl über den Kontinent, Violeta Parra machte das chilenische Volkslied populär, und ihre Kinder Angel und Isabel Parra gründeten die Bewegung des “Neuen Gesanges”. Einige Jahre lebte Delfín mit den Parras, aus seinem Atelier im Zentrum Santiagos wurde später gar die legendäre “Peña de los Parra”, wo auch Víctor Jara seine ersten musikalischen Schritte wagte. Delfín gab Zeichen- und Malkurse an den Kulturinstituten von Los Condes und Providencia. Erst hier bekam er das Gefühl, seine künstlerische Identität gefunden zu haben.

“Retablos” – eine Brücke zum Mestizo-Barock

Das Resultat seiner Suche, “den Durst nach der Wirklichkeit zu stillen”, waren seine bemerkenswerten “Retablos”, bemalte flache Kästen mit räumlichen Szenen, mit denen er eine Brücke schlägt zu den berühmten “Retablos” von Ayacucho, bemalten Tafeln oder mit prunkvollen Goldschmiedearbeiten gestaltete Tryptichone mit religiösen oder anekdotischen Szenen, die einst Kirchen- und Hausaltäre schmückten und zu den herausragensten Arbeiten des sogenannten Mestizo-Barock gehören. In seinen “Retablos” ersetzte Delfín das traditionelle Thema zunächst durch die plastische Umsetzung von Methaphern der populären Poesie, wie z.B. einem Schwarm Tauben oder Rosetten von Blüten, später gar durch erdachte, illusionistische Elemente aus Metall, Holz und Gips.

Ein Skulpturengarten auf den Klippen vor der Stadt

Er kehrte zurück nach Lima, kaufte eine heruntergekommene Villa in Barranco, das zu jener Zeit, den späten sechziger Jahren, nicht mehr als ein verschlafener Küstenort war. Nach Delfín entdeckten weitere Künstler, Schriftsteller, Dichter, Intellektuelle den beschaulichen Ort mit der Kolonialkirche und der baumüberdachten Plaza, wo das Zwitschern der Vögel morgens noch den Verkehrslärm übertönt, und machten ihn zu einer “Künstlerkolonie” von kontinentalem Rang, nicht zuletzt Delfíns Freund und Weggefährte Mario Vargas Llosa, der vor seiner Übersiedlung nach Spanien nach seiner Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf 1990 gegen Alberto Fujimori in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte.
Im Laufe der Jahre erlebte das Haus auf den Klippen vor Lima gleichsam eine kreative Explosion. Den Garten mit Blumenbeeten in versteckten Winkeln und windumtosten Terassen zieren zahlreiche Skulpturen, die Wände in seinem Atelier hängen voller großer Ölbilder. In manchen Porträts liest sich der Kommentar des Künstlers, das ganze Spektrum seiner Leidenschaften: Der liebevolle Blick, den ihm seine Tochter erwidert, eine Mischung aus Trotz und Zuneigung im Gesicht einer Freundin, der schneidende Schmerz des Christus, der von den Bajonetten des peruanischen Militärs durchbohrt am Boden liegt, der dumme, ignorante Ausdruck im feisten rosa Gesicht eines Generals, der mit seinem fetten Hintern auf einer Staatsflagge sitzt, die notdürftig einen Berg Totenschädel verhüllt.
“Wenn jemand verrückte Ideen hat, Ideen von Rebellion, von Weite angesichts der Natur, dann drückt er sie aus, und somit manifestiert sich das Ich, das Persönliche, das Unverwechselbare. Die Kunst ist kein Beruf, sie ist eine Leidenschaft, der man sich hingibt mit allen Risiken. Ich male keine angenehmen Themen, es gefällt mir zu streiten, wenn ich ausstelle.”
“Nur wenn ich gegen meinen eigenen Erfolg rebelliere, kehre ich zu den Wurzeln zurück und entwickle mich fort. Ich mache mir keine Schwierigkeiten über das Ziel, daß ein Kunstwerk haben könnte. Ich sehe die Kunst weder als eine Art Wettbewerb, noch glaube ich, daß ich eine Art Erleuchteter bin, der anderen den Weg vorgeben könnte.”

Monumentale Skulpturen aus Schrott und Wut

Mit der Rückkehr nach Lima wuchs in Delfín die Wut über die Ignoranz, die ihm begegnete. “Als ich nach Barranco kam, war ich ein sehr unruhiger Mensch, mit einem Ruf hin bis zur Gewalttätigkeit. Ich nahm ein paar Stücke Eisen, Schrott, Abfall- und fing an, meine ganze Wut, Frustration auszudrücken gegen diese rassistische Gesellschaft, wie ich sie erlebt habe, man nannte uns “diese cholos, diese negros”. Ich habe all dies wahrgenommen und mein “Bestiarium” (eine Serie großer, wuchtiger Tierplastiken aus Stahl) geschaffen: Jedem Stück verpaßte ich ein gewaltiges Geschlechtsorgan, groß, gewalttätig. Und unvorstellbarerweise genau das Publikum, daß ich damit angreifen wollte, jene die ihr Schäfchen im Trockenen haben, hat diese Sachen gekauft wie verrückt.”
Erst als Bildhauer eroberte sich der studierte Maler seinen Platz in der Kunstszene: Es folgten Ausstellungen, Verkäufe, Preise in Peru, in Chile, Ecuador, Kolumbien, schließlich schaffte er den Sprung nach Nordamerika, blieb zwölf Jahre lang in New York. Eine eigene Galerie im Greenwich Village, Ausstellungen im Hauptquartier der OAS, Versteigerungen bei Sothebys, Empfänge, Vernissagen.
Und doch zog es ihn wieder zurück nach Peru, nach Lima, nach Barranco. Seit Anfang der achtziger Jahre lebt er wieder ständig dort und hat den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Perus in Zeiten von Militärdiktatur und Terrorismus durchgestanden.
Das Peru der späten achtziger und frühen neunziger Jahre war ein Staat in Auflösung. Der “Sendero Luminoso”, die maoistische Guerilla des “Leuchtenden Pfades”, rief zu einem “reinigenden Blutbad mit einer Million Toten” auf und trieb den Terror bis in das Zentrum von Lima. Bombenanschläge und Schießereien in den Straßen, das öffentliche Leben erlahmte, die Menschen trauten sich vor Angst nicht mehr aus den Häusern. Angesichts von Wirtschaftskrise und Terrorismus war das Regime von Präsident Alan García nicht mehr Herr der Lage.
Auch für Víctor Delfín begann eine Zeit der Isolation und der Furcht – nicht nur um die physische Existenz, sondern auch um das geistige Überleben in einer Zeit, in der “an Kunst, an Glück, an Liebe nicht zu denken war”.
Eine dröhnende, bleierne Stille herrscht in der verwaisten Skulpturenwerkstatt, aus Mangel an Leinwand werden alte Bilder übermalt. Sein früher zügelloser, aufbrausender Charakter ist einer beständigen, kämpferischen Natur gewichen, die nicht weniger leidenschaftlich ist.

Ein “Park der Liebe” für ein Land in der Krise

Stärker als je zuvor fühlte er sich mit seinem Land und seinen Mitmenschen verbunden, und er machte ihnen auf dem Höhepunkt der Krise ein herrliches Geschenk, daß ihn schlagartig im ganzen Land bekannt machte: Einen Hymnus an die Liebe, den “Parque del Amor”. Der Park, auf einem Felsen am Meer im Stadtteil Miraflores gelegen, ist zu einem Wallfahrtsort für Liebespaare aus dem ganzen Land geworden. Die geschlängelten Umfassungsmauern mit zahlreichen verborgenen Sitznischen und Durchbrüchen, gaudiesk bunt gefliest, sind geschmückt mit Zitaten aus den schönsten Liebesgedichten peruanischer Dichter, laden ein zum Verweilen und Entdecken.
“Ich denke, daß man als Künstler die Gabe hat, seine Sensibilität auszudrücken. Wie könnte ich unempfindsam sein angesichts eines vergewaltigten Mädchens, eines toten Kindes, eines verschwundenen Studenten? Wie kann man da still sein? Wie kann man sich isolieren, wenn man aus dem Haus geht und nur Elend, Unordnung, Korruption, Gewalt sieht? Die Jahre des Terrors, gegen den Staat und von ihm ausgehend, haben viele von uns hartherzig gemacht, wir haben einen Teil unserer Seele verraten. Man hat mich in den letzten Jahren gelehrt, demütig, bescheiden, standhaft zu sein, die Stirn zu bieten, keine Angst zu haben…Carajo!”
Überraschend gewann 1990 der japanstämmige Agraringinieur Alberto Fujimori, ein populistischer Außenseiter, die Präsidentenwahlen. Die ökonomische Krise und die ersten Folgen der neoliberalen Wirtschaftsreformen brachten das Land an den Rand des Abgrunds und das soziale Pulverfaß zum explodieren. Im April 1992 putschte Fujimori mit Hilfe des Militärs gegen sein eigenes Amt, setzte die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und stattete sich selbst mit weitreichenden Vollmachten aus. Die folgende Großoffensive der Armee gegen die zahlreichen im Land operierenden Guerillabewegungen brachte mit der Verhaftung von “Sendero”-Chef Abimael Guzman einen großen Erfolg, der das Land weitgehend befriedete. Die Wirtschaftsreformen griffen, stoppten die rasante Inflation und führten zu einem bescheidenen Wachstum. Doch der Preis dafür ist hoch. Steigende Arbeitslosigkeit, die Schere zwischen arm und reich klafft weiter auseinander, an den grundsätzlichen Problemen hat sich nichts geändert. Fujimori schaffte die demokratische Verfassung ab, ersetzte sie durch ein autokratisches, ihm beinah absolute Macht garantierendes Gesetzeswerk. Eine beispiellose Terroristenhatz überzieht das Land mit dem Ergebnis, daß tausende “Verdächtiger” zum Teil seit Jahren ohne Prozeß in Haft sitzen. Noch heute “verschwinden” Menschen spurlos, oder werden auf offener Straße vom Geheimdienst entführt, wie es zum Beispiel kurz vor Weihnachten dem Ex-General Robles geschah, der die Verbindungen des Chefs des Geheimdienstes SIN und engsten Fujimori-Vertrauten, Víctor Montesinos, zur Drogenmafia enthüllte.

Eine Ausstellung für die Verschwundenen

Das Massaker der Armee an neun Studenten und einem Professor der Universität von La Cantuta, der ein enger Freund von ihm war, weckte in Delfín sein politisches Engagement. Er hat die Menschenrechtsorganisation APRODEH mitbegründet, und als Fujimori 1995 alle uniformierten Menschenrechtsverletzer, unter ihnen auch die Täter von La Cantuta, generalamnistierte, rief er eine Initiative gegen das Amnestiegesetz ins Leben. Seitdem schreibt er Zeitungsartikel, spricht auf Demonstrationen, setzt sich für Gefangene ein. Mit einer Ausstellung in seinem Haus in Barranco, rief Delfín im Juni letzten Jahres zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema der “Desaparecidos”, der Verschwundenen, auf. “Es wurde klar, wie sehr das Thema von der Angst aus der Öffentlichkeit verdrängt ist, wie groß aber auch das Interesse an der Wahrheit ist. Wir entreißen die “Desaparecidos” ihrer Anonymität, zeigen, daß sie Individuen waren, keine Zahlen, genauso wie ihre Mörder.”
Die Geiselnahme in der japanischen Botschaft durch ein Kommando der MRTA war auch für Delfín ein Schock, er fürchtet um die relative Stabilität im Land. Nach den verfehlten Hoffnungen der Regierung, Peru könnte ein ökonomischer “Tiger” Lateinamerikas werden, und nachdem sich jetzt zunehmend die Folgen des radikalen Ausverkaufs von Staatsbetrieben zeigen, galt der “Sieg über den Terrorismus” als Fujimoris größter politischer Erfolg. Ein Trugschluß, wie sich nun zeigt. Für Víctor Delfín sind die eigentlichen Probleme des Landes grundsätzlicherer Natur. “Welche Art von Land sind wir? Wir wissen, wir sind spät dran und haben eine wichtige Verabredung mit der Zukunft, also beeilen wir uns und entscheiden, welche Art von Modernität wir wollen: Die Erfahrungen der Industrieländer nutzen, ihre Fehler vermeiden, das Beste unserer Kultur retten und Bewußtsein zu erlangen für unsere Identität, so werden wir eine menschlichere Gesellschaft erreichen.”

Ein steinernes Meer auf der Säule

Zur Zeit arbeitet Delfin an einer Skulptur auf dem Kreisel von Chimbote, einer Hafenstadt im Norden Perus, einer elf Meter hohen Säule, mit mehrfach durchbrochener Positiv-Negativ-Ornamentik , die an Escher erinnert. “Ich habe mir Leute von dort gesucht, ganz einfache Handwerker. Ich weiß um ihr Erstaunen, wenn man sie aus ihrem Schema herausreißt. Einer der immer nur gerade Steinmauern hochzieht wird verrückt, wenn er einen Zylinder machen soll, und wenn dieser Zylinder auch noch Bilder trägt. Sie sind stolz auf das was herauskommt und fühlen sich als ein Teil des Ganzen.”
Die Skulptur steht auf dem Verkehrsknoten von San Pedrito, wo täglich hunderte von Autos, Bussen und Lastern vorbeikommen auf dem Weg nach Norden oder zurück. “Hier stellen wir den ganzen Reichtum des Meeres dar, das alte Peru, daß sich von Fisch ernährte, das gegenwärtig ist bei den Mochica, ihren Keramiken, ihren Stoffen, gegenwärtig in Paracas, Nazca und Chanchán. Das Meer ist gegenwärtig in meinen steinernen Pelikanen, den Krebsen, den großen Fischen, den gigantischen, die Formen abstrahierend, denn man kann die Natur nicht imitieren. Man zieht aus ihr die Kraft, die Zartheit, die Farben, schließlich die Atmosphäre; die Farbe, die eine Landschaft hat, kann manchmal nur ein Künstler erfassen.”
Barranco taucht wieder zurück in die Dunkelheit. Wenn man über die “Puente de Suspiros” geht, die Seufzerbrücke, unter der die “Pirañitas”, jugendliche Taschendiebe, lauern, kommt man zu einem Aussichtspunkt auf der Klippe, von wo man die Schaumkronen der Wellen wie weiße Würmer über das Wasser tanzen sieht. Tief unten zieht ein Ausflugsdampfer in weitem Bogen durch die Bucht, ein Tango hallt herauf. In Barranco erwacht ein brodelndes Nachtleben, die Bars und Diskotheken sind “in” bei den Jugendlichen aus dem mondänen Nachbarort Miraflores, chic gekleidete, wohlduftende Teenies heizen in glitzernden japanischen Geländewagen um die Plaza. Während eines dieser zeternd hupenden Taxis hält, klingt noch der letzte Satz von Don Víctor in mir nach, kurz bevor er das große Tor hoch über den Klippen hinter mir schloß. “Das Einzige, was ich weiß ist, daß weder Du noch ich unendlich sind. Das menschliche Wesen, die menschlichen Leidenschaften sind das Zerbrechlichste.”

