Rot – Schwarze Perspektiven

Als in der Nacht des 15. No­vembers die Stimmenauszählung des zweiten Durchgangs der Kommunalwahlen zu Ende ging, wuchs die Enttäuschung bei der PT (Arbeiterpartei). In elf Städ­ten war sie in die Stichwahl ge­langt, aber in neun verlor sie. Die große Ausnahme war die Ama­zonasmetropole Belém im Nor­den des Landes. Neben Porto Alegre im extremen Süden – wo die PT schon im er­sten Durch­gang gewann – ist Belém die ein­zige Landeshaupt­stadt, die von der PT regiert wird. Ein weiteres markantes Er­gebnis war die Wahl des ersten schwarzen Bür­germeisters in der größten Stadt des Landes, Sâo Paulo. Celso Pitta hat sich als Kandidat des regierenden Bür­germeisters Ma­luf, einem Rechtsaußen der bra­si­lianischen Politik, durchge­setzt und damit alle Hoffungen zer­stört, daß die PT mit ihrer Kan­di­da­tin Luiza Erundina wie­der ins Rat­haus von Sâo Paulo einzieht.
Eine genauere Analyse des Wahlergebnisses bringt einige Überraschungen an den Tag. Die PT ist in den hundert größten Städten des Landes die meistge­wählte Partei, konnte aber nur in 19 Städten die Wahlen gewin­nen. Das heißt, das gute Ab­schneiden der PT als Partei setzt sich aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts, in dem die Direktwahl der Bürgermeister im Mittelpunkt steht, nicht in Ämter um. Hinzu kommt, daß durch das System der Stichwahl in allen größeren Städten des Landes (mit über 100.000 WählerInnen) Bündnisse gegen die PT im zweiten Durchgang mehr Chan­cen haben. Anders gesagt: die PT ist eine erstaunlich erfolgreiche linke Partei, die, was nicht über­raschen sollte, die öffentliche Meinung polarisiert.

Imageprobleme der PT

Die Konsequenzen aus dieser Analyse sind innerhalb der PT umstritten. In Sâo Paulo hatte die PT-Kandidatin und ehemalige Bürgermeisterin Luiza Erundina versucht, durch eine Kampagne mit dem Slogan “Die PT, die Ja sagt” den hohen Grad der Ableh­nung (40 Prozent der Wäh­lerinnen erklärten, auf keinen Fall für Erundina zu stimmen) zu senken. Erundina und ihr Team waren der Meinung, daß die PT ihre positiven Vorschläge in den Mittelpunkt stellen und von dem Image der Oppositionspartei wegkommen sollte. Diese De­batte zielte tatsächlich ins Herz der Identität der PT, die doch ge­rade gewachsen ist als eine Par­tei des Protestes und der Oppo­sition gegen die herrschenden Mißstände in Brasilien, die unter anderem durch das derzeitige Modell des Neoliberalismus auftreten.
Natürlich spricht nichts dage­gen, die konkreten Vorschläge für Veränderungen in den Mit­telpunkt der Kampagne zu stel­len, mit abstrakten Diskursen gegen den Neoliberalismus ist auch in Brasilien kein Blumen­topf mehr zu gewinnen. Aber die Alternative kann wohl nicht sein, den Schaum vor dem Mund durch einen Wahlkampf mit rosaroter Zuckerwatte zu erset­zen. Die Erfolglosigkeit spricht gegen Erundina. Marco Aurélio Garcia, Parteisekretär für inter­nationale Fragen, sieht zwei Hauptgründe für die Niederlage der PT in Sâo Paulo: “Wir haben es nicht verstanden, eine starke Opposition gegen Maluf aufzu­bauen. Unsere Niederlage be­gann vor drei Jahren, als es uns nicht gelang, diese Opposition zu machen.” Der zweite Grund liegt für Garcia in der Schwäche der sozialen Bewegungen. “Die Krise hat die sozialen Bewegun­gen zersetzt und das hatte großen Einfluß in Sâo Paulo.”

Wenn zwei sich streiten…

Das Ergebnis von Sâo Paulo ist jedenfalls ein Rückschlag für die innerparteilichen Kräfte, die die PT in eine Partei der “Mitte” (auch andere Denominierungen wie “moderne linke Partei” wer­den gehandelt) transformieren wollen. Aber es gibt noch wei­tere Gründe für das enttäu­schende Abschneiden der PT in einigen Städten. Die schmerz­lichste Niederlage mußte die PT wohl in Santos einstecken. Dort ist die PT seit acht Jahren an der Regierung – mit beachtlichem Erfolg und großer Zustimmung. Aber die Auswahl der Kandida­tin (zwei Frauen standen sich gegenüber) für die Wahl ’96 führte zu einer schweren inner­parteilichen Zerreißprobe. Der ehemaligen Bürgermeisterin Tel­ma da Souza, die sich schließlich gegen die Kandidatin des aktuell am­tierenden Bürger­meisters durch­setzte, gelang es nicht, die innerparteilichen Dif­ferenzen zu überwinden und scheiterte am Wahltag. Santos zeigt auch, daß bei den mit har­ten Bandagen aus­getragenen Konflikten der ver­schiedenen Tendenzen inner­halb der PT am Ende alle verlieren. Telma ge­hört eher dem “rech­ten” Par­teiflügel an. Ihr Ar­gument, daß sie als “gemäßig­te” für die WählerInnen ak­zep­tab­ler sei, stellte sich schließlich genauso als Trugschluß heraus wie die Kampagne des “Ja” in Sâo Paulo.
Die beiden Erfolgsstorys der PT – Porto Alegre und Belém – legen Schlüsse nahe, die aus dem simplifizierenden rechts-links oder radikal-gemäßigt Schema herausführen. In Porto Alegre wird die PT nun zum dritten Mal den Bürgermeister stellen. Die Aus­wahl der Kandidaten verlief ge­ordnet und versuchte ein in­ner­parteiliches Gleichgewicht her­zustellen. Der jetzt gewählte Bürgermeister Raul Pont gehört, anders als sein Vorgänger, dem linken Parteiflügel an, der trotz­kistischen Grup­pe “Demo­kra­ti­scher So­zialismus”. Aber er wur­de nicht gewählt aufgrund eines per­sonalisierten Wahlkampfes, son­dern aufgrund einer acht­jäh­rigen kompetenten Politik, die mit dem Konzept des “par­ti­zi­pa­ti­ven Haushaltes” ein Exempel al­ternativer Kommu­nalpolitik ge­schaffen hat.
Auch der neue Bürgermeister von Belém, Edmilson Rodriguez, gehört dem linken Parteiflügel an. Er profitierte wesentlich von dem Verschleiß der traditionel­len Eliten, die sich dazu noch untereinan­der einen Schmutz­wahlkampf lieferten. Eine ge­spaltene Rechte war in vielen Fällen ein wichtiges Mo­ment für den Aufstieg der Lin­ken. Edmil­son gelang es ge­schickt, sich demgegenüber als unverbrauch­ter und nicht kor­rupter Politiker darzustellen. Hinzu kam, daß die “militantes”, die Aktivisten der PT und der sozialen Bewegun­gen, sich mit dem Aufstieg des Kandidaten – der seine Kampa­gne mit hoff­nungslosen fünf Prozent in den Umfragen begann – mobilisieren ließen und einen intensiven Wahlkampf in den Armenvierteln Beléms or­gansierten. Schließlich setzte sich Edmilson mit 58 Prozent (!) der Stimmen gegen den Geld­wahlkampf des Bürgermeister­kandidaten durch. Am 15. No­vember war Belém in ein Meer roter Fahnen verwandelt. Hier zeigte sich, wo die traditionelle Stärke der PT liegt: als Partei des “Basta” gegen die Mißwirtschaft und Korruption der Eliten, als Hoffnungsträger für radikale Änderungen.

