Der diskrete Charme des Neoliberalismus

Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letz­ten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entschei­dende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswah­len entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirt­schaftsminister ausgearbeitet und als Kan­didat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflati­onsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produk­ten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für bra­si­lianische Verhältnisse schon wun­der­same Stabilisierung entschied offen­sicht­lich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform ein­ge­leitet, sondern ein Schauspiel zu Wahl­kampf­zwecken aufgezogen, lief offen­sicht­lich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancie­rung des Plano Real ist wohl ein Lehr­stück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht wer­den kann, in dem die Mehrheit der Be­völke­rung von den Segnungen des Real­kapita­lismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance ver­wehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offen­sichtlich die Wirkung des Planes unter­schätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unter­stützt wurde Cardoso massiv von den Me­dien, allen voran dem mächtigen Fernseh­sender Globo, und der derzeitigen Regie­rung, die neue Zuversicht im Lande ver­breiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahl­kampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelli­genter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung er­hielt. So erklärten die Ikonen der brasilia­nischen Musik Caetano Veloso und Gil­berto Gil ihre Präferenz für Cardoso, le­diglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bür­gerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kan­didaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, ver­tritt dennoch den Anspruch, die sozialde­mokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapi­talismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisie­rung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont viel­mehr, daß die aktive Rolle eines effekti­ven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Unge­rechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitspro­gramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhält­nisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg er­möglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der libera­len Front”), der zweitgrößten Partei Brasi­liens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs for­miert hatte. Die PFL ist weniger eine po­litische Partei mit programmatischen Aus­sagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensicht­lich selbst keinen eigenen Kandidaten auf­stellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit ge­schickter und flexibler als die anderen bür­gerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kan­didaten und die Unterstützung in den wirt­schaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefähr­dete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Mo­dernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen kei­neswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klien­tilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glau­benssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzu­stände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr ge­wählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabili­sierungsplanes vor den Wahlen war si­cherlich der Hauptgrund für die Nieder­lage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regie­rung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen ge­gen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeits­migrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und admini­stra­tive Er­fahrungen, das sei kein Typ für das Prä­si­dentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annä­hernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzet­tel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich verei­nigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Ein­zel­kandidatur bestritt, erreichte über­raschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität wa­ren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das po­litische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerli­chen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT ge­rade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hier­zulande genannt werden), die angeblich die Partei beherr­schen, haben eine größere Akzep­tanz Lu­las verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zu­weisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundes­deutschen Presse über die Ausein­ander­setzungen innerhalb der Bündnis­Grünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Lin­ken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokrati­sche Fahr­wasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist ent­standen und gewachsen als eine Formie­rung jenseits und gegen sozialdemokrati­sche und orthodox-kommunistische Strö­mungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotz­kis­ten, über Ökoso­zialisten bis hin zu sozial­demokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Wider­sprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Bra­silien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grund­positionen ausmachen: für die Par­teilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grund­sätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Bra­si­lien und dem vom IWF oktroierten neo­libe­ralen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als kon­sequente Re­formkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Ver­teilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivi­le­gierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Ortho­doxie beherrscht, die es ihnen zum Bei­spiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminali­sierung der Abtreibung aus dem Pro­gramm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Po­sitio­nen innerhalb der Partei ver­teidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasi­lien ratsamer als gegen­seitige Schuldzu­weisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Prä­sidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorIn­nen wählen (bisher 1), und in drei Bun­desstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem so­zialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens be­einflussen kann. Mit einer gestärkten Par­lamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konse­quente Oppositionspolitik gegen das neo­li­berale Modernisierungsprojekt zu or­ga­ni­sieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zu­letzt an den starken sozialen Be­wegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organi­siertes Wider­stands­potential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im or­ganisierten Sektor der Ge­sellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Inte­grationskraft für die brasilianische Gesell­schaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenz­ten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwik­kelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen po­litische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren las­sen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits er­wähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsi­denten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Wider­stand ge­gen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio ge­wählt, kennzeich­nete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative In­kom­pe­tenz, explodie­rende Gewalt und ein zu lange durchge­haltenes Bündnis mit dem un­säglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Dis­kurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernseh­sender Globo und den IWF ge­rieten im­mer mehr zur Politfolklore. Über­raschen­derweise hat aber seine Par­tei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis er­zielt. In Paraná wurde der populäre Ex­bür­ger­mei­ster von Curtiba, Jaime Lermer, be­reits im ersten Wahlgang zum Gouverneur ge­wählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem ge­wann die PDT in Mato Grosso (in einem brei­ten Bündnis, das auch die PT ein­schloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahl­gang. Der Kan­didat in Sâo Paulo ist ein wüster De­magoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandida­ten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat re­alistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilia­nischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine prag­matische Op­position zu Cardoso wei­ter zu ei­ner mögli­chen Alternative bei des­sen Scheitern zu entwickeln. Garotinho we­nigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Bra­siliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durch­gang geschei­tert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird im­mer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken de­generieren, ohne nationale Kraft.

Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)

Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sek­toren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahl­kampagne gelang es nicht, ein re­alisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozial­politik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und In­flationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsen­tiert und waren unfähig, der konkreten Exi­stenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne ge­macht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”

Kasten 2

Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbe­sondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbei­ten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Par­tei haben. Dasselbe gilt für die Unter­nehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampa­gne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommu­nalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodo­xen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”

Kasten 3

Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Oppo­sition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit ge­funden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten her­aus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.

Haiti geballt

The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Be­richten, Dokumenten, ver­traulichen Memos, Nieder­schriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilde­rung der Ausgangslage, die Ak­teure und die Krise nach dem Militär­putsch im Sep­tember 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag auf­zunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tum­melplatz von Kolo­ni­al­mäch­ten und den strategischen Interessen der USA. Die Be­völkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialge­schichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revo­lution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familien­clans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und na­tür­lich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem un­gewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im Sep­tember 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch ge­schickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hinter­trie­ben. Da­bei stießen sie sogar in höchste Regie­rungskreise vor. Ron Brown, Handelsmi­nister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Wa­shing­ton. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juri­sten, die mit vertraulichen Memos und so­genannten Hintergrund­in­formationen Ein­fluß auf die US-Administration und Kon­greßabge­ord­ne­te nehmen. Detailliert und substantiell wer­fen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbei­tenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Struk­tu­ren und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitiani­sche Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine fe­ste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die be­rüchtigten Attachés waren ihre Scher­gen, die sie durch ein ausgeklügeltes Sy­stem von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Com­mittee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit mili­tärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen be­rüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Pri­vatarmee der Duvaliers, waren den Mili­tärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevöl­kerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindun­gen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitiani­sche Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozial­produkts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Ver­wandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die Heraus­geber­Innen dem Phänomen der Exil­haitianerInnen nicht einmal zehn Sei­ten wid­men. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwi­schen den unterschiedlichen Strömun­gen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volks­bewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. La­valas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsiden­tenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Ar­tikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zer­strittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die Akteur­Innen schließt mit Ari­stide selbst. Die Heraus­geberInnen haben sich für die Übernahme eines im Re­portagestil gehaltenen Portraits ent­schieden – eine glückliche Wahl. Das Cha­risma und die Ausstrah­lung des Sa­le­si­a­ner­prie­sters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Mes­sias scheint er über allem zu schweben. Seine Stel­lung als Antipode zur Amtskir­che wird jedoch nicht the­matisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifel­haften Aktivitäten der Amtskirche wäh­rend der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerun­det.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzwei­felten Versuche von Aristide, dem New­comer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unter­zugehen, das sind die permanenten Versu­che des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psycho­pathen zu diffamieren. Der Block über die Metho­den, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber geglie­dert. Insbesondere der Beitrag des US-Journali­sten John Canham-Clyne verdeut­licht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichts­er­klä­rungen zu Freiheit und Demokratie ent­fernt waren.
Die wirtschaftlichen In­teressen der USA, das Zu­sammenspiel zwischen US-ameri­kanischer Wirt­schaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part un­ter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerz­lich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänder­lich gestellt scheinen. Optimi­stInnen re­deten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedan­ken; Haiti ist zwar Billig­lohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibi­sche Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemi­sphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situa­tion während der Militär­diktatur nicht unmit­telbar einsichtig erscheint, er­schließt sich den LeserIn­nen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfron­tiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertre­ter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Poli­zeichef von Port-au-Prince, Michel Fran­çois, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indi­rekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Ein­heit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Men­schenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechts­situation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommier­ter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschen­rechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach po­litischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als ga­rantiert oder als verletzt betrachtet wur­den.
Ein Sammelband ist ein Sam­melband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsi­denten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegan­gen sind – einige Eckdaten aus der Ge­schichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundin­formationen über die politische Entwik­klungen der letzten Jahre hat der Sammel­band eine schmerzliche Lücke geschlos­sen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den Le­serInnen darüber die Querver­bindungen zwischen den Beiträgen er­schlossen hät­ten.
Die Haiti Files: 33 AutorIn­nen, 33 Bei­träge, 33 Ansichten, Haiti geballt – we­ni­ger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich an­gesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer ent­schieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu brin­gen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bü­cher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch ein­fallsreiche Titel­montagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Au­tor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte ge­genüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Bu­ches hat sein Äußeres offenbar nicht ge­schadet. Nach Verlagsan­gabe geht der Sam­melband sehr gut.

The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bu­reau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM

Es riecht ein bißchen nach Krieg

Bei allen vorherigen Interventionen in Südamerika hatte sich das Weiße Haus an die von US-Präsident James Monroe 1823 verkündete Doktrin gehalten: “Amerika den Amerikanern”. Was im eigenen Hin­terhof geschieht, hielt man in Washington für eine familiäre Angelegenheit, die den Rest der Welt nichts anging. Nun aber fragte man erst im New Yorker Glaspalast nach, und der UN-Sicherheitsrat gab sein Plazet – mit einer Begründung, die eine Intervention wohl in mehr als der Hälfte der Staaten der Welt rechtfertigen würde. Gibt es denn in Algerien nicht auch eine Militärdiktatur, die in keiner Weise demo­kratisch legitimiert ist? Gibt es denn im Iran nicht auch Folter, Mord und Tot­schlag? Und Birma? Und Nigeria? Und Syrien? Und und und.
Der UN-Beschluß – Zeichen politischer Doppelmoral
In völkerrechtlicher Hinsicht ist die UN-Resolution, die die USA zur Intervention in Haiti ermächtigt, höchst problematisch. Von Port-au-Prince geht keine Gefahr für den Weltfrieden aus. Das Militär des Ka­ribikstaates hat keine erkennbaren Ab­sichten, einen anderen Staat anzugreifen oder auch nur zu bedrohen. Die Armee mit 7.000 Soldaten, einem halben Dutzend veralteten Panzern und zwei verrosteten Flugzeugen wäre wohl auch nicht in der Lage dazu. – Und seit wann sind diktatori­sche Verhältnisse in einem immerhin sou­veränen Staat ein Grund für eine interna­tionale Invasion? Von einem Völkermord, den im übrigen die UN-Charta nicht als Grund für eine Intervention vorsieht, kann in Haiti nicht die Rede sein. Seit dem Sturz Aristides vor drei Jahren sind zwar an die 3.000 AnhängerInnen des Präsi­denten ermordet worden – im Durchschnitt täglich drei, ein zwanzigstel Prozent der Bevölkerungs. Die Zahl der Todesopfer ist hoch, im Vergleich mit Menschenrechts­verletzungen in anderen Teilen der Welt jedoch so ganz unüblich nicht.
Trotzdem: Vor Haitis Küste steht ein US-amerikanischer Flottenverband von 14 Schiffen mit Kampfhubschraubern und Transportmaschinen bereit. Wochenlang haben Marineinfanteristen der US-Armee im nahen Puerto Rico Landeoperationen geprobt. 10.000 bis 12.000 Soldaten war­ten auf den Befehl, unter ihnen lediglich 266 ohne US-Paß, die als internationales Feigenblatt einer Invasion der Vereinigten Staaten dienen sollen. US-Außenminister Christopher kündigte jüngst an: “So oder so, die Regierung in Haiti wird gehen. Ihre Tage sind gezählt.” Der stellvertre­tende Verteidigungsminister John Deutch war sogar noch weiter gegangen und hatte eine Invasion auch für den Fall eines Rücktritts der haitianischen Militärmacht­haber angekündigt.
Alltag im Ausnahmezustand
Die Machthaber in Port-au-Prince haben inzwischen im Zentrum der Hauptstadt große Spruchbänder anbringen lassen, auf denen sie mit einem schlichten “NON”, “nein”, kundtun, daß sie gegen eine Inva­sion und gegen das Embargo sind. Auf den Zufahrtsstraßen zum blütenweißen Palast der Regierung liegen bereits Sand­säcke, die aber nicht einmal den alten Schrottautos, die das Straßenbild bestim­men, den Weg ernsthaft zu versperren vermögen. Über das Dach der US-Bot­schaft huschen schwer bewaffnete Ge­stalten. Es riecht ein bißchen nach Krieg.
Aber was kümmert all das die Leute? Zu staatlich organisierten Demonstrationen gegen eine Invasion kommen in der Zweimillionenmetropole in der Regel knapp tausend Menschen zusammen, vorwiegend Angestellte der Ministerien, die wohl auch fürs Gegenteil auf die Straße gingen, wenn es nur angeordnet würde. Nein, die Sorgen der Menschen drehen sich um anderes, vor allem um die Preise, die das Wirtschaftsembargo beinahe täglich ein Stück weiter in die Höhe treibt. Für immer mehr wird das Le­ben zum täglichen Überlebenskampf. Apathie und Resignation haben sich bei einer Bevölkerung breitgemacht, die vor drei Jahren noch auf “Lavalas” (kreolisch für “Erdrutsch”, Sturzflut) setzte, die Be­wegung, die Aristide an die Macht gespült hat, die Bewegung, die mit dem Alten aufzuräumen und eine neue Welt zu brin­gen versprach.
Zwischen Agonie und verhaltener Hoffnung
Heute spricht man selbst in Cité Soleil, dem mit vielleicht 200.000 EinwohnerIn­nen größten Slum von Port-au-Prince, ei­ner Hochburg der Aristide-AnhängerInnen, nicht mehr laut vom ge­stürzten Präsidenten. Man ist vorsichtig geworden. Es gibt hier immerhin drei Ka­sernen, wie die Stützpunkte der Attachés, der bewaffneten zivilen Helfer der Mili­tärs, genannt werden. Die “Ti Legliz”, die haitianische Basiskirche, wirkt hier fak­tisch weitgehend in der Illegalität. Man trifft sich heimlich, zu viele schon sind ermordet worden. Das Demonstrieren hat man sich längst abgewöhnt.
Willkürherrschaft der “mächtigen Män­ner”
Die FRAPH, die Partei der Ex-Duvalie­risten und Attachés, kontrolliert das Vier­tel, und sie kriegt sogar Zulauf. Hier, wo es weder Toiletten noch fließendes Was­ser gibt, wo die Menschen in Blechver­schlägen auf engstem Raum unter unbe­schreiblichen Verhältnissen leben, oft nur mehr dahinvegetieren, ohne Aussicht, daß an ihrem Dasein sich je etwas ändern wird, hier gibt es genügend Leute, die sich kaufen lassen oder die eben einfach – pure Überlebensstrategie – sich auf die Seite des Stärkeren schlagen.
Der Stärkere, das ist auf dem Land wieder der “Chef de section”, der lokale Armee­chef, im Volksmund “Gwo Neg” – kreo­lisch für “gros negre”, “großer Schwar­zer”, “mächtiger Mann”. Er ist Polizei­chef, Richter und Steuereintreiber in einer Person, und oft hat er in seinem Dorf so­gar sein eigenes, ganz privat betriebenes Gefängnis. Zu Diensten stehen ihm die “Chouket Lawouze”, die die Drecksarbeit erledigen. Viele von ihnen sind alte “Tontons Macoutes”, Angehörige der auf­gelösten Privatmiliz der Duvaliers. Der Staat bezahlt sie nicht, weil es sie offiziell gar nicht gibt. Und so holen sie sich ihren Lohn eben auf eigene Faust, mit der Waffe in der Hand. Während der sieben­monatigen Regierungszeit Aristides sind die “Chefs de section” aus den Dörfern verschwunden, doch nach dem Putsch vom September 1991 waren sie sofort wieder da.
Jetzt sind die anderen verschwunden: die Aktivisten von “Lavalas”. Bei den Lo­kalwahlen haben sich in den örtlichen Verwaltungen vielerorts Anhänger Aristi­des durchgesetzt. Nur höchst selten findet man auf dem Land einen Bürgermeister, da die meisten abgetaucht sind. An die 300.000 Menschen, so schätzt die “Kommission für Gerechtigkeit und Frie­den” der katholischen Kirche, haben ihr Zuhause verlassen und halten sich ir­gendwo im Land versteckt. Sie sind in an­deren Provinzen – außerhalb der Reich­weite ihres “Chefs de section” – bei Ver­wandten untergekommen oder schlagen sich in der Hauptstadt durch.
“Changement” – Hoffnung auf den “Wechsel”
Für den Fremden ist es schwierig, auf dem Land etwas in Erfahrung zu bringen. Nur die wenigsten sprechen französisch, und Übersetzern aus der Hauptstadt mißtrauen die Leute grundsätzlich. Wenn dann doch ein Gespräch zustandekommt, wird dieses in der Regel schon nach wenigen Sätzen unter einem billigen Vorwand abgebro­chen. “Sie werden uns nachher ausfragen”, entschuldigen sich die Mutigeren. Wer sich mit AusländerInnen unterhält, macht sich verdächtig, hat nachher nur Ärger. Doch die wenigen Sätze reichen, um mit­zuteilen, daß man für das “changement”, also für den “Wechsel”, die “Ver­ände­rung” ist.
“Changement” ist zum Synonym für Ari­stide geworden, dessen Namen man nicht mehr in den Mund zu nehmen wagt. “Changement” hört sich unverdächtiger an. Manchmal kann das Wort auch mit “Invasion” übersetzt werden. Die meisten Menschen auf dem Land würden wohl eine militärische Intervention begrüßen. Sie würde Aristide zurückbringen und dem Terror der verhaßten “Chefs de sec­tion” ein Ende setzen.
Auch in Port-au-Prince, wo es einfacher ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ist die Hoffnung auf die US-Amerikaner überall zu spüren. Nach einer Invasion würde ja auch das Embargo auf­gehoben, das die Mittelschichten in die Armut, die Armen ins Elend und die Ärm­sten an den Rand des Hungertodes ge­stürzt hat. Vor allem in Salines und Cité Soleil, den Elendsvierteln der Hauptstadt, wo Aristide jahrelang als salesianischer Priester wirkte und später als Präsident immense Hoffnungen weckte, würde die Mehrheit eine militärische Intervention zweifellos begrüßen. Den AktivistInnen der Basisorganisationen und der “Ti Legliz” fällt es da schwer, die Menschen von den Gefahren einer Invasion zu über­zeugen.
US-Marines als künftiges Boll­werk gegen “Lavalas”?
Während regimenahe Intellektuelle davor warnen, daß eine Invasion zu einer anti­imperialistischen Mobilisierung breiter Massen und letztlich zu einem langwieri­gen Bürgerkrieg führen würde, befürchtet man in den Kreisen der politischen Lin­ken, die ideologisch die Basisorganisatio­nen in den Elendsvierteln dominieren, et­was ganz anderes: Wenn die Marines mal da seien, würden sie – anders als im Fall Grenada oder auch Panama – erst mal ein paar Jahre bleiben. Letztlich gehe es der US-Regierung nicht darum, für demokra­tische Verhältnisse zu sorgen, sondern darum, die Massen zu kontrollieren und “Lavalas”, die Sturzflut, eine revolutio­näre Entwicklung, aufzuhalten.
Gewiß müßten die US-Truppen in Haiti länger bleiben als in Panama oder in Gre­nada, wenn sie verhindern wollen, daß nach ihrem Abzug die alten Verhältnisse wieder zurückkehren. Gewiß würden sie nach einer Entmachtung der haitianischen Militärkamarilla zwangsläufig Ordnungs­funktionen, gegebenenfalls auch gegen­über spontanen Massenbewegungen, wahrnehmen.
Trotzdem scheint das eigentliche Problem der US-Regierung nicht eine revolutionäre Bewegung in Haiti zu sein. Aristide, der im übrigen heute viel moderatere Positio­nen vertritt als bei seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren, wird schon allein auf­grund der wirtschaftlichen Zerrüttung Haitis mit der Oberschicht seines Landes und auch den USA Kompromisse einge­hen müssen, will er seine soziale Basis, die verarmten Massen, nicht noch mehr dem Elend preisgeben. Nein, neben den Wahlen zum Repräsentantenhaus im kommenden November besteht das ei­gentliche Problem Bill Clintons in den derzeitigen Verhältnissen auf der Karibi­kinsel. Allerdings nicht, weil sie undemo­kratisch sind, sondern weil ihnen immer mehr HaitianerInnen in selbstgezimmerten Booten entfliehen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA.

Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst

Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argenti­nisch-jüdisches Zentrum. In dem sieben­stöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlauf­stelle für bedürftige Menschen, ein Thea­ter und ein Arbeitsvermittlungsbüro un­tergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertre­tung der jüdischen Gemeinschaft in Ar­gentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jäh­riger Leiter des Instituts für jüdische Stu­dien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beer­digung teilgenommen.” Das Lebens­werk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig ver­lorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das At­tentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nut­zen, versprach: “Die geistigen und materi­ellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kur­zer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich da­gegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicher­heitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, er­klärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsge­benden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer ge­ladenen Stimmung gegenüber. Die Buh­rufe waren auf der Tribüne nicht zu über­hören.
Angesichts dieses zweiten großen Terror­anschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsi­denten noch vor kurzem als Erfolg ver­bucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das interna­tionale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusori­schen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außer­dem sei diese Entscheidung ohne Zu­stimmung des Kongresses per Dekret ver­ordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu ma­chen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignis­sen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interes­sant. Immerhin scheint der syrische Waf­fenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Me­nem zu sein. Der reiche Geschäfts­mann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, er­hielt die ar­gentinische Staatsbürgerschaft in der Re­kordzeit von 30 Tagen – eine er­staunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken ar­gentinischen Bürokratie. Den argentini­schen Reisepaß erhalten norma­lerweise selbst verheiratete AusländerIn­nen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienan­gehöriger der ehemaligen Prä­siden­ten­gattin. In elf Ta­gen erhielt er nicht nur das blaue Doku­ment, sondern auch noch einen verant­wortungsvollen Posten in der Zoll­behörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Dro­gen­geschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsan­walt Juán José Galeano außer der zweifel­haften Aussage eines ehemaligen irani­schen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag ver­wendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer irani­schen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauder­welsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die ira­nische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mit­glied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischspra­chige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentali­sten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachfor­schungen seien aber damals aufgrund in­nenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Prä­sidenten Menem mit Syrien” einge­stellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internatio­naler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdi­sche Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesell­schaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemü­hen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklä­rungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Natio­nalität oder seines Glaubens ver­dächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergan­genheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es un­ter Juan Domingo Perón zu Ausschreitun­gen gegenüber argentini­schen Juden. Über die “Rattenlinie” ge­langten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurch­schnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleich­zeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unter­schlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungs­antrag für einen deut­schen Nazi aus Italien vor: Der amerikani­sche Fernsehsender ABC hatte den ehe­maligen SS-Mann Erich Priebke in Bari­loche (Provincia de Río Negro) auf­gespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im Sep­tember eine besondere Überraschung: An­gehörige der 1944 exe­kutierten Italiener beabsichtigen, den ar­gentinischen Luft­kurort in Kürze zu besu­chen, um dem Auslieferungsgesuch Nach­druck zu ver­leihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppie­rungen in der Bundesrepublik und Argen­tinien sind bekannt. Ein Forschungspro­jekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeit­zeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argen­tinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie er­wähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachi­gen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runter­geht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventio­niert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanö­ver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzwei­felte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schän­dung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsitua­tionen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine be­sten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten un­zählige Porteños Werkzeuge und Lebens­mittel zu der israelischen Rettungsmann­schaft, die eigens eingeflo­gen worden war. Daß Angehörige von vermißten Per­sonen allerdings Anrufe er­hielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung ge­macht wurde: “Ich habe Ihre Tochter le­bend im Krankenhaus gesehen,” ver­deut­licht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, er­klärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nach­barschaft der AMIA fürchteten. Sportver­anstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeut­sche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. In­zwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetre­ten. Diese neue, schwer begreifbare Di­mension des Terrors stelle die Gesell­schaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheim­dienste durch eine eigenständige Bericht­erstattung zu durchbrechen und die Isola­tion der bedrohten Gruppe durch Solida­rität zu überwinden. Zudem sei die Mei­nung politisch unabhängiger Persönlich­keiten in solchen Krisensituationen äu­ßerst wichtig. “Die können eine psy­chologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politi­sches Kapital daraus schlagen wollen”

Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

WELTstadt – STADTwelt

Warum wachsen die Städte? lautete die Leitfrage für die verschiedenen Beiträge, die sich mit Spontansiedlungen in Cara­cas, der Öko-Modell-Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, dem Phänomen der Straßenkinder und schließlich der Zukunft von “Dritte-Welt”-Städten befaßten. Wer sich mit der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Problematik von Städten in Lateinamerika auseinandersetzt, der muß zunächst den Ursachen für die Landflucht auf den Grund gehen. Am intensivsten gelang dies Uwe Pollmann vom “Dritte-Welt”-Haus in Bielefeld in seinem Beitrag zu Straßenkindern in der “Dritten Welt”. Das traditionelle Problem der ungerechten Landverteilung, neuere Entwicklungen zur modernisierten Plantagen- und extensiven Weidewirtschaft sind Auslöser für die ökologische Zerstörung sowie die soziale Misere der Landbevölkerung und Ursache für Migration. Die überwiegend jungen Leute, die oftmals völlig mittellos in der Stadt ankommen, bauen auf freiem Ge­lände zunächst einfache Wellblech- oder Papphütten . Im Laufe der Zeit, so be­schrieb Prof. Pachner von der Universität Tübingen am Beispiel von sogenannten Spontansiedlungen, deren Entwicklung er seit über 20 Jahren begleitet, werden die einfachen Hütten jedoch ausgebaut. Strom- und Wasserzuleitung werden zunächst illegal beschafft, später offiziell eingerichtet. Am Ende stehen oftmals an­sehnliche, stabile Häuschen, die an die In­frastruktureinrichten angeschlossen sind. Heute leben in den Metropolen La­teinamerikas zwischen 40 und 60% der Bevölkerung in solchen Siedlungen. Ent­scheidende Gründe dafür, daß Pachner die Bezeichnung “Slum” für diese Viertel ab­lehnt, sind die heterogene Bevölke­rungsstruktur und eine sehr unterschiedli­che infrastrukturelle Ausstattung. Hinzu kommt die Tatsache, daß hier neben der Mehrzahl der BewohnerInnen, die im in­formellen Sektor ihr Einkommen sichern, auch Menschen mit teilweise langjähriger Integration in den formalen städtischen Arbeitsmarkt zu finden sind. Interessant wäre es gewesen, zu verfolgen, wie sich die Entwicklung für Neuankömmlinge in den Krisenjahren der vergangenen Dekade vollzog oder wie sich die Lebens- und Wohnverhältnisse der seit längerem in Spontansiedlungen lebenden Menschen durch die De-Industrialisierung verändert haben. Leider gelang es dem Tübinger Geographen jedoch nicht, seine teilweise sehr intensiven empirischen Untersuchun­gen etwa zur Wohnsituation in Spontan­siedlungen zu neueren ökono­mischen und politischen Prozessen in Be­ziehung zu setzen. Die oftmals in diesen Siedlungen verwurzelten barrio-Organi­sationen, über die Sozialwissenschaftle­rInnen unter dem Begriff “neue soziale Bewegungen” dis­kutieren, wären eine ge­sonderte Betrach­tung wert gewesen. Ihre Rolle für die Eta­blierung und Entwicklung der Siedlungen selbst kann gar nicht über­schätzt werden.

Modellstadt Curitiba

Bemerkenswert ist, daß in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, dem Teil der “Dritten Welt” mit der intensivsten Ver­städterung, der Wanderungsdruck auf die Metropolen in den letzten 10 Jahren nach­gelassen hat. Es sind heute vor allem mit­telgroße Städte, die ein überproportionales Wachstum aufweisen. Zu diesen mittel­großen Städten zählt das inzwischen etwa 1,3 Millionen EinwohnerInnen beherber­gende Curitiba im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. Über die Grenzen Brasiliens hinaus hat sie sich inzwischen den Ruf einer Öko-Modell-Stadt erwor­ben. Folgt man den Ausführungen von Gilberto Calcagnotto vom Institut für Ibero­amerikakunde in Hamburg, steht hinter dieser Erfolgsgeschichte vor allem ein Mann: der dreimalige Bürgermeister Jaime Lerner. Lerner, der damals als poli­tisch unerfahrener Technokrat galt, wurde unter der Militärdiktatur vom Provinzgou­verneur Paranás auf den Posten des Bür­germeisters gehievt. Doch der gelernte Architekt entwickelte sich zu einem Er­neuerer mit großer Sensibilität für Um­weltprobleme. Auf seine Initiative geht das moderne Bussystem mit zahlrei­chen Expresslinien und eigenen Spuren, das mit einer Verbundnetzkarte befahren werden kann, zurück. Damit konnte der Treib­stoffverbrauch der Stadt um nahezu 25 Prozent verringert werden. Die zuvor überdurchschnittlich hohe Zahl von Ver­kehrstoten wurde drastisch gesenkt. In den letzten Jahren wurde zudem ein cambio verde genanntes Müllsammelsystem ein­gerichtet, bei dem von der Stadtverwal­tung im Tausch gegen wiederverwertbares Material Gutscheine für Schulbücher, Fahrscheine oder Gemüse ausgegeben werden. Der neue Bürgermeister scheint das Werk Lerners fortsetzen zu wollen. Momentan stehen so ehrgeizige Projekte wie die Erneuerung des Abwassersystems auf der Tagesordnung.
Intention der Kongreßleitung war es, ne­ben Fragen der Stadtentwicklung und -planung auch das Phänomen des wach­senden städtischen Elends anzusprechen. Es war die Aufgabe Uwe Pollmanns vom “Dritte-Welt”-Haus Bielefeld, das sich seit Beginn der 70er Jahre in der Internationa­lismusarbeit engagiert und inzwischen ne­ben dem Schwerpunkt Öffentlichkeits­arbeit mehrere Straßenkinder-Projekte unterstützt, dies am Beispiel einer Stadt der “Dritten Welt” zu tun. “Straßenkinder in Recife” lautete sein Thema, und einmal mehr zeigte sich die Schwierigkeit, Elend oder soziale Mißstände vor einem west­lich-industriellen Wohlstandspubli­kum differenziert und mit einer ausrei­chenden gefühlsmäßigen Distanz zu prä­sentieren. Das Thema legt den Blick auf dunkelhäu­tige, zerlumpte Gestalten, zu früh gealterte Kindergesichter nahe, die bald nur noch Mitleid erregen. Dabei wurde eigentlich sehr kenntnisreich und sensibel über den täglichen Überlebens­kampf auf der Straße informiert. Pollmann gelang es zugleich den Bogen zur bundes­republikanischen Konsumgesellschaft zu schlagen, die von niedrigen Kaffee- und Orangenpreisen profitiert, die auf die Ausbeutung von Kinderarbeit zurückzu­führen sind.
Daran besteht kein Zweifel: Wer sich über Städ­tewachstum Gedanken machen will, der muß zunächst sehen, was auf dem Land passiert. Zentrale Ursache für Städte­wachstum ist die Landflucht.
Zukunftsorientierte Stadtpolitik beginnt also auf dem Land. Hier bedarf es grund­legender ökonomischer und sozialer Re­formen. Pragmatisch gesehen mag die Aufgabe der StadtplanerInnen auf den Umgang mit weiterem Wachstum oder die Steuerung innerstädtischer Prozesse kon­zentriert bleiben. Hier können sie sich im besten Fall die Frage stellen, wie sie die Stadt wachsen lassen wollen. Aus ökolo­gischer und sozialer Sicht lautet das Lö­sungswort “Verdichtung”. Gerade Städte in Nord- und Südamerika, die mit ihrer auf den Autoverkehr ausgerichteten Ent­wicklung nahezu grenzenlos ins Um­land gewuchert sind, während sie inner­städtische Bereiche verkommen lassen, bieten hier prinzipiell große Handlungs­spielräume. Unzweifelhaft zeigen wie­derum Erfahrungen aus Nord- wie Süd­amerika, daß alles andere als die invisible hand des Freien Marktes diese Probleme lösen wird. Vielmehr bedarf es konkreter Markteingriffs- und Planungsinstrumente, die jedoch von politischer Macht und Durchsetzungskraft abhängen. Wo und wie diese entwickelt werden kann, konnte allerdings nicht auch noch Thema dieser Tagung sein.

“Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”

Vor gut fünf Jahren geschah etwas bis dahin Einmaliges: Eine Militärdiktatur wurde abgewählt. Was nicht so einmalig war: Das Konzept kam aus den USA. Unter dem Druck, sein Regime formal zu stabilisieren, rief General Pinochet die ChilenInnen 1988 zu einem Plebiszit auf. Es gab eine klare Alternative: Entweder acht weitere Jahre Diktatur oder Neuwahlen. Trotz der mächtigen staatlichen Propagandamaschinerie und massiver Einschüchterung der Bevölkerung stimmte eine knappe Mehrheit für die zweite Option. Sein Junta-Kollege, Luftwaffenchef Matthei, durchkreuzte rechtzeitig Pinochets Plan, das Ergebnis der Volksabstimmung zu fälschen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr siegte die bürgerliche Mitte-Links-Koalition um den scheidenden Präsidenten Patricio Aylwin.