Zwischen Unnachgiebigkeit und Selbstisolierung

Auf der Plaza de Mayo, auf ihrem Platz, finden sich jeden Don­nerstag die Mütter, Groß­müt­ter und andere Fami­li­en­angehörige der während der Mi­li­tärdiktatur (1976-83) “Ver­schwun­denen” zusammen mit Sym­pathisantInnen ein. Es ist eine zum Symbol für Men­schen­würde gewordene halbe Stunde – Don­nerstag für Donnerstag, von halb vier bis vier Uhr. Es ist ein an­dächtiges Gehen über die Pfla­stersteine, auf die alle paar Meter das weiße Kopftuch gemalt ist. Das weiße Kopftuch als Symbol für den Frieden und gegen den Ter­ror. Gegen das Vergessen des Ter­rors.
Am 30. April 1977, während der blutigsten Zeit der argen­ti­ni­schen Militärdiktatur, trafen sich ei­nige Mütter zum ersten Mal auf dem Hauptplatz von Bue­nos Ai­res, der in Erinnerung an die Re­volution vom 25. Mai 1810 “Mai­platz”, Plaza de Mayo, heißt. Enttäuscht angesichts der ver­geblichen Suche nach ihren “ver­schwundenen” Kindern, oh­ne Auskunft auf den Poli­zei­sta­tio­nen, im Innenministerium oder an anderen Stellen.
Einige Mütter entschieden schließ­lich, zusammen nach ih­ren Kindern zu suchen. Bei den teil­weise bestehenden Men­schen­rechtsgruppen fühlten sie sich nicht gut aufgehoben, “es gab immer einen Schreibtisch zwi­schen uns, es hatte immer etwas Bürokratisches”, wie die Prä­sidentin der Vereinigung Müt­ter der Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, sagt. “Aber auf dem Platz, da waren wir gleich, allen haben sie Kinder weggenommen, al­le waren wir auf der Suche, al­le gingen wir zu den selben Stel­len. Deshalb haben sich die Müt­ter zusammengefunden. Bald wur­de der Donnerstag festgelegt, halb vier Uhr auf dem Platz. Mitte Juni 1977, als wir so 60 bis 70 Mütter waren, kam ein Poli­zist und sagte, daß der Ausnah­mezustand bestehe und wir uns hier nicht versammeln könnten. Wir müßten zumindest gehen. Und so fingen wir an, um die Mai­ensäule zu gehen.”
Als eine Mutter einmal ver­haftet wurde, gingen die anderen mit zu dem Polizeigebäude und ver­langten, eingesperrt zu wer­den. Eine Mutter, alle Mütter. So ver­hinderten sie immer wieder län­gere Verhaftungen. Als da­mals der US-amerikanische Re­gie­rungsvertreter Terence Tod­man nach Argentinien kam, pro­te­stierten die Madres als ein­zige öffentlich. Soldaten um­stellten die Mütter und forderten sie auf, den Protest aufzulösen. Als sie sich weigerten, sagte der Be­fehlshaber “Anlegen!”. Und die Ma­dres riefen “Feuer!” Das er­regte bei den anwesenden in­ter­nationalen MedienvertreterIn­nen Auf­merksamkeit. Sie kamen von der Casa Rosada herüber und wur­den so auf den Protest auf­merksam. Immer wieder nahmen die Madres an Jubelfeiern oder De­monstratio­nen für die Mili­tärregierung teil, um anderen mit­zuteilen, was im Land vor­ging.

In der Welt bekannt – zu Hause verschwiegen

Und im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 nahm die Repression eneut zu. Das Land sollte sich von “seiner be­sten Seite” zeigen, weswegen das sportliche Großereignis auch mit der Olympiade 1936 in Berlin ver­glichen wurde. Die Armen­vier­tel, die an den Wegen lagen, auf denen sich die ausländischen Be­sucher bewegten, wurden mit Boll­dozern plattgemacht, die dort lebenden Menschen verjagt. Die Mütter wurden bei ihren wö­chentlichen Protesten geschlagen und immer häufiger festgenom­men. Am schmerzlichsten war, so Hebe de Bonafini, daß die Ju­bel­orgie von der Bevölkerung mit­getragen wurde, daß die ar­gentinischen Medien kein Wort über die Diktatur verloren. Dafür kamen verstärkt ausländische Me­dien ins Land, von denen ei­nige auch über die Madres be­richteten. Die holländischen Na­tionalspieler gingen sogar ganz bewußt zur donnerstäglichen Ma­ni­festation, um ihre Solidari­tät zu bekunden. Und nicht um­sonst wurde bald in Holland das erste Solidaritätskommittee ge­grün­det. Während die Madres längst in der ganzen Welt be­kannt waren, nahm die argentini­sche Gesellschaft erst gegen En­de der Militärdiktatur Notiz von dem seit Jahren währenden Kampf.
Das weiße Kopftuch, das Symbol der Madres: “Con vida se los llevaron, con vida los queremos – Lebend sind die gegangen, lebend wollen wir sie zurück.”

Erfolge und Spaltung

Die inzwischen politisch er­fahrenen Mütter standen in der ersten Reihe, als es ab 1982 um die Art und Weise der Demokra­tisierung ging. Und sie haben nicht zuletzt dazu beigetragen, daß in Argentinien zum ersten Mal in der Geschichte Latein­ame­rikas die Militärs sich nach­träg­lich vor einem zivilen Ge­richt verantworten mußten – und ver­urteilt wurden. Den Bericht Nunca Más! der CONADEP lehn­ten die Mütter ab. Er be­richte zwar viel über die Opfer und über das System des Terrors, aber sage nichts über die Täter. Die nationale Kommision für die Ver­schwundenen CONADEP wur­de 1983 von der Regierung Al­fonsín eingerichtet.
In den 80er Jahren spalteten sich an der Frage des Umgangs mit der Vergangenheit durch die Alfonsín-Regierung auch die Ma­dres. Eine Linie, die “Grün­der­innen” (Línea Fundadora), sah es als durchaus legitim an, die vom Staat er­kämpften Zu­ge­ständnisse zu ak­zeptieren. Be­son­ders um die Fragen, ob Ent­schädigungen ak­zeptiert werden sol­len oder nicht, ob Aus­gra­bungen und die Identi­fikation der Leichen zugelassen werden sol­len, ob Verhandlun­gen mit der Re­gierung Sinn ma­chen, ent­brannte der Streit. Ei­nige mein­ten, daß das eine indi­viduelle Ent­scheidung sein müsse, Ent­schä­digungen und Ausgrabungen zu befürworten. Andere argu­men­tierten, daß erst die Täter be­nannt und verurteilt werden müß­ten. Die Annahme von Geld und die Untersuchung der Über­reste gehe darüber hin­weg und ak­zeptiere Tatsachen.
Ein schmerzhafter Prozeß be­gann, der schließlich zur Tren­nung der Mütter in zwei ver­schie­dene Organisationen führte. Auf der einen Seite die Línea Fundadora, die Gründerinnen, die individuelle Entscheidungs­mög­lichkeiten offen lassen wol­len. Auf der anderen Seite dieje­nigen mit der unnachgiebigen Po­sition in der Asociación Ma­dres de Plaza de Mayo um Hebe de Bonafini, die öffentlich prä­senter und in der Regel als Madres bekannt sind.
Auch die Großmütter der Kin­der von Verschwundenen, die Abue­las de Plaza de Mayo, hat­ten sich organisiert. Viele Ge­fangene hatten kleine Kinder oder waren gar schwanger und ge­baren vor ihrer Ermordung. In vie­len Fällen adoptierten Militärs die Säuglinge. Auch andere Fa­mi­lienmitglieder schlossen sich in den 80er Jahren zusammen, um für die Aufklärung des Schick­sals ihrer verschwundenen Ver­wandten zu kämpfen.
Die Mütter sind heute ein Sym­bol für Menschenrechte in al­ler Welt. Sie selbst sind natür­lich alt geworden. Ihre Kinder wa­ren damals Mitte/Ende der 70er Jahre selbst mindestens 15 Jahre alt. Hebe de Bonafini ist zweifellos der politische und in­tel­lektuelle Kopf der Madres. Zwei Söhne und eine Schwie­ger­tochter von ihr sind “ver­schwunden”, und sie sagt von sich, daß sie durch den Verlust ihrer Kinder erst geboren wurde. Erst damals sei sie politi­siert wor­den und trage die politi­schen Überzeugungen ihrer Kin­der wei­ter.
Die Madres der Asociación ha­ben ein politischeres Ver­ständnis von Geschichte, wäh­rend die Gründerinnenlinie sich eher als “klassische” Menschen­rechtsgruppe versteht und ihre le­gitimen Rechte einklagt. Die Müt­ter der Asociación kämpfen nicht nur gegen das Vergessen, sondern gegen einen gesell­schaftlichen Zustand, der das Ver­gessen zuläßt. Gegen die stän­dige subtile Drohung, daß end­lich Ruhe einkehren müsse, um die Mörder nicht wieder zu pro­vozieren. Sie spielen im Kampf gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit neolibera­ler Politik und des globalen Mark­tes, denen sich offenbar al­les zu unterwerfen hat, eine wichtige Rolle. Sie beziehen sich wie viele andere Gruppen auch auf die kollektiven Erfahrungen, die zu Beginn der 70er Jahre ge­macht wurden: Daß nämlich eine breite Politisierung und de­mo­kratische Organisierung die herr­schen­den Strukturen durch­aus in Frage stellen können. Diese Mög­lichkeit, die in Zeiten großer Mobilisierungen und umfassen­der Lernprozesse besteht, mußte physisch vernichtet werden. Das war die Essenz des Militärput­sches von 1976.
Aber an einer Erfahrung kom­men auch die Madres nicht vor­bei: Daß nämlich nicht nur sie al­lein aufgrund ihrer Erfah­rungen die politischen Strategien und Kampfformen bestimmen kön­nen, daß sie nicht allein fest­legen können, was Radikali­tät in Zei­ten des Neoliberalismus heißt.

Zwischen Instrumentali­sierung und Selbstisolierung

Das Dilemma zwischen der po­li­tischen Bedeutung der Ma­dres und der Unnachgiebig­keit ihrer Positionen wurde zum 20. Jahrestag des Putsches of­fenbar. Der 24. März 1996 fiel auf einen Sonntag und ein breites Bündnis von über 200 politi­schen, so­zialen und Menschen­rechts­grup­pen, von linken Par­teien und un­abhängigen Gewerk­schaften rief zu einer Kundge­bung auf, an der über 100.000 Menschen auf der Plaza de Mayo teilnahmen. Die Madres der Asociación be­setzten bereits am Donnerstag vorher den Platz und ver­an­stalteten eine dreitägige Mani­festation. Zum abschlie­ßenden Rockkonzert Samsta­gnacht ka­men ähnlich viele und junge Menschen, die größtenteils auch am Sonntag wieder da wa­ren. Sam­stagnacht hielt die Prä­si­dentin Hebe de Bonafini eine mit­reißende Rede gegen das Ver­gessen und gegen die Art der Auf­arbeitung der Vergangenheit. Am Sonntag da­gegen war die Aso­ciación nicht unter den auf­rufenden Gruppen zur Großde­mon­stration. Das po­litische Spek­trum sei ihnen zu breit ge­wesen, viele aufrufende Gruppen wür­den sich nur pro forma an­hän­gen und hätten an­sonsten keine radikale Position in Sachen Menschenrechte. Die anderen Frau­en der Plaza de Mayo, die Müt­ter der Gründer­innenlinie, die Großmütter, die Familienan­gehörigen, sie alle riefen mit auf. Und: Kaum je­mand hat es be­merkt. Fast alle wähnten die Müt­ter der Asocia­ción dabei, nah­men deren Selbstisolierung nicht wahr.

Gegen die Vereinnahmung

Manche schieben diese Art der Politik auf die ziemlich re­so­lute Hebe de Bonafini, andere auf die Enttäuschung über die Ent­wicklungen in den letzten zehn Jahren. Das Dilemma be­steht aber auch darin, daß die Madres sich immer wieder gegen Versu­che der Vereinnahmung und In­stru­mentalisierung wehren mußten. Eine der weltweit be­kanntesten und integersten Men­schenrechtsgruppen, mit der sich die Mächtigen gerne mal publi­kumswirksam ablichten lassen und das Wort Menschenrechte im Mund führen. Aber, so die Kri­tik vieler, Bündnisse führen ja nicht zur Aufgabe der eigenen politischen Positionen.
Menschenrechtspolitik ist in der Tat nicht gleich Menschen­rechts­politik. Wenn die Mütter bis heute Aparición con Vida (etwa: Sie sollen lebend zurück­kommen) auf dem großen Trans­parent bei Demonstrationen vor sich hertragen, dann bedeutet das vor allem die Infragestellung “des Systems”. Das System, das nicht nur in einer bestimmten Zeit gefoltert und gemordet hat, sondern das heute mit anderen Mit­teln Menschen tötet, das Hun­ger und Armut vor allem bei Kin­dern erzeugt – wogegen schon die eigenen Kinder der Madres gekämpft haben – hängt mit der grundlegenden sozialen und politischen Verfaßtheit Ar­gentiniens und der Welt zusam­men. Das ist die Botschaft. Und politisch folgt daraus, Wider­stand dagegen zu organisieren. Deshalb akzeptieren die Mütter der Asociación vom “System” we­der Entschädigungen, noch Ver­handlungen mit der Regie­rung, weder Ausgrabungen der Lei­chen zu ihrer Identifikation, noch die Begnadigung der Mili­tärs.
Die kämpferischen Mütter werden nicht so schnell zur Ge­schichte gehören, sondern wei­terhin einen schmerzenden Sta­chel der Vergangenheit im heuti­gen Argentinien bilden. Doch wenn Radikalität den Blick für Bündnisse und demokratische Politik verliert, stellt sich sie sich selbst in Frage. Die Mütter ver­schen­ken damit vielleicht eine wich­tige Rolle, indem sie sich zu stark von Bündnissen ausschlie­ßen und zu sehr von anderen Grup­pen die Übernahme ihrer Positionen for­dern. Ihre politi­sche Unnach­giebigkeit verstehen auch viele der­jenigen nicht, die sich den Müt­tern solidarisch ver­bunden fühlen. Ob die Madres um Hebe de Bonafini solch einen Lernpro­zeß nochmal durchma­chen wer­den, ist fraglich. Was jedoch den Re­spekt vor dem zwanzigjähri­gen Kampf mit ei­nem sehr radi­kalen Verständnis von Men­schen­rechten nicht min­dern sollte.