Sâo Paulo – Schwarzer Bür­germeister aus der Retorte

Mit der Wahl Celso Pittas re­giert zum ersten Mal in der Ge­schichte Brasiliens ein Schwar­zer die größte Stadt Brasiliens. Aber seine Wahl, die in der in­ternationalen Presse mit Auf­merksamkeit registriert wurde, symbolisiert weniger die zuneh­mende Akzeptanz der Schwarzen in einer rassistischen Gesell­schaft, als den Erfolg des bishe­rigen Bügermeisters Maluf, der Pitta als seinen Kandidaten aus­gewählt hatte. Pitta war ein öf­fentlich unbekannter Geschäfts­mann (Angestellter in der Firma eines Bruders von Maluf) als er überraschenderweise nach Aus­fall anderer Kandidaten (wegen Korruptionsvorwürfen) von Ma­luf 1992 zum Finanzsekretär der Stadt ernannt wurde. Unauf­fällig blieb Pitta auch in diesem Amt. Symptomatisch ist nun, wie er zum Kandidaten gekürt wurde. Maluf ließ von jedem möglichen Kandidaten Videos erstellen und ließ diese anschlie­ßend von US-ame­rkanischen Marketing-Ex­per­ten auswerten. Das Ergebnis war die Empfeh­lung zugunsten von Pitta. Freundlich, smart, immer gut angezogen, kontra­stiert seine Er­scheinung mit dem hemdsärme­ligen Populismus des häßlichen Maluf. Pitta wurde lanciert wie ein Konsumprodukt. “Ein Joghurt”, kommentierte die Konkurrenz. Aber seinen Wahl­erfolg verdankt er ausschließlich Maluf. Der Wahlkampf war von einer einzigen Botschaft domi­niert: Das ist der Mann, der die Bauarbeiten von Maluf fortführt.

Hyäne im Schafspelz

Das eigentliche Ergebnis der Wahlen ist also die Stärkung Malufs, der schon der letzte (und damals unterlegene) Kandidat der Militärdiktatur für das Prä­si­dentschaftsamt war. Als Rechts­außen der brasilianischen Politik wurde er mit Haider oder le Pen ver­glichen. In Lateiname­rika mag der Erfolg von Alemán in Nicaragua eine gewisse Pa­rallele sein. Maluf ist mit der Wahl sei­nes Nachfolgers zum un­um­strittenen rechten Gegenpol zu Präsident Fernando Henrique aufgestiegen. Abzuwarten bleibt aber, ob sein Einfluß weit über Sâo Paulo hinausgeht. Maluf hat auch wenig Spielraum für eine systematische Opposition gegen die Regierung, weil Bürgermei­ster und Gouverneure seiner Partei aufgrund hoher Schulden auf Abkommen mit der Zentral­regierung angewiesen sind. Sei­nen Erfolg in Sâo Paulo verdankt Maluf vorwiegend einer ge­schickten Mischung von moder­nem Marketing und traditionell­ster Politik. “Obras”, Bauarbei­ten durchziehen die Stadt und hinterlassen überall die sichtba­ren Monumente seiner Amtszeit. Mit dem Projekt “Neues Singa­pur” verspricht Maluf, die Fave­las durch Billighochhäuser zu er­setzen. Auch wenn die Opposi­tion den marginalen Effekt die­ses Projektes aufzeigen konnte, gelang es Maluf doch, auf natio­naler Ebene ein – wenn auch po­lemisches – Zeichen für seine Sozialpolitik zu setzen. Anson­sten profiliert sich Maluf mit dem traditionellen Diskurs rech­ter Politik: law an order und na­tionalistische Töne mit Angrif­fen auf das ausländische Kapital. Mit Anspielung auf sein moder­ni­sier­tes Marketing wurde er als “Hy­äne im Schafspelz” bezeich­net.
Zurück zu Pitta. Bleibt nicht doch ein symbolischer Rest? Schwer zu sagen. Orginalton Luiza Erundina, die sich anson­sten mit polemischen Tönen sehr zurückhielt: “Celso Pitta sagt, er habe eine schwarze Haut. Aber er hat den Kopf und das Verhal­ten eines weißen Schweinehun­des (um branco safado)”.

KASTEN

Abgeordneter – ein Job, der sich lohnt.

Das Ansehen von PolitikerInnen mag in Brasilien das aller­schlech­teste sein, in Wahl­kampfzeiten fehlt es dennoch nicht an Kan­didatInnen. Die Erklärung ist einfach. Die Mühen des Wahl­kampfes werden oft mit fürstlichen Gehäl­tern belohnt. Bei­spiel Belém, eine Stadt mit etwas über einer Million EinwohnerInnen. Dort verdient ein Abgeordneter im Kommunalparlament 3513,- Reais, schlappe 5000,- DM. Mit diesem Hunger­gehalt sind die Herren und Damen aber nicht mehr zufrieden und ha­ben sich für 1997 schon eine Ge­haltserhöhung be­willigt: knapp 4500,- Reais sind es dann, mehr als 6700,- DM. Aber das ist bei weitem nicht alles. Jede(r) Abgeord­nete hat ein Recht auf fünf (!) persönliche Mitar­beiterInnen mit einem Gehalt von jeweils etwa 1700,- Reais oder 2500,- DM.
Belém liegt mit seinen Gehältern vielleicht im guten Mittelfeld. Einige kleinere Munizipien, beson­ders solche, die aufgrund von Groß­projekten erhöhte Steuereinnahmen haben, zahlen weit hö­here Gehälter, oder besser ge­sagt, die Abgeord­neten bewilligen sich diese Gelder. In Belém hat sich eine Bürgerinitia­tive for­miert, die solch eine Absahn­mentalität nicht mehr hinnehmen will. (tof)

Menschenrechte ja – aber nicht für Schwule

Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und gal­ten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kom­mandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmän­ner stoßen die beiden bis zur na­hen Bahnlinie, dann krachen Pi­stolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ih­rem Blut, stellen erschüttert Ker­zen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Bra­silien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Ho­mosexuellen her. Seit 1980 wur­den über 1300 Schwule ermor­det, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr un­vollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letz­ten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorur­teile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens ver­schweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Se­kretär für Menschenrechte der Bra­silianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordost­brasilianischen Küstenmetropole Sal­vador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, ver­folgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Ma­chismus”, die Täter gingen ge­wöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter er­mittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Ge­richt und wurden dann fast im­mer freigesprochen.

Archiv über Homosexualität

Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinameri­kanischen Archiv über Homose­xualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenver­einigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besu­cher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höf­lich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexu­elle teilnehmen. Vor dem Ab­stieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präserva­tive, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe beson­ders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführ­ten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vor­sicht – suche Deine amantes bes­ser aus”, steht groß auf Schauta­feln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermor­den!” Die Warnung ist nicht un­begründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salva­dor sauber – töte jeden Tag einen Homo!”

Erscheinungsebene – Wirklichkeit

Brasiliens Schwulenszene prä­sentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeit­schriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen wei­ter, scheint sogar stark zuzuneh­men. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Über­le­benshandbuch” publi­ziert, das zahl­reiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasi­lia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen be­kannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.

Umfragen und Machismus

Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsenta­tive Umfragen: So würden 36 Pro­zent der BrasilianerInnen ei­nem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kol­legen bewußt fernhalten, 56 Pro­zent würden zumindest ihr Ver­halten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, ak­zeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Ho­mosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne er­zwingen müßten.

Politisches Asyl für Schwule

Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Teno­rio, Luiz Mott trat in dem Asyl­verfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Me­dien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylsta­tus, wollen aber anonym blei­ben, aus Angst, daß Familienan­ge­hö­ri­ge in Brasilien Repressa­lien er­lei­den könnten. Eine un­bekannte Zahl brasilianischer Homo­sexu­el­ler lebt illegal in den USA. Mög­licherweise werden jetzt wei­tere einen Asylantrag stellen.