Eine Strategie geht auf

Damit triumphierte letztlich eine CIA-Strategie, die 1986 entwickelt wurde, um möglichst reibungslos die politischen Folgen einer weniger reibungslosen CIA-Intervention zu beseitigen, ohne dabei die Wirtschaftpolitik zu gefährden. Nach Gesprächen mit US-Vertretern scherte die chilenische Christdemokratie damals aus dem breiten Oppositionsbündnis gegen die Militärdiktatur aus, an dem auch die marxistische Linke beteiligt war. Unter Ausschluß von Kommunisten und Sozialisten sollte ein Arrangement mit der Diktatur getroffen werden, um deren “Errungenschaften” ein demokratisches Gewand überstülpen zu können.
Eduardo Frei stand damals voll hinter der Position der Christdemokraten. In dem Institut Blas Cañas forderte er 1986 einen Pakt der Opposition mit den Streitkräften: “Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn wir beim Übergang zur Demokratie Erfolg haben wollen, brauchen wir dringend einen Pakt. Ich spreche dabei in erster Linie von einem Pakt zwischen der Opposition und der Armee.” Nicht zuletzt in der Person von Eduardo Frei wird deutlich, wie erfolgreich die vor sieben Jahren entwickelte Strategie bisher gewesen ist. Daher ist es nicht überraschend, wenn er nach der Wahl betonte, daß sich seine Regierung um ein gutes Verhältnis zu den Uniformierten bemühen werde. Auch wenn BeobachterInnen von ihm eine etwas härtere Haltung in Formalfragen erwarten, wird er die offene Konfrontation mit der Armee vermeiden. Auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden von dem neuen Präsidenten keine entscheidenden Änderungen erwartet. Das Wirtschaftsmodell blüht unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie, und das Gespenst des Kommunismus, das in Chile vor 20 Jahren konkrete Gestalt angenommen hatte, ist erfolgreich vertrieben worden.
“Der Niedergang der Kommunistischen Partei begann nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Pinochet im September 1986,” erklärt der jahrelange Verbindungsmann der Parteispitze. “Die Führung setzte damals auf den bewaffneten Kampf zum Sturz der Militärdiktatur. Das Plebiszit von 1988 über die Fortsetzung des Pinochet-Regimes wurde als Farce der Diktatur abgelehnt und boykottiert, erst im letzten Augenblick schwenkte die Partei auf das immer mächtiger werdende NEIN zu Pinochet um. Bei der anschließenden Präsidentschaftswahl im Dezember 1989 kämpfte sie lange Zeit gegen das bürgerliche Mitte-Links-Bündnis Concertación. Wiederum in letzter Minute änderte die Partei ihre Linie und akzeptierte das JA zu deren Kandidat Patricio Aylwin als NEIN zu Pinochet. Da kommt doch keiner mehr mit!” Die Führung der Kommunistischen Partei hatte sich im Untergrund immer weiter vom wirklichen Leben enfernt. Die streng hierarchischen Entscheidungsstrukturen führten zwangsläufig zu Fehleinschätzungen, die Glaubwürdigkeit der Partei ging verloren. Und nun hält der Spaltpilz Einzug in der einst monolithischen Partei, die bei den Wahlen 1970 und ’73 noch jeweils rund 15% der Stimmen erreicht hatte. Der größte Flügel der Partei hat sich dem linken Parteienbündnis MIDA angeschlossen, das die marxistisch-leninistische Tradition hochhält und nun bei den Wahlen am 11. Dezember 1993 kläglich scheiterte: Kein einziger Kandidat wurde in eine der beiden Parlamentskammern gewählt; beim letzten Mal hatte diese Gruppierung noch 2 Abgeordnete gestellt. Eine kleine Gruppe um den ehemaligen PC-Vorsitzenden José Sanfuentes schloß sich den HumanistInnen an und unterstützte deren aussichtslosen Präsidentschaftskandidaten Cristián Reitze. Die PragmatikerInnen in den Reihen der KommunistInnen gründeten kurzerhand die Unabhängige Demokratische Partei (PDI) und kandidierten auf einer gemeinsamen Liste mit der regierenden Concertación. Ihr Realitätssinn wurde belohnt: Als einzige aus dem ehemaligen PC-Spektrum zogen die PDI mit zwei Abgeordneten in das Parlament ein. Die populäre Rechtsanwältin Fanny Pollarollo gewann in ihrem Wahlkreis Calama-Tocopilla, zu dem auch die Kupfermine Chuquicamata gehört, sogar haushoch. Davon konnte der kommunistische Anwärter auf den Präsidentensessel, Eugenio Pizarro, nur träumen. Der politisch unerfahrene katholische Priester war von der Parteiführung auserkoren worden, um die Stimmen der befreiungstheologisch engagierten und der linken Christen in Chile zu gewinnen. Dieses Kalkül entpuppte sich als Schlag ins Wasser, Pizarro gab allerorten eine peinliche Figur ab, wurde einmal sogar fast aus einer Gewerkschaftsversammlung herausgeprügelt und konzentrierte sich im wesentlichen darauf, seine eher fortschrittlicheren Konkurrenten zu diffamieren. Der Stimmenanteil von nur 5% ist wohl mehr das Ergebnis einer Traditionswahl als seiner Überzeugungskraft.

Rundumerneuerte SozialistInnen

Ganz anders ist es den langjährigen Verbündeten der PC, den SozialistInnen, ergangen. Sie haben dem Marxismus abgeschworen und sich als rundumerneuerte Partei auf die Seite der mächtigen Christdemokratie geschlagen. Zusammen mit der nach wie vor größten Partei Chiles, der sozialdemokratisch orientierten PPD (Partei für die Demokratie) und den Radikalen stellten die “socialistas renovados” die erste Übergangsregierung. Nun konnten sie landesweit sogar ihren Stimmenanteil ausbauen; aufgrund des pinochetistischen Wahlrechts bleibt es aber bei ihren vier Sitzen im Senat, im Abgeordnetenhaus verlieren sie sogar zwei Parlamentarier. Größter Wahlgewinner war die PPD, die mit zwei Senatoren in das Oberhaus einzieht und die Zahl ihrer Abgeordneten von 7 auf 16 mehr als verdoppeln konnte.
Während deren Vorsitzender Ricardo Lagos, der ehemalige Erziehungsminister, mit ungebremsten Ambitionen auf den Sessel des Regierungschefs, mit dem unbedeutenden Ministerium für Öffentliche Aufgaben abgespeist wurde, honorierte der neugewählte Präsident Eduardo Frei den Wahlerfolg der SozialistInnen und ernannte deren Parteichef Germán Correa zum neuen Innenminister. Ein Aufschrei kam daraufhin aus den Reihen der Rechten – ein sozialistischer Innenminister ließ die Erinnerungen an die Unidad-Popular-Regierung von 1970-73 wieder wach werden. Doch der management-erfahrene neue Präsident ließ sich nicht beirren und hielt an Correa fest. Dahinter könnte nicht so sehr Sympathie, wie ein kühles Konzept stehen. Der Sozialistenchef hatte sich nicht ohne Grund lange vor dem Ministerposten geziert. Schließlich war es in erster Linie sein Verdienst, die verschiedenen Strömungen der Partei unter einen Hut zu bringen. Sein Ausscheiden aus der Parteiführung bringt die Gefahr mit sich, daß die verschiedenen Parteiflügel wieder auseinanderfallen. In Anbetracht einer zu erwartenden Zunahme der sozialen Spannungen, die auch der scheidende Präsident Patricio Aylwin vorausgesagt hat, wird der Innenminister zwangsläufig zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sein. Damit sind Spannungen mit der linken Opposition innerhalb wie außerhalb der Sozialistischen Partei vorprogrammiert. Bricht die Partei auseinander, werden ihre einzelnen Fraktionen als Koalitionspartner uninteressant und der Weg wäre frei für eine große Koalition der Christdemokraten mit der rechten Renovación Nacional (RN – Nationale Erneuerung). Und damit könnte Eduardo Frei wunderbar leben und regieren.

Verluste auch bei der Rechten

Auch wenn die RN vier Abgeordnete und zwei Senatoren eingebüßt hat, bleibt sie die zweitstärkste Fraktion in beiden Kammern. Deren smarter Parteivorsitzender Andrés Allamand ist zwar unter der Diktatur politisch groß geworden, verließ jedoch rechtzeitig das sinkende Schiff von General Pinochet und baute seine “Nationale Erneuerung” als bürgerliche Rechtspartei auf. Das hat ihm zwar schon wiederholt Schelte von der faschistischen UDI eingebracht, die sich nach seiner Kritik am unsozialen und nicht auf die Zukunft ausgerichteten Verhalten der chilenischen UnternehmerInnen zu einer regelrechten Diffamierungskampagne auswuchs. Das hielt die RN allerdings letztlich nicht von ihrem strategischen Bündnis mit der UDI ab, im Santiagoer Reichenviertel Vitacura wurde der Doppelerfolg von Allamnad und seines UDI-Kollegen Bombal begeistert gefeiert. Insgesamt konnte die Partei der PinochetistInnen trotz leichten Stimmenzuwachses die Verluste der RN nicht ganz ausgleichen, so daß die rechten Parteien insgesamt hinter ihrem historischen Stimmenanteil zurückgeblieben sind. Der konservative Präsidentschaftskandidat Arturo Alessandri erreichte nicht einmal 25% der Stimmen. Weitere 6% entfielen auf José Piñera, den ehemaligen Arbeitsminister der Diktatur und Urheber des repressiven Arbeitsrechts `Plan Laboral’. Dieses Gesetz, das die ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsrechte massiv einschränkt, ist im übrigen bis heute unverändert in Kraft. Ohne hemmungslose Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen ist das chilenische Wirtschaftswunder offenbar immer noch nicht nicht zu schaffen.

Warten auf die “neuen Zeiten”

“Für die neuen Zeiten” lautete der Wahlspruch des Christdemokraten Eduardo Frei. Inhaltslos symbolisiert er den Zeitgeist in dem Land Südamerikas, das die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten aufweist und in dem die Politik zweitrangig geworden ist. Unübersehbar ist der Hang zur politischen Mitte. Und zur Mittelmäßigkeit. Niemand regt sich heute mehr auf, wenn ehemalige Pinochet-Minister, die noch vom Diktator als Senatoren eingesetzt wurden, im Fernsehen auf ihre demokratischen Rechte pochen und ihre politischen GegnerInnen zur Einhaltung der demokratischen Spielregeln auffordern. An Rücktritt als einzigen wirklich demokratischen Schritt denkt keiner von ihnen, und – was noch schlimmer ist – niemand fordert sie dazu auf. Die neue Regierung wird sich mit den Hinterlassenschaften der Militärdiktatur arrangieren und deren Verfassung nicht antasten. “Wir werden die bestehenden Gesetze strikt einhalten”, versicherte Präsident Frei kurz nach seiner Wahl gegenüber in- und ausländischen JournalistInnen, “und wenn wir bestimmte Änderungen der Verfassung im Senat nicht durchbekommen, müssen wir damit bis 1997 warten.”
In vier Jahren scheidet nämlich die Sperrminorität der von Pinochet eingesetzten Senatoren aus. Bei den Nachwahlen dürften sich dann die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Concertación ändern. Gleichzeitig tritt Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres zurück und geht in den Ruhestand. Doch schon jetzt wird der ehemalige Diktator in Chile selbst viel weniger ernst genommen als im Ausland. Juan Pablo Cárdenas, langjähriger Chefredakteur der Oppositionszeitschrift análisis, schreibt dem alternden General sogar eine systemstabilisierende Funktion zu: “Pinochet ist eigentlich der wichtigste Verbündete der Concertación. Der gemeinsame Feind vereinigt die Regierungskoalition und bindet gleichzeitig große Teile der linken Opposition. Wenn die permanente Bedrohung durch Pinochet wegfällt, geht der bestehende Konsens verloren.” Vielleicht wird die Politik in Chile dann wieder etwas spannender…

Altlasten aus der Diktatur

Bis dahin wird wohl alles seinen gewohnten Gang gehen. Nur ab und zu kommt die jüngere chilenische Vergangenheit zum Vorschein. So bei der Verurteilung der Mörder des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier (vgl. LN 235). Auch der Mord an Carmelo Soria, einem spanischen CEPAL-Mitarbeiter mit Kontakten zur PC, wird auf Druck aus Madrid weiter untersucht. Und nun ist ein als sicher gehandelter Minister der neuen Regierung über seine Machenschaften unter der Diktatur gestolpert. Der Unternehmer Juan Villarzú, ein enger Freund von Präsident Frei, verzichtete plötzlich und unerwartet auf den Job des Finanzministers, angeblich wegen eines Kredits seiner Firma aus dem Jahr 1992. InsiderInnen munkeln aber, daß der jähe Abbruch seiner beginnenden politischen Laufbahn vielmehr mit der Rolle zu tun hat, die er in der großen Schuldenkrise Anfang der 80er Jahre gespielt hatte. Damals war er Direktor der Banco de Chile, der wichtigsten Bank des Vial-Konzerns, dessen Unternehmen hemmungslos Kredite bei eben dieser konzerneigenen Bank aufgenommen hatten. Das System der unkontrollierten Kreditvergabe, das damals von allen Unternehmensgruppen angewendet wurde, war jedoch bald überreizt. Der chilenische Staat mußte für die Schulden aufkommen, um einen völligen Zusammenbruch des Finanzwesens zu verhindern. Damit wurde nicht nur die neoliberale Ideologie widerlegt, die ein Heraushalten des Staates aus dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte fordert, sondern eben dieser Staat mußte sieben Milliarden US-$ zur Rettung der maroden Banken ausgeben.
Eduardo Frei, der bis vor kurzem nichts von den Machenschaften Villarzús gewußt haben will, kann natürlich keinen Finanzminister gebrauchen, der sich so unverfroren an der Staatsbank bereichert hat. So ernannte er kurzerhand den unter chilenischen ÖkonomInnen anerkannten parteilosen Eduardo Aninat, dessen Wirtschaftsforschungsinstitut seit Jahren einen monatlichen Bericht herausgibt, der von den 80 wichtigsten Unternehmen des Landes bezogen und analysiert wird. Ebenso wie sein Vorgänger Alejandro Foxley geht er bei allen internationalen Finanzinstitutionen ein und aus, zwischen 1991 und `92 leitete er die Umschuldungsverhandlungen Chiles mit Weltbank und IWF. Nennenswerte Änderungen der bisherigen Wirtschaftspolitik sind von ihm auf keinen Fall zu erwarten, er wird die international gerühmte Foxley-Linie fortsetzen und kann auf weitere Auslandsinvestitionen und Kredite setzen.
Zwei weitere enge Vertraute von Eduardo Frei junior bleiben allem Anschein nach seiner Regierung erhalten. Der langjährige Chef der ChristdemokratenInnen, Genaro Arriagada, wird das dem Kanzleramtsministerium vergleichbare Amt des “Secretario General de la Presidencia” übernehmen, und Edmundo Pérez gilt als sicherer zukünftiger Verteidigungsminister. Lange Zeit war der Wahlkampfleiter des neugewählten Präsidenten der Favorit für das Innenministerium, aber das wäre der historischen Parallelen wohl zu viel gewesen. Sein Vater, Edmundo Pérez senior war nämlich Innenminister unter Eduardo Frei senior. Durch die Massaker von Puerto Montt und El Salvador hatte er sich durch sein repressives Vorgehen einen unrühmlichen Namen gemacht und fiel 1971 einem Attentat zum Opfer. Der entscheidende Verdienst von Edmundo Pérez junior ist es, der Sohn seines Vaters zu sein, politisch ist er bisher noch nicht hervorgetreten. Daher wird er von vielen als unberechenbar eingeschätzt, und SkeptikerInnen meinen, im Verteidigungsministerium könnte er weniger Schaden anrichten als im Innenressort. An seinem guten Auskommen mit der Armeeführung wird nicht gezweifelt.
Das Außenministerium wird von der Radikalen auf die Christdemokratie übergehen, Carlos Figueroa heißt der zukünftige Chef der chilenischen Diplomatie. Die Radikale Partei erhält dafür das Bergbauministerium, der Amtsinhaber heißt Benjamín Teplisky. Erstmalig übernimmt eine Frau ein nicht frauenspezifisches Ministerium: Soledad Alvear wird Justizministerin. Ein weiteres innen- und sozialpolitisch wichtiges Ministerium gab Frei den mitregierenden SozialistInnen: Luis Maira, ehemaliger Vorsitzender der Christlichen Linken, übernimmt das Planungsministerium. Insgesamt zeigt die Zusammensetzung des Kabinetts den politischen Willen des neuen Präsidenten, mit einem breiten Bündnis zu regieren und die linken Parteien seiner Koalition in die politische Verantwortung einzuspannen. Die Stabilität dieser Regierung wird sich sicherlich in der ersten Hälfte der sechsjährigen Legislaturperiode zeigen.

Immer noch Folter in Chile

Die Menschenrechtssituation in Chile

“Wahrheit und Gerechtigkeit! Wir werden die Menschenrechtsverletzungen aufklären! Wir werden die Täter identifizieren und verurteilen.” Dies hatte der derzeit noch amtierende Präsident Patricio Aylwin 1989, noch vor seiner Wahl, angekündigt. Dieses Wahlversprechen hat er in seiner vierjährigen Amtszeit nicht einmal annähernd eingelöst. Zwar richtete er im April 1990 die “Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung” ein (sie ist nach dem Namen ihres Vorsitzenden Raúl Rettig unter dem Namen Rettig-Kommission bekannt geworden), die für die Regierung einen Bericht über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Militärdiktatur (September 1973 – März 1990) erstellte. Dabei ging sie jedoch nur einem Bruchteil der Verbrechen nach.
Tausende von Beschwerden über Folterungen wurden nicht untersucht. Nur dem kleinen Kreis von Opfern, die im Rettig-Bericht aufgeführt sind, wird im Rahmen eines im Januar 1991 verabschiedeten Gesetzes eine monatliche Entschädigung gewährt. Die Ermittlungen bei Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Mitwirkung an Folter gehen nur schleppend voran.
Unter dem Deckmantel der Demokratie gibt es auch heute noch Menschenrechtsverletzungen. Die fundamentalen Rechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildung und würdigen Altersruhestand sind, genau wie früher, nur für Teile der Bevölkerung gewährleistet.
Repression durch die Polizei ist nach wie vor an der Tagesordnung (Vgl. LN 233 u. 234). Wie sollte es auch anders sein, sind die Polizisten der Diktatur und der “Demokratie” doch dieselben geblieben, und heißt doch auch der Oberbefehlshaber des Militärs in Chile immer noch Augusto Pinochet.