Guerilleros im Festivaldschungel

Aus Argentinien waren die Filme “Moebius” und “Picado Fino” zu sehen – interessanterweise beides Low-Budget-Produktionen von FilmhochschulabsolventInnen. Beide Filme bedienen sich einer kühlen, verrätselten Ästhetik, um labyrinthische Innenwelten metaphorisch widerzuspiegeln, die ihre äußere Entsprechung in den abweisenden Fassaden moderner Stadtlandschaften finden, “Moebius”, ein physikalisch-philosophisch angehauchter Thriller, spielt zum größten Teil im U-Bahnsystem von Buenos Aires: Ein junger Topologe erhält den Auftrag, einen im Untergrund verschollenen Zug zu suchen und taucht in doppeltem Sinne immer weiter ab. Thomas, der 18jährige Protagonist von “Picado Fino” (“Weißes Pulver”) zirkuliert dagegen rast- und schlaflos durch die abgewrackten, von Verkehrzeichen und rätselhaften Symbolen dominierten Straßen einer tristen Industriestadt, verschlingt “Ulisses” von James Joyce und träumt davon, in den Norden abzuhausen. Esteban Sapirs collagenhafter Schwarz-Weiß-Film ist ein Trip auf der Kippe zwischen surrealem Witz und bedeutungsschwangerer Überfrachtung. In beiden Filmen findet sich der politische Impetus, der vor 30 Jahren das Neue Lateinamerikanische Kino prägte, allenfalls in Form verrätselter Spurenelemente wieder: So betont das Studentenkollektiv von der Universidad del Cine in Buenos Aires, das “Moebius” inszenierte, das Verschwinden des U-Bahnzuges sei eine Metapher für das Verschwinden von Menschen während der Militärdiktatur.
Im Gegensatz zur Epoche der Militärdiktaturen ist es heute der ökonomische Druck des “freien Marktes”, der das Filmschaffen in fast ganz Lateinamerika gnadenlos kleinhält. Von Argentinien und Brasilien abgesehen sieht die filmerische Landkarte des Kontinentes zur Zeit recht finster aus: Die Filmproduktion Mexikos, traditionell neben Brasilien, Argentinien und Kuba das vierte wichtige Kinoland auf dem Kontinent, ist seit dem “Tequila-Crash” vor gut zwei Jahren wirtschaftlich sehr angeschlagen. Der kubanische Film liegt ebenfalls seit Jahren aus den allseits bekannten ökonomischen Gründen weitgehend brach. Wenn größere Filme entstehen, dann fast immer als Koproduktion mit dem Ausland. So plant zur Zeit der kubanische Regisseur Daniel Díaz Torres (“Alicia im Ort der Wunder”) einen Film in Zusammenarbeit mit einer deutschen Produktionsfirma. Aus den anderen lateinamerikanischen Ländern, wo die Filmindustrie noch kleiner und krisenanfälliger ist als in den vier oben genannten Fällen, wurden nach Angaben der Programmgestalter vom Internationalen Forum des jungen Films nur wenige Bewerbungen eingereicht.

Das neue Cinema Novo Brasiliens

Dank eines neuen Fördersystems, das seit 1995 in Kraft ist, gelingt es dem brasilianischen Film allmählich, sich von dem kulturellen Kahlschlag zu erholen, den die Amtszeit des Neoliberalen Collor de Mello hinterließ. Der hatte nämlich 1990 unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung das staatliche Institut Embrafilme aufgelöst und nebenbei sämtliche Filmförderungsgesetze liquidiert. Für das brasilianische Kino eine Katastrophe. Die Filmproduktion sank zwischen 1990 und 1994 fast bis auf den Nullpunkt, viele Projekte mußten für Jahre auf Eis gelegt werden.
Erst in den letzten zwei Jahren ist durch eine neue Filmförderungspolitik wieder Leben und Dynamik in die brasilianische Kinoszene gekommen. Zum einen richteten das Kulturministerium sowie mehrere Bundesländer Filmförderungsfonds ein, deren Volumen im vergangenen Jahr umgerechnet 120 Millionen Mark umfaßte. Des weiteren wurde 1995 ein neues Filmförderungsgesetz verabschiedet. Dessen Richtlinien setzen allerdings weniger auf staatliche Unterstützung als vielmehr darauf, steuerliche Investitionsanreize für Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, die im Filmbereich investieren. Laut Aussagen des Regisseurs Joao Batista de Andrade sind es zur Zeit allerdings in erster Linie staatliche Unternehmen wie PetroBras, ElectroBras oder RadioBras, die im Filmbereich investieren. Des weiteren erlaubt der Artikel 3 des Audiovisionsgesetzes ausländischen Verleihern, bis zu 70 Prozent der Einkommenssteuer, die sie für ihre Profite aus einem brasilianischen Film entrichten müßten, stattdessen in eine neue einheimische Produktion zu investieren. “Die Guerilleros sind müde” von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb der Berlinale lief, war der erste Film, der von dieser Klausel profitierte.

Exotismus als grelle Farce

So konzentrierte sich der Blick des Festivalpublikums über den großen Teich also auf Brasilien. – “Ich war nie in Brasilien, weil ich gehört habe, daß dort riesige Schmetterlinge den Leuten das Gehirn auslutschen”, meint die zehnjährige Schottin Yolanda gruselnd, als ihr in dem Film “Carlota Joaquina, Prinzessin von Brasilien” (Carlota Joaquina, Princesa do Brasil”) die unglaubliche Geschichte einer spanischen Infantin aus dem 19. Jahrhundert erzählt wird: Während der napoleonischen Kriege mußte besagte Carlota mit ihrem Gatten, dem debilen portugiesischen Prinzen Joao, in die Kronkolonie Brasilien fliehen. Der Film von Carla Camurati ist eine lustvoll, opulent und schrill inszenierte historische Farce, ein grell kolorierter karikaturhafter Bilderbogen. Der Blick der gekrönten Häupter, die nach langer Überfahrt verlaust am Strand von Rio de Janeiro landen, auf das tropische Völkergemisch ist konsterniert und fasziniert zugleich. Der Film, der in Brasilien zum Kassenschlager wurde, wirft einen bitterbösen, aber gleichzeitig äußerst amüsierten Blick auf die Kolonialgeschichte. Er führt die exotischen Stereotype, die die Europäer auf Brasilien projizierten, vor und kokettiert gleichtzeitig mit ihnen.
Auch “Der Indio Brasiliens” (“Yndio do Brasil”) von Silvio Black, eine Collage aus Dokumentar- und Spielfilmmaterial ist eine schonungslose, aber gleichzeitig humorvoll-unterhaltsame Abrechnung mit Rassismus und Exotismus, romantischer Verklärung der “edlen Wilden” und paternalistischer Zwangsbeglückung.

Von Blinden und Gläubigen

Ganz anders dagegen der Tonfall bei “Der Sertao der Erinnerungen” (“O Sertao dos memorias”). José Araujos Essay über den kargen brasilianischen Nordosten erinnert in seiner intensiven, symbolhaften Bildsprache an Klassiker des brasilianischen Cinema Novo. Gleichzeitig ist das Ganze von einer starr-religiösen, voraufklärerischen Geisteshaltung durchdrungen, die trotz sozialer Kritik weit hinter bereits existierende Filme zurückfällt. Auch bei “Glaube mir” von Bia Lessa, einem bei Workshops auf dem Lande entstandenen Film, der durch die Erzählung “Der Erwählte” von Thomas Mann inspiriert ist , mischen sich paradoxerweise eine experimentierfreudige, poetische Inszenierungsweise und ein krudes Beschwören religiöser und archaischer Elemente. Das Problematische bei beiden Filmen ist nicht, daß sie sich mit einem im Volk verankerten Mystizismus beschäftigen, sondern, daß sie sich unreflektiert und distanzlos hineinfallen lassen.
Bei “Der Blinde, der nach Licht schrie” (“O cego que gritava luz”) fällt ebenfalls die Liebe zum Symbolismus ins Auge: Ein Blinder, der seit Jahren vergeblich nach einem Mörder sucht, ein trauriger alter Geschichtenerzähler, der beim Erzählen eben jener Mordgeschichte regelmäßig die Fassung verliert und nicht mehr weitersprechen kann, ein Seegrundstück, um das vor Jahren ein Kampf zwischen Spekulanten und Landbesetzern entbrannte. Altmeister Joao Batista de Andrades melancholischer Abgesang auf herumirrende Gestalten und ihre gescheiterten Hoffnungen hat starke und intensive Momente. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist die Dramaturgie jedoch so offenkundig, daß man schon blind sein müßte, um nicht den weiteren Verlauf vorauszusehen.
Die stilistische Bandbreite der acht Filme, die das diesjährige Forum präsentiert, ist enorm, die Themenpalette so heterogen wie die gesellschaftliche Topographie Brasiliens. Eine kleine Sensation ist – nicht für brasilianische (Geschlechter)Verhältnisse in der Medienbranche, sondern auch im internationalen Vergleich – daß die Hälfte der in Berlin präsentierten Werke von Regisseurinnen stammen. Keiner der acht Forums-Filme ist von seiner Bildsprache her besonders experimentell, alle scheinen sich – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund des durch das neue Filmförderungsgesetzes etablierten Vermarktungsdrucks – um ein breiteres Publkum zu bemühen.

Reality-TV ist immer dabei

So bedient sich beispielsweise auch Lúcia Murat in ihrem Film “Süße Mächte” (“Doces Poderes”), der eine intelligente, schonungslose Abrechnung mit den Verflechtungen zwischen kommerziellen Fernsehsendern und korruptem, populistischen Polit-Business darstellt, einer an den Sehgewohnheiten von Fernsehzuschauern orientierten Bildsprache.
Auch bei “Ein Himmel voller Sterne” (Um céu de estrelas”) und “Wie Engel geboren werden” (“Como nascem os angos”), wird die Rolle des Fernsehens nicht gerade positiv dargestellt. Beides sind Großstadtfilme, die Geiselnahmen als Verzweiflungstat zum Thema haben – und immer ist ein geiferndes Reporterteam des Fernsehens sofort zur Stelle. In “Ein Himmel voller Sterne” versucht ein junger Arbeitsloser mit allen Mitteln, seine Ex-Freundin zurückzuerobern. Die Klaustrophobie eines schäbigen Appartments, die eskalierende Haßliebe zwischen den beiden wirde von der jungen Filmemacherin Tata Amaral atmosphärisch dicht inszeniert – mit verwackelter Handkamera und in Echtzeit. Sex and Crime. Die Regisseurin bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Erotisierung von Gewalt und gnadenlosem Blick auf desperates Machotum.

Geiselnahmen und Geschlechterkampf

Bei “Wie die Engel geboren werden” von Murilo Salles schlittern zwei Dreizehnjährige in die Rolle von Geiselnehmern hinein, als sie mit dem flüchtigen Drogenboß ihres Viertel unterwegs sind. Das Kidnapping eines reichen Nordamerikaners und dessen verwöhnter Tochter gerät für beide Seiten zu einer Begegnung der dritten Art, einer Mischung aus Annäherung, Aberwitz und sinnloser Gewalt. Der größte Wunsch der Kidnapperin Branquinha ist, ins Fernsehen zu kommen. Und wie bei “Ein Himmel voller Sterne” tun ihr die Medien den zweifelhaften Gefallen, sind als sensationslüsterne, verständnislose Zaungäste mit von der Partie.
Auch “Die Guerilleros sind müde” (“O que é isso, companheiro?”) von Bruno Barreto, der als brasilianischer Beitrag im Wettbewerb präsentiert wurde, handelt von einer Geiselnahme – allerdings einer politisch motivierten aus der Zeit der Militärdiktatur. Der Film über die Entführung des US-amerikanischen Botschafters Charles Burke Elbrick durch linke Guerilleros 1969 in Rio ist der Versuch, sich mit einem politischen Reizthema auseinanderzusetzen und gleichzeitig “ausgewogen” zu sein. So saßen in der Berlinale-Pressekonferenz der Ex-Guerillero Francisco Gabeira, nach dessen Literaturvorlage der Film entstand, und die Tochter des Entführten gemeinsam auf dem Podium, um den Film zu präsentieren.

Im Schatten von “Mars Attacks”

Auch die größere Präsenz Lateinamerikas auf dieser Berlinale hat noch nichts an der Grundproblematik geändert, daß Filme und Themen aus diesem Teil der Welt inmitten des Berlinalezirkus ein peripheres Dasein führen. Oder, um es netter mit den Worten des Ex-Tupamaro Pepe Mujíca auszudrücken – “man fühlt sich ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß”. Weltbewegende Konflikte wie der Krieg der menschlichen Zivilisation gegen glitschige giftgrüne Alienmonster wie bei “Mars Attacks” – ein der US-amerikanischen Wettbewerbsbeiträge – saugen natürlich weitaus mehr Presse und Publikum an. Oder der bizarre Rummel um den “Hustler”-Gründer und Porno-Veteranen Larry Flynt: Im Kielwasser von Milos Formans kontrovers diskutiertem und schließlich mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Film avancierte Larry Flynt für Teile der linksliberalen Kulturschickeria zu einer Mischung aus standfestem Bürgerrechtler und ulkigem Spaßguerillero.
Neben dem uruguaischen Ex-Tupamaro Pepe Mujíca, der eingeladen war, um den deutsch-schweizerischen Dokumentarfilm “Tupamaros” von Heidi Specogna und Rainer Hoffmann vorzustellen, waren dieses Jahr mit Fernando Gabeira und Lúcia Murat, der Regisseurin von “Süße Mächte”, zwei weitere lateinamerikanische Ex-Guerilleros als offizielle Festivalgäste anwesend. Auch wenn diese drei von ihrer Persönlichkeit und ihren derzeitigen politischen Aktivitäten her sehr unterschiedlich sind – siehe LN-Interviews – ist dies doch ein interessantes Zusammentreffen. Einerseits ist es sehr begrüßenswert, wenn ein Filmfestival einem so wichtigen Abschnitt lateinamerikanischer Geschichte wie der Guerilla zu Zeiten der Militärdiktatur ein Forum gibt. Gleichzeitig könnte man auch polemisch sagen “Die Guerilleros sind salonfähig” – zumindest diejenigen, deren bewaffneter Kampf der Vergangenheit angehört und daher den vielbeschworenen “historischen Abstand” ermöglicht. Ob sich die Festivalleitung wohl auch trauen würde, einen Film über aktuellere Entwicklungen in Lateinamerika zu zeigen und dazu jemanden von der mexikanischen EZLN oder der peruanischen MRTA aufs Podium zu bitten? Wahrscheinlich müssen wir aber noch etliche Jahre warten, bis die Botschaftsbesetzung in Lima oder die Lebensgeschichte von Comandante Marcos verfilmt wird. Schade, denn dem wäre bei der Berlinale die Aufmerksamkeit von Presse und Publikum sicher.