KASTEN

Staatstrauer für Ex-Diktator

Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im Sep­tember 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso gela­den worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Gei­sel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Or­lando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die kei­nes­wegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, fol­tern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeit­zeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Dik­taturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Groß­teil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit be­gangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amts­vorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.

Samuel Ruíz als Comic-Figur

Die Schwestern Amalia und Be­gonia wachsen im Italien der sech­ziger Jahre auf. Sie bewegen sich in marxistischen Studenten­zir­keln und sind der Ansicht, et­was für das Wohl der Mensch­heit tun zu müssen. Aus der pa­tri­archalen Welt der Eltern bre­chen sie auf, suchen nach gang­ba­ren Wegen sich zu engagieren. Sie werden – so Amalia bei der FAO und Begonia als Leiterin ei­nes kolumbianischen Kinder­buch­verlags – Teil jenes ent­wick­lungs­politischen Etablisse­ments, das ja in den letzten Jah­ren tat­säch­lich ein beträchtliches Ter­rain in der Politik gewonnen hat. Mal leben sie ganz dicht bei­sam­men, mal weit voneinander ent­fernt, aber in Kontakt bleiben sie immer. Dafür sorgt vor allem die Grundkonstellation dieser Ge­schwi­ster­beziehung: Während der at­traktiven Amalia alles zu­fällt und ihr die Männer nur so nach­lau­fen, bleibt Begonia stets zwei­te Wahl. Nach langwierigem Hin und Her mit endlosen Job-, Orts- und Männerwechseln blei­ben sich die Frauen schließlich selbst übrig und stellen fest, daß es sich so, gemeinsam, vielleicht von Anfang an am besten gelebt hätte.
Diese Geschichte taugt durch­aus für einen Roman. Es könnte da­rin von einer Schnellebigkeit zu lesen sein, in der wir infor­ma­tions­überfluteten Neuzeit­men­schen uns wiederzu­erkennen ver­möch­ten. Worauf auch immer so ein Buch hinaus­wollte, ob auf eine Parodie des internationalen Po­litiktheaters, ob auf den Be­schluß, sich per Ausstieg von dem ganzen Rum­mel fern­zu­hal­ten, ob auf das Lob der Lang­sam­keit oder darauf, uns slap­stick­artig vorzuführen, was für Ko­bolze unser Gehirn bei der täg­lichen Zeitungslektüre schießt – es ist vieles möglich. Es könnte da­rauf hinauslaufen, die Welt so gut­zuheißen, wie sie ist, oder ei­nen gewagten Denkvor­stoß zu ma­chen, bei dem einem die Luft weg­bleibt, weil da noch keiner drauf gekommen ist – ei­nerlei.

Wildern in der Vergangenheit

Francesca Gargallo, selbst ge­bür­tige Italienerin und als junge Frau nach Mexiko gekommen, be­gnügt sich damit, durch die Hin­terlassenschaften der letzten Jah­re zu wildern. Dabei wird al­les mögliche erwähnt, die brasi­li­ani­sche Militärdiktatur genauso wie der kolumbianische Bürger­krieg, die sandinistische Revolu­tion in Nicaragua und das Ende der Sowjetunion. Dom Helder Ca­mara und Leonardo Boff ste­hen neben Lula und Samuel Ruíz. Amalia und Begonia ma­chen jede Menge “Erfahrungen”, sie meditieren in einem Apen­nin­kloster, lieben diesen und je­nen, brausen durch die Welt, ver­ir­ren sich im Amazonasur­wald. Die Liste läßt sich fast be­liebig fort­setzen. Aber das war es auch schon. Die Geschichte wird noch ein wenig in die Zukunft ge­spon­nen, ohne daß sich da­durch ir­gend­etwas ändern würde. Die Per­spek­tive ist die von Begonia, die ih­rer Nich­te, also Amalias Tochter, alles erzählt. Aber dann ist sei­ten­lang diese Du-Be­zie­hung gar nicht wichtig, Begonia er­zählt mun­ter im Ich, und es hat ge­le­gent­lich den Anschein, als hät­te sich die Autorin daran er­in­nert, daß sie ja in der Du-Form schrei­ben wollte, und fügt statt “Ama­lia” “Deine Mutter” ein… Es wird nicht klar, wozu die Per­spek­tive eigentlich dienen soll.
Darin liegt die hauptsächliche Schwäche des Buches: Nichts be­deu­tet etwas. Alle Szenen, Fi­gu­ren, Ereignisse, die so rasch ab­laufen, wie wenn man ein Vi­deo schnell durchspulen läßt, sind einfach so da und im näch­sten Moment wieder weg. Jede Mei­nung, die geäußert wird, kann auf der nächsten Seite ver­ges­sen sein, von ihrem Gegenteil ver­drängt, entwertet. Die Ge­schich­te ist eigentlich ein Comic; es fehlt jeder Schatten, es fehlen Nu­ancen, Verflechtungen und Wir­kungen.
Nun deckt sich ja diese kurz­le­bige Bedeutungslosigkeit nur all­zu genau mit dem, was uns all­täglich umgibt (nehmen wir nur das Fernsehprogramm). Und es wäre packend zu lesen, was diese unsere Wahrnehmung für Fol­gen hat, es wäre brisant zu er­fah­ren, was in einem Menschen vor sich geht, der sich heute im Ur­wald etwas über die spirituelle Kraft des Mondes sagen läßt und mor­gen im Flugzeug große Ent­fer­nungen überwindet. Aber das ist für Gargallo alles kein Pro­blem.
Francesca Gargallo setzt ein­fach noch eins obendrauf, sie spielt das Spiel mit und merkt nicht, was für eines es ist. Ein Satz als Beispiel, der zugegebe­ner­maßen aus dem Kontext ge­ris­sen, aber doch typisch ist: “Als sein Flugzeug abhob, at­mete ich erleichtert auf.” So ein­fach ist das: Das Flugzeug hebt ab, schlenz, sie atmet auf, hach. Alles klar, Problem gelöst. Fünf­zehn Zeilen später schläft sie mit dem nächsten Mann.
Die Hast, mit der das Buch durch seine Geschichte stolpert, wird nie thematisiert. Aber es hat auch nicht den Anschein, als handle es sich um eine Parodie, um ein Dokument eines verpaß­ten Lebens, das uns auf dessen Ver­luste aufmerksam machen soll. Nein, die Eiligkeit, eine Bo­den­losigkeit im eigentlichen Wort­sinne, ist verinnerlicht, als Le­bensform akzeptiert, für nor­mal befunden. Die Comic-Figu­ren sind das Leben, und auf Schat­tierungen kann verzichtet werden.
Leider bleibt es nicht bei dem schauer­lichen Mangel an Refle­xion, denn auch sprachlich ist der Roman stellenweise unge­nieß­bar. Zwar ist die Unbedarft­heit, mit der die Personen durchs Le­ben geistern, in manchen Sze­nen gut getroffen, aber dazwi­schen stehen Formulierungen, bei denen sich einem das Nak­ken­haar aufrichtet. Ein Beispiel: “Mich für Roberto anzuziehen, mich von ihm ausziehen zu las­sen, eine bestimmte Bettwäsche auf unser Bett aufzuziehen, ge­mein­same Pläne zur Wohnungs­ver­schönerung, zu kochen und den Tisch für ihn mit Tischdecke und Blumen zu decken – das wa­ren Ausdrucksformen eines ritu­el­len Verhaltens, das ich in der zwei­fachen Absicht zelebrierte, ihm eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, daß er mir ge­fiel.” Die “gemeinsamen Pläne zur Wohnungsverschönerung” pas­sen weder grammatikalisch noch (in ihrem Bürodeutsch) sti­li­stisch in den Kontext. Hat ein “ri­tuelles Verhalten” “Aus­drucks­formen”, oder ist nicht ein Ri­tual selbst schon Ausdruck? Wei­ter: “die Wunde des Zu­rück­ge­wiesenseins”, “…die Per­so­ni­fi­zie­rung meiner eigenen Ab­leh­nung des Norma­len” – geht’s nicht ein bißchen ele­ganter?
Den Vogel schießt Gargallo mit folgendem Satz ab: “Mir ge­gen­über tat Amalia so, als seien die körperliche Verfassung ihres Man­nes, die Unmengen Tablet­ten, die er schluckte, und die Für­sorge, mit der sie selbst ihn um­gab, nicht so unübersehbar, daß ihre Angestrengung [sic], so zu tun, als habe sich in unserem Le­ben nichts verändert, sinnlos wur­de.” Dafür würde selbst ein Phi­losophiestudent in seiner Pro­se­minararbeit vom Professor ein “A” wie “schlechter Ausdruck” an den Rand gekritzelt bekom­men.
Daß der Eichborn Verlag Fran­cesca Gargallo im Klap­pen­text zur “neuen Generation er­folg­reicher feministischer Au­to­rin­nen Mexikos” rechnet, macht stut­zig – was ist an diesem Buch fe­ministisch? Daß die Er­zählerin ihre sexuellen Lüste und Fru­strie­rungen nicht draußenläßt, son­dern einbezieht? Daß am Schluß angedeutet wird, daß die drei Frauen zusammenziehen? Oder soll das heißen, daß von Frau­en geschriebene Literatur immer gleich feministisch ist? Wozu dann das Etikett? Zur Stei­ge­rung der Verkaufsrate, weil “fe­ministisch” gut klingt?
Schließlich wird noch be­haup­tet, diese Generation, zu der die Au­torin des Erstlings nun ge­hö­ren soll, wäre auch die von Ele­na Po­niatowska. Einmal ab­gesehen da­von, daß Poniatowska mit ih­ren ersten großen testimo­nios schon vor fast drei­ßig Jahren her­aus­kam (Hasta no verte, Je­sús mío, 1969/ La noche de Tla­te­lol­co, 1971), liegen zwi­schen ihr und Gargallo Welten von sprach­li­cher Qualität und in­halt­licher Tie­fe. Elena Po­nia­tow­ska als Zug­pferd vor ein schlech­tes Buch zu spannen, sollte ein Grund mehr sein, das Buch nicht zu kaufen.