Die Situation der politischen Gefangenen

Seit März 1990, also seit dem formellen Ende der Militärdiktatur, sind mehr als 300 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden. Von ihnen befinden sich zur Zeit noch ca. 200 in Haft. Die Mehrheit von ihnen wird in Santiago, in den Gefängnissen San Miguel und der Ex-Penitenciaria (ehemaliges Zuchthaus) im Süden Santiagos festgehalten. Unter den Gefangenen sind 15-20 Frauen, die entgegen nationalen und internationalen Normen im Männergefängnis untergebracht sind. Sie leben in der ständigen Gefahr, belästigt und vergewaltigt zu werden. Immer noch in Haft befinden sich außerdem fünf politische Gefangene der Diktatur. Sie waren 1986 am Attentat auf Pinochet beteiligt.
Die politischen Gefangenen leben auf engstem Raum und unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen. In jahrelang immer wieder durchgeführten Hungerstreiks haben sich die politischen Gefangenen jedoch zumindest einige Freiheiten erkämpft. So können sie in der Besuchshalle relativ ungestört mit ihren Angehörigen und FreundInnen sprechen und sogar politische Veranstaltungen duchführen. (Am ersten Jahrestag der Flucht von acht Gefangenen aus dem Gefängnis am 10.10.1992 fand z.B. eine politische Kundgebung statt. Damals waren drei der Flüchtlinge entkommen, die fünf anderen gefaßt, gefoltert und drei von ihnen umgebracht worden.) Bisher waren bis zu sieben Besuche pro Woche möglich, einschließlich Intimkontakt. Doch auch diese Freiheiten wird es bald nicht mehr geben! Im Oktober 1993 wurde innerhalb des Santiagoer Gefängnisses “Ex-Penitenciaria” ein moderner Hochsicherheitstrakt fertiggestellt, der sicherlich einem deutschen Stammheim in nichts nachsteht.

“Stammheim” in Chile

Der neukonstruierte Hochsicherheitstrakt kann 600 Personen aufnehmen. Gleichzeitig wurde in Colina, einem Vorort Santiagos ein weiterer eingerichtet.
Innerhalb der letzten Jahre hatte der chilenische Innenminister Krauss (Oberster Chef der Carabineros und jetziger Kripovorsitzender) die BRD, Frankreich, Spanien und Italien bereist, um sich über die hiesigen Haftbedingungen und Erfahrungen in der “Terrorismusbekämpfung” zu informieren.
Die neuen Haftbedingungen, soweit sie bekannt sind, werden folgende sein: eine Begrenzung der Besuchszeit auf einmal innerhalb von 14 Tagen und auch nur durch direkte Familienangehörige, nicht mehr als vier gleichzeitig. Die Kommunikation kann dabei nur durch eine Trennscheibe erfolgen. Nach westeuropäischen Vorbild soll auch in Chile Isolationshaft eingeführt werden. Dabei wird nicht nur auf die psychische Vernichtung der Häftlinge und die Zerschlagung ihrer Organisationsmöglichkeiten spekuliert. Seit Juli 1992 existiert innerhalb der “Gendarmería” (ein Teil der Polizei, der nur im Knast eingesetzt wird,) eine Eliteeinheit (GEAM) zur Aufstandsbekämpfung. Sie wurde schon wiederholt bis hin zum Schußwaffeneinsatz eingesetzt, um Gefangenenproteste und -aufstände zu beenden. Sie wird unter den neuen Bedingungen ungestört ihre Willkür ausüben können.
Die politischen Gefangenen werden voraussichtlich im März 1994, wenn Eduardo Frei das Präsidentschaftsamt übernommen hat, verlegt. Erfahrungen zeigen, daß es dabei Tote geben könnte, vor allem, da die Gefangenen der FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez) angekündigt haben, mit allen Mitteln gegen die Verlegung zu kämpfen.

Immer noch wird gefoltert

Chile ist zwar Mitunterzeichner der Anti-Foltererklärung der UNO, doch die Realität sieht anders aus. Die Organisation Politischer Gefangener O.P.P., der Mitglieder der militanten Oppositionsgruppe FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez), der Kommunistischen Partei (P.C.), der Unabhängigen Linken sowie Teile des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) angehören, gab Mitte des Jahres 1993 eine Dokumentation mit dem Titel “Folter in Chile 1990-1993” heraus. Darin berichten 75 politische Gefangene über ihre Behandlung durch die Polizei in genanntem Zeitraum.
Die Ergebnisse der Studie sind erschrekkend. 67 der 75 befragten Befragten geben an, psychisch gefoltert worden zu sein. Größtenteils handelt es sich dabei um (Mord-)Drohungen gegen Familienangehörige. In einigen Fällen waren die Gefangenen sogar dabei, als ihre Familienangehörigen gefoltert wurden oder mußten es mitanhören. Die Gefolterten stehen vor der Wahl, entweder ihre Familie oder ihre MitstreiterInnen “verraten” zu müssen. Gerade unter diesem massiven Druck sind vielfach (falsche) Geständnisse zustande gekommen.
66 Gefangene sagen aus, geschlagen worden zu sein. Dazu zählen unter anderem Fausthiebe, Fußtritte, Ohrfeigen und Schläge mit Gummiknüppeln bei der Festnahme sowie danach. 55 Gefangene geben an, oft tagelang gefesselt gewesen zu sein, sei es mit Augenbinden, Knebel, Aufhängen an den Handgelenken oder Festbinden in unbequemen Positionen! 51 von ihnen wurde Essen, Kleidung, Schlaf, Wasser oder/und hygienische Einrichtungen entzogen. 30 berichten von Folter mit Elektroschocks. Eine weitere vereinzelte auftretende Foltermethode ist herbeigeführte Atemnot – bis hin zu Erstickungsanfällen. In zwei Fällen kam es zu Vergewaltigungen.
Vielfach wurden die Gefangenen unter Folter gezwungen, Geständnisprotokolle zu unterschreiben, ohne sie vorher gelesen zu haben. Oder es wurden einfach Unterschriften auf Blankoblättern erzwungen.
Vorwiegend werden die Folterungen und Mißhandlungen von der uniformierten Polizei begangen, allerdings gibt es auch Klagen gegen die Kriminalpolizei (Investigaciones). Häufig wird in Beschwerden über Folter auch das Dritte Polizeirevier Santiagos (Tercera Comisaria) genannt. Dabei handelt es sich um die Zentrale der DIPOLCAR (Dirección de Inteligencia de la Policía de Carabineros), vermutlich eine Art Nachfolgeorganisation des chilenischem Geheimdienstes CNI. Die DIPOLCAR wurde im Mai 1990 zur Bekämpfung von Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen gegründet.

Die “Inkommunikationshaft”

Als Inkommunikationshaft wird die Zeit direkt nach der Festnahme bezeichnet, in der die (politischen) Gefangenen ohne Kontakt zur Außenwelt stehen. Unter dem Militärregime (und auch unter der Regierung Aylwin) fanden in dieser Zeit die häufigsten Folterungen statt und wurden die meisten Geständnisse erzwungen. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Verurteilung. Bis 1991 enthielt die Strafprozeßordnung (CPP) eine Klausel, die den Militäranklägern erlaubte, die auf höchstens 15 Tage festgeschriebene Inkommunikationshaft, nach Überstellung in ein Gefängnis in einigen Fällen auf bis zu zwei Monaten auszudehnen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 19.047 im Februar 1991 kann heute einE GefangeneR nur noch höchstens 20 Tage in Inkommunikationshaft gehalten werden: 15 Tage in Polizeigewahrsam und 5 weitere Tage nach Überstellung in ein Gefängnis.
Insgesamt soll das Gesetz 19.047 die Sicherheitsgesetze reformieren sowie den Gefangenen mehr Rechte und Schutz garantieren. So sollen Gefangene in Inkommunikationshaft die Möglichkeit haben, täglich bis zu einer halben Stunde Rechtsbeistand zu empfangen sowie von einem/r unabhängigen Arzt/ Ärztin untersucht zu werden. Doch auch dieses Gesetz wird nicht immer beachtet. Menschenrechtsanwälte reichten bei den Behörden Beschwerden darüber ein, daß ihnen von den Carabineros wiederholt der Zugang zu Personen in Polizeigewahrsam verweigert worden sei.
Schreibt (alle) Protestbriefe an: Presidente de la Republica Patricio Aylwin, Palacio de la Moneda, Santiago, Chile.

Entflammte Proteste

In den Wochen und Monaten davor war es bereits in verschiedenen Provinzen des Nordwestens zu Demonstrationen gegen geplante Entlassungen im öffentlichen Sektor gekommen. Die Proteste richteten sich außerdem gegen die niedrigen Löhne und Renten und die monetaristischen Roßkuren der Regierung. Die Provinzregierungen stecken in der Klemme; sie können ihre Ausgaben nur mit Krediten und Vorschüssen der Zentralregierung decken. Diese verlangt aber Kostensenkungen durch Rationalisierung.
Am 9. Dezember hatten die Gewerkschaften der Staatsangestellten und DozentInnen in La Rioja gegen die geplante Entlassung von mehr als 6.000 Angestellten aus dem öffentlichen Dienst demonstriert. In La Rioja, wo Menem früher Gouverneur war, ist 90 Prozent der aktiven Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt. Insgesamt sind das 54.000 Personen, davon 33.000 ohne klare Funktion. In La Rioja warfen die DemonstrantInnen Knallfrösche und Kanonenschläge, worauf die Polizei Tränengas einsetzte. Als sich die Demonstration auflöste, wurden ein Behördenfahrzeug und die Tür des Regierungsgebäudes in Brand gesteckt. Das Haus von Carlos Menem wurde mit Steinen beworfen, das seines Bruders, dem Senatsvorsitzenden Eduardo Menem, mit Beschimpfungen besprüht. Die argentinische Tageszeitung Pagina/12 titelte am 10. Dezember: “La Rioja brodelt”.

La Rioja brodelt –
Santiago brennt

In Santiago del Estero hatte bereits am 10. Dezember eine friedliche Demonstration stattgefunden, deren Forderungen – Zahlung der ausstehenden Gehälter, Rücknahme der angekündigten Entlassungen, Bekämpfung der Korruption – unerfüllt geblieben waren. Die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE (Asociación de Trabajadores del Estado), die dem oppositionellen Gewerkschaftsdachverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos) angehört, rief für den 16. Dezember erneut zu einem Protestmarsch auf. Bereits am Mittag hatte die Provinzpolizei bereits ihre gesamte Munition an Tränengas und Gummikugeln verbraucht. Ab Mittag begann dann die heiße Phase der Demonstration: Neben den Regierungs- und Justizgebäuden wurden auch die Villa des Ex-Gouverneurs Iturre und die Privathäuser von weiteren 15 Abgeordneten der regierenden peronistischen Partei (PJ), der oppositionellen Radikalen Partei (UCR) und hoher Justizbeamter geplündert und angezündet. José Zavalía, der Caudillo der UCR in Santiago del Estero und einer der ersten seiner Partei, die Menems Pläne einer Verfassungsreform unterstützen, konnte nur mit der Pistole in der Hand die Plünderung seines Eigenheims verhindern.

Die Korrupten sichern sich ihre Einkommen

Das erste Mal seit Jahren nimmt die internationale Presse eine Demonstration gegen die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und die sich ausbreitende Misere in Argentinien zur Kenntnis. Der Protest brach aus, nachdem die Provinzregierung ihren Angestellten noch Mitte Dezember die Löhne und Gehälter von Oktober schuldete. Zudem kündigte sie eine große Zahl von Entlassungen auf der untersten Gehaltsebene an, die im “Pacto Fiscal” mit der Zentralregierung vereinbart waren. Auf dieser Ebene liegen die Gehälter bei ungefähr 200 Pesos und stellen angesichts fehlender Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft eher eine versteckte Arbeitslosenversicherung dar. Die unvergleichlich höhere Besoldung der höchsten politischen Ämter sollte dagegen unangetastet bleiben. Ein Richter des Berufungsgerichtes der Provinz verdient im Monat 14.000 Pesos – in einem Bundesgericht allerdings “nur” 3.500 Pesos. Das Versprechen des Gouverneurs Fernando Lobo (PJ), diesem Mißstand zu begegnen und als erste Maßnahme sein eigenes Gehalt von 8.000 Pesos zu senken, hatte er mit seinem Amtsantritt vergessen. Lobo trat nach einer tiefen politisch-institutionellen Krise Ende Oktober als Vizegouverneur die Nachfolge des ebenfalls peronistischen Carlos Mujica an. Die Zentralregierung erklärte sich damals bereit, durch Vorabzahlung zukünftiger Steuereinnahmen der Provinzregierung aus der Liquiditätskrise zu helfen. Bedingung war allerdings, daß die Provinz ihre Ausgaben reduziere. Nach knapp zwei Monaten warteten die Provinzangestellten allerdings immer noch auf ihre Gehälter. Als einzige Rationalisierungsmaßnahme drohte einer Vielzahl von ihnen die Entlassung. Das sah ein Gesetz vor das die PeronistInnen gemeinsam Teilen der UCR verabschiedet hatten, “um die Regierbarkeit zu garantieren” und die Intervention der Provinz durch die Zentralregierung zu verhindern.

Santiago del Estero im Abseits

Santiago del Estero ist heute eine der ärmsten Provinzen Argentiniens und ohne wirtschaftliche Perspektiven. Das war nicht immer so: Die gleichnamige Hauptstadt kann mit Stolz von sich behaupten, die erste von den spanischen Eroberern 1553 gegründete Stadt des heutigen Argentiniens zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte sie auch über eine für damalige Verhältnisse weit entwikkelte Textilproduktion. Der örtliche Baumwollanbau versorgte die Küstenprovinzen und Buenos Aires. Die eigenständige Entwicklung der Manufakturen wurde, wie in vielen der Andenprovinzen, mit der Durchsetzung des Agroexportmodells ab 1880 und des damit verbundenen Imports von industriell gefertigten Textilien aus England unterbunden.
Seit der Kolonialzeit waren die einst für die Provinz typischen Quebrachowälder zum Großteil abgeholzt worden und die ehemalig waldige Provinz verwandelte sich auf großen Flächen in eine Wüste. Das heiße und trockene Klima trug zur Versalzung der Böden bei: Landbau und vor allem Viehzucht, Angelpunkte des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells um die Jahrhundertwende, konnten sich in Santiago nicht gewinnbringend entwickeln. So gab es auch keine Grundlage für eine nachfolgende industrielle Entwicklung. Viele Santiageñas/os wanderten in die Städte des Litoral Buenos Aires, Rosario und La Plata ab. Die ländliche Selbstversorgung ging weitgehend verloren. Heute liegt das Bevölkerungswachstum unter dem argentinischen Durchschnitt; aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung sterben 15 von 1.000 Kindern. Auch das Erziehungswesen der Provinz ist miserabel. Wegen der Lehrerstreiks für Gehaltszahlungen fanden im vergangenen Schuljahr nur 52 Unterrichtstage statt. Die niedrigen Weltmarktpreise der Hauptprodukte der Provinz (Baumwolle, Quebracho-Holz, Wein und Oliven) vermindern die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich und führen damit zum Verlust der ohnehin vorwiegend saisonabhängigen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. So überrascht es nicht, daß die Mehrzahl der aktiven Bevölkerung von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst als einziger Möglichkeit eines regelmäßigen Einkommens abhängig ist. Die politische Macht in Santiago del Estero basiert zu einem großen Teil auf Klientelismus, der Stimmen gegen Posten im öffentlichen Dienst tauscht und der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Firmen der Politiker, beispielsweise im Straßenbau.
Diese Pfründewirtschaft wurde am 16. Dezember vor den Augen der Kameras aufgedeckt: Die DemonstrantInnen brachen in die Villen der Politiker und hohen Beamten ein, schleppten Kisten von schottischem Whisky, Champagner und feinsten Weinen ab, probierten italienische Maßanzüge und “erwarben” zum ersten Mal importierte Audio- und Videogeräte.

Erfolgreicher Protest?