Guerilla statt Woodstock

Wenn er dazu eingeteilt ist, den gekidnappten US-Bot­schaf­ter Elbrick zu bewachen, ver­sucht Fernando, in seinem rade­brechenden Englisch über Politik zu diskutieren. Die beiden Män­ner scheinen sich nicht unsympa­thisch zu sein. Währenddessen sitzt die junge Guerillera René in der Küche und blättert verträumt in einer Illustrierten mit Fotos von Woodstock. Kleine Fluch­ten, Momente innerer Wider­sprüch­lichkeit in einer Ausnah­mesitua­tion. Rio de Janeiro im Septem­ber 1969: Die Guerilleros von der MR-8 (“Revolutionäre Be­wegung des 8. Oktober”) hal­ten den US-amerikanischen Bot­schafter Charles Burke El­brick in einer konspirativ ange­mieteten Villa gefangen. Ihre Forderung an die regierende Mi­litärjunta ist die Freilassung von fünfzehn politischen Gefangenen und die Verlesung ihres Mani­fes­tes in Radio und Fernsehen.
Wie schafft man es, über ein so kontroverses Thema wie die historische Entführung eines US-Botschafters durch linke Gueril­leros einen erklärtermaßen “aus­gewogenen” Film zu dre­hen? Und das noch dazu auf der Grundlage eines Bestsellers, der von einem der Entführer selbst geschrieben wurde? Der Brasi­lianer Bruno Barreto, der seit Anfang der Neunziger Jahre in den USA lebt und dort mehrere Filme realisiert hat, ist bisher eher durch opulente Literaturver­filmungen von Jorge Amado wie “Dona Flor und ihre beiden Ehemänner” oder “Gabriela” be­kannt geworden. Zehn Jahre lang bemühte Barreto sich, das 1979 erschiene Buch “O que é isso, companheiro?” von Fernando Gabeira zu einem Filmdrehbuch umzuarbeiten. Gabeira, der den Film auf der Berlinale mitprä­sentierte, gab Barreto dabei freie Hand. So sind bis auf die Figur des Fernando die Charaktere der meisten Guerilleros fiktiv oder vereinigen in sich Merkmale ver­schiedener tatsächlich existie­render Personen.

Hardcore-Kämpfer und Mittelklasse-Kids

Fernando, René und einige der anderen Guerilleros wirken wie Kinder aus behütetem El­ternhaus, die mit leidenschaftli­chem Ernst, aber teilweise ge­fährlichem Dilettantismus versu­chen, sich der militärischen Dis­ziplin und der klandestinen Exis­tenz einer Guerillaorganisation an­zupassen. Ihre Motive, in den Un­tergrund zu gehen, die Schlüs­selfrage, wann für wen der Punkt erreicht ist, wo er oder sie sich für den bewaffneten Wider­stand entscheidet – das alles kommt in dem Film etwas zu kurz, bleibt merkwürdig amorph.
Als sich zu Beginn des Films der junge Journalist Fernando (Pe­dro Cardoso) gemeinsam mit sei­nem Freund Cézar, einem ehe­maligen Theologiestudenten, der Gueril­laorgansiation an­schließt, wird schnell klar, daß bei­de sich nicht gerade für mi­li­tä­rische Operatio­nen eignen. Auch kommen Fer­nando ziem­lich bald Zweifel am Sinn der Bank­überfälle und an­derer punk­tu­eller Aktionen, bei denen unter an­derem Cézar der Polizei in die Hände fällt. Um ihn und andere Ge­fangene frei­zubekommen und die internatio­nale Öffentlichkeit auf­merksam zu machen, schlägt Fer­nando einen gewagten Coup vor: die Entführung des US-ame­ri­kani­schen Botschafters. Die na­tio­nale Guerillaführung stimmt der Aktion zu, entsendet jedoch zwei erfahrene Kader nach Rio, um die Guerillazelle und ihre An­füh­rerin Maria (Fernanda Tor­res) zu unterstützen. Eine pro­blemati­sche Konstellation, denn der Spanien-Veteran To­le­do und Jo­nas, ein Hardcore-Kämp­fer, der “diese Mit­tel­klas­se­kinder einfach haßt”, ver­kör­pern militärische Disziplin und die rückhaltlose Bereitschaft, das Vor­haben mit allen Kon­se­quen­zen durchzufüh­ren. Ent­sprech­end entwickeln sich die vier Ta­ge, in denen sich die Guerilleros mit dem Ent­führten versteckt hal­ten, zu ei­nem Nervenkrieg nach innen und außen. Auch für Ma­ria, die an­fangs äußerst straight und un­nahbar wirkende An­führerin der Guerillazelle, denn auf einmal trifft sie auf Ka­der, die noch härter agieren als sie. Und das in einer Si­tu­ation, wo sie plötzlich mit eigenen Ängsten und Wider­sprüchen konfrontiert ist.
Zwar konzentriert sich der Film im ersten Teil auf die Per­spektive der Guerilleros. Parallel werden jedoch bereits zwei wei­tere Akteure eingeführt: Bot­schafter Charles Elbrick sowie ein Geheimpolizist, der später auf die Entführer angesetzt wer­den wird. Beide zeigt Barreto bewußt in beruflichen und pri­vaten Situationen. So erscheint der Geheimpolizist als typischer Befehlsempfänger, nicht grund­sätzlich unsympathisch, aber be­klemmend in der routinierten Abgebrühtheit, mit der er, nach­dem er politische Gefangene ge­foltert hat, nach Hause geht und sich zu seiner Frau ins Bett legt. Erst als sie Verdacht schöpft und ihn direkt fragt, ob auch er bei seiner Arbeit “diese Kinder fol­tern” würde, zeigen sich bei ihm Risse in der Fassade.

Die private Seite des Politischen

Durchgängig sympathisch wird dagegen der US-Botschaf­ter Charles Burke Elbrick darge­stellt: kein kalter Krieger, son­dern jemand, der in der Lage ist, einfühlsam zu beobachten und zuzuhören. Die politischen Dis­kussionen, die Elbrick und Fer­nando führen, dienen Barreto je­doch primär dazu, die psycholo­gische Dynamik herauszuarbei­ten. Barreto, der sich vehement vom klassischen Polit-Thriller à la Constantin Costa-Gavras (“Missing”) distanziert, geht es um die menschlichen Dramen, die die Situation produziert. “Die Guerilleros sind müde” ist so zu einer subtilen und einfühlsamen Studie zum Täter-Opfer-Verhält­nis in Entführungssituationen geworden. Auch wenn die Ent­führer aus Sicherheitsgründen immer ihr Gesicht vermummen, sitzen sich in der kleinen Kam­mer, wo Elbrick gefangengehal­ten wird, auf einmal nicht mehr abstrakte Positionen, sondern In­dividuen gegenüber.
Positiv ist auf jeden Fall, daß Barreto auf gängige Klischees und Schwarz-Weiß-Malerei ver­zichtet und versucht, sich allen handelnden Personen mit der gleichen Offenheit zu nähern. “Die Guerilleros sind müde” hat Momente von großer psycholo­gischer Dichte und Intensität. Der Film interessiert sich dage­gen kaum für den politischen Hintergrund der Entführung, was auf eine andere Art zur Veren­gung des Blickwinkels führt: Die Militärdiktatur und die Rolle der US-Außenpolitik – also auch die konkreten gesellschaftlichen Funktionen und Verantwortlich­keiten von jemandem wie Elbrick, der als Privatperson recht tolerant und zugänglich wirkt – das alles bleibt schemen­haft und vage. Barreto stellt de­monstrativ nicht die politische Seite des Privaten, sondern die private Seite des Politischen in den Vordergrund. Aber ist es sinnvoll, diese beiden Perspekti­ven gegeneinander auszuspielen?

“O que é isso, compan­heiro?”, Re­gie: Bruno Barreto; Brasilien 1996, 105 Minuten.

“Ich bin sechsmal gestorben – einmal habe ich noch!”

Fernanda Torres, wie war es für Sie als junge Schauspielerin, an einem Filmprojekt teil­zunehmen, das sich mit Ereignissen während der Militärdiktatur beschäftigt?

Fernanda Torres (FT): Es war wunder­bar. Denn es gibt eine Informationslücke zwischen der Gene­ration von Fernando Gabeira und meiner. Ich wuchs in einer Zeit auf, als das Geschäftema­chen und Geldverdienen die oberste Maxime wa­ren. Das ändert sich langsam. Ich denke, die 90er Jahre ge­winnen wieder etwas aus den 60ern zu­rück. Für mich war es daher sehr spannend, mich mit jener Generation auseinanderzusetzen. Ich bin sehr traurig darüber, daß diese Geschichte in der offi­ziellen Darstellung nicht vorkommt. Ich habe die Revolution in Nicaragua gleich zweimal in der Schule durchgenommen, aber nie etwas von Ga­beira und den anderen Revolutionären in meinen Schulbüchern entdeckt.

Was meinen Sie damit, daß Ihre Genera­tion die 60er wiederentdeckt hat?

FT: In den 90er Jahren werden ökologische Fra­gen wichtiger. Oder die Frage der Favelas: Heute bemühen wir uns nicht mehr darum, sie zu beseiti­gen, sondern darum, darin eine eigene Kultur zu entwickeln. Die kollektive Idee des Zusammenle­bens, die über dem individuellen Konsum steht, wird wiedergewonnen. Es ist also kein glücklicher Zufall, daß dieser Film gerade jetzt gedreht wurde. Vielmehr war es an der Zeit, jene Generation wie­derzutreffen.

War es schwierig für Sie, die Rolle der Gue­rillaführerin Maria zu spielen, sich in ihr Be­wußtsein und ihre Ideale einzufühlen?

FT: Das war ganz schwierig. Ich konnte am An­fang gar nicht glauben, wie jemand so reden, wie jemand so hart und militärisch sein könnte. Und ich habe ‘rumgefragt, ob es damals wirklich solche Leute gab. Viele haben mir das bestätigt. Das mit dem kühlen “Hallo, Genosse”, das erschien mir fast unmöglich zu spielen.

Lag das daran, daß es sich um eine Frau han­delte? Oder wäre das auch bei einem männli­chen Charakter so schwer gewesen?

FT: Nein, alle hatten dieselben Schwierigkeiten. Bei den ersten Proben haben wir sehr viel gelacht, wenn wir uns kühl mit “Hallo, Genosse” angeredet haben. Maria spielt diese Rolle eigentlich vom An­fang bis zum Ende. Aber bei den Proben sind wir das ganze noch einmal durchgegangen und haben uns gefragt, an welchem Punkt sie schwach wird. Das passiert in dem Augenblick, als die Leute aus Sâo Paulo ankommen, die noch straighter drauf sind als sie. Das war im Drehbuch nicht so richtig deutlich, wir haben das bei den Filmaufnahmen herausgearbeitet. Danach war ich sehr zufrieden, denn ich hatte einen richtigen Charakter zu spielen. Eine Frau, die anfangs völlig hart ist, dann lang­sam weicher wird und schließlich eine Liebesaf­färe eingeht, in der sie ihren bürgerlichen Namen preisgibt und über ihre Angst vor dem Sterben spricht. Die nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Gab es diese Maria wirklich? Einige Film­charaktere entsprechen ja wirklichen Personen, andere sind erfunden.

FT: So ist es. Die ganze Generation, die an die­ser Revolution teilgenommen hatte, war besorgt darüber, wie sie in dem Film dargestellt werden würde. Vor allem, weil Bruno Barreto nie politisch enga­giert war, waren sie skeptisch, ob es ihm wirklich gelingen würde, sie zu porträtieren. Dabei konnte Bruno Barreto, gerade weil er so weit von ihnen entfernt ist, der ganzen Angelegenheit ge­genüber fair bleiben. Es erwies sich als sehr heikel, die einzelnen Charaktere eindeutig mit bestimmten Personen gleichzusetzen. Jemanden zu spielen, der noch lebt, das ist furchtbar. Die einzige Rolle, die offensichtlich zu erkennen ist, ist die von Fernando Gabeira. Meine Rolle, die der Maria, ist eine Kombination von drei oder vier Frauen. Jede Rolle ist eine Art Puzzle von mehreren Personen, so daß wir niemanden verletzen konnten.

Wie bereiteten Sie sich auf die Rolle vor? Ha­ben sie Interviews mit den Beteiligten geführt?

FT: Ich habe viele, viele Bücher gelesen. Sie zu interviewen war sehr schwierig, denn wegen all ih­rer Ängste wußten sie nicht, ob sie wirklich woll­ten, daß dieser Film gedreht wurde. Bei Gabeira war das anders, er ist so oft gestorben, im Unter­schied zu vielen anderen, er hat in seinem Leben so viele Identitäten angenommen. Er ist kein Wit­wer jener Revolution wie einige andere. Er schrieb das Buch und wurde jemand anderes, stimmt`s, Fernando?
Fernando Gabeira (FG): Ich bin sechs­mal ge­storben, einmal habe ich noch.

Fernando Gabeira, ist es Ihnen nicht schwerge­fallen, die Rechte an der Verfilmung zu verkau­fen und so einen Teil Ihrer eigenen Ge­schichte aus den Händen zu geben?

FG: Ich hatte Vertrauen zu Bruno Barreto und dem Produktionsteam, weil sie von einer ganz wichtigen Grundlage ausgehen: Sie wollen keine Helden, keinen manichäistischen Film mit Guten und Bösen, sondern einen komplexen Film mit menschlichen Wesen.

Leopoldo Serran, der schließlich das Drehbuch schrieb, betont immer wieder, daß er kein Linker sei und die Vorstellungen der “Terroristen” nie geteilt habe. Machte Sie diese Einstellung nicht skeptisch?

FG: Ich kenne die Haltung des Filmteams und respektiere sie. Es war wichtig, jede Form der po­litischen Propaganda dafür oder dagegen zu ver­meiden, und ich wußte, daß sie das tun würden. Sie hatten viel mehr Interesse daran, die Dialoge und die Charaktere zu konstruieren und eine gute, pro­fessionelle Arbeit zu machen. Das war gut so. Man kann politische Filme nicht mehr so drehen wie in den 60er und 70er Jahren. Das würde sehr altmo­disch wirken.

Bedauern Sie das? Oder finden Sie auch, daß heute die Zeit für unterhaltsamere Politfilme ge­kommen ist?

FG: Man muß beides kombinieren, sonst hat man große Schwierigkeiten, zu überleben und sei­nen Platz zu finden. Hätte der Film nicht diesen unterhaltenden Charakter, käme er in Brasilien gar nicht an. Auch auf dem internationalen Markt ist die Qualität von großer Bedeutung. Gestern erst wurde uns die Frage gestellt, ob Bruno Barretos Film nicht zu perfekt sei. Denn von einem brasilia­nischen Film wird eine solche technische Ausge­reiftheit nicht erwartet. Das ist typisch für Leute, die sich in Brasilien nicht auskennen und nicht wissen, daß beispielsweise auch unsere indianische Bevölkerung Reebok-Turnschuhe und Adidas-Ho­sen trägt, Ghettoblaster und CD-Player kauft.

Wie betrachten Sie rückblickend Ihre ei­gene revolutionäre Vergangenheit?