Francesca Gargallo, Schwestern, Eich­born Verlag, Frankfurt/Main 1996, 166 S.

Literarische Labyrinthe, politische Verirrungen

Während der Berliner Filmfestspiele im Februar 1995 wurde ein Programm aus kurzen Arbeiten argentinischer Nachwuchsregisseure vorgestellt. Einer der Filme erzählt die Geschichte eines Fahrstuhls, der nicht mehr funktioniert. Zwar bewegt er sich, und auf der Anzeige flackert mal der neunte, mal der zehnte Stock auf, doch ankommen will die Kabine nirgends. Schuld daran ist keine technische Panne, sondern ein Gedankenspiel. Im Fahrstuhl befinden sich ein Professor und ein Student, und da dieser in der Vorlesung nicht recht mitgekommen ist, bittet er seinen Lehrer um eine nachträgliche Erläuterung zu demjenigen der Zenonschen Paradoxe, demzufolge das Überwinden einer räumlichen Distanz unmöglich ist. Der Professor kommt der Bitte nach und erklärt: Bevor eine Strecke zurückgelegt werden kann, muß zunächst die Hälfte dieser Strecke bewältigt werden, davor jedoch wiederum die Hälfte der Hälfte, davor die Hälfte der Hälfte der Hälfte undsoweiter. Da sich die Halbierung der Distanz bis ins Unendliche vervielfältigen läßt, ist ein Ankommen undenkbar.
In dem Augenblick, in dem der Student zu verstehen beginnt, versagt der Fahrstuhl seinen Dienst, kann er doch, dem Paradox zufolge, den zehnten Stock nicht erreichen. Zunächst verfallen beide, Professor und Student, der Ratlosigkeit, Angstschweiß fließt, bis jener auf die Idee kommt, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen, und zwar vom Ende her aufgerollt. Und tatsächlich läßt sich der Fahrstuhl davon beeindrucken; als die beiden zur Bitte des Studenten nach Erläuterung zurückkehren, geht auch die Bewegung der Kabine nicht länger ins Leere, und sie finden sich wohlbehalten im zehnten Stock wieder.

Die Welt gerät aus den Fugen

Was und wie der Film des jungen Regisseurs erzählt, ist ohne Zweifel eine Hommage an Jorge Luis Borges. Die Paradoxe Zenons, samt ihrer unerbittlichen Logik, spielen in mehr als einer Erzählung des 1899 in Buenos Aires geborenen Schriftstellers eine prominente Rolle und gehören zu den liebsten seiner zahlreichen, verzwickten Denkfiguren, wie auch Lotterien, Labyrinthe und Bibliotheken. Auch die im Film vorgeführte Nähe von Humor und Schrecken ist charakteristisch für Borges. Denn wieder und wieder gelingt es seinen Texten, das vermeintlich reibungslose Funktionieren unserer Systeme in Frage zu stellen. Die Welt, wie wir sie kennen und denken, gerät für einen Augenblick ins Schwanken, und in die Erschütterung hierüber mischt sich das Lachen. Die Geschichte vom Fahrstuhl, wie sie der junge argentinische Regisseur erzählt, öffnet ein Fenster zu jener Welt, in der sich Borges’ Erzählungen, Essays und Gedichte bewegen. Und zugleich zeigt sie, daß diese fantastische, komische und im selben Atemzuge schreckensreiche Welt weiterlebt – auch nach dem Tod des Autors.
Dabei ist der Film nur ein Beispiel aus vielen anderen, mit denen sich Borges’ Nachhall illustrieren läßt. Was der Argentinier – oftmals im Grenzbereich von literarischer und essayistischer Form – in Textsammlungen wie Discusión (1932, Diskussionen), Ficciones (1944, Fiktionen) oder El hacedor (1960, Borges und ich) erarbeitet, findet ein überwältigendes Echo. Und dies nicht allein in Argentinien beziehungsweise Lateinamerika, sondern auch dort, wo der Kontinent über lange Zeit hinweg literarische terra incognita war: in Europa und den USA.
Borges, und das ist zweifellos eines seiner Verdienste, gelang es wie vor ihm keinem zweiten, über die Grenzen Lateinamerikas hinaus ein Bewußtsein für die Existenz und den Wert der dort produzierten Literatur zu schaffen, obwohl – oder gerade weil – seinen Texten eine spezifisch argentinische oder lateinamerikanische Qualität abgesprochen wurde. “Niemand hat weniger Vaterland als Jorge Luis Borges”, heißt es etwa im Vorwort zur französischen Ausgabe der Ficciones, die 1951 beim rennomierten Verlag Gallimard erschienen. Daß ausgerechnet diese Textsammlung eine Reihe ins Leben rief, die sich unter dem Titel La Croix du Sud (Das Kreuz des Südens) der Verbreitung lateinamerikanischer Literatur in Frankreich verschrieb, ist dabei nicht mehr und nicht weniger als eines jener Paradoxe, die Borges selbst so viel Freude bereiteten.