Die BundespolitikerInnen reagierten im allgemeinen verständnisvoll auf die kritische soziale Situation in Santiago del Estero und erkannten die Forderungen der DemonstrantInnen an. Allein Menem und Cavallo zeigten Reaktionen, wie sie für die Zeiten der Militärdiktatur typisch waren: Provokateure aus anderen Provinzen oder sogar aus dem Ausland sollten für die Ausschreitungen verantwortlich sein. So versuche angeblich Sendero Luminoso, in Nordargentinien Fuß zu fassen. Die Geheimdienste konnten derartiges aber nicht bestätigen. Presse und OppositionspolitikerInnen vertraten allerdings die Auffassung, der Aufstand sei eine Konsequenz der Anpassungspolitik, so daß Cavallo seine Argumentation schließlich änderte: Schuld am “estallido social” sei die Korruption der LokalpolitikerInnen, die aus persönlichem Interesse die Strukturreformen zu vermeiden trachteten und damit eine Verbesserung der Situation aufhielten.
Die Hauptsorge des Innenministers, Carlos Ruckauf, war das Versagen der Provinzpolizei bei der Aufstandsbekämpfung: Bis zum Tag der Demonstration vom 16. Dezember war nicht einmal klar, ob die Provinzpolizei überhaupt den Befehlen des Gouverneurs folgen würde, da die Provinzregierung auch der Polizei die Gehälter der letzten zwei Monate schuldete. Ruckauf schickte deshalb am Nachmittag des 16. Dezember Grenzschutztruppen zur Unterstützung nach Santiago del Estero. Als Konsequenz dieser Erfahrungen beschäftigt sich das Kabinett derzeit mit der Bildung “schneller Eingreiftruppen” zur Bekämpfung von Aufständen. Nach der staatlichen Intervention hat sich die Situation in Santiago del Estero vorübergehend etwas beruhigt. Juan Schiaretti, ein enger Vertrauter Cavallos erhielt aus dem Staatsetat einen Vorschuß und begann bereits 48 Stunden nach Beginn des Aufstands, die ausstehenden Gehälter zu bezahlen. Da ein Großteil der Akten in Flammen aufgegangen war erhielten alle Angestellten eine feste Summe von 500 Pesos, die RentnerInnen bekamen 300 Pesos. Außerdem wurden Strafverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gegen den Ex-Gouverneur Carlos Mujica und weitere hohe Beamte der Provinzregierung eingeleitet. Das Anpassungsgesetz wurde vorerst ausgesetzt, und die Gehälter der obersten Provinzbeamten sollen auf das Niveau der des Bundesstaates gekürzt werden. Trotzdem gingen am 16. Januar über 2.000 Santiageñas/os auf die Straße, um den “Siestazo”, die zwei freien Tage zu feiern und ihre Forderungen zu wiederholen.

Santiago war nur der Anfang

Aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation vieler nordargentinischer Provinzen könnte es sein, daß die Geschehnisse in Santiago del Estero nur einen vorläufigen Höhepunkt sozialer Aufstände darstellen. Auch im Chaco, in Tucumán, Salta, Catamarca und Jujuy kam es schon zu Protestdemonstrationen gegen die “Anpassungspolitik”. Und der Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Chancen der Provinzen eher noch verschlechtert.
Auch wenn derzeit ausländische Investitionen nach Argentinien fließen, offenbaren sich mit den Ereignissen in Santiago del Estero erneut die Widersprüche des neoliberalen Modells, die Horacio Verbitsky am 26. Dezember in Pagina/12 folgendermaßen beschreibt:
“Sind auch die Brände gelöscht, die Trümmer weggeräumt und die Asche weggekehrt, bleiben doch die grundlegenden Probleme bestehen, denen sich die Regierung Menem gegenübersieht. Die Korruption, die jetzt von allen in Santiago verurteilt wird, ist keine Anomalie, sondern eine Regierungsmethode, und das gilt nicht nur für diese eine Provinz, sondern für das ganze Land. Die mit der politischen Macht verbundenen überzogenen Gehälter und illegalen Geschäfte sind keine Schönheitsfehler des neoliberalen Modells, sondern eine Grundbedingung seiner Existenz. Die Stimmen im Kongreß oder in den Gemeinderäten, die Anwesenheit und sogar die Abwesenheit in den Sitzungen, alles hat einen Tarif, den die Schatzmeister der Regierung zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das erklärt so manchen plötzlichen Meinungsumschwung, wie er notwendig war, um einige äußerst umstrittene Gesetze wie die Privatisierung des Rentensystems zu verabschieden. (…) Die Korruption ist der Preis, den man den leitenden Parteipolitikern zahlen muß, damit sie ihren Überzeugungen, für die sie und ihre Partei gewählt wurden, abschwören und genau das Gegenteil tun. Wenn der “Bruder Eduardo” (Eduardo Menem) und die anderen Abgeordneten von ihrer Arbeit leben müßten, hätten sie Blei in den Armen und würden kaum ihre Hand heben, um ihre Stimme zugunsten der Übereinkünfte der Regierung mit den “Grupos Económicos” abzugeben. Die Korruptionsbekämpfung ist an sich gesund, denn sie dient tendenziell dazu, die Gesellschaft mit ihren Repräsentanten zu versöhnen. Aber das neoliberale Modell erlaubt dies bloß in einem sehr begrenzten und effektheischenden Rahmen, denn eine tiefgehende Bekämpfung dieses Übels würde die Grundlagen des Modells selbst in Frage stellen.”

Mit der Machete gegen die Korruption

Am 28. November entschieden die HonduranerInnen über den Präsidenten, drei Vizepräsidenten, 128 Parlamentsabgeordnete, 291 BürgermeisterInnen sowie – ein Novum – 20 Abgeordnete für das Zentralamerikanische Parlament. Die PL mit dem 67jährigen Reina an der Spitze gewann die Wahlen mit 53 Prozent der Stimmen und wird mit 71 von 128 Parlamentssitzen über eine sichere Mehrheit verfügen. Der 46jährige Ramos Soto von der PN konnte dagegen nur 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Auch bei den Kommunalwahlen lagen die Liberalen vorn. Auf die KandidatInnen der traditionell schwachen kleinen Parteien entfielen nur wenige Prozente. Somit setzt sich die honduranische Tradition des “Bipartidismo” fort. Bei einer für Honduras geringen Wahlbeteiligung von 60 Prozent waren aber die NichtwählerInnen die größte Gruppe. Die am Vorabend der Wahl getroffene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, denjenigen BürgerInnen, die nicht in die amtlichen WählerInnenlisten eingetragen waren, die Stimmabgabe zu verweigern, verwehrte etwa 200.000 AnhängerInnen der Oppositionsparteien die Teilnahme. Häufig schafft es die marginalisierte Landbevölkerung nicht, auf die WählerInnenlisten zu gelangen, da hierfür gültige Dokumente, Zeit und Geschick im Umgang mit der Bürokratie erforderlich sind.

Eine schmutzige Kampagne

Honduras verfügt nicht gerade über die sauberste Wahltradition. Bei den letzten Wahlen 1989 gelang die illegale Registrierung von damals 100.000 im Lande lebenden Flüchtlingen und Contras aus El Salvador und Nicaragua. Diesmal behauptet das nationale Wahlgericht jedoch, die WählerInnenregister seien, unter Mitwirkung von 119 BeobachterInnen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), sorgfältig von Verstorbenen, Minderjährigen, DoppelgängerInnen, Fiktivpersonen und (nicht wahlberechtigten) Militärs bereinigt worden. Wenn damit die Wahlpraxis auch verbessert wurde, wird es jedoch noch immer, zumindest auf dem Land, Stimmenkauf und Stimmdruck gegeben haben.
BeobachterInnen sprechen vom schmutzigsten und teuersten Wahlkampf in der jüngeren Geschichte des Landes. So sollen die PN und PL zusammen 28 Mio. US-Dollar für den Wahlkampf ausgegeben haben. Statt Sachfragen zu diskutieren, hätten die Kandidaten vorwiegend Beleidigungen ausgetauscht. Ramos nannte Reina einen Kommunisten, der die Kirchen schließen und ein marxistisches Regime errichten wolle. Der Beleg: Ein Foto aus dem Jahre 1960, auf dem Reinas Bruder zusammen mit Che Guevara zu erkennen ist. Reina dagegen konterte, Ramos sei ein korrupter Vertreter der extremen Rechten; er sei bereit, mit dem Teufel zu paktieren und Honduras in die Zeit der Todesschwadrone zurückzuversetzen. Ramos war tatsächlich in den Jahren, als diverse StudentenführerInnen und GewerkschafterInnen spurlos verschwanden, Rektor der Nationaluniversität von Tegucigalpa und gehörte, wie Ex-Präsident Callejas der seit 1983 verbotenen rechtsradikalen “Asociación para el Progreso de Honduras” (APROH) an, die zusammen mit den Militärs Anfang der 80er Jahre den “schmutzigen Krieg” gegen die Bevölkerung initiierte. Obwohl verschiedene Seiten gefordert hatten, die Verschwundenen der 80er Jahre nicht zum Wahlkampfthema zu machen, begann eine makabre Aufrechnung nach dem Motto: “Während in unserer Regierungszeit ‘nur’ 50 Linke abgeschlachtet wurden, waren es bei Euch 100”.
Noch kurz vor der Wahl kam es zu einer Krise, weil sich beide großen Parteien gegenseitig verschiedener Fehler bei der Volkszählung bezichtigten. Trotz der Furcht vor gewalttätigen Zwischenfällen verlief der Wahltag dann aber ruhig. Nur in der “boom town” San Pedro Sula im Norden des Landes detonierten zwei Sprengsätze. Immerhin wurde die Hälfte der insgesamt 27.000 honduranischen Soldaten eingesetzt, um einen ordnungsgemäßen Verlauf der Wahlen zu garantieren.

Keine Chance für kleine Parteien

Die sozialdemokratische Reformpartei PINU (Partido de Innovación Nacional y Unidad) und die christdemokratische PDC (Partido Demócrata Cristiano) wurden vor etwa 20 Jahren als Protestbewegungen gegen das Duopol von Nationalen und Liberalen gegründet. Die PINU kommt aus der intellektuellen Mittelschicht, während die PDC vor allem Unterstützung aus der Bauernbewegung erhält. Beide Parteien haben jedoch keine große Basis und erreichen zusammen kaum mehr als 5 Prozent der Stimmen. Sie haben dem Interessenfilz und der erprobten Organisation der beiden Traditionsparteien wenig entgegenzusetzen und sind eher intellektuelle “pressure groups” als ein Machtfaktor. Dies gilt noch mehr für die Partido Comunista de Honduras (PCH), die Partido Comunista Marxista-Leninista und die Partido Socialista (PASO). Diese Parteien kommen zusammen auf kaum mehr als ein Prozent der Stimmen. Nachteilig für die kleinen Parteien wirkt sich auch die Regelung aus, nach der Präsident und Parlamentsabgeordnete mit einer Einheitsstimme gewählt werden. SozialreformerInnen und linke Kräfte haben sich in Honduras historisch eher in Interessengruppen als in Parteien organisiert.
Auch die Gründung neuer Parteien ist schwierig: So sind eine Reihe rechtlicher Formalitäten erforderlich, die Kosten von etwa 130.000 US-Dollar verursachen.

Ex-RebellInnen gründeten politische Partei

Das Parlament verabschiedete Ende September ein Gesetz, das der von ehemaligen linken Rebellengruppen gebildeten Partei der Demokratischen Vereinigung (PUD) die offzielle Registrierung ohne die üblichen aufwendigen Formalitäten ermöglichte. Die regierungskritische Tageszeitung “El Tiempo” wertete dies als außergewöhnliche Öffnung, die nur dank des Zerfalls der kommunistischen Welt möglich sei. Diese Partei schaffe Raum für Intellektuelle und Anhänger sozialistischer Ideen. Die PUD darf allerdings erst 1997 an den allgemeinen Wahlen teilnehmen. Schon vor zwei Jahren hatten sich die Guerilleros von den Volksbefreiungsbewegungen “Cinchoneros” und “Lorenzo Zelaya” vom bewaffneten Kampf losgesagt. Die Regierung Callejas verzichtete im Gegenzug auf eine strafrechtliche Verfolgung der etwa 300 aus dem Exil in Kuba und Nicaragua zurückgekehrten Rebellen. 1982 gelang den “Cinchoneros” mit der Geiselnahme von 100 Industriellen in einem Hotel in San Pedro Sula die spektakulärste Aktion, die mit Lösegeldzahlung und Freiflug nach Havanna endete.

El Presidente

Reina ist schon seit Mitte der 60er Jahre Führungspersönlichkeit des linken Parteiflügels, der Liberalen Volksallianz ALIPO. “Unter uns Liberalen sind die Kämpfe oft härter als mit den Konservativen”, klagte Reina im Wahlkampf 1985, als er wieder einmal Spitzenkandidat seiner Partei werden wollte. Tatsächlich wurde die ALIPO häufig innerparteilich ausmanövriert, 1984 sogar durch Manipulation unter konservative Führung gebracht, was Reina veranlaßte, ALIPO zu verlassen und eine neue Faktion, die radikalere sozialdemokratische M-LIDER zu gründen. Diese forderte unter anderem den Rückzug Honduras aus den regionalen Kriegsvorbereitungen, die Revision des alten Bündnispaktes mit den USA und die Rücknahme der Steuergeschenke an die Multis, die weite Teile der honduranischen Wirtschaft kontrollieren.
1993 war Reina endlich der unbestrittene Kandidat der Liberalen. Der angesehene Jurist und Universitätslehrer, der in London und Paris studiert hatte, war schon Ende der 50er Jahre stellvertretender Außenminister von Honduras und in den frühen 60er Jahren Botschafter in Frankreich. Während der Militärdiktatur saß er mehrfach im Gefängnis. Im Zeitraum von 1979 bis 1985 war er zunächst Richter, dann Vorsitzender des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte in San José. 1992 agierte er als honduranischer Vertreter beim Rechtstreit mit El Salvador vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Beide Staaten beanspruchten Grenzgebiete (“bolsones”) die nach dem Urteil des Gerichtshofes weitgehend Honduras zugesprochen wurden.

Das Volk an die Macht?

Reina bestritt den Wahlkampf mit den Losungen “Das Volk an die Macht” und “Es ist Zeit für eine moralische Revolution”. Er versprach, vor allem die Korruption im Lande zu bekämpfen. “Keine Schurken mehr in die öffentliche Verwaltung!” rief er der jubelnden Menge zu. “Wenn Ihr einen diebischen Beamten kennt, laßt es mich wissen. Ich habe eine Machete, um ihm die Finger abzuschneiden”. Reina kündigte an, einen Ehrenkodex für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten einzuführen und die Schlüsselinstitutionen wie Justiz und Wahlorgane moralischer zu gestalten. So solle der Wahlzensus gründlich erneuert und das Wahlgericht reformiert werden – er werde keinen Haushaltsposten “Geheimes” dulden. Weiter sagte er, Honduras solle ein “demokratischer Leuchtturm” werden, an dem sich Zentralamerika ausrichten solle. Als Vorbild für Demokratie und Entwicklung nannte er Costa Rica.
Für die armen Bevölkerungsschichten versprach er Sozialprogramme (besonders für Gesundheit und Bildung), “die viel Geld kosten werden”. Das unter Callejas begonnene Projekt des neoliberalen Umbaus will Reina fortsetzen.
Der obligatorische Wehrdienst soll abgeschafft, der Verteidigungshaushalt gekürzt werden und die Kontrolle der Polizei in zivile Hände übergehen – die Reformen sollen aber in Übereinkunft mit den Militärs getroffen werden. Außerdem will Reina den Drogenschmuggel bekämpfen und den Tourismus vorantreiben.

Ein Blick zurück

Nach zwei Jahrzehnten Militärherrschaft wurde 1980 mit der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung ein Prozeß der Redemokratisierung in Gang gesetzt. Die beiden seitdem abwechselnd regierenden großen Parteien entstammen der Oligarchie. Dennoch lassen sich ihre Programme nicht klar definierten Interessen zuordnen, und in beiden Parteien finden sich Vertreter aller sozialer Gruppen, die vom wirtschaftlichen und sozialen status quo profitieren. Im Gegensatz zur PN stand jedoch die PL der Armee traditionsgemäß distanziert gegenüber und ihr Meinungsspektrum war etwas breiter.
Der nach langer Zeit erste frei gewählte Präsident Suazo Córdova vom rechten Flügel der PL (1981 bis 1985) teilte sich die Macht in Wirklichkeit mit Reagans Botschafter und dem Armeechef. Der US-Botschafter gab häufig Regierungsentscheidungen bekannt, bevor sie überhaupt getroffen worden waren. In dieser Zeit wurde Honduras im Zusammenhang mit den Konflikten in Nicaragua und El Salvador zum Flugzeugträger der USA ausgebaut. Auch das Regierungsprogramm von Präsident Ascona (1986-1989), ebenfalls von der PL, wurde von Washington bestimmt. Durch politisch motivierte Zahlungen aus Washington wurde die ökonomische Schieflage Honduras über einen langen Zeitraum kaschiert: Rund 200 Mio. US-Dollar$, genau der Betrag, der den Staatshaushalt auszugleichen vermochte, flossen Jahr für Jahr ins Land. Als das Interesse der USA an der Region abnahm, und sie ihre Zahlungen drastisch reduzierten, wurde der wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Auslandsverschuldung deutlich. Weite Bevölkerungsteile stellten daher Heilserwartungen an den stets lächelnden und als Reaganomic bekannten Kandidaten der PN, Callejas, dem sie 1989 zum triumphalen Wahlsieg verhalfen. Mit dieser sicheren Mehrheit versuchte Callejas, ein von Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank (BID) formuliertes wirtschaftliches Strukturanpassungsprogramm durchzusetzen.