FG: Mein Leben hat sich in diesen Jahren stark geändert, ich habe viele unterschiedliche Dinge gemacht. Als ich aus dem Exil nach Brasilien zu­rückkam, war ich nicht deswegen bekannt, weil ich in den 60er Jahren an Entführungen teilgenommen hatte, sondern weil ich in der Linken neue Fragen aufgeworfen habe über die Frauen-, Umwelt-, Schwulenbewegung und solche Dinge. Heute bin ich Parlamentsabgeordneter der Grünen, und die meisten jungen Leute kennen mich, weil ich mich für die Freigabe von Mariahuana einsetze. Selbst wenn man ältere Leute fragt, was sie mit meinem Namen assoziieren, so sagen sie alle ‘Marihuana’.

Aber Ihre Parlamentskollegen kennen doch si­cherlich Ihre andere Vergangenheit. Sind Sie deswegen schon einmal attackiert oder diffa­miert worden?

FG: Nein. Denn ich habe meine Haltung mit der Rückkehr aus dem Exil klar geändert, wurde fast zum Pazifisten. Ich respektiere in einigen Fällen Leute, die mit der Waffe in der Hand kämpfen, aber ich selber werde nie wieder gewaltsam und bewaffnet agieren.

Würden Sie also, wenn es heute eine Dik­tatur in Brasilien gäbe, nicht mehr zu den Waffen grei­fen?

FG: Mit meinem heutigen Bewußtsein würde ich es nicht mehr tun. Wenn ich aber in die Ver­gangenheit zurückgehe und all die Fehler be­trachte, die ich begangen habe, dann war das mein bester Fehler.

Bruno Barreto, was für Erinnerungen ha­ben Sie persönlich an diese vier Tage im Septem­ber ’69?

Bruno Barreto (BB): Als dies passierte, war ich vierzehn Jahre alt. Ich hatte zwei Freunde, die sich einer bewaff­neten revolutionären Gruppe an­schlossen – sie wa­ren 15 und 16 Jahre. Das hat mich stark beein­druckt. Ich hatte Angst. Es gibt in dem Film eine Szene, wo zwei Freunde sagen, daß sie einander nie mehr wiedersehen würden, sich verabschieden und in die Nacht hinausgehen. Diese Szene beruht auf einer persönlichen Erfah­rung. Als mein Freund sagte, daß er sich der Gruppe anschließen würde, sagte ich: Ich halte das für verrückt. Ich bin nie politisch engagiert gewe­sen. Ich hasse Politik. Diese ganze politische Rhe­torik finde ich extrem langweilig.

Hat man nicht unter einer Diktatur, wie es sie beispielsweise damals in Brasilien gab, oft gar keine andere Möglichkeit, als sich für eine Seite zu entscheiden?

BB: Dem stimme ich zu, das ist ein Problem. Ich hielt dies allerdings nicht für den besten Weg. Ich hasse Gewalt. Es war ein sehr beängstigender Moment, den ich in Brasilien durchlebte. Men­schen wurden gefoltert und getötet.

Wenn Sie Gewalt und Politik hassen, was war dann Ihre persönliche Motivation, diesen Film zu machen?

BB: Ich wollte über das Ende der Ideologie re­den. Deshalb hielt ich auch Berlin für den perfek­ten Ort der Weltpremiere dieses Films. Denn Ber­lin war die Stadt, die die Spaltung der Welt in Links und Rechts symbolisierte. Die Buchvorlage handelt auch sehr viel vom Ende der Ideologie, vom Ende dieses simplifizierten Blicks auf die Welt. Das Ende von Anleitungsbüchern, die Leute benutzen, anstatt sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Der Film feiert das Individuum, die Tat­sache, daß die Schönheit des Lebens darin besteht, daß wir alle unterschiedlich und gleichberechtigt zugleich sind. Fernando Gabeiras Buch wurde 1979 veröffentlicht, war also der Zeit zehn Jahre voraus.

Halten Sie es für altmodisch, politische Filme zu machen?

BB: Es ist altmodisch geworden, politische Filme in der Art zu machen, wie sie gemacht wur­den, mit der Einteilung in Gute und Böse. Meiner ist vielleicht der erste politische Film, der alle Seiten auf die gleiche Art und Weise zeigt und dasselbe Interesse und dieselbe Neugierde für alle darin verwickelten Charaktere hat. Den Folterer eingeschlossen, der meiner Meinung nach der fas­zinierendste Charakter im ganzen Film ist.

Es gibt also keine anderen politischen Filme, auf die Sie sich bei Ihrer Arbeit beziehen könn­ten?

BB: Ich will nicht prätentiös klingen, aber die gibt es nicht. Daher dauerte es auch zehn Jahre, um diesen Film zu realisieren, und ich dachte sogar zwischendurch daran, ihn nicht zu machen, weil ich keinen typischen politischen Thriller machen wollte. Das interessiert mich nicht. Ich halte Costa-Gavras’ Filme für sehr langweilig, da sie sehr sim­plizistisch sind. Ich habe versucht, etwas Komple­xeres zu machen und weder die Kommunisten noch die Amerikaner oder die Militärs als die Schurken darzustellen. Ich wollte die menschliche Seele, die menschlichen Wesen darin untersuchen.

Gab es finanzielle Probleme oder Versuche von Seiten politischer Interessengruppen, die Pro­duktion zu torpedieren?

BB: Wie wir alle wissen, hat Brasilien eine sehr harte Zeit durchlebt, wo während fünf oder sechs Jahren kein Geld zur Verfügung stand, um Filme zu realisieren. Das andere Problem war, daß ich kein Drehbuch bekommen konnte. Ich habe es mit sechs Autoren versucht, drei Amerikanern und drei Brasilianern. Sie alle begannen bei Null, sie be­nutzten nichts von dem, was die anderen Autoren geschrieben hatten. Ich war nicht glücklich damit, war aber selbst auch nicht in der Lage, mit einem eigenen Standpunkt aufzuwarten. Zehn Jahre spä­ter gelang es mir endlich, den ersten Drehbuchau­toren, den ich ursprünglich schon haben wollte, zu überzeugen, es nochmal zu versuchen. Ursprüng­lich lehnte er ab und sagte, dies wäre zu kompli­ziert, weil viele der Charaktere noch am Leben seien, er wolle seine Hände nicht in ein Wespen­nest stecken. Zudem ist Gabeiras Buch sehr schwierig zu adaptieren. Es ist wie ein Monolog, der im Kopf des Charakters stattfindet, eine Re­flektion über das, was passierte. Und die Art von Filmen, die ich gerne mache, sind Charakterstücke, man braucht also Interaktion, Konflikte.

Wie wichtig war es für Sie, die historischen Fakten zu rekonstruieren?

BB: Ich bin kein Dokumentarfilmer, sondern ein fiktionaler Geschichtenerzähler. Ich wollte Elemente der Realität benutzen, um eine Ge­schichte zu erzählen, die dem Publikum einen Ein­blick in das geben würde, was passiert ist. Der Charakter des Folterers beispielsweise ist kom­plette Fiktion, er beruht auf Geschichten, die wir gehört haben. Es ist uns nie gelungen, einen Folte­rer zu interviewen, auch wenn wir es versucht ha­ben. Wir kamen lediglich an Leute heran, die sie kannten. Und wir lasen Bücher darüber.

Die wirtschaftliche Situation des brasilia­nischen Kinos hat sich in den letzten zwei Jahren radikal verbessert. Andererseits setzt ein neues Gesetz die Filmemacher auch unter wirtschaftli­chen Erfolgsdruck.

BB: Erfolg kennt kein Rezept. Ich denke, sie müssen einfach gute Filme machen, sie müssen einfach ihren Hintern hochkriegen und gute Dreh­bücher schreiben. Es gibt genug Geld, aber es gibt nicht genug gute Projekte. So besteht die Gefahr darin, und es ist mittlerweile ein großes Problem, daß es eine Menge schlechte Filme geben wird. Je­der will Filmproduzent sein. Man muß das Publi­kum im Kopf haben und darf nicht nur vom Bauchnabel aus die Geschichten erzählen, nach denen einem selbst zumute ist.

Unter den acht brasilianischen Filmen, die auf der Berlinale im Forum laufen, gibt es zwei wei­tere, “Como nascem os anjos” von Murilo Salles und “Um céu de estrelas” von Tata Amaral, die auch mit Geiselnahmen zu tun haben – auch wenn es in diesen beiden Fällen nicht um politi­sche Motive geht. Halten Sie diese Häufung für Zufall?

BB: Vielleicht haben Brasilianer einen Feti­schismus, was Entführungen angeht, ich weiß nicht (lacht). Brasilien ist sehr wild und verrückt, du weißt nie, was gerade vor sich geht. – Ich habe da­rauf keine Antwort. Es hat einige Entführungen aus wirtschaftlichen Gründen gegeben. Eines der großartigen Resultate dessen, daß wir mit diesem ganzen ideologischen Bullshit aufgehört haben, besteht darin, daß wir die Probleme endlich so se­hen, wie sie sind. Das Problem ist ökonomisch, es ist das Haben und Nichthaben. Und wenn wir nicht den Wohlstand neuverteilen, gibt es soziale Pro­bleme. Sie sagten, in keinem dieser beiden Filme mit Geiselnahme ginge es um Politik. Vielleicht gibt es eine Symmetrie zwischen dem, wie Brasi­lien damals war und warum die Geiselnehmer da­mals kein Lösegeld verlangten, sondern die Frei­lassung von politischen Gefangenen. Und heute werden Leute entführt, um Geld zu erpressen.

Alles erscheint wesentlich zynischer, und das Fernsehen ist immer dabei.

BB: Es gibt sehr viel Gewalt. Das ist natürlich, wenn in einem Land 80 oder 90 Prozent der Leute in objektiver Armut leben.

Glauben Sie, daß Ihr Film in Brasilien po­litische Diskussionen hervorrufen wird?

BB: Ich hoffe das natürlich. Eine Zeitung in Brasilien schrieb bereits, daß ich den US-amerika­nischen Botschafter zu sympathisch dargestellt hätte, daß ich ihn und nicht die Entführer bevor­zugt hätte. Ein konservatives Blatt hier in Berlin schrieb dagegen, es sei unverantwortlich, die Ent­führer so sympathisch darzustellen, wenn man sich anschaut, was derzeit in Peru vor sich geht. Zwei gegensätzliche Meinungen. Das zeigt, daß ich die richtige Balance hatte.

Weißes Gold

Nach 200 Metern Staubpiste versperrt eine Schranke den Weg. Der dahinter liegende Ort wirkt gespenstisch, weit und breit keine Menschenseele. Die Stille wird nur vom böigen Wüstenwind und dem Scheppern der Wellblechplatten unterbrochen. Staub wirbelt um die Ecken und Wände verfallener Gebäude. Die perfekte Kulisse für einen Western! Die Sonne brennt erbarmungslos vom tiefblauen Himmel. Keine Wolke weit und breit. Im Osten läßt sich die Silhouette der Andenkordillere erahnen. Die wenigen Bäumchen haben sichtlich Mühe, unter den unwirtlichen Bedingungen zu gedeihen. Der verlassene Ort läßt nichts von dem lebendigen Treiben früherer Jahre ahnen. Einzig an den Eintragungen im aufgeschlagenen Gästebuch in der Eingangshütte ist zu erkennen, daß sich vor kurzem Menschen in dieser Geisterstadt aufgehalten haben müssen.
Ein überdachtes achteckiges Holzpodest, auf dem in den meisten Städten des Andenstaates längst unaufhörlich dröhnende Lautsprecher die Musikkapellen ersetzt haben, läßt die freie Fläche unschwer als typisch chilenische Plaza de Armas erkennen. Sie wird beherrscht von dem dreistöckigen Theaterbau mit seinen drei Bögen und zwei Ecktürmen. Die Plaza liegt zwischen ehemaligen Fabrikanlagen und den Wohnvierteln. Die nahegelegenen Arbeiterhäuser sind weitgehend verfallen, die Dächer und Wände eingestürzt. Überall warnen Schilder vor dem Betreten. Doch etwas abseits finden sich komplett erhaltene Blocks. In Form eines großen L sind jeweils zwei Dreizimmerwohnungen um einen Innenhof angeordnet. Auf einem offenen Platz, der sich in besonderer Weise als Appellplatz eignete, liegen verstreut die traurigen Reste einer verrosteten Dampfmaschine. Die berühmteste Geisterstadt in der chilenischen Wüste wirkt faszinierend und gleichzeitig bedrückend auf den Besucher. Das unaufhörliche Scheppern der Wellblechplatten, das Wehen des Wüstenwindes in der Einsamkeit der Ruinen scheint nicht von dieser Welt zu sein.

Kulisse für einen Western

Plötzlich ertönt ein Pfiff. In der Ferne winkt ein unverkennbar menschliches Wesen. Roberto Zaldívar hat sich für ein Leben fernab der Zivilisation entschieden. Seit Mitte 1991 lebt er in der Einsamkeit der Ruinen und Wellblechdächer, bis vor kurzem ohne Strom und fließendes Wasser. Im Auftrag des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Santiago hütet er die verlassene Salpeterstadt. Fast sieben Jahre geht das Engagement der deutschen Kulturvertretung in der Atacama-Wüste zurück. Seither bemühen sich die BetreiberInnen, die Ruinenstadt vor dem Schicksal der allermeisten anderen oficinas zu bewahren. Denn wie an keiner anderen Stelle kristallisieren sich in Chacabuco die Salpetergeschichte, die ArbeiterInnenbewegung und politische Unterdrückung in Chile.
Mit dem Export des ‘weißen Goldes’ betrat die einstige spanische Kolonie zum ersten Mal die Bühne des internationalen Handels. Um die Vorkommen in der Atacama-Wüste wurden Kriege geführt, die entstehende Gewerkschaftsbewegung spürte hier den mächtigen Arm von Militär und Polizei. Viele Jahre später, als der Salpeterboom lange vorüber war, stellte die sozialistische Regierung von Salvador Allende die oficina unter Denkmalschutz. Kaum zwei Jahre später diente Chacabuco den putschenden Generälen um Augusto Pinochet als Gefangenenlager. Viele prominente politische Häftlinge wurden hier im extremen Wüstenklima zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eingepfercht. “Die Idee bei der Erhaltung von Chacabuco ist es zu verhindern, daß die Erinnerung an das größte Konzentrationslager in der Geschichte Chiles in Vergessenheit gerät,” erklärt Roberto Zaldívar, der Wärter der Gedenkstätte. “Gleichzeitig ist die historische Bedeutung von Chacabuco unschätzbar, denn es ist fast die letzte erhaltene Salpeterstadt.”
Vom Winde verweht sind mittlerweile die allermeisten der ehemals über 100 Wüstensiedlungen. Allein Mauerreste und Abraumhalden in Form überdimensionaler Torten erinnern an die aufgegebenen oficinas. Und die gottverlassenen Friedhöfe, deren Holzkreuze und Eisenrosetten dem Wüstensand trotzen. Die einzige und letzte Erinnerung an die Menschen, die an dieser unwirtlichen Stelle des Globus gelebt und geschuftet haben. Nur die letzte Ruhestätte ist ihnen geblieben, ihre Heimat hat längst die Wüste geschluckt. Keiner kümmert sich um die Gräber, weil niemand mehr da ist. Ein unheimliches Gefühl beschleicht den Betrachter: Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird dem Besucher hier bedrohlich nah vor Augen geführt.
Dabei macht gerade die trockenste Wüste der Erde Vergängliches auf besondere Art unvergänglich. Bei der extrem niedrigen Luftfeuchtigkeit, die jeden Schweißtropfen sofort auf der Haut verdunsten läßt, haben mumifizierte Atacameños die Jahrtausende ebenso unbeschadet überstanden wie die Salpeterarbeiter. Die menschlichen Zeugen vergangener Epochen hatten auch entscheidenden Anteil an der Entstehung des Chacabuco-Projekts. Der langjährige Leiter des Santiagoer Goethe-Instituts, Dieter Strauß, war von den Wüstenregionen derart fasziniert, daß er bei jeder Gelegenheit in Chiles unwirtlichen Norden reiste. “Eine Mumie auf einem der Salpeterfriedhöfe wird es gewesen sein, die mein Interesse an der versunkenen Salpeterwelt erweckte”, erinnert er sich. “Als dann noch die Geschichte ‘hinzutrat’, war es um mich geschehen.” Die Idee zum Erhalt der Salpeterstadt war geboren. Seither warb er in Chile wie in Deutschland für die Restaurierung der Werksanlage, hüben wie drüben gab es erhebliche Widerstände zu überwinden. Michael de la Fontaine, der Nachfolger von Dieter Strauß, setzte das Wüstenprojekt mit ungemindertem Elan fort: “An diesen Salpeterstädten ist vor allem interessant, daß sie nicht einfach industrial plants sind, sondern wirklich ganze Städte im Niemandsland. Sie lassen die gesamte Sozialstruktur erkennen.”