Borges als Mittler zwischen den Welten

Wie auch immer es um jene argentinidad bestellt sei, die Borges nicht nur in Europa abgesprochen wurde: Fest steht, daß sich durch ihn die Wahrnehmung lateinamerikanischer Literatur verschob. Wurde diese oft genug als epigonale Nachahmung europäischer Modelle belächelt, der es bestenfalls gelang, mit reichlich Lokalkolorit das Bedürfnis nach Exotik zu stillen, so hat sich dieses Rezeptionsmuster durch die Texte des argentinischen Schriftstellers geändert. Noch bevor sich die Autoren der sogenannten Boom-Generation wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Carlos Fuentes Gehör verschaffen konnten, hatte sich durch Borges ein Dialog ergeben. Ein Austausch, der das angestammte Verhältnis von kulturellem Zentrum und kultureller Peripherie wenigstens ein wenig aus den Fugen geraten ließ.

Unbestreitbar…

Zahlreiche Autoren, Literaten wie Theoretiker, berufen sich auf ihn – unter ihnen so bekannte wie Umberto Eco, Paul de Man, Italo Calvino, Jacques Derrida, Paul Auster oder Michel Foucault, um nur einige von vielen möglichen Namen zu nennen. Aber auch jüngste literarische Entwicklungen, wie etwa die Hyperfiction, jene Computerliteratur, die sich anschickt, die Linearität des Textes und die Macht des Autors endgültig aufzubrechen, läßt sich in ihrem Kerngedanken auf Borges zurückführen. Allein sein Fortwirken in der gegenwärtigen Literatur- und Theorieproduktion ist Grund genug zur eingehenden Lektüre seiner Essays, Erzählungen und Gedichte.
Dabei ist Jorge Luis Borges alles andere als eine unumstrittene Figur. Seine Texte sind schwierig – nichts darin verführt zur eiligen Lektüre, zum gemütlichen Schmökern. Labyrinthe aus echten wie erfundenen Zitaten sorgen für Verwirrung, und noch da, wo es erzählerischer zugeht – etwa in der Detektivgeschichte La muerte y la brújula (1951, Der Tod und der Kompaß) – verflechten sich die Anspielungen zu einem kaum entzifferbaren Gewebe. Borges’ Texte fordern einen Leser, der mitarbeitet, einen lector macho, wie sich Julio Cortázar einmal in ironiefreiem Männlichkeitswahn ausdrückte und womit er nichts anderes als den mündigen Leser meinte. Vielleicht war es dieser Schwierigkeitsgrad, der für so manchen Vorwurf sorgte: Die Erzählungen seien Literatur, die sich aus nichts anderem als Literatur speise, bloßes intellektuelles Spiel, in sich selbst verliebte Gelehrtheit.
Etwas anderes aber wog schwerer: Wieder und wieder war es die Person Borges selbst, die angegriffen wurde – in Lateinamerika ebenso wie in Europa. Denn im Unterschied zu anderen Schriftstellern wie Pablo Neruda oder Gabriel García Márquez, deren Literatur, ohne jemals in Propaganda abzustürzen, politische Facetten birgt, ist von solchem Engagement bei Borges nichts zu spüren. Im Gegenteil. Wie keinem anderen lateinamerikanischen Autor haftet ihm der Ruch des Reaktionären an; und er selbst unternahm wenig, diesen Vorwurf zu entkräften. Wurde die kubanische Revolution von zahlreichen lateinamerikanischen Intellektuellen gefeiert, begrüßte Borges die Invasion in der Schweinebucht. Für Franco fand er lobende Worte, und während der Militärputsch 1973 für zahlreiche Chilenen Exil – oder schlimmer noch: Folter, Verschwinden und Mord – bedeutete, hatte Borges nichts besseres zu tun, als 1976 aus Pinochets Händen das Großkreuz des Verdienstordens Bernardo O’Higgins entgegenzunehmen. Seine Haltung gegenüber der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 war zumindest am Anfang von Sympathie gezeichnet, und auch wenn er sich später distanzierte: Seine politischen Verfehlungen sind nicht zu leugnen.

…umstritten

Nun gibt es verschiedene Wege, mit den dunklen Flecken in Borges’ Biographie umzugehen. Der einfachste ist Strafe durch Nichtbeachtung – in Deutschland lange Zeit der Fall. Anders als in Frankreich hatten es Borges’ Texte schwer, hierzulande bekannt zu werden, und Schuld daran war nicht nur eine konservative Romanistik, die mit lateinamerikanischer Literatur ihre Schwierigkeiten hatte, sondern auch ein Klima in intellektuellen Kreisen, das die Lektüre von Guevaras Tagebüchern eher begünstigte als die Beschäftigung mit einem als reaktionär verrufenen Schriftsteller. Die Solidarität mit den Unterdrückten dieser Erde verband sich mit einer bestimmten Erwartungshaltung – nicht zuletzt auch an deren Literaturen.

Der Autor ist tot

Andere betonen die literarische Qualität von Borges’ Arbeiten und versehen diese Wertschätzung mit einem dick unterstrichenen obwohl: Da er großartig schreibt, verdient er es, wahrgenommen zu werden, obwohl er “wie ein Dinosaurier denkt” – wie es Pablo Neruda einmal in einem Interview formulierte. Es läßt sich aber noch ein dritter Weg denken, der sich nicht zuletzt aus Borges’ eigenen Arbeiten ableitet. Denn das Ende der Autorschaft im herkömmlichen Sinne, in zeitgenössischer Literaturtheorie längst ein Gemeinplatz, ist bei Borges in seiner ganzen Radikalität erprobt worden. Dabei scheut er sich nicht, auch die eigene Person voller Selbstironie zu zerlegen:
“Es wäre übertrieben zu behaupten, daß wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden;” heißt es in dem kurzen Prosastück “Borges und ich” von 1960, “Ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört.” Konsequent schließt “Borges und ich” mit der Bemerkung: “Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.”
Man mag diesen kurzen Text als bloßes Gedankenspiel abtun. Wer schrieb jene Seite? Eine kokette Frage, ließe sich einwenden, denn natürlich war es kein anderer als Borges. Wer aber ist Borges, könnte man zurückfragen; und spätestens hier wird es schwierig. Ist der Borges, der 1932 Discusión veröffentlichte, derselbe, der 15 Jahre später erblindete? Ist der, der 1942 in Zusammenarbeit mit seinem engen Freund Adolfo Bioy Casares unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq die Kriminalgeschichten Seis problemas para don Isidro Parodi (Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi) herausgab, derselbe, der 1961 gemeinsam mit Samuel Beckett den Formentor-Preis erhielt? Und ist der, der 1976 aus Pinochets Händen einen Orden empfing, derselbe, der sich in den dreißiger Jahren so vehement gegen die Hitler-Diktatur aussprach? Wer ist der Autor von El tiempo circular (Die kreisförmige Zeit), einem Text zwischen Essay und Erzählung, der von Platon zu Nietzsche, von Schopenhauer zu Marc Aurel springt, der sich also in ein bereits bestehendes Geflecht anderer Texte hineinwebt? Kann der Rückschluß von der Biographie auf das literarische Produkt überhaupt etwas aussagen? Und ist nicht die scheinbar unverbrüchliche Allianz von Werk und Person ein Irrglauben, der sich nur dann aufrecht erhalten läßt, solange das Subjekt als unumstößliche Einheit gilt?
Die Vorwürfe, die man angesichts der politischen Fehleinschätzungen Borges’ erheben kann, sind angebracht. Sie auf seine Texte zu übertragen, ist Unsinn. Zumal es noch einen ganz einfachen Grund gibt, warum Borges nicht aufhört lesenswert zu sein: Man kann seine Texte wieder und wieder lesen, ohne sich je zu langweilen. Jede neue Lektüre fördert unentdeckte Details zu Tage, noch beim zehnten Wiederlesen stößt man auf Anspielungen, die einem zuvor entgangen waren. Die schreckensreiche, fantastische, komische Welt vermag es stets den Leser von neuem zu faszinieren – und das ist eine Gabe, die nicht jeder literarische Text für sich beanspruchen kann.