Hungern für die Schuldenrückzahlung

Callejas “paquetazo” erzielte zwar ansatzweise die erwünschte Stabilisierung: Sanierung der Staatsfinanzen und der Auslandsschulden. Jedoch nur durch eine Abwertung der Währung, Preissteigerungen und erhöhte Arbeitslosigkeit. Ein nachhaltiger Wirtschaftsaufschwung blieb aus. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit 1991 etwas stärker anwächst als die Bevölkerung, dümpelt das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen der rund 5,4 Mio. HonduranerInnen noch immer bei 660 US-Dollar vor sich hin und ist damit neben dem Nicaraguas und Haitis das niedrigste der westlichen Hemisphäre. Während die Produktion für den Binnenmarkt zurückging, sprießen die für die USA produzierenden Maquiladora-Industrien wie Pilze aus dem Boden. Bis 1995 werden hier mehr Arbeitsplätze vorhanden sein als in den traditionellen Industriesektoren Honduras’. Auch die Exporte können seit 1990 infolge der niedrigen Weltmarktrohstoffpreise die magische Zahl von jährlich 800 Mio. US-Dollar nicht mehr deutlich überschreiten, schon gar nicht seit Einführung der hohen EU-Zölle für “Dollarbananen”, von denen Honduras traditionell einen Löwenanteil lieferte. Dieser Beschluß bedeutet für Honduras voraussichtlich einen Verlust von 200 Mio. US-Dollar und 14.000 festen Arbeitsplätzen in drei Jahren. Die Kosten für die Strukturanpassung sind hoch: Nach Zahlen der Vereinten Nationen gelten 72 Prozent der Bevölkerung als arm und verelendet. Über 60 Prozent der Erwerbspersonen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Auch weite Teile der Mittelschichten fallen in die Armut zurück. Hunger ist mittlerweile weit verbreitet. Immer häufiger werden völlig unterernährte Kinder in Krankenhäuser eingeliefert. Das Modernisierungsprogramm für die Landwirtschaft führt zur Aufgabe der Agrarreform und zur Reprivatisierung der Wälder. Fast ein Drittel der honduranischen Bevölkerung ist von Vertreibung und Verlust ihrer Subsistenzgrundlage bedroht. Den Großgrundbesitzern ist dagegen ein Waldvermögen von ca. 3 Mrd. US-Dollar in die Hände gefallen. Skandalös ist das Verhalten der Weltbank, die ganz offen eine “unfreiwillige Umsiedlung” der Bevölkerung aus den in Wert zu setzenden Waldgebieten forderte.
Warum kam es nicht zu breiteren Aufständen gegen dieses Programm? Geschickt förderte die Regierung regierungsfreundliche Parallelstrukturen in Gewerkschaften und Interessenverbänden – die Organisationen wurden unterwandert und bespitzelt, und teilweise wurden ihre Vorsitzenden aus den Ämtern manipuliert. Länger andauernde Streiks wurden mit militärischer Gewalt beendet. Weiterhin wurde versucht, den gravierendsten sozialen Problemen mit nur kurzfristig wirkenden Hilfsprogrammen entgegenzutreten.
Der wachsende Unmut der Unter- und Mittelschichten, die Kritik von UnternehmerInnen an einer Schwächung der Binnennachfrage und die Sorge der Militärs um ihren Machterhalt brachten die Callejas-Regierung zum Ende ihrer Amtszeit jedoch in arge Bedrängnis.

Unlösbare Aufgaben für die neue Regierung

Die wirtschaftliche Ausgangslage für die neue Regierung ist schlecht: Wie in Lateinamerika üblich, sind in Honduras aus taktischen Gründen in den Monaten vor den Wahlen die Preise mit Hilfe von Subventionen und der Ausgabe von hochverzinsten Staatspapieren künstlich tief gehalten worden. Nach den Wahlen ist ein umso größerer Teuerungsschub zu erwarten. Das Budgetdefizit liegt wieder bei fünf Prozent.
Das Militär hat die Macht nie wirklich aus der Hand gegeben hat. Daher ist kaum zu erwarten, daß die Militärs die angekündigte politische und finanzielle Schwächung hinnehmen. Eine soziale Abfederung der Strukturanpassung ist unter den herrschenden Weltmarktbedingungen nur über die Aufnahme neuer Kredite finanzierbar – das will aber niemand. Also bleibt die Notwendigkeit einer enormen sozialen Umverteilung. Daran hat sich aber in der Geschichte des Landes bisher noch niemand gewagt. Abzuwarten bleibt, wie stark Reinas Rückhalt in der eigenen Partei ist und welche programmatischen Zugeständnisse er dem konservativen Flügel vor seiner Nominierung machen mußte. Zumindest besteht Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung.

Ein Austausch von Gefälligkeiten

LN: Rodolfo Enrique Fogwill – Schriftsteller und Soziologe. Würdest Du Dich in erster Linie als Soziologe, Dichter oder Romancier bezeichnen?
Fogwill: Ich war lange Zeit Soziologe, bin es aber seit rund fünfzehn Jahren nicht mehr. Ich würde mich auch nicht als Poet oder Romancier bezeichnen. Ich mache beides, außerdem schreibe ich noch Essays und Erzählungen. Ich sehe mich vor allem als “Arbeiter des Wortes”.

Wenn man einmal Soziologe ist, ist man es dann nicht immer?
Nein, sowas verlernt man. Wenn man aufhört, die “Technik” der Soziologie anzuwenden, erinnert man sich zwar später an diese “Technik”, aber ihr Geist geht verloren. Und ich versuche, den Technik-Geist abzuwerfen. Ich glaube nämlich, daß man von dem Fachgebiet der Kommunikation unweigerlich ins Marketing abrutscht. Und damit in ein instrumentalisiertes Konzept der menschlichen Beziehungen. Durch die literarische Praxis kann ich das vermeiden, mich von der Vorstellung der Kausalität menschlicher Beziehungen befreien.

Wenn ich trotzdem noch mal Deine soziologische Vergangenheit heraufbeschwören darf: Welchen Stellenwert hat Deiner Meinung nach das Buch im Prozeß der sozialen Kommunikation?
Das ist natürlich sehr komplex, aber das Buch ist für mich schon eine Verzerrung des eigentlich Literarischen. Das Literarische hat in meinen Augen viel mit Geselligkeit zu tun. Durch Verführung ist soziales Leben zu erzeugen, besonders durch die Verführung von Kindern. Poesie, Erzählung und Roman haben ihre Wurzeln in den Erzählungen der Großeltern und der Eltern. Ich glaube, an diesem Punkt entsteht Literatur. Sie findet ihre gesellschaftliche Verwirklichung im Ritual, im Witze-Erzählen, in Gerüchten, Erzählungen, volkstümlichen Geschichten, Anekdoten. Dort ist Literatur genauso wie im Epischen; in der griechischen Vers-Epik. Das Buch eröffnet den Raum für das Gekünstelte, Technisierte, wo sich dieses andere Element allmählich verliert.

Du hast bisher nur von oraler Literatur gesprochen …
Das sind zwei dialektische Momente. Das eine ist die Entstehung der Schrift, wo der Mensch zu ersten Mal die Wörter sieht. Noch die griechischen Klassiker schrieben ohne Unterteilung in Worte. Sie schrieben in Lautketten. Die Erscheinung des geschriebenen Wortes bringt das Bewußtsein der Grammatik und des Wortes mit sich, Sachen die in der Sprache besser unbewußt funktionieren. Die Sprache ist wesentlich veränderbarer, wenn man die Grammatik nicht kennt. Der enorme Druck der Schrift ist der erste Schritt in die Digitalisierung der Sprache. Es ist ein sehr großer Sprung, vielleicht genauso groß wie der zweite Sprung, die Erfindung der Duckerpresse. Mit der Druckerpresse entsteht das stille Lesen. Und das Buch als Ware. Vorher war es viel wertvoller, aber eben kein Gegenstand des Marktes, es war ein Gegenstand des persönlichen Austauschs. Und wenn es Gegenstand des Handels war, so doch nicht des industriellen Marktes. Welchen Unterschied gibt es zwischen jemand, der über das, was er hört, nachdenkt und jemand, der über das, was er liest, nachdenkt? Und wie weit sind beide von jenen entfernt, die sich Gedanken über Produktion und Vertrieb machen?

Hat das Buch heute noch eine gesellschaftliche oder politische Funktion?
Schon, allerdings weniger als Buch. Das Buch ist ein Ritual, die Veröffentlichung eines Buches ist ein Ritual, verbunden mit dem Heiligsprechen der Figur des Schriftstellers. Hier beginnt die öffentliche Figur, die soziale Rolle des Schriftstellers. Dabei kommt es nicht darauf an, was in dem Buch steht, sondern einzig darauf, daß es institutionalisiert ist. Wenn Dein Buch von der Kultur akzeptiert ist, erscheint Dein Foto in der Zeitung und vielleicht kommst Du sogar ins Fernsehen. Und von da an hast Du, als öfffentliche Person, Einfluß. Egal, ob jemand deine Bücher liest, oder nicht. In Deutschland wird es nicht anders sein …

In der ersten Erzählung von Deinem Buch “Pájaros de la cabeza”, sagt der Protagonist, Alberto Marzó etwas in der Art wie “..Die Bosse arbeiten für ihre Ideen, wir dagegen arbeiten für Geld ..”
Genau. Und weißt Du auch, wer die Bosse sind? Nur sehr wenige haben es begriffen. Alberto Marzó ist ein Geheimdienstagent … Es gibt in der Erzählung nur zwei Hinweise: Zum einen das, was Du angesprochen hast, zum anderen, daß Marzó ein Maschinengewehr im Schreibtisch seines Büros hat. Eine Uzi. Die Erzählung ist aus dem Jahre 1981 oder 1982. Der Protagonist, der einen Porsche fährt, nimmt den Yuppie vorweg, er ist ein Yuppie. Und die Yuppies waren damals die Geheimdienstagenten.

Und Du, für was schreibst Du?
Für die Idee. Fürs Geld ganz bestimmt nicht. Ich schreibe immer gegen etwas, nie dafür. Für mich gibt es kein leeres Blatt Papier. Ich sehe darin immer einen Feind, keine Leere. Es ist eine Fülle von Bedeutungen, die mir mißfällt. Ich schreibe gegen diese Bedeutungen. Für die Idee. Was ist die Idee, wenn einer die Fünfzig erreicht hat? Oder die Vierzig und denkt, das ihm nicht mehr viel Zeit bleibt? Als ich damals diese Erzählung schrieb, dachte ich, es wäre bald vorbei. Ich glaubte, ich wäre verloren. Sagen wir, die Idee ist die Kontinuität des Bewußtseins in der Zeit, die durch die Kinder weitergetragen wird.. Die “Idee” in Anführungszeichen. Die Idee ist der Sinn, den man dem gesellschaftlichen Sinn entgegensetzen möchte. Kapriziös, etwas, was man sich ausgedacht hat. Aber gleichzeitig ist es auch das, was in den Köpfen der Söhne und Töchter bleibt. Ich habe drei Kinder und es wäre niederschmetternd, wenn sie nicht genauso fühlten wie ich. Mit den gleichen Abneigungen, den gleichen Empfindungen.

Kultur als Substitut

Vor einigen Jahren gab es in Buenos Aires ein ausgeprägtes literarisches und kulturelles Leben, mit Gesprächsrunden, Literaturzeitschriften, Buchhandlungen, die bis zum frühen Morgen geöffnet hatten, fast täglich Veranstaltungen im Kulturzentrum San Martín,..
Das ist alles künstlich – eine doppelte Maskerade und ein verlogenes Publikum. Auf der einen Seite ist da der Staat, der diese falsche Kunst finanziert und vorgibt, an der Kultur teilzunehmen. Und auf der anderen Seite die Leute, die durch ihre Beteiligung an der Kultur ebenfalls vorgeben, sie zu beeinflussen, obwohl sie sich eigentlich nur am gesellschaftlichen Leben beteiligen. An einem alternativen gesellschaftlichen Leben in dem Sinn, wie ihr “alternativ” gebraucht. Für mich hat das etwas von Substituieren. Ich meine, anstatt wirkliche Macht anzustreben oder wirkliche Lust, finden sie vermittelte Beteiligung an der Macht und eine metaphorische Variante der Lust. Ich glaube, im Kapitalismus bedeuten einzig Akkumulieren, Konsumieren und Dominieren Lust und Vergnügen. Und das kulturelle Leben ist ein kleines Modell dieser Akkumulation: .. ich habe diesen Film schon gesehen, jenes Buch bereits gekauft, und so weiter. Und natürlich eine bestimmte Form der Herrschaft, sozusagen im kleinen, die sich bei jenen, die die Öffentlichkeit darstellen, herausbildet.

Kulturpolitik versus Kunstgenuß

Mach es Dir einmal bewußt: Argentinien ist ein viel weniger religiöses Land als Deutschland. In Deutschland liegt Religion in der Luft. Alle deutschen Frauen huldigen der Natur, der ökologischen Ordnung, den Bäumen und Pflanzen. Warum trägst Du keine Klamotten aus Synthetik? Ihr huldigt der Kleidung, den Werten der Vergangenheit, der Arbeit. Religiosität ist in Deutschland viel lebendiger. Argentinien ist ein weltliches Land. Eine Argentinierin könnte genauso angezogen sein wie Du, allerdings hätte es bei ihr nichts Kulthaftes. Hier hat alles seine religiöse Ordnung. Wenn ihr hier davon redet, in die Berge zu fahren, oder an den See, kommt dabei der ganze Pantheismus durch, der deutsche Romantizismus. Für die Leute aus Buenos Aires hat die Natur ausschließlich touristischen und industrialisierten Charakter. Man findet keinen Strand ohne Sonnenschirme, Coca-Cola, Sauna, Prostitution und Musik. Für die Argentinier existiert die Natur nicht – ich meine, dort gibt es quasi keine Religiosität. Hier gibt es eine ausgeprägte Religiosität in den gesellschaftlichen Beziehungen. Und deshalb nehmen die Deutschen viel intensiver an der Kultur teil. Mir kommen sie reichlich naiv und auch dumm vor, aber sie sind viel eher in der Lage, Kunst zu genießen. Die Argentinier sind wesentlich subtiler, intelligenter und auch gekünstelter in ihrem Geschmack. In Argentinien gibt es keine Möglichkeit des naiven Konsums von Kunst. In Deutschland dagegen ist der Konsum von Kunst immer spontan und unbeschwert.

Und weshalb ist den Argentiniern dieser “naive” Genuß verwehrt?
Ich glaube, das ist eine Sache der Tradition. Argentinien ist das Land mit der vielleicht am weitesten entwickelten Kultur, was die gesellschaftliche Unterdrükkung durch die Kultur betrifft. Denn in Argentinien ist die Kultur eine Verteidigungsmaschine gegen die Einwanderung. Die Kultur trennte zu Beginn des Jahrhunderts den “wahren” Argentinier von den restlichen 70 Prozent, die nicht richtig argentinisch sprachen, weil sie aus Spanien, Italien, Deutschland oder Rußland kamen. Ich will damit sagen, in Argentinien ist die Kultur viel eher ein Mittel der Ausgrenzung, der Unterscheidung – so wie gute Kleidung … Hier ist es genau umgekehrt. Die Berliner verfolgen eine Politik der Schmeichelei, der Aufnahme der Einwanderer, (natürlich nicht alle, einige verbrennen sie auch …) weil sie sich ihrer Identität sehr sicher sind. Ihr hier in Deutschland könnt auf zweitausend Jahre zurückblicken. Die Argentinier, die seit fünfzig Jahren im Land waren, mußten sich von jenen abgrenzen, die erst seit zehn Jahren da waren. Die dritte Generation von Türken hier in Deutschland sind immer noch Türken, die zweite Generation von Polen in Argentinien sind bereits Argentinier. Also sind Kunst und Kultur bei uns Objekte der gesellschaftlichen Unterscheidung, sie hat eine ganz andere Funktion, als hier …

Was die Kulturpolitik betrifft. Unterscheidet sich das kulturelle Leben unter Menem von dem unter Alfonsín?
Nein, denn es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen Alfonsín und Menem. Ich glaube, was die Rolle des Staates betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen der Militärdiktatur und der heutigen Regierung. Die Leute, die unter den Militärs über die Kultur bestimmten, waren dieselben wie unter Alfonsín, mit anderen Vorzeichen, mit anderen Erscheinungsformen und es sind dieselben, die heute noch die Fäden in der Hand haben, dieselben Leute, dieselben Namen sogar.

Mehr Politik als Kultur

Ist denn auch die literarische Produktion, der literarische Diskurs gleich geblieben? Während der Diktatur gab es doch noch die sogenannte engagierte Literatur …
Das war viel früher, in den 60er Jahren. Aber als die Diktatur fiel, als die Regierung Alfonsín an die Macht kam, regte die Bourgeoisie, dieselben, die sich während der Diktatur bereichert hatten, die Künstler dazu an, Zeugnisliteratur über die Repression zu schreiben. So sollte das Bild der Militärregierung modifiziert werden. Es sollte nachher so aussehen, als sei die Militärregierung eine Regierung von Mördern und Sadisten gewesen. Aber so war es nicht, denn die Regierung war eine Allianz zwischen der Bourgeoisie und den Nordamerikanern. Sie töteten nicht etwa aus sexueller Perversion. Sie töteten, um die wirtschaftliche Reorganisierung durchzuführen, und indem sie den Mythos der Folter ins Leben riefen, von Frauen, denen eine Brust abgeschnitten wurde,- der vergewaltigten Kinder, natürlich gab es das auch – wie in jedem Krieg, aber mit diesem Mythos verschleierten sie die Tatsache, daß es in Argentinien einen riesigen Einkommens- und Eigentumstransfer gab. Die Klassenstruktur wurde total verändert. Die Gehälter sanken drastisch. Aber ich habe schon vorher daüber geschrieben. In meinem Buch “El efecto de realidad” habe ich 1978 ein Gedicht über die Verschwundenen geschrieben. Dort heißt es fast wörtlich, daß die Verschwundenen in Wirklichkeit die Schöpfung einer literarischen Persönlichkeit sind, die bald auf den Büchermarkt geworfen würde. Das war bereits 1978. Deshalb war es für mich so schmerzhaft, als ich 1983 entdeckte, was da passierte. Es wäre mir natürlich lieber gewesen, ich hätte mich geirrt. Der ganze Lärm von wegen argentinischem Faschismus und so – mit dem deutschen Nationalsozialismus beispielsweise war das in keiner Weise vergleichbar. Jedenfalls wurde dadurch der klassenkämpferische Charakter des Prozesses verdunkelt.
Genau wie die Sache mit Menems Ferrari, mit seinen Luxusprostituierten, seinen Perücken und plastischen Operationen. Sie sind Teil so einer Art Folklore, die das Eigentliche des Menemismus verschleiert. Für diejenigen, die die Repression der Militärs am eigenen Leib gespürt haben, ist das vielleicht noch schmerzlicher. Natürlich waren das verrückte Militärs, die in einer Provinz die euklidische Geometrie verboten hatten. In Córdoba wurde der Unterricht in Topologie verboten, weil die moderne Mathematik angeblich antiaristotelisch und somit antichristlich, also marxistisch war. Doch das war eigentlich nur Folklore. Das, was in Córdoba wirklich passierte, ist, daß die nationale Automobilindustrie, etwa auf dem Gebiet der “Indústrias Kayser” von “Renault” übernommen wurde. Das mit der Mathematik war Teil der Folklore.
Und jedesmal, wenn Menem eine Wirtschaftsmaßnahme ergreift, eine sehr wichtige Maßnahme, wie beispielsweise die Verfolgung der Arbeiter des informellen Sektors durch die Polizei, oder wenn er mit dem Etat der Rentenversicherung die Schulden an den Internationalen Währungsfonds bezahlt, dann sorgt er mit seinem Ferrari für Furore oder geht auf irgendeine Drogenparty, verstehst Du – das ist Folklore.