Die Anfänge reichen weit zurück

Als eins der jüngsten Salpeterwerke entstand Chacabuco zu einem Zeitpunkt, als das große Geschäft mit dem weißen Gold seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Geschichte der Salpeternutzung geht weit zurück in die Zeit vor der Ankunft der Spanier. Frühe atacamenische Kulturen verwendeten das natürliche Nitrat als Düngemittel und allem Anschein nach auch als Sprengstoff, die Inkas übernahmen bei ihrem Vorstoß nach Süden deren Techniken. Bereits 1571 sicherte König Philipp II. der spanischen Krone die Rechte am Salpeterabbau, der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen von den Jesuiten betrieben wurde. 1809 entwickelte der reisende böhmische Naturwissenschaftler Thadäus Haenke ein Verfahren, das die systematische Nitratgewinnung durch Erhitzen des Rohmaterials caliche erlaubte. Ab 1920 begann der Salpeterexport, allerdings zunächst in sehr bescheidenem Umfang. Zudem mußten unvorhergesehene Schwierigkeiten überwunden werden. Als die ersten Frachtschiffe mit ihrer weißen Ladung in englischen Häfen einliefen, sahen sich die Hafenarbeiter vor ein unüberwindbares Problem gestellt: Wie sollten sie den riesigen verbackenen Klumpen aus dem Schiffsleib herausbekommen? Das Salpeterpulver war durch die Feuchtigkeit auf See steinhart geworden, die Schiffe mußten auf offener See versenkt werden. Seither geht das Salpeter als Granulat auf die lange Reise.
Ein wichtiger Schritt zur industriellen Salpeterherstellung gelang 1876 dem Chilenen britischer Herkunft, Santiago Humberstone: Durch ein Rohrsystem leitete er Wasserdampf ein, um das Salpeter aus dem caliche herauszulösen. Dieses Verfahren war wesentlich ökonomischer und erlaubte die Ausbeutung der natürlichen Nitratvorkommen in großem Stil. Mit der Industrialisierung in Europa waren immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen, die Landwirtschaft mußte effektiver arbeiten. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig wies Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorzüge von Nitratdünger für den Ackerbau nach. Damit war der Weg zur weltweiten Vermarktung von Naturdünger geebnet. Als Rohstoffquelle für die Herstellung von Schießpulver erlangten die Salpeterfelder zudem strategische Bedeutung.
Mit dem Geschäft wuchsen die Begehrlichkeiten. Die größten Salpetervorkommen lagerten in der ehemaligen peruanischen Provinz Tarapacá und in der bolivianischen Atacama-Wüste. Deren Ausbeutung lag in dieser Zeit vorwiegend in der Hand chilenischer Unternehmer, die Nachbarstaaten kassierten Ausfuhrsteuer. Als Bolivien einseitig die Zollgebühren anhob, besetzten die Chilenen am 14. Februar 1879 kurzerhand den wichtigen Ausfuhrhafen Antofagasta. Im April folgte die offizielle Kriegserklärung an Bolivien und das verbündete Peru. Der Pazifikkrieg war nach zwei Jahren mit dem Einmarsch der nach preußischem Vorbild aufgebauten chilenischen Armee in Lima praktisch entschieden. Mit den beiden nördlichen Provinzen Atacama und Tarapacá hatte der Andenstaat seine Fläche um ein Drittel vergrößert und sich vor allem die reichen Salpetervorkommen einverleibt.

Rohstoff für Dünger und Sprengstoff

Im folgenden halben Jahrhundert brachte das Salpetermonopol dem Land einen Aufschwung unbekannten Ausmaßes. Zunächst schnellte der Export des weißen Goldes von Jahr zu Jahr in die Höhe. Doch bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Nachfrage nach dem Rohstoff für Dünger und Sprengstoff zunehmenden Schwankungen unterworfen. Der Erste Weltkrieg bewirkte anfangs einen deutlichen Anstieg der Exporte. Doch die Seeblockade des Deutschen Reichs, des bisherigen Hauptabnehmers, traf die chilenische Salpeterindustrie kurz darauf empfindlich, bevor der steigende Düngemittelimport der Entente-Staaten die Verluste wieder ausglich. Allerdings hatte die Blockade eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das Schicksal der chilenischen Salpeterwirtschaft endgültig besiegeln sollte.
Bereits 1912 war den beiden Ingenieuren Friedrich Haber und Karl Bosch in den Hauptwerken der BASF in Ludwigshafen ein bahnbrechender Erfolg gelungen: Sie entwickelten das nach ihnen benannte Verfahren zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft. In Ermangelung des Rohstoffs für Sprengstoffe setzte die preußische Kriegswirtschaft alles daran, sich von den ausbleibenden Salpeterlieferungen unabhängig zu machen. Mit dem Bau der beiden großen Nitratwerke in Oppau und Leuna machte sich das Reich vom chilenischen Salpeter unabhängig. Die anderen Länder zogen nach. Der chilenische Boom ging ebenso jäh zuende, wie er begonnen hatte. Mit Justus von Liebig sowie Haber und Bosch standen somit deutsche Chemiker an der Wiege und gleichzeitig an der Bahre des Salpeters.
Der Leiter des Naturhistorischen Museums in Santiago, Luis Capurro, kann sich denn auch nicht von dem Gedanken frei machen, hinter dem Engagement der Deutschen stünde der Versuch einer Wiedergutmachung. In seiner Würdigung des Chacabuco-Projekts heißt es: “Vielleicht wollten sie damit die Schuld bezahlen, die sie gegenüber Chile wegen des Zusammenbruchs der Natursalpeterindustrie haben.” Diese Art von Schuldgefühlen dürfte die Betreiber des Projekts weniger bewegen als das Ziel, welches Capurro im Anschluß formuliert: “Die derzeit restaurierte oficina salitrera sollte ein großes Kulturzentrum werden, das einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes bewahrt, dessen Erhalt die Bewahrung der Identität eines Landes ermöglicht.” Der Weg dahin ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. Zunächst wurde das großzügige Theater wieder aufgebaut, in dem einst in- und ausländische Künstler für Angestellte und Arbeiter des Werks auftraten. Kürzlich wurde die Restaurierung der angrenzenden Philharmonie abgeschlossen, deren Dach vor langem auf die Parkettbestuhlung heruntergestürzt war.

Gedenkstätte Chacabuco

Kaum ein Ort in Chile ist besser als Gedenkstätte geeignet als das vergleichsweise gut erhaltene Chacabuco. Wie keine andere verlassene Salpeterstadt symbolisiert es die bewegte Geschichte des Landes mit der verrückten Geographie. Das Musterwerk der Salpeterindustrie ist ein einzigartiges Denkmal der chilenischen Industriegeschichte. Es ist das größte und eins der letzten Werke, das nach dem englischen Shanks-System arbeitete. Dabei wird das salpeterhaltige Mineral mit Wasserdampf gelöst und aufbereitet. Für eine Million Pfund Sterling errichtete die britisch-chilenische Lautaro Nitrate Company zwischen 1922 und 1924 eine komplette Industrieanlage einschließlich Wohnungen für über 3000 Arbeiter und mehrere Hundert Angestellte. Nur wenige Meter neben den letzten Wohnhäusern zieht das dunkle Band der Panamericana entlang, der einzigen Landverbindung zwischen Santiago und dem Großen Norden. Eine architektonische Besonderheit prädestinierte Chacabuco ein halbes Jahrhundert später für den Mißbrauch als Konzentrationslager: Wie eine Industriefestung inmitten der Wüste war die oficina rundherum von einer Mauer eingefaßt, die gleichzeitig die Außenwände bildete.
Das Werk Chacabuco arbeitete mit modernster Technologie der 20er Jahre. Obwohl unter der Regie einer englischen Firma betrieben, enthält die Anlage vorwiegend deutsche Maschinen, Turbinen und Kessel, mehrheitlich von Siemens. Daß dieser Industriestandort nur 14 Jahre in Betrieb bleiben sollte, ahnte in der Bauphase wohl niemand. Nicht nur der weltweite Rückgang des Bedarfs an natürlichem Dünger trug zu dem raschen Ende von Chacabuco bei, sondern vor allem die hohen Stromkosten beim Betrieb dieser Anlage. Ab 1930 begann nämlich die US-Firma Guggenheim & Sons mit dem Aufbau neuer Werke, in denen unter Ausnutzung der Sonnenwärme mit wesentlich weniger Energie Salpeter aus minderwertigerem Rohmaterial gewonnen werden konnte. Die damals gegründeten Werke Pedro de Valdivia, María Elena und Coya sind als einzige bis jetzt in Betrieb und bilden das Rückgrat der heutigen Salpeterindustrie Chiles. Chacabuco dagegen stellte schon 1938 die Produktion ein. Ein Teil der Geschäftsleitung verblieb in der Stadt, so daß die Infrastruktur lange erhalten blieb. Die Armee schlug hier regelmäßig bei Manövern ihre Zelte auf.
Dadurch war die Salpeterstadt auch 33 Jahre nach Einstellung der Produktion noch in einem hervorragenden Zustand, als sie die Unidad-Popular-Regierung von Salvador Allende 1971 unter Denkmalschutz stellte. Der zuständige Staatssekretär im Kulturministerium, Waldo Suárez, konnte damals nicht ahnen, daß er nur zwei Jahre später als einer der ersten Häftlinge in das neu gegründete Gefangenenlager der Militärdiktatur in Chacabuco verschleppt werden sollte. Erst zwei Tage vor seinem Tod entließen ihn die Militärs aus der Gefangenschaft, schwerkrank wurde er nach Antofagasta gebracht, um dort zu sterben. Mehr als 3000 politische Gefangene wurden nach dem 10. November 1973 monatelang in dem Lager festgehalten, unter ihnen der Präsident des Abgeordnetenhauses. Der Journalist Guillermo Torres war fast ein Jahr in Chacabuco, bevor er ausreisen konnte und in Ostberlin politisches Asyl fand. Heute arbeitet er halbtags als Pressereferent im Rathaus von Santiago und die übrige Zeit als Redakteur bei der Tageszeitung La Nación. Er begrüßt die Initiative des Goethe-Instituts, denn die Erinnerung muß wachgehalten werden, auch und gerade wenn sie so belastend ist. “Das schlimmste war,” so erinnert er sich, “daß den Soldaten eingeimpft wurde, wir wären ganz gefährliche Verbrecher. Aber nach ein oder zwei Wochen hatten sie gemerkt, daß wir ganz normale, ganz harmlose Menschen waren. Darum wurde das Wachpersonal jeden Monat ausgewechselt.”

Pulverfaß in der Wüste

Das Militär gab das Gefangenenlager Chacabuco Ende 1976 auf, doch der Ort blieb noch bis 1989 oder 90 in Händen der Armee. Der lange schwelende Grenzkonflikt mit Argentinien hätte in den 80er Jahren beinahe zum offenen Krieg mit dem Nachbarland geführt. “Chacabuco verwandelte sich damals von einem Gefangenenlager in das größte Pulverfaß der Wüste,” erklärt Roberto Zaldívar vor einem riesigen Schuppen voller verrosteter Maschinen, “hier lagerte das gesamte Kriegsgerät für eine Invasion in Nordargentinien. Nach dem Ende der Diktatur stand der verlassene Ort eine Zeitlang allen offen, es wurde gestohlen, geplündert, zerstört und gesprengt.” Die häufigen Erdbeben in dieser Region taten ein übriges. Chacabuco verfiel binnen kurzer Zeit und verwandelte sich in die Ruinenstadt, die heute den Besucher mit ihren vielen Geheimnissen und allgegenwärtigen Spuren der Vergangenhheit in ihren Bann zieht. Nur das Theater am zentralen Platz erstrahlt seit kurzem in neuem Glanz und erinnert an das kulturelle Leben vergangener Tage.
In den abgeschiedenen Städten, in denen die Menschen den Unbillen des lebensfeindlichen Wüstenklimas trotzten, waren kulturelle Veranstaltungen eine überaus willkommene Abwechslung. In der Regel standen sie allen BewohnerInnen gleichermaßen offen. Zweifellos ein Ergebnis der langen sozialen Kämpfe. Zwar waren die sozialen Unterschiede zwischen Firmenleitung und Arbeitern auch in Chacabuco offensichtlich. Dennoch konnten die englischen Betreiber nicht mehr an den Erfahrungen jahrzehntelanger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vorbeigehen. Die wilden Jahre des unregulierten Kapitalismus waren auch in Chile vorerst vorüber. Die Forderungen einer starken Gewerkschaftsbewegung und erste Ansätze einer effektiven Sozialgesetzgebung in Chile zwangen die Lautaro Nitrate Company, ihren Arbeitern akzeptable Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bieten. Das war während des gut 50jährigen Salpeterbooms beileibe nicht immer so. “Die Salpetergeschichte war sehr blutig”, erklärt der Wärter Roberto beim gemeinsamen Rundgang durch die Ruinenstadt. “Aber gleichzeitig hat sie es möglich gemacht, das dieses Land trotz aller Vergeudung vorwärts kommen konnte.”
Die Geschichte des weißen Goldes ist geprägt durch die jahrzehntelange Ausbeutung der Arbeitskräfte, die überwiegend aus Zentral- und Südchile stammten und sich zumeist als Tagelöhner verdingen mußten. Die Abhängigkeit vom Werk und dessen Besitzer war vollkommen: Der Lohn wurde in fichas bezahlt, einer Art Lagergeld, das ausschließlich in dem ebenfalls werkseigenen Laden, der pulpería, ausgegeben werden konnte. Die Waren wurden dort üblicherweise zu überhöhten Preisen angeboten, unabhängige Händler ließ die Werksleitung regelmäßig vertreiben. Wer aufmüpfig wurde oder mehr Lohn verlangte, wurde kurzerhand entlassen und verlor damit automatisch seine werkseigene Unterkunft. Die Unternehmer in der Pampa bekämpften jeden Versuch der Arbeiter, sich zu organisieren, und zerschlugen anfangs auch alle entstehenden Gewerkschaften. Ging der starken Schwankungen unterworfene Salpeterabsatz im fernen Europa zurück, mußten viele Arbeiter wieder auf die Haciendas zurückkehren und dort für einen Hungerlohn weiterarbeiten. Die Schwerstarbeit in der trockensten Wüste der Welt, tagsüber unter der sengenden Sonne und nachts bei schneidender Kälte, wurde um ein Mehrfaches besser bezahlt als in der Landwirtschaft. Der durchschnittliche Tageslohn eines Salpeterarbeiters lag bei 6,13 Pesos, wenn er 300 Tage im Jahr arbeitete, brachte er 1838 Pesos zusammen, umgerechnet gerade einmal 82 Pfund Sterling.