Lizenz zum Töten

Eldorado liegt im Süden Parás in unmittelbarer Nähe der berühmten (und zur Zeit stilliegenden) Goldmine “Serra Pelada” und von Carajás, der größten Eisenerzmine der Welt. Eine Region intensiver Landkonflikte. Am 16. April blockierten 1500 Landlose die Landesstraße PA 150, die die Region mit der Landeshauptstadt Belém verbindet. Die Blockade sollte die Regierung dazu bringen, die Ansiedlung der Landlosen zu beschleunigen. Noch am selben Tag gab Gouverneur Almir Gabriel den Befehl, die Straße zu räumen. Die Aufnahmen eines Fernsehteams zeigen anscheinend, was geschah: Bei dem Versuch, die Straße zu räumen, werden die Polizisten von den Landlosen angegriffen. Die Polizei schießt zunächst in die Luft; als sie von den BesetzerInnen in die Flucht geschlagen wird, schießt sie mit scharfer Munition in die Menge. Aber eine weitere Sequenz läßt schon ahnen, daß es sich hier nicht einfach um eine Straßenschlacht handelte. Das Fernsehteam sucht in einer Hütte am Straßenrand Zuflucht, die Hütte wird beschossen. Die Reporterin schreit aus der Hütte: “Hier sind nur Frauen und Kinder”, die Polizei schießt weiter. Schließlich wird das Fernsehteam festgenommen.

Der Soziologenpräsident und das Massaker

Am Tag nach dem Massaker – bevor die Fernsehbilder gezeigt wurden – erklärte Präsident Cardoso, das sei eine Geschichte des “archaischen Brasiliens”. Klar, daß er als Vertreter des “modernen” Brasiliens damit nichts zu tun hat. Bankrotter kann sich eine zynische Vernunft kaum zeigen: Opfer und Täter sind zusammen nur noch Chiffren einer intellektuellen Leerformel. Als das Fernsehen die erschütternden Bilder zeigt, verkündet Cardoso andere Leerformeln: Das Massaker sei “unerträglich, nicht zu rechtfertigen, und erschüttert das Land und den Präsidenten”. Die späte Erschütterung hat einen einfachen Grund. Das beschossene und verhaftete Fernsehteam arbeitet für den Regionalsender TV Liberal, dem paraensischen Ausstrahler des allmächtigen Fernsehsenders Globo. Und Globo entschloß sich, die Bilder mit großer Intensität zu verbreiten. So wird Eldorado zu einem Massaker, das mehr als andere in letzter Zeit in Brasilien aufrüttelt.
Aber einen entscheidenden Teil dessen, was sich am 17. April abspielte, zeigen die Bilder des Fernsehens nicht. Nach den ersten gerichtsmedizinischen Gutachten sind mindestens zehn der Landlosen von der Polizei keineswegs im Konflikt erschossen, sondern gezielt hingerichtet worden. Zu den Gutachten kommen Zeugenaussagen. Um nur eins der blutigen Beispiele zu zitieren: Der siebzehnjährige Oziel Pereira, trotz seines Alters einer der Führer der Landlosen, wird von den Militärpolizisten aus dem Haus geschleppt, in dem er sich versteckt hatte, geschlagen und schließlich durch Schüsse in den Kopf getötet. Ein ganze Reihe von Zeugenaussagen stimmen darin überein, daß auch Kinder und Frauen getötet wurden. Unter den neunzehn registrierten Toten finden sich aber keine Frauen und Kinder. Zwei Lehrerinnen, die in einem der Busse waren, die blockiert wurden, sagen nun aus, daß sie gesehen haben, wie die Militärpolizisten Leichen von Frauen und Kindern abtransportierten. So bleibt also ein Zweifel über die wahre Zahl der Toten. Die Landlosenbewegung gibt an, daß etwa hundert Personen, die sich bei oder im Umfeld der Blokkade befanden, verschwunden seien. Ein wichtiges Detail zeigt, in welchem Geist die Aktion durchgeführt wurde: Militärpolizisten tragen in Brasilien Namensschilder auf ihren Uniformen. Vor dem Einsatz in Eldorado hatten die Militärpolizisten die Namensetiketten abgetrennt. Sie hatten offensichtlich die Lizenz zu töten.

Die Aktualität der Agrarreform

Das Massaker von Eldorado reiht sich in eine Serie von blutigen Landkonflikten ein. Das “archaische” Brasilien hat sich damit wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Bewegung der Landlosen, zu einem großen Teil im MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem-Terra) zusammengeschlossen, ist zu dem wohl unbequemsten Widersacher der Regierung Cardoso geworden. Das MST hat seit Beginn letzten Jahres eine unerwartete Mobilisationskraft gezeigt. Gezielt wurden die Landbesetzungen, insbesondere in den Bundesstaaten Sao Paulo und Paraná, intensiviert. In derselben Woche, in der das Massaker in Eldorado stattfand, besetzten 10. 000 Landlose in Paraná Teile einer 80. 000 Hektar großen Fazenda. Es ist die größte Landbesetzung in der Geschichte des MST. Während die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen eher wie von der Politik Cardosos betäubt wirken oder zumindest nur geringes Widerstandspotential entwickeln können, zeigt das MST eine erstaunliche Effizienz. In einer selbstgesuchten Teilisolierung von anderen sozialen Bewegungen Brasiliens, unterstützt von einem Teil der Kirche, hat das MST eine Strategie der gezielten Konfrontation verfolgt. Die blutigen Reaktionen zeigen, daß die Landfrage auch heute noch ein soziales Problem von höchster Priorität ist.
Tatsächlich hat Brasilien nie eine Landreform erlebt, die diesen Namen verdiente. Die Landverteilung ist nach wie vor eine der ungerechtesten der Welt. Von den 4,7 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben, die in Brasilien existieren, besitzen 58.000 Großgrundbesitzer 264 Millionen Hektar, oder 42,9 Prozent der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche des Landes. Allein die 350 größten Fazendas umfassen 50 Millionen Hektar. Die größte Fazenda Brasiliens gehört dem Bauunternehmer Cecilio Rego Almeida. Mit 4 Millionen Hektar ist sie größer als die Niederlande. Auf der anderen Seite teilen sich vier Millionen Kleinproduzenten, das sind 87 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe, nur 20 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Für den Bundesstaat Pará, dem Zentrum der gewalttätigsten Konflikte, sehen die Zahlen noch dramatischer aus. Die Anzahl der Landlosen ist schwer zu schätzen. Immer wieder wird eine Zahl von fünf Millionen genannt, aber dabei sind sicherlich viele posseiros mitgezählt, das heißt Kleinbauern, die zwar ein Stück Land bearbeiten, aber keine offiziellen Besitztitel haben.
Wie alle Regierungen hat auch Fernando Henrique Cardoso versprochen, etwas zu tun. Landreformen sind inzwischen aus der Mode geraten, Modernisierung lautet das neue Schlagwort. Die Ansiedlung von Landlosen läuft dabei eher unter den Stichworten “Sozialpolitik und Armutsbekämpfung”. Aber selbst die bescheidenen Ziele, die sich die Regierung zu erreichen vorgenommen hat, sind nicht erfüllt worden: Von den versprochenen 43. 000 Familien sind gerade einmal 7.000 angesiedelt worden. In den Händen der Staatsbehörde INCRA ist die Ansiedlung von Landlosen eine bürokratische, langwierige und teure Angelegenheit. Denn Brasilien ist, zumindest für Menschen, die Geld haben und einen guten Anwalt bezahlen können, durchaus ein Rechtsstaat. Einsprüche, lange Prozesse und zum Teil hohe Entschädigungen sind die Folge. Es war auch im Fall Eldorado diese Zähigkeit, welche die Aktion der LandbesetzerInnen provozierte: Immer wieder verzögerte sich die versprochene Ansiedlung auf der Fazenda Macaxeira wegen bürokratischer Schwierigkeiten. Nach dem Massaker versprach die Landesregierung nun Schnelligkeit.
Aber es sind mehr als nur bürokratische Schwierigkeiten, die eine andere Politik im Agrarbereich verhindern. Für die Regierung liegt hier keine politische Priorität, und sie ist politisch abhängig von reaktionären Agrarkreisen.