Pressefreiheit?

Noch eine Frage zum Thema Repression: Nach unseren Informationen wird auf Journalisten in Argentinien heute wieder starker Druck ausgeübt (vgl. LN 235). Wie schätzt Du die Pressefreiheit dort ein?
Argentinien ist ein repressiver Staat, jeder Staat ist repressiv. Auf dem Gebiet der Kultur sind die Grenzen abgesteckt. Der herrschende Block hat sich etabliert und es droht keine Gefahr für die Ordnung. Auf dem Gebiet des Journalismus ist die Schlacht noch nicht geschlagen. Ich meine damit die Schlacht verschiedener Bereiche innerhalb derselben Klasse. Insbesondere hat sich noch nicht herauskristallisiert, welche Wirtschaftsgruppe den Staat, die Industrie, den Finanzmarkt und die Presse gleichzeitig beherrscht. Es handelt sich dabei immer um dieselben Gruppen, die alles dominieren. Also gibt es Konflikte. Und ich glaube, die Position des Staates ist es, den Konflikt zu beseitigen, jedenfalls dort, wo er die Möglichkeit dazu hat, also bei allem, was mit Korruption zu tun hat, mit dem Unternehmensbereich, der dem Staat das Geld klaut und schon stark mit dem Drogenhandel verknüpft ist. Ich würde nicht ausschließen, daß alle Fälle, in denen Journalisten dieser Repression ausgesetzt sind, mit Erpressung und der Kritik an Korruption und Drogenhandel zu tun haben. Auf allen anderen Gebieten herrscht Pressefreiheit. Aber diese Punkte sind sehr heikel. Um dem Staat auf diesen Gebieten die Stirn zu bieten, muß man schon eine starke Lobby haben, das heißt, man braucht die Unterstützung der Nordamerikaner, beispielsweise der nordamerikanischen Botschaft. Ein einzelner Argentinier, der sich hier entgegenstellt? Erst einmal wird es niemand veröffentlichen, und wenn es doch veröffentlicht wird, kann es sein, daß er stirbt. Es handelt sich um eine Mafia. Dabei geht es um 20 Milliarden Dollar pro Jahr, das ist viel Geld …

Rückzug aus der Öffentlichkeit

Was mich doch zum Schluß noch interessieren würde: Bis Mitte der 80er Jahre bist Du oft zu Diskussionsveranstaltungen gegangen, hast Dich mit anderen Schriftstellern im Café La Paz getroffen und warst immer mit der Aura des enfant terrible umgeben. Dann hast Du Dich aber zurückgezogen. Warum?
Es gab zwei große Ereignisse in meinem Leben, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Ich hatte mir ein großes Publikum aufgebaut. Zwar stimmt es, daß rund 80 Prozent gegen mich waren, aber alle erwarteten irgendwas von mir. Und es war schon fast soweit, daß ich für mein Publikum schrieb. Dabei wollte ich doch für meine Idee schreiben.

Und vorher?
Ich habe immer für meine Idee geschrieben. Aber nach und nach bildete sich dann dieses Publikum, dieser ganze Rummel. Zu allem mußte ich eine Meinung haben – habe ich aber nicht. Also bin ich nicht mehr hingegangen. Nur ab und zu, wenn in der Literaturszene allzuviel intrigiert wird, melde ich mich zu Wort und schreibe Kritiken über junge Autoren.

Veröffentlichst Du weiterhin politische Essays in Zeitungen?
Nein. Früher habe ich das oft getan und sie waren immer politisch. Heute veröffentliche ich nichts mehr in Zeitschriften. Höchstens ab und zu mal eine Reportage und manchmal eben Kritiken. Es hat mir nicht gutgetan, in Zeitschriften und Tageszeitungen zu publizieren.

Warum nicht?
Wie ich schon gesagt habe, weil das, was ich schreibe, die Leute immer sehr provoziert und es bildet sich ein sehr künstliches Publikum heraus. Es existiert eine große Erwartungshaltung mir gegenüber. Ich würde lieber so schreiben, als ob ich als Person gar nicht existierte.

Auf welcher Ebene gibt es einen literarischen, einen intellektuellen Austausch in Buenos Aires?
Das ist nur ein Austausch von kleinen Gefälligkeiten zwischen den Schriftstellern und ihren Freundinnen, die Journalistinnen sind. Die schreiben dann in Literaturbeilagen, oder, wenn sie Geld haben, geben sie zwei, drei Ausgaben einer Zeitschrift heraus, in der dann dein Foto erscheint. Es ist ein Systemzur Aufrechterhaltung von Geselligkeit. Weiter nichts.

R.E. Fogwill: El efecto de realidad (Gedichte, 1979), Las horas de citas (Gedichte, 1980), Mis muertos punk (Erzählungen, 1980), Música japonesa (Erzählungen, 1982), Los Pychy-ciegos (Roman, 1983), Ejercitos imaginarios (Erzählungen, 1983), Pájaros de la cabeza (Erzählungen, 1985), Partes del todo (Gedichte, 1990), La buena nueva (Roman, 1990), Una pálida historia de amor (Roman, 1991), Muchacha punk (Erzählungen, 1992). Auf deutsch erschien die Erzählung “Im Lichtkegel” in: Erkundungen. 21 Erzähler vom Rio de la Plata, hrsg. v. Haus der Kulturen der Welt, Berlin: Volk und Welt GmbH 1993, 24,80 DM

“Der Fall Letelier”

Die Verurteilung des Geheimdienstchefs und seines ehemaligen Operationschefs Espinoza war tagelang zentrales Thema der Medien. Anscheinend hatte kaum je­mand der chilenischen Justiz so etwas noch zugetraut. Der Sohn Leteliers und derzeitige Abgeordnete der “Partei für die Demokratie” (PDD), Juan Pablo Letelier, sprach von “großer Genugtuung, denn es zeigt sich, daß es in Chile unter der De­mokratie Gerechtigkeit geben kann.” Lob und Zustimmung rundum: Das geringe Strafmaß, sieben bzw. sechs Jahre (der Richter hatte eine Art Verjährung, “media prescripción”, berücksichtigt), schien bei der Bewertung durch die Politiker keine Rolle zu spielen. Die Wahrnehmung war reduziert auf die Tatsache, daß der einst fast allmächtige und noch immer einfluß­reiche DINA-Chef überhaupt von einem chilenischen Richter verurteilt worden war. Angesichts der herrschenden Un­rechtslage (Amnestiegesetz!) ist das Ver­brechen an Letelier ohnehin das einzige unter den vermutlich Tausenden, für das Contreras gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Die Auftritte Espinozas und Contreras’ ge­rieten zum Spektakel, als sie zur privaten Verkündung des Urteils vor das Oberste Gericht zitiert wurden: Espinoza, weiter­hin im aktiven Dienst, erschien in Uni­form; Contreras, von 70 Mann des Ge­heimdienstes des Heeres geschützt, er­klärte zuversichtlich, er werde keinen Tag im Gefängnis verbringen.
Inzwischen haben beide Seiten beim Obersten Gericht Berufung eingelegt. Die Schwester des Ermordeten, die Anwältin Fabiola Letelier, teilt die Genugtuung des Sohnes keineswegs und verlangt lebens­lange Haft; die Verurteilten natürlich Frei­spruch (die CIA hätte die Tat begangen), ersatzweise Amnestie.

Das juristische Gestrüpp

Daß der Letelier-Prozeß überhaupt durch­geführt werden konnte, beruht auf zwei ju­ristischen Besonderheiten:
1. In dem berüchtigten Selbstamnestiege­setz der Militärdiktatur wurde das Ver­brechen an Letelier – auf Druck der USA – ausdrücklich ausgenommen (neben anderen Delikten wie Abtrei­bung).
Dieses Zugeständnis an Washington mochte damals risikolos erscheinen, da im schlimmsten Fall das Verfahren eh vor ein Militärgericht gekommen und wie zig andere Prozesse eingestellt worden wäre.
2. Es gelang der Regierung Aylwin, ein Gesetz durchzubringen, das die Einset­zung von Richtern des Obersten Ge­richts als Sonderrichter (ministro en vi­sita) in den Fällen vorsieht, in denen die Beziehungen Chiles zu einer ausländi­schen Regierung betroffen sind.
Durch die erste Regelung führten die Un­tersuchungen auch zu einem Urteil. Die zweite Regelung erlaubte die Einsetzung des Richters Bañados zur Untersuchung des Falles. In ihrer Prozeß-Strategie haben die Verurteilten einmal gegen das Urteil Berufung eingelegt. In einem weiteren Schritt verlangen sie, die Ausklammerung des Falles Letelier aus dem Amnestiege­setz für verfassungswidrig zu erklären. (Juristisch merkwürdig ist eine so spezifi­sche gesetzliche Regelung gewiß.)
Wie wird das Oberste Gericht – vermutlich im März – entscheiden? Der Anmwalt der Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comité de defensa de los derechos hu­manos) Ocampo wagt noch keine Pro­gnose, sieht aber düstere Anzeichen: Das Oberste Landesgericht hatte den Antrag Espinozas, das Verfahren bis zur Klärung der Amnestiefrage ruhen zu lassen, abge­lehnt; wenige Tage später gab es dem gleichen Antrag von Contreras (nach der Urteilsverkündung in der ersten Instanz) statt…

Der Fall Soria

Ein weiteres düsteres Zeichen bedeutet die Entwicklung im “Fall Soria”. Im Jahre 1976 wurde der Spanier Carmelo Soria von der DINA in Santiago ermordet; er arbeitete mit diplomatischem Status für die CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) und hatte Kontakte zur chilenischen KP im Untergrund.
Unter Hinweis auf die Belastung der aus­wärtigen Beziehungen hatte die chileni­sche Regierung (zögerlich genug, wie die Tochter des Ermordeten erklärt) auch hier die Einsetzung eines Sonderrichters ver­langt. Bislang ruht das Verfahren bei der Militärjustiz.
In einer 7:6-Enscheidung hat eine Kam­mer des Obersten Gerichts den Antrag der Regierung abgelehnt – die sieben konnten eine Belastung der Beziehungen nicht er­kennen. Damit darf der Fall weiter bei der Militärjustiz ruhen, die ihn (nicht) verfolgt und auch jede Veröffentlichung darüber in den Medien verhindern kann…
Mit ihrer Ablehnung haben sich die Rich­ter eine eigene Wertung der auswärtigen Beziehungen angemaßt – und somit ihre Kompetenzen überschritten.
Um den Standpunkt der Aylwin-Regie­rung zu stützen, hat die spanische Regie­rung ein Signal gesetzt und ihren Bot­schafter zur Berichterstattung nach Madrid zitiert. Die Regierung wird den Antrag noch einmal stellen.

Kasten:

Punto Final: Ein Urteil mit Vorzügen und Schwächen

In der auf Konsens getrimmten chilenischen Gesellschaft wirkt eine Position wie die von “Punto Final” wie der Rufer in der Wüste; wir zitieren aus dem Beitrag des An­walts Carlos Margotta:
“Der Inhalt des Urteils und der Widerhall darauf bestätigen einen bekannten Aphoris­mus, nach dem Urteile Kinder ihrer Zeit sind. Eine unleugbare politische Bedeutsam­keit hat das Urteil, das der Richter des Obersten Gerichts, Adolfo Bañados, in erster Instanz fällte. Das Urteil ist charakteristisch für den Übergang zur Demokratie, mit Vorzügen und enormen Schwächen.”
Carlos Margotta kritisiert, daß der Richter die Verantwortung für den Mord auf Con­treras und Espinoza beschränkt und nicht den direkten Vorgesetzten, Pinochet, miteinbezieht. Daß ein Mord dieser Tragweite von Contreras auf eigene Faust ent­schieden worden sei – dem militärischen Rang her war er lediglich Oberst – sei un­wahrscheinlich.
“Diese wenig überzeugende Einschränkung mindert die Kraft des Urteils. Sie bringt einen auf den Gedanken, daß ein Teil der Untersuchung noch anhängig ist, den man nicht durchführen wollte oder konnte. Sehr wenige glauben ehrlich, daß die Verant­wortung für das Verbrechen bei Contreras und Espinoza beginnt und endet.” Was Wahrheit und Gerechtigkeit betrifft, sei im Gegensatz zu anderen Verbrechen in die­sem Fall die Wahrheit seit Jahren bekannt gewesen. Im Hinblick auf das Strafmaß sind die Strafen, die gegen Contreras und Espinoza ausgesprochen wurden, lächerlich im Vergleich zu denen, die routinemäßig gegen gewöhnliche Verbrecher wegen weni­ger schwerer Delikte verhängt werden. […]
Diesem Anspruch wird das Urteil des Richters Bañados angesichts der voraussehbaren Entwicklung des Prozesses nicht gerecht. Das kollektive Empfinden verlangt Gerech­tigkeit und Strafe für die Verbrecher und nicht nur eine moralische Verurteilung.”
“Die Zuversicht Manuel Contreras’ und das demonstrative Auftreten Espinozas in Uni­form mit offenkundiger Unterstützung des Heeres lassen Befürchtungen über das end­gültige Urteil aufkommen.”

Energiepolitik im Modelland Chile

Monopol im Energiesektor

Bereits seit Jahrzehnten erforscht EN­DESA, das nationale Stromerzeugungs-unternehmen, die Mög­lichkeiten, den Bio-Bio zur Energieversorgung Chiles nutzbar zu ma­chen. Nachdem ENDESA 1988 von staat­lichem Besitz in eine private Aktienge­sellschaft überführt worden war, wurden diese Bemühungen forciert. Hauptaktionär ENDESAs ist das private Konsortium En­ersis, das nicht nur 70 Pro-zent der ge­samten Stromerzeugung, son-dern über das Stromverteilerunternehmen Chilectra den gesamten Energiesektor des Landes mo­nopolartig kontrolliert. Enersis profitiert maßgeblich von der lückenhaf­ten chileni­schen Gesetzgebung, die staat-lichen Stel­len nur wenig Eingriffs-mög­lichkeiten bei der Steuerung privater Investitionsvorhaben gewährt. Dabei soll die 1987 gegründete Nationale Energie­kommission (CNE), die direkt dem Staats-präsidenten untersteht, eigentlich die Ener­giepolitik Chiles planen, sowie Pro­jekte zur Stromerzeugung genehmigen. Ihre einzige Möglichkeit, um steuernd ein-zugreifen, besteht darin, daß Banken und andere Finanzinstitutionen in der Re­gel nur dann Kreditzusagen machen, wenn In-vestitionsvorhaben von der CNE befür-wortet werden.
Aber auch dieser Mechanismus trägt nur wenig zur umweltpolitischen Kontrolle bei, denn die CNE zeichnet sich ins-be­sondere durch ihre Nähe zu privatwirt-schaftlichen Interessen aus. Ihr Di­rektor, Jaime Tohe, wurde nicht müde, Erhöhun­gen der Stromtarife anzukündi­gen, sollte es durch den Verzicht auf das Staudamm­projekt am Bio-Bio nicht gelin­gen, ab 1997 den auf 5,5 bis 6 Prozent geschätzten jährlichen Mehrbedarf an Strom zu decken. Außerdem hatte die CNE EN­DESA bereits 1990 die Genehmigung zur Konstruktion des Staudamms Pangue er­teilt, ohne zuvor die Ergebnisse der Um­weltverträglichkeitsstudien abzuwarten, die das Unternehmen in Auftrag gegeben hatte. Die Bauarbeiten dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre an.