Chilenische Salpeteraristokratie

Damit kam eine Familie der chilenischen Salpeterdynastie allerdings keine zwei Tage aus. Um es ihren Unternehmerkollegen aus England oder Deutschland gleichzutun, zogen viele der neuen Reichen dorthin, wo sie nach ihrer europaorientieren Auffassung standesgemäß leben konnten, nämlich nach Paris oder London. Auf 20000 Pfund werden die jährlichen Ausgaben einer einzelnen Familie geschätzt, allein im Jahr 1913 verpraßte die chilenische Salpeteraristokratie eine Million Pfund in den europäischen Metropolen. Der Grundstoff für Düngemittel und Sprengstoff warf in dieser Zeit ungeheure Profite ab. Der Große Norden Chiles, das sind die Provinzen Atacama und Tarapacá, war wirtschaftlicher und auch kultureller Mittelpunkt des Landes. Hier wurde das große Geld gemacht, nicht in Santiago oder auf den riesigen Haciendas im Süden. Den wohltemperierten Küstenort Iquique wählten die meisten britischen, chilenischen und später auch die deutschen Werksbesitzer zum Domizil. Sie lebten in ebenso großzügigen wie luftigen Palästen, die mit italienischem Marmor und kalifornischem Teakholz ausgestattet waren, gingen abends ins Theater, in dem sogar Caruso auftrat, oder tafelten im luxuriös ausgestatteten Spanischen Club.
Der Gegensatz zwischen der reichen Unternehmerkaste und den Lohnarbeitern konnte kaum eklatanter sein, und durch die enge Nachbarschaft in den Salpeterwerken war er für alle sicht- und spürbar. Um die Jahrhundertwende entstanden trotz massiver Attacken der Arbeitgeber erste größere Gewerkschaften in der Salpeterindustrie, die bessere Bezahlung und menschlichere Arbeitsbedingungen forderten. 1912 entstand in Iquique die Sozialistische Arbeiterpartei, die bereits 1920 der Dritten Internationale beitrat und aus der die mächtigste und größte kommunistische Partei in Lateinamerika hervorgehen sollte. Die Streiks häuften sich zu Beginn dieses Jahrhunderts. Der Staat konnte zwar in einigen Fällen vermittelnd eingreifen, meistens schlug er sich jedoch auf die Seite der Unternehmer. Soldaten wurden als Streikbrecher eingesetzt, Armee oder Polizei griffen in 40 Prozent aller Streiks ein. Dabei kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.
Der grausamste Militäreinsatz fand 1907 statt, als ein friedlich verlaufender Massenstreik in der nordchilenischen Hafenstadt blutig niedergeschlagen wurde. Es war kein gutes Jahr für die Salpeterindustrie. Die Ausfuhren gingen zurück. Die Konsequenz waren Massenentlassungen und Lohnkürzungen. In der Provinz Tarapacá traten daraufhin Salpeter-, Hafen und Transportarbeiter in den Ausstand, bald wurden alle oficinas der Region bestreikt. In Scharen zogen die Arbeiter, größtenteils mit der ganzen Familie, in die 40.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt. Ihre Forderungen erscheinen nach heutigem Verständnis recht gemäßigt: Lohnerhöhung oder Anpassung der Einkommen an das englische Pfund, Einlösung der fichas im Wert von 1:1 gegen Pesos, Kontrolle und Aufhebung des Monopols der firmeneigenen pulperías, Entschädigung bei fristloser Entlassung und Unfallschutzmaßnahmen. 10-15.000 Salitreros überschwemmten die Hafenstadt Iquique, in der sich die Gewinner des Salpeterbooms ihrem luxuriösen Leben hingaben. Mit ihren täglichen Demonstrationen legten sie den Verkehr und den Handel lahm, doch die überwiegend britischen Unternehmensleitungen waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Auf ihr Drängen verhängte die Regierung drei Tage vor Weihnachten 1907 den Ausnahmezustand. Der Militärkommandant ließ die Schule Santa María, die den Streikenden als Unterkunft diente, noch am selben Tag umstellen. Als sie sich weigerten, das Gebäude zu verlassen, eröffnete er das Feuer auf die unbewaffnete Menge. Mindestens 500 Menschen, nach anderen Schätzungen mehrere Tausend, fanden bei dem Massaker den Tod.
Der Aspekt der kämpferischen Sozialbewegung liegt den Betreibern der Gedenkstätte Chacabuco besonders am Herzen. Doch damit steht das Goethe-Institut ziemlich alleine da. Sieben Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur rührt kaum jemand an den dunkelsten Kapiteln der jüngeren chilenischen Vergangenheit. Michael de la Fontaine hat seine Werbung für das Projekt der Stimmung angepaßt. “Ich verkaufe in den letzten drei Jahren auch unter den höchsten Autoritäten Chacabuco als Beispiel der jüngsten Industriegeschichte,” gibt er unumwunden zu. “Für mich steht aber fest, daß ein solches schillerndes historisches Denkmal in mehreren Funktionen zum Leben erweckt werden muß: Als Kultur- und Industriedenkmal, als soziale Gedenkstätte und nicht zuletzt als touristisches Zentrum. Darüber kann, salopp gesagt, das empfindlichste Kapitel der jüngeren chilenischen Vergangenheit mitverkauft werden.”

Halbherzige deutsche Beteiligung

Auf Widerstand stieß das Chacabuco-Projekt nicht nur in Chile. Auch von deutscher Seite gab es mehr Behinderungen als Unterstützung. Zwar betont Michael de la Fontaine die Rolle der deutschen Botschaft als Wortführerin in Sachen Restaurierung und verweist darauf, daß mit Restaurierungsgeldern im Umfang von 200.000 DM aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amts ein beachtlicher Batzen Geld in die chilenische Wüste gesetzt wird. Dabei verschweigt er allerdings die Schwiergkeiten, die es mit der diplomatischen Vertretung in Santiago gab. Das Engagement für das Chacabuco-Projekt war bestenfalls gering. Botschafter Werner Reichenbaum konterkariert geradezu die hinter dem Chacabuco-Projekt stehende Idee. In seinem Grußwort zu Beginn des eigens dazu vom Goethe-Institut herausgegebenen Buches “Chacabuco – Stimmen in der Wüste” hebt er die Bedeutung des Ortes als Industriedenkmal hervor, von dem Gefangenenlager spricht er mit keinem Wort. Offenbar fühlt sich die deutsche Diplomatie in Santiago immer noch einer unheilvollen Tradition verbunden. Im Unterschied zu anderen europäischen Botschaften vermied die deutsche immer kritische Töne gegenüber den uniformierten Machthabern um General Pinochet.
Die Parallelen der Vergangenheitsbewältigung drängen sich an Hand des Chacabuco-Projekts auf. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland steht eine ernsthafte Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer noch aus. In Chile hat keine Abrechnung mit dem Militärregime stattgefunden, jeder noch so zaghafte Versuch wird durch lautes Säbelrasseln der nie entmachteten Armee im Keim erstickt. Und die Bevölkerung will endlich ihre neue Freiheit genießen können, kollektiver Gedächtnisschwund macht sich breit. “Ein großer Teil der Gesellschaft will nur eins: vergessen!”, meint denn auch Projektinitiator Dieter Strauß. “Die Vergangenheit will nicht vergehen. Weder in Chile noch in Deutschland! Und schon gar nicht die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen sollen.”
In dieser Frage eine Hilfestellung zu geben und die Vergangenheit wach zu halten, dazu ist die Gedenkstätte Chacabuco wie geschaffen. Mahnend erhebt sich der dunkelbraune Schornstein in den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel. Überdimensionalen Skeletten gleich ragen die Werkshallen und Wohnhäuser in die staubtrockene Luft. Seit kurzem beginnt sich dieses Fossil der Industrialisierung wieder mit Leben zu füllen. In einmaliger Lage, vor dem Panorama der schneebedeckten Andenkordillere, entsteht eine außergewöhnliche touristische Attraktion. In- und ausländische Besuchergruppen, Schulklassen und Einzelreisende sind hier zu einem kurzen Abstecher von der Panamericana eingeladen, um sich für einige Stunden in vergangene Zeiten versetzen lassen. Derzeit fehlt es allerdings noch an der notwendigsten touristischen Infrastruktur. Solange es keine Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten gibt, ist das ehrgeizige Projekt insgesamt gefährdet. Michael de la Fontaine vom Goethe-Institut bringt es auf den Punkt: “Wir können uns erst aus Chacabuco zurückziehen, wenn es ein McDonalds gibt!”

“Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase”

Wenn Pepe Mujica, Ex-Tupamaro und frischgewählter Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio, seinen Arbeitsplatz betritt, fühlt er sich oft “wie ein folkloristischer Blumenstrauß, um gesellschaftliche Offenheit zu demonstrieren”. Denn in Uruguay, das 1985 nach dreizehn Jahren der Militärdiktatur offiziell zur Demokratie zurückkehrte, besetzen nach wie vor viele der für die Diktatur Verantwortlichen die Schlüsselpositionen – im Parlament und anderswo. Gleichzeitig haben es jedoch die Tupamaros als eine der wenigen lateinamerikanischen Guerillas geschafft, sich ins zivile Leben zu integrieren. Pepe Mujica und seine Frau Lucia Topolansky, Eleuterio Fernández Huidobro und Graciela Jorge – die Ex-Tupamaros, die Heidi Specogna und Rainer Hoffmann für ihren Dokumentarfilm interviewten, sind nach wie vor politisch aktiv, haben sich aber ihre privaten Nischen geschaffen. Pepe Mujica macht keinen Hehl daraus, daß ihm die Arbeit im Gewächshaus, wo er und Lucía Blumen züchten, weitaus mehr Freude bereitet als das “Parteisoldatendasein” als Parlamentarier. “Vielleicht wäre es anders, wenn ich jünger wäre”, merkt er in einem der Gespräche an.
“Tupamaros” ist ein informativer und zugleich sehr bewegender Film über die uruguayische Stadtguerilla, die mit ihren spektakulären, massen- und medienwirksamen Aktionen ab Mitte der 60er Jahre für internationales Aufsehen sorgte. Der Film verleugnet nicht seine Sympathien für die Tupamaros, ist aber niemals pamphletarisch, sondern lebendig und facettenreich. Das liegt zum einen an den Interviewten, ihrem weisen und verschmitzten Charme, ihrer Nachdenklichkeit und Wärme, zum anderen an der behutsamen Inszenierung, die neben der Erinnerung an Diktatur, Folter und Gefangenschaft auch dem Alltäglichem und Anekdotischem Raum läßt. Besonders beeindrukkend sind der Humor und die ungebrochene Vitalität, mit der auch über Heikles, Schmerzhaftes und über Angstsituationen gesprochen wird. “Wir fälschten so ziemlich alles”, erzählen Lucía Topolansky und ihre Zwillingsschwester augenzwinkernd – und meinen damit nicht nur Pässe und Führerscheine, sondern auch die plastische Chirurgie, der sich viele Tupamaros im Untergrund unterzogen, um nicht mehr über Fahndungsfotos identifizierbar zu sein – “Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase.”
In ihrem Dokumentarfilm unternehmen die Filmemacher Specogna und Hoffmann den Versuch, Geschichte in erster Linie mit Hilfe von Bildern aus der Gegenwart sichtbar zu machen. So folgen sie Pepe und Lucía, wie sie auf einem klapprigen Moped zum Blumenmarkt düsen, oder heften sich Huidobro und Mujica an die Fersen, wenn diese durch eine durchgestylte neue Shopping Mall in Montevideo spazieren. An derselben Stelle standen vor Jahren die Mauern des Gefängnisses, in dem sie gefoltert wurden. “Kapitalismus ist wunderbar”, meint Huidobro mit Blick auf die glatten Oberflächenreize der Schaufenster – und die Ironie seiner Worte klingt scharf, aber nicht bitter.

“Tupamaros”, Deutschland/ Schweiz Uruguay 1996; Buch und Regie: Heidi Specogna/ Rainer Hoffmann; Farbe, 95 Minuten.

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Mythos Evita

Alle wollen sie der Mann an ihrer Seite, der Schöpfer des Mythos Evita gewesen sein: “Ich habe Evita gemacht”, verkündete ihr liebender Witwer, der argentinische Präsident Juan Perón nach ihrem frühen Tod 1952. “Letzten Endes war Evita mein Produkt” behauptet ihr langjähriger Friseur Julio Alcaraz. Er sei auf die geniale Idee verfallen, ihr 1948 die Haare zu blondieren, er habe die strenge und schlichte Madonnenfrisur erfunden, mit der Evita zur Ikone wurde. “Ich machte sie zu einer Skulptur von höchster Schönheit”, behauptet Dr. Pedro Ara in seinen posthumen Memoiren. Im Auftrag Peróns war er nach Evitas Tod sechs Jahre damit beschäftigt, ihre Leiche samt innerer Organe zu konservieren. Parallel dazu fertigte ein Bildhauer drei täuschend echte Wachskopien an, die man nur durch Röntgenbilder von der Leiche unterscheiden konnte. Diesem Treiben wurde erst 1955 durch einen Putsch gegen Perón ein Ende bereitet. Aus Panik, die Volksmassen könnten sich der Mumie bemächtigen und sie in Protestzügen durch die Straßen tragen, versuchten die Putschisten, die vier Evitas bei Nacht und Nebel zu verscharren. Als dies mißlang, begann eine Odyssee der Särge durch verschiedene Länder. Jahrelang geisterten Gerüchte über den Verbleib des “Originals” durch die Weltpresse. Schließlich stellte sich heraus, daß die echte Evita unter dem Namen Señora Maggio auf einem Mailänder Friedhof ruhte. Das allerdings nicht lange: 1972 wurde die Mumie General Perón in sein Haus im Madrider Exil überstellt, wo er mit seiner dritten Ehefrau Estela Martínez lebte. Zwei Jahre später begleiteten ihre formalingetränkten Überreste Peróns triumphale Rückkehr nach Argentinien als wiedergewählter Präsident. Heute ruhen Evitas Überreste auf dem elegantesten Friedhof von Buenos Aires, der “Recoleta”. Die Legenden, die sich um fatale Unfälle bei den Leichentransporten ranken, könnten es durchaus mit dem Fluch der Pharaonen aufnehmen.