Konfuse Kabinettsumbildung

Der bisherige Landwirtschaftsminister Andrade Vieira war alles andere als ein Hoffnungsträger: Er ist Präsident der Bamerindus, der drittgrößten Privatbank des Landes, die selbst Großgrundbesitzer ist. Am Tag nach dem Massaker ist Vieira zurückgetreten.
Fernando Henrique zog aus den Ereignissen eine klassische Konsequenz: Er schuf ein neues Ministerium. Das bereits früher existierende “Ministerium für Agrarreform” erlebte die Wiederauferstehung. Chef des neuen Ressorts ist Raúl Jungmann, bisheriger Leiter der Umweltbehörde IBAMA. Die Besetzung hat durchaus eine Pointe: Jungmann ist Mitglied der PPS, der so umgetauften ehemaligen kommunistischen Partei. Die PPS hat sich inzwischen zu einer kleinen, aber recht effizienten reformerischen Gruppe gewandelt, hierzulande oft als “Linke light” tituliert. Jungmann hat in der schlecht beleumundeten IBAMA für eine gewisse Öffnung und Dezentralisierung gesorgt.
Für das neue Ministerium hat Cardoso ihm freie Hand gegeben. Der erste Schritt Jungmanns war, den Vorsitzenden der Landarbeitergewerkschaft CONTAG einzuladen, den neuzubildenden “Nationalen Rat für Agrarreform” zu leiten. Mit der Wahl Jungmanns hat Cardoso einen Mann seines Vertrauens in das neue Ministerium lanciert, um so das sozialreformerische Image seiner Regierung zu retten. Einen Erfolg hat die Bewegung der Landlosen damit erreicht: Die Agrarreform kehrt zumindest in die Regierungsrhetorik zurück. Was an Taten folgt, muß abgewartet werden.
Mit der Ausgrenzung des Ressorts “Agrarreform” aus dem Landwirtschaftsministerium hat Cardoso auf der einen Seite freie Hand, in einer Minikabinettsumbildung seine reaktionären Bündnispartner zu bedienen. Die PPB, Partei der Militärdiktatur, wurde bereits mit dem Ministerium für Industrie, Handel und Tourismus belohnt. Politikveteran Francisco Dornelles ist der neue Minister; die bisherige Amtsinhaberin, die smarte Dorothea Werneck, sollte das Landwirtschaftsministerium übernehmen, hat dies aber wegen eingestandener Inkompetenz abgelehnt. Bei Redaktionsschluß stand der neue Landwirtschaftsminister noch nicht fest.
Sicherlich wird es in den nächsten Wochen nicht an sozialer Rhetorik fehlen und vielleicht auch zu einigen spektakulären Ansiedlungen kommen. Durchgreifende Änderungen sind jedoch nicht in Sicht. Die sogenannte Agrarfraktion, ein Zusammenschluß von Abgeordneten, die Großgrundbesitzerinteressen vertreten, ist größer als die größte Partei des Parlaments – und erheblich disziplinierter. Gegen diesen Block unternimmt die Regierung nichts, sie hängt vielmehr politisch von ihm ab. Wenn Cardoso also das “archaische” Brasilien bekehren will, dann kann er bei seiner Regierung anfangen.

Strafvollzug und Straffreiheit

In Brasilien kam es Ende März im Bundesstaat Goiás zu einer Gefangenenmeuterei, bei der die rebellierenden Häftlinge 18 Geiseln in ihre Gewalt brachten, darunter den Direktor des Gefängnisses und mehrere Mitglieder einer Kommission von Richtern und Anwälten, die zur Begutachtung der dortigen Zustände ins Gefängnis gekommen waren. Für nahezu zwei Wochen übernahmen die revoltierenden Häftlinge das Centro Penitenciário Agroindustrial de Goiás (Cepaigo) in Selbstverwaltung, während die Polizei das Terrain weiträumig umstellt hielt.

Von Meutereien, Medien und Maconha

Die Häftlinge forderten Drogen, Waffen, Geld und Fluchtautos, in denen sie dann mit einigen Geiseln flohen. Während der live im Fernsehen übertragenen Verfolgungsjagd kam es zu mehreren Schußwechseln, bei denen ein Häftling und eine Passantin getötet wurden. Letztlich wurden die Flüchtenden – unter Beisein der anwesenden Reporterschar – von der Polizei gestellt.
Das brasilianische Fernsehen machte aus der Gefängnisrevolte eine allabendlich, pünktlich zu den Nachrichten fortgesetzte reality-show als telenovela. Der TV-Star wurde Leonardo Pareja, ein zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Gefangener, der während der Revolte Sprecher der Häftlinge war und nach Angaben der Geiseln entscheidend dazu beigetragen hatte, daß die Revolte “verhältnismäßig unblutig” verlief. Pareja war schon im letzten Jahr ein Medienereignis, als er ein dreizehnjähriges Mädchen entführt hatte und mit ihr durch drei Bundesstaaten vor der Polizei floh und der Presse bereitwillig Interviews gab. Nun wurde er zum Hauptdarsteller des Abendprogramms bei TV-Globo: Das in den Medien alles beherrschende Bild der Gefängnismeuterei zeigte Pareja oben auf dem Dach des Gefängnisses sitzend, auf der Gitarre spielend und dabei genüßlich maconha-rauchend, vor den Augen der über Satellit dem Spektakel beiwohnenden brasilianischen Öffentlichkeit.
Durch die lässigen Allüren des in der Öffentlichkeit zum bom bandido avancierten Pareja und dessen Publicity fühlte sich die Wochenzeitschrift Veja derart provoziert, daß sie in einer Titelstory die Medienwirksamkeit dieses “Banditen” und das Verhalten der Medien anprangerte. Bedauernswert fand die Veja es außerdem, daß es in der brasilianischen Polizei nicht genügend für derartige Ernstfälle ausgebildete Spezialisten gebe, wie zum Beispiel in der BRD die GSG 9 … Solche gedanklichen Auswüchse sind symptomatisch für eine Berichterstattung über eine Häftlingsmeuterei, bei der mit keinem Wort über ihre Ursachen reflektiert wird. Die Zustände in den brasilianischen Gefängnissen als Ursachen der Meuterei fanden in der Veja keine Erwähnung. Der soziale Sprengstoff in den brasilianischen Knästen geriet dabei letztlich vollkommen aus dem Blickwinkel des öffentlichen Interesses: Es scheint, daß das Rauchen von Maconha einen größeren Skandal darstellt als Menschenrechtsverletzungen.