Die drohenden Gefahren des Staudamms

Gerade aber auf die Studien der ENDESA berufen sich die KritikerInnen von Pangue unter anderem, die sich im März 1991 in der GABB organisiert haben. Die GABB bündelt die Aktivitäten von Umwelt­schutzbewegungen und VertreterInnen der Pehuenche-Mapuche, den hauptsächlich Betroffenen des Staudammprojekts. Sogar die mangelhaft ausgearbeiteten Untersu­chungen, die ENDESA aus gutem Grund der Öffentlichkeit vorenthält, verdeutli­chen die großen ökologischen Risiken, die mit Pangue einhergehen.
Die Überflutung von 500 Hektar Land am oberen Bio-Bio würde unausweichlich, in­folge des Zersetzungsprozesses der Pflan­zen, die Wasserqualität mindern. Durch die Abnahme der im Wasser gelösten Nährstoffe würde der Fischbestand im Golf von Arauco, in den der Bio-Bio mündet, gefährdet werden und mit ihm die Existenz der dort ansässigen Fischerdör­fer.
Zudem würden durch die Regulierung des Bio-Bio die Interessen der am Oberlauf lebenden kleinbäuerlichen Familien ver­letzt, denn zum einen wäre die Bewässe­rung nicht länger gewährleistet und zum anderen hätte die gelegentliche Öffnung des Damms zur Konsequenz, daß die her­einbrechenden Wassermassen die frucht­baren oberen Erdschichten wegwaschen würden. Völlig unberücksichtigt bleibt in den von ENDESA in Auftrag gegebenen Studien das Gefährdungspotential, das von den umliegenden aktiven Vulkanen ausgeht. Sollte es tatsächlich zu einem Vulkanausbruch kommen, würden Erdrut­sche den Staudamm zerstören und unkon­trollierbare Überflutungen wären die Folge. Außerdem gehen die zitierten Stu­dien nur vom Bau des Pangue aus, obwohl bekannt ist, daß noch fünf weitere Tal­sperren geplant sind. Ende Oktober mußte dies auch die chilenische Regierung öf­fentlich eingestehen.

Folgen für die Pehuenche-Mapuche

Diese drohenden Konsequenzen hätten vor allem die 10000 Pehuenche zu tragen, die am Oberlauf des Bio-Bio leben. Be­dingt durch die schwer zugängliche Lage dieser Region ist es den Pehuenche gelun­gen, ihre traditionellen Lebensformen weitestgehend zu bewahren. Der mit dem Staudamm verbundene Straßenbau wird dieser Abgeschiedenheit ein Ende bereiten und die indigenen Gemeinschaften mit schädlichen Einflüssen der sogenannten Zivilisation konfrontieren. ENDESA hält diesen Argumenten entgegen, daß die Pe­huenche in großer Armut lebten, so daß das Angebot von 2000 Arbeitsplätzen einen wichtigen Beitrag zur Existenzsi­cherung leisten könnte. Diese 2000 Ar­beitsplätze würden jedoch allenfalls wäh­rend der Bauarbeiten existieren. Nach de­ren Abschluß werden wenige Dutzend Ar-beitskräfte ausreichen, um den Stau­damm zu betreiben.
ENDESA führt im Augenblick Verhand­lungen mit den Pehuenche, in denen sie ihnen Landbesitz in einer anderen Region anbietet. Den Pehuenche scheint keine an­dere Möglichkeit zu bleiben, als schließlich in das vorgeschlagene Tausch­geschäft einzuwilligen. Die 1979 unter der Militärdiktatur verabschiedete Indígena-Gesetzgebung erklärte gemeinschaftlichen Landbesitz für unzulässig, so daß die Pe­huenche bis vor kurzem über keinerlei juristisch abgesicherte Landrechte ver­fügten. Auch die jüngst verabschiedete neue Indígena-Gesetzgebung ändert an dieser Situation insofern sehr wenig, als daß die Pehuenche ihre vor 1993 verlore­nen Ländereien nicht zurückerhalten. Ihre VertreterInnen fordern heute neben der Einstellung der Bauarbeiten des Pangue-Staudamms die Gewährung staatlicher Finanzhilfen sowie die Anerkennung ihrer Gebietsansprüche.

Erster juristischer Erfolg für die Pangue-GegnerInnen

Im Juni 1993 erzielten die GegnerInnen des Pangue-Projekts einen ersten juristi­schen Erfolg. Das Berufungsgericht von Concepción, die zuständige richterliche Instanz für die Region um den Bio-Bio, verlangte von ENDESA die Modifizie­rung der Baupläne, um sicherzustellen, daß die Interessen Dritter nicht gefährdet würden. Die vorliegende Genehmigung erlaube nur die nichtverbrauchende Was­sernutzung und werde durch die vorgese­hene Projektkonzeption überschritten, da die Regulierung des Flusses die Bewässe­rung umliegender Felder behindere. De facto lief dieses Urteil auf die Verhängung eines Baustopps hinaus. ENDESA legte daraufhin postwendend bei dem Corte Su­prema Berufung ein.
Die Argumentation der ENDESA-Anwäl­tInnen bezog sich in erster Linie auf den drohenden Umbau aller vergleichbaren Staudämme, so daß es unweigerlich zu ei­ner etwa 25-prozentigen Anhebung der Strompreise kommen würde. Die Natio­nale Energiekommission (CNE) gab EN­DESA bei diesem Streit nach Kräften Rückendeckung und warnte immer wieder vor den negativen Folgen eines Verzichts auf Pangue.
Gestützt auf offizielle Daten der CNE wi­dersprach das staatliche Planungs-ministe­rium MIDEPLAN diesem Sze-nario. Da keinerlei Studien über Alter­nativprojekte vorlägen, sei die Entwick­lung der Strom­preise nicht abzusehen. Das größte Poten­tial liege außerdem in Ener­giespar­pro­grammen, denn immerhin geht augenblicklich rund die Hälfte des er­zeugten und transportierten Stroms verlo­ren. Durch Öffentlichkeitskampagnen ist es während der letzten Dürreperiode ge­lungen, den Energieverbrauch kurzzeitig um 15 Prozent zu senken.

Oberster Gerichtshof gibt Privatinteressen den Vorrang

Als der Oberste Gerichtshof am 5. August das Urteil von Concepción mit dem Hin­weis kassierte, Pangue verfüge über alle notwendigen Genehmigungen, wurde den privaten Gewinninteressen des Monopol­unternehmens auf dem Energiesektor Vorrang vor ökologischen Notwendigkei-ten gegeben. Die weiter gesteckten For-derungen der KritikerInnen Pangues zie-len auf die Formulierung einer natio­nalen Energiepolitik, die durch eine Ener­giegesetzgebung begleitet wird, welche Stromerzeugung und -transport nicht län­ger in den Händen eines einzigen Unter­nehmens beläßt. Darüberhinaus wurden von den der Regierungskoalition angehö­rigen Deputierten der Achten Region, in der Pangue gebaut werden soll, Anträge in das Abgeordnetenhaus eingebracht, um die Gesetzesvorhaben im Umweltbereich sowie das neue Ley Indígena zu beschleu­nigen. Außerdem setzen sich die Depu­tierten dafür ein, Pangue durch unabhän­gige ExpertInnen und den Umweltaus­schuß des Parlaments untersuchen zu las­sen. Abgesehen von dem Hinweis, über keinerlei rechtlichen Möglichkeiten zu verfügen, private Investitionsprojekte zu stoppen, hat sich die chilenische Regierung bisher bedeckt gehalten.

Dreht die Weltbank den Kredithahn zu?

Die vermutlich einzige realistische Chance, Pangue samt den geplanten Nach­folgeprojekten zu verhindern, besteht darin, auf internationaler Ebene Druck auszuüben. Pangue soll insgesamt 470 Millionen US-Dollar kosten, von denen 120 Millionen über die Weltbanktochter CFI finanziert werden, die in drei Raten ausgezahlt werden sollen. Da Weltbank-Kredite an Umweltauflagen, etwa Ver­träglichkeitsstudien, gebunden sind, hofft GABB weiterhin, das Pangue-Projekt zum Scheitern bringen zu können. ENDESA hat der Weltbank bislang noch keine Stu­die vorgelegt. Obwohl die Unternehmens­führung noch im Dezember des vergange­nen Jahres gejubelt hatte, die erste Teil­zahlung des CFI-Kredites sei erfolgt, mußte sie nach einer Stellungnahme der GABB vor kurzem eingestehen, noch kei­nen Cent erhalten zu haben.

“Das Schlimmste ist Schweigen!”

Seit Amtsantritt des Präsidenten Menem gab es über 300 Fälle von Bedrohungen und tätlichen Angriffen gegen Journa­listInnen und deren Medien. Von staatli­cher Seite wurde kein einziger von ihnen aufgeklärt. Stattdessen wurden sie ver­harmlost und die Verantwortlichen gedeckt.

“Das nächste Mal bringen wir dich um!”

Die Szenerie und die Methoden glei­chen denen der Militärdiktatur: Drei Männer in einem Ford Falcon entfüh­ren in der Nacht zum 9. September 1993 den Journalisten Hernán López Echa­güe. Wenig später las­sen sie ihn ver­letzt in einer einsamen Ge­gend in der Provinz Buenos Aires zurück. Mit einer schweren Gehirnerschütterung und Messerschnitten im Gesicht wird er ins Krankenhaus eingeliefert. “Das näch­ste Mal bringen wir dich um”, sagen ihm die Angreifer zum Abschied.
Innerhalb von drei Wochen war das der zweite Angriff auf den Journalisten der kritischen Tageszeitung “Página/12”. Er hatte im August eine vieldisku­tierte Re­portage veröf­fentlicht, die Verbindun­gen zwischen bezahlten Schlägertrupps und hohen Regie­rungsfunktionären auf­deckte. In die Ange­legenheit verwickelt waren Alber­to Pierri, Frakti­ons­vorsitzender der Pero­nistInnen im Parla­ment und Spit­zenkandidat in der Provinz Buenos Aires, sowie der ehema­lige Botschafter in Hon­duras, Alberto Brito, Chef der rechtsex­tremen Schläger­gruppe “Comando de Organización”.
Im Frucht- und Gemüse­großmarkt von Buenos Aires wurden bullige Arbeiter an­geheuert, die dann die “Sicherheit” auf Groß­veranstaltungen der Pero­ni­stischen Partei (PJ) garantieren sollen. Sie griffen zum Beispiel brutal sechs Journalisten auf einer Landwirt­schaftsmesse an, die Präsi­dent Menem gerade besuchte.
Daß auch Menem über die Aktion infor­miert war, erwies sich kurz darauf in einer Fernsehübertragung aus dem Regierungs­palast: Kein anderer als der Staatspräsi­dent selbst begrüßte per Handschlag und Wangenkuß Miguel Angel Arjona, einen der Schläger auf der Messe.

“Normalität” in Zeiten des Wahlkampfs?

Menem weigerte sich mehrere Wo­chen, Vertre­terInnen der Journalist­In­nen­ge­werk­schaft UTPBA (Unión de Trabaja­dores de Prensa de Buenos Aires), die eine Ausspra­che forderten, zu empfan­gen. Er bezeichnete die Aggres­sionen statt­dessen als “üblich im politisch angespannten Klima des Wahlkampfs”.
Die UTPBA sammelt alle Informatio­nen über Bedro­hun­gen und Angriffe gegen JournalistInnen. Ihre Doku­mentation läßt die Systematik erken­nen, mit der kritische Stimmen mund­tot gemacht werden sollen.
In den vergangenen vier Jahren wur­den über 300 Anschläge auf Medien und An­griffe gegen kritische Journalist­Innen ge­meldet. Besonders häufig waren Drohun­gen gegen Jour­nalistInnen, die über Kor­ruptionsfälle bei der Privatisierung von Staatsunter­nehmen re­cherchierten.
“Einzelne JournalistInnen werden durch Drohun­gen oder Angriffe zum Schweigen gebracht. Das eigentliche Ziel ist aber, daß Tausende von Journalist­Innen mit einer Schere im Kopf arbeiten und Milli­onen von Menschen bestimmte Informationen nicht erhalten oder sel­ber verstummen”, so eine Erklärung der UTPBA.
Die einzige Reaktion der Regierung be­steht bisher darin, die Fälle so weit wie möglich zu ignorieren oder die Schuld den JournalistInnen selbst in die Schuhe zu schieben. Nachdem die Vorwürfe gegen Alberto Pierri aufge­taucht waren, beeilte sich etwa der peronistische Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, des­sen Unschuld zu versichern und statt­dessen die “Aggressionen der Mikro­fone” und den “Terrorismus der Medien” zu verurteilen. Präsident Menem sprach von “normalen Berufs­risiken” und versicherte den Journali­st­Innen sein Ver­ständnis, da auch er täglich bedroht werde. Diese “antiargen­tini­sche Kampagne” sei aus dem Ausland gesteuert, mit dem Ziel für Verun­sicherung vor den Wahlen zu sorgen.

Freunde halten zusammen

Die Tradition der Straf­losigkeit von Menschen­rechtsverbrechen in Ar­gen­ti­nien wird auch diesmal nicht gebro­chen. Bis­lang wurde kein ernst­hafter Versuch un­ter­nommen, auch nur einen Angriff der vergangenen Jahre aufzu­klären, kein ein­ziger Verantwortlicher genannt oder gar bestraft. Die einzigen beiden Verdächti­gen, die aufgrund einer Untersuchung des Innenministe­riums verhaftet worden wa­ren, wurden gleich darauf aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.
Zur Aufklärung der Ag­gression gegen Lopez Echagüe wurde der Staat­sanwalt Luis González Warcalde zum Sonder­beauf­tragten ernannt. Warcalde ist für seine freundschaftlichen Bezie­hungen zum Staatsoberhaupt bekannt, und streng­te sich in den Wochen nach seiner Ernen­nung hauptsächlich an, eine Ver­nehmung von Parlamentspräsi­dent Pierri und Ex-Botschafter Brito zu vermeiden. Außer­dem wurde War­caldes Freund Luis Patti, in dessen Polizeiwache im vergan­genen Jahr mehrere Jugendliche gefoltert worden waren, zum Inspektor des Zentral­marktes ernannt, um gegen die bruta­len Verhält­nisse vorzugehen.

“Hört auf!”

Die Protestaktionen, die die Gewerk­schaft UTPBA gestartet hatte, wurden von un­gewöhnlich vielen Argenti­nierInnen unter­stützt.
Schon im Mai war es problemlos gelun­gen, mehr als 5000 Unterschriften gegen ein Projekt der Regierung zu sammeln, das die Arbeitsbedingungen der Journali­stInnen zu verschlechtern droht.
Am 29. Juli veranstaltete die UTPBA einen “Tag für Meinungsfreiheit und ge­gen die Drohungen”. Vorher schon hatten sich fast 60.000 Menschen an einer Um­frage zum Thema beteiligt, an diesem Tag waren es weitere 20.000. Von allen Be­fragten meinten 89 Prozent, in Argenti­nien gäbe es Zensur oder Mechanismen, die wie Zensur wirken können. Fast 30 Prozent machten dafür die Regierung ver­antwortlich.
Über zwei Drittel der Befragten äußerten außer­dem den Wunsch, die Korruption solle stärker als bisher auf­gedeckt und pu­blik gemacht werden; sie waren gleich­zeitig mehr­heitlich davon überzeugt, daß die Angriffe Journa­listInnen zum Schwei­gen brin­gen sollen.

“Für das Leben, gegen die Straf­frei­heit.”

Mit dieser Parole rief die UTPBA am 16. September gemeinsam mit Men­schen­rechts- und anderen Organisatio­nen, Par­teien und prominenten Einzel­personen zu einer Kundgebung auf.
Knapp 12.000 Menschen hatten sich auf der Plaza de Mayo versammelt. Das sind mehr als auf jeder anderen Demonstration in der letzten Zeit.
Der Tag war gleichzeitig Jahrestag der “Noche de los Lapizes”, in der 1976 sie­ben SchülerInnen aus La Plata ver­schwan-den. Ihre Aktion für SchülerIn­nenfahr­scheine wurde damals als “Subver­sion an den Schulen” bezeich­net. Die Erinnerung daran machte einmal mehr Kontinuitäten bei der Verweigerung von Menschen­rechten deutlich.

Alles geht weiter wie vorher

Nach den Wahlen am 3.10. setzte sich die Reihe von Bedrohungen und An­griffen auf die Meinungsfreiheit un­verändert fort. Am 27. Oktober wurde die seit über einem Jahr wöchentlich stattfindende Demon­stra­tion der Rent­nerInnen vor dem Kon­greß auf Befehl des Innenmi­nisteri­ums durch Knüppel­einsatz verhindert. Dabei wurden auch sieben JournalistInnen verletzt.
Noch ungeklärt sind die Umstände der Ermordung des Journalisten und UTPBA-Funktionärs Mario Bonino. Er wurde am 11. November entführt, seine Leiche schwamm vier Tage spä­ter im Rio de La Plata. Am Vorabend der Entführung hatte eine Gruppe bewaffneter Männer die Ein­gangstüren der UTPBA-Zentrale ein­ge­schlagen und den Nachtwächter schwer verletzt.
Juan Carlos Camaño, der Generalse­kretär der UTPBA dazu: “Den Beruf des Journa­listen heute in Ländern wie unserem aus­zuüben, bringt ein hohes Risiko mit sich. Über Korruption und die Politik der so­zialen Ungerechtigkeit zu recherchieren und sie zu denunzie­ren, ist genauso ris­kant, wie diejenigen beim Namen zu nen­nen, die ökono­mische, juri­stische oder politische Vorteile daraus ziehen. Es ist allgemein bekannt, daß diese privilegier­ten Sek­toren eine Mafia bilden oder Ban­den und Schlägertrupps beauftragen. Die­se bedrohen nicht nur JournalistInnen, son­dern auch StudentIn­nen, Dozent­In­nen, Rentner­Innen, Men­schen­rechts­organisa­ti­o­nen, Gewerk­schaf­ten oder son­stige poli­tische Kräfte; alle diejenigen werden an­gegriffen, die das momen­tan herr­schen­de wirtschaftliche, politische und soziale System in Frage stellen.”

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