Aufsteigerin aus der Provinz

Für das Großbürgertum war Eva Perón, ein Emporkömmling. Zeit ihres Lebens sah sich Eva Perón, geborene Duarte, Klassenvorurteilen ausgesetzt: Ihr eigener Vater, ein konservativer Gutspächter, zeugte mit ihrer Mutter, einer Landarbeiterin, fünf Kinder. Das Jüngste, die 1919 geborene Eva, wollte er nicht als seine Tochter anerkennen. Der provinziellen Enge ihrer Umgebung versuchte Evita schon früh zu entfliehen und kam als Fünfzehnjährige nach Buenos Aires – mit dem besessenen Wunsch, wie ihre Idole Norma Shearer und Bette Davis Schauspielerin zu werden.
Unscheinbar, blass und dürr, aber unglaublich energisch soll sie damals gewesen sein. Jahrelang schlug sich die mäßig Talentierte mit Nebenrollen bei Theater und Film durch, bis sie endlich zum Radio gelangte. Als Sprecherin hatte sie Ausstrahlung. So viel, daß man ihr die Hauptrolle in der Serie “Die Amazoninnen der Geschichte” anbot. Eva Duarte war dabei, ihre Rolle im Leben zu kreieren.
Mit den entwaffnenden Worten “Danke, daß es Sie gibt”, ging Eva Duarte 1944 bei einem Wohltätigkeitsball auf den einflußreichen General Perón zu. Das aufstrebende Medientalent schnappte sich ein einflußreiches Mitglied der Militärjunta, einen 49jährigen Witwer. Klingt nach einem gezielten Coup, einer strategischen Allianz. Gleichzeitig bestätigen nicht nur Zeitzeugen, sondern auch die erhaltenen Liebesbriefe, daß Perón und Evita einander geradezu vergöttert haben müssen.
Für Peróns Offizierskollegen stellte Evita eine Schlampe mit dubioser Vergangenheit dar, ein Weibsbild, das unangemessene Courage an den Tag legte. Als sie zufällig mithörte, wie ein Offizier Perón nahelegte, sie nicht zu heiraten, überkübelte Evita ihn mit Hühnersoße. Perón soll sich vor Lachen geschüttelt haben.
Zwei Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen gegen das alte Establishment. Perón der kühlere, manchmal zauderne Stratege, Evita die weitaus leidenschaftlichere, dynamischere Kraft: Ihre Politik war die Kommunikation mit den Massen, die direkte Aktion. Sie agitierte erfolgreich auf Demonstrationen, als Perón im Oktober `44 von rivalisierenden Militärs verhaftet wurde und sie unterstützte seine Kandidatur bei den freien Präsidentschaftswahlen im darauffolgenden Jahr.
Eva Peróns Jahre als “la Presidenta” war eine rastlose Folge von Aktivitäten: Obwohl sie nie ein offizielles Amt bekleidete, wurde sie schnell zur Schlüsselfigur: Ihre Eva-Perón-Stiftung verschenkte in großem Stil Sachmittel an Bedürftige – von der Zahnprothese bis zur Wohnung. Viel Show war auch dabei. Bei ihren zahlreichen Touren durchs Land warfen ihre Helfer oft bündelweise Geldscheine aus dem Zug. Was aus heutiger Sicht wie das Helferinnensyndrom einer unausgelasteten Frau an der Seite eines mächtigen Mannes wirken könnte, stellte für das damalige argentinische Establishment eine politische Provokation dar. Das Angebot großbürgerlicher Damen, den Vorsitz in ihrem Wohltätigkeitsverein zu übernehmen, lehnte die Perón brüsk ab. Sie wollte keine mildtätigen Pflaster, sondern soziale Gerechtigkeit und vertrat dies mit Vehemenz und klassenkämpferischem Pathos. So lautete ein Spruch ihrer Gesundheitskampagne: “In Peróns Argentinien haben die Arbeiter vollständige Kauwerkzeuge und können ohne Armutskomplexe lächeln.”
Gleichzeitig spielte Eva Peróns verletzter Stolz eine wichtige Rolle, das Bedürfnis, es denen aus der Oberschicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ihre Sucht nach luxuriösen Kleidern sorgte immer wieder für Schlagzeilen. So ließ sie anläßlich eines Balls ein monströs teures Dior-Kleid einfliegen. Die Selfmadefrau bastelte akribisch an ihrem Image: Stimmtraining, Diäten, ein rigides Selbstdisziplinierungsprogramm. Da blieb wenig Raum für die Laszivität und Lasterhaftigkeit, die ihre Gegner ihr unterstellten.

Mutter der Nation

In einer Machogesellschaft kreierte Evita Perón ein Image, das heroisch und stark, gleichzeitig aber von “weiblicher” Wärme geprägt sein sollte. Sie war keine Feministin, setzte sich aber gezielt für konkrete Dinge ein: Gründete eine peronistische Frauenpartei, setzte das Frauenwahlrecht durch, die Legalisierung der Ehescheidung und – was ihr den Zorn vieler bigotter Bürger einbrachte – die Gleichstellung unehelicher Kinder. Fast wäre sie sogar 1951 die erste Vizepräsidentin der Welt geworden: Drohgebärden der Militärs – für deren Machoehre es unerträglich gewesen wäre, eine Frau als stellvertretende Oberbefehlshaberin zu haben – und der Ausbruch ihres Krebsleidens veranlaßten sie allerdings, die Kandidatur zurückzuziehen. Eva Peróns Siechtum nahm den Charakter einer nationalen Tragödie an. Die Mutter der Nation, selbst kinderlos an Gebärmutterkrebs sterbend, strickte schon vor ihrem Tod an ihrem Mythos mit. Als die ersten Druckfahnen des erbaulichen Werkes “Der Sinn meines Lebens”, das Evita auf Anweisung Peróns einem offiziellen Biographen diktiert hatte, auf ihrem Krankenbett landeten, war sie trotzdem erschrocken und nannte das Werk verächtlich eine “Skulptur”. Heimlich machte die Sterbende eigene Aufzeichnungen und versteckte sie unter dem Kopfkissen.

Liebling der Medien

Evitas Beerdigung war ein Medienereignis, pompös und anrührend zugleich. Bereits vor ihrem Tod war der Papst mit Briefen eingedeckt worden, die Evita Wunder zuschrieben und um ihre Heiligsprechung baten. Eine halbe Millionen Menschen küßten während der zwölftägigen Totenwache den Sarg. Einige mußten sogar weggezerrt werden, weil sie sich zu Füßen der Aufgebahrten umbringen wollten.
“Don`t cry for me Argentina”: Im Heimatland von “Evita” war das Musical, mit dem Andrew Lloyd Webber und Tim Rice ab 1978 internationale Erfolge feierten, nie sonderlich beliebt. Für Tomás Eloy Martínez, den Autoren des Buches “Santa Evita”, ist das Opus eine “gesungene Das-Beste-aus-Readers-Digest-Story”. Für besondere Empörung sorgte der historisch haarsträubende, aber dramaturgisch wirkungsvolle Gag des Musicals, Evita mit Che Guevara zusammentreffen zu lassen. Zwei Ikonen made in Argentina, deren tragisch-romantisches Image sich fantastisch vermarkten läßt. Beide starben jung und schön “im Dienst ihrer Sache”: Der Vollblutrevolutionär Che Guevara, der bei einer aussichtslos erscheinenden Guerillamission im bolivianischen Dschungel ermordet wurde. Evita Perón, die von eisernem Willen beseelte Missionarin, die sogar nach Ausbruch ihres Krebsleidens noch bis zu zwanzig Stunden am Tag zwischen verschiedenen Aufgaben rotierte.
“Lebte Evita noch, so wäre sie Partisanin”, sangen argentinische Guerilleros in den Siebzigern während der Militärdiktatur. Als Vorbild der Linken ist Evita allerdings nur begrenzt tauglich: Zu stark war die Faszination Peróns für Mussolini, zu autoritär sein Vorgehen gegenüber Liberalen, Kommunisten und Sozialisten. Evita stattete sogar 1947 dem frankistischen Spanien einen Besuch ab – bei dem sie allerdings ständig ihre Gastgeber mit Hinweisen auf die dortige Armut brüskierte. Eva Perón war konservativ und autoritätsgläubig, gleichzeitig aber eine Gerechtigkeitsfanatikerin.
Am Stoff, aus dem die Mythen sind, stricken auch die Verfasser von Biographien mit. So sind die drei auf deutsch erhältlichen Evita-Biographien voluminöse, ausschweifende Mischungen aus Fakten und Fabeln, Report und Roman. Wer will schon bei Evita so kleingeistig sein, mit Fußnoten zu arbeiten? Mit ironischer Distanz beschreibt Eloy Martínez in seinem brillanten Buch “Santa Evita” sein Lavieren zwischen dem Versuch, den Mythos zu fassen zu bekommen, und dem faszinierten Eintauchen in die verschiedenen Facetten.
Starke, widersprüchliche Frauenrollen sind bekanntlich beim Film Mangelware. Kein Wunder, daß, wenn eine “Evita”-Verfilmung ausgerufen wird, sich die crème-de-la-crème der Schauspielerinnen darum reißt. 1981 verkörperte Faye Dunaway “Evita Perón” in einer US-amerikanischen Fernsehproduktion, bei der Marvin J. Chomsky Regie führte. Bei Alan Parkers Verfilmung des “Evita”-Musicals gelang es Madonna, die Hauptrolle zu ergattern. Die Dreharbeiten in Buenos Aires, Budapest und London gerieten zu einem Medienspektakel.
“Madonna raus! Evita lebt!” stand in großen Lettern auf argentinischen Häuserwänden. Präsident Menem, der sich trotz seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik gerne als Hüter des peronistischen Erbes inszeniert, stellte sich selbst an die Spitze einer offiziösen Kampagne gegen Madonna. Im Brustton der Überzeugung führte der notorische Frauenheld, der für seine operettenhaften Selbstinszenierungen berüchtigt ist, moralische Entrüstung ins Feld. Aber Madonna war cleverer. Während sie in Budapest durch Starallüren auffiel, bedachte sie ihr Gastland Argentinien mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit. Stundenlang unterhielt sie sich mit alten Peronisten, tauchte nachts unversehen in schlichten Tangobars auf. Auch äußerlich schien das “Material Girl” von Tag zu Tag mehr der Madonna der Armen zu gleichen. Die öffentliche Meinung kippte: “Madonna ist eine perfekte Evita”, verkündigte Angel Farías, Evitas ehemaliger Leibfotograf nach einem Zusammentreffen mit der Popdiva.
Nichtsdestotrotz lassen die Argentinier es sich nicht nehmen, in diesem Jahr mit zwei eigenen Evita-Verfilmungen aufzuwarten. Die bekannte Fernsehansagerin Susana Giménez, die seit 13 Jahren dieses Projekt verfolgt, erfüllte sich im Alter von 50 Jahren endlich “den Traum ihres Lebens”, Evita in einer dreiteiligen Fernsehserie zu verkörpern.
Eine ernsthafte Konkurrenz zu dem Alan Parker-Film stellt “Eva Perón” von Juan Carlos Desanzo dar. Der Film, dessen Drehbuch der bekannte Schriftsteller und Peronismus-Experte José Pablo Feinmann verfaßte, ist in Argentinien ein Publikumsrenner und wurde von der dortigen Filmindustrie stolz für die Oskar-Nominierung eingereicht. Kritiker bescheinigen der Hauptdarstellerin Esther Gorris, eine fantastische, facettenreiche und widersprüchliche Evita auf die Leinwand zu bringen. “Eva Perón lebt”, jubelte das Intellektuellenblatt Pagina 12.
Die Mumie und ihre drei Wachskopien sind endlich unter der Erde. Jetzt beginnt das Rennen der drei frisch abgedrehten Zelluloidkopien um die überzeugendste filmerische Reinkarnation der Frau, die Evita war – oder gewesen sein soll.

Bücher:
– Tomás Eloy Martínez: Santa Evita, Suhrkamp Verlag 1996, 431 Seiten, 48 DM.
– Alicia Dujoyne Ortíz: Evita Perón – Die Biographie, Aufbau Verlag 1996, 433 Seiten,
– Abel Posse: Evita – Der Roman ihres Lebens, Eichborn Verlag 1996, 408 Seiten.

Kleine Berlinale-Vorschau

Mit zehn Beiträgen ist der lateinamerikanische Film auf den 47. Internationalen Berliner Filmfestspielen vom 13. bis 24. Februar 1997 deutlich besser vertreten als im Jahr zuvor. Am Wettbewerb selbst wird kein Film aus Lateinamerika teilnehmen, sie werden im Forum und im Panorama gezeigt. Der kleine Wermutstropfen: Die Filme kommen aus nur zwei südamerikanischen Ländern. Acht Filme aus Brasilien und zwei aus Argentinien.
Darüberhinaus dokumentiert ein in deutsch-schweizerischer Gemeinschaftsproduktion entstandener Film die Geschichte der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros. Die beiden Filmemacher Rainer Hoffmann und Heidi Specogna, die unter anderem durch ihren Film “Tanja La Guerrillera” bekannt geworden ist, lassen vier Gründungsmitglieder der Tupamaros in sehr persönlichen Gesprächen ihren Weg vom bewaffneten Kampf im Untergrund der 60er und 70er Jahre über die Niederschlagung ihrer Revolution bis hin zu ihrer heutigen Einbindung in das parlamentarische System nachzeichnen. Hauptprotagonist des Films ist Pepe Mujica, der während der Militärdiktatur Uruguays 13 Jahre in völliger Isolierung inhaftiert war und heute Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio ist.
Da bis zum Redaktionsschluß der LN keine genauen Termine für die einzelnen Filme vorlagen, können wir unsere interessierten LeserInnen nur auf das Erscheinen des Berlinaleprogrammheftes vertrösten.

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