“Müllkippen für Gefangene”

Das Gefängnis Cepaigo ist mit seinen 702 Gefangenen um 100 Prozent überbelegt, wie die meisten Haftanstalten Brasiliens, in denen sich Schätzungen zufolge rund 130.000 Häftlinge 60.000 Plätze teilen müssen. Im April 1989 waren in Brasilien nach offiziellen Angaben “nur” 90.691 Personen inhaftiert, die eigentliche Kapazität der Haftanstalten lag damals bei 43.338 Personen. Diese unzumutbaren Bedingungen sind einer der Gründe für die unzähligen Gefängnisrevolten. Statistisch kommt es dreimal monatlich zu Meutereien in Brasiliens Gefängnissen. 1992 hatten revoltierende Häftlinge in einem Gefängnis in Minas Gerais stündlich russisches Roulette “gespielt”, um auszulosen, wer von ihnen erschossen werden sollte, damit auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Selbst ein brasilianischer Justizminister der letzten Militärregierung unter Joâo Figueiredo gestand 1980 ein, die Situation in den brasilianischen Gefängnissen sei “eine der dramatischsten in der Welt”. Sie seien “Müllkippen für Gefangene, wo der Einzelne den schlimmsten Erniedrigungen unterworfen wird”. In einem Bericht über Folter und außergerichtliche Hinrichtungen in Brasilien, den amnesty international 1990 veröffentlicht hat, wird die langjährige Militärdiktatur für die Verwahrlosung der Gefängnisse verantwortlich gemacht.
Um die soziale Lage in den Gefängnissen zu entschärfen und die angesichts der unzumutbaren Zustände in den Knästen revoltierenden Häftlinge zu besänftigen, erließ Präsident Cardoso als Reaktion auf diese längste Gefängnisrevolte Brasiliens am 11. April ein Dekret, nach dem nicht vorbestrafte Häftlinge, die zu bis zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt sind, bei guter Führung vorzeitig, frühestens aber nach einem Sechstel ihrer Haftzeit, entlassen werden können. Dies könnte rund 13.000 Gefangenen zugute kommen. Generell ausgenommen sind hiervon Häftlinge, die wegen Mordes, Folter, Vergewaltigung, Korruption oder ähnlicher Verbrechen einsitzen.
Die Haftanstalten werden in ganz Brasilien bundesstaatlich geführt. Die Gefängnisse unterstehen direkt dem jeweiligen Justizministerium, einzige Ausnahme ist der Bundestaat Sâo Paulo, wo 1991 der Gouverneur Fleury die Gefängnisse dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellte. Somit unterstehen Polizei und Haftanstalten einem einzigen Ministerium, ein Zustand, den amnesty international in einem Bericht von 1993 über das Gefängnismassaker von Carandiru, Sâo Paulo, für äußerst bedenklich hält.

Massaker in Block 9

Carandiru, so heißt der Stadtteil von Sâo Paulo, in dem sich die Haftanstalt Flamínio Fávero befindet, die allgemein nur Carandiru genannt wird. Diese ist mit ihren 7200 Insassen das größte Gefängnis Südamerikas. Da es zu Beginn der 50er Jahre als Untersuchungsgefängnis für nur 3250 Häftlinge errichtet wurde, ist es heutzutage, wie nahezu alle brasilianischen Gefängnisse, zum einen weit überbelegt, zum anderen werden Untersuchungshäftlinge mit schon rechtskräftig verurteilten Personen gesetzwidrig in gemischten Zellen untergebracht. Diese gemischte Unterbringung wurde 1984 mit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (Lei de Execuçâo Penal) gesetzlich verboten. Doch die Praxis widerspricht dem. Carandiru hält noch einen anderen Rekord aller brasilianischen Haftanstalten: Dort wurden im Block 9 (dem Pavilhâo 9) am 2./3. Oktober 1992 nach einer Meuterei 111 Häftlinge von der Militärpolizei erschossen, weitere 110 verletzt. Amnesty international kam in einem Bericht von 1993 zu dem Schluß, daß die Polizei die Gefangenen “kaltblütig ermordet” hatte.
Hauptverantwortlich für das Massaker war Coronel Ubiratan Guimarâes, der noch 1994 – allerdings erfolglos – bei den Stadtverordnetenwahlen in Sâo Paulo kandidierte. Ubiratan ist Oberst der ROTA, einer berüchtigten Einheit der Polizei Sâo Paulos, deren zweifelhafter Ruf in der enorm hohen Zahl von erschossenen Personen gründet. Ein Großteil der Polizisten, die am Massaker in Carandiru beteiligt waren, sind Mitglied der ROTA.
Im März 1993 wurden Gerichtsverfahren gegen Coronel Ubiratan und 119 weitere am Massaker beteiligte Polizisten von der Militärjustiz eingeleitet. Diese Justiça Militar ist für die im Dienst begangenen Delikte von Militärpolizisten zuständig. Jede Richterkommision dieser Militärjustiz setzt sich aus einem zivilen Richter und drei Militärangehörigen zusammen, die mindestens Offiziere sein müssen, aber über keine höhere juristische Ausbildung zu verfügen brauchen. Anfang 1996 erklärte sich die Justiça Militar als Reaktion auf öffentlichen Druck für nicht zuständig und übertrug das Verfahren der zivilen Gerichtsbarkeit. Ein Urteil steht nun, dreieinhalb Jahre nach dem Massaker, noch immer aus, aber zumindest handelt es sich bei der Übertragung der Jurisdiktion von der Militärjustiz auf zivile Gerichte um eine Rarität in der Geschichte der brasilianischen Militärjustiz.

Korporativistische Justiz

Elói Pietá, Rechtsanwalt, Abgeordneter des Bundesstaats Sâo Paulo und Autor eines Buchs über das Gefängnismassaker in Carandiru, spricht deshalb von einer “korporativistischen Justiz”, und unabhängige Gruppen fordern folgerichtig die Abschaffung der ausschließlichen Zuständigkeit der Militärjustiz für Polizisten, die nach Artikel 124 und Art. 125 §4 der brasilianischen Verfassung von 1988 für alle crimes militares zuständig ist. Somit hat sie für alle von Militärangehörigen (also auch von Polizisten) im Dienst begangenen Straftaten alleinige Urteilskompetenz.
Begehen Militärangehörige Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihres Dienstes, so waren und sind – nach dem Gesetz – zivile Gerichte dafür zuständig. Dies ist der Grund dafür, daß die Militärpolizisten, die im August 1993 das Massaker an 21 Menschen in der Favela Vigário Geral, einem Vorort von Rio, verübt hatten, durch zivile Gerichte verurteilt wurden. Diese von der Verfassung vorgeschriebene Bestimmung wird aber in der Praxis oft hintergangen, da die kriminologischen Untersuchungen des jeweiligen Falles im Rahmen des sogenannten Inquérito Policial Militar (IPM) von der Militärpolizei selbst durchgeführt werden.
Um diese Praxis der Straffreiheit zu verhindern, liegt dem Kongreß in Brasília nun eine Gesetzesänderung vor, nach der die Rechtsprechung für durch Militärpolizisten im Dienst und außerhalb der Kaserne begangene Verbrechen der zivilen Gerichtsbarkeit übertragen würde. Doch bliebe auch nach dem neuen Gesetz die kriminaltechnische Untersuchung der Vorfälle in den Händen der Militärpolizei und nicht der Polícia Civil, wie einige der Initiatoren des Reformprojekts es erhofften, so daß weiterhin die Gefahr der Manipulierung von Indizien im Rahmen dieser krimaltechnischen Untersuchung durch die Militärpolizei besteht.
Wenn der Kongreß der Gesetzesänderung zustimmen sollte, bleibt abzuwarten, ob die Verlagerung der Zuständigkeit von der Militärjustiz zu zivilen Gerichten die Tradition der Straffreiheit bricht. Noch agiert vor allem die Militärpolizei in einer Art und Weise, die an Todesschwadrone erinnert. So sticht vor allem die Militärpolizei Sâo Paulos mit erschreckenden Bilanzen hervor: Während 1991 die Polizei von New York City 27 Personen erschoß, tötete die Militärpolizei Sâo Paulos 1.140 Personen, was einem Viertel aller gewaltsamen Tode in diesem Zeitraum entspricht. 1991 und 1992 wurde durchschnittlich alle sieben Stunden ein Mensch durch die Polizei in Sâo Paulo getötet. Nach Zahlen des Journalisten Caco Barcellos tötete diese Polizei von 1970 bis 1990 nahezu 8.000 Personen, von denen die Mehrzahl arm, schwarz, Migranten aus dem Nordosten Brasiliens, um 19 Jahre alt war und über ein monatliches Durchschnittseinkommen von ungefähr 60 US-Dollar verfügte.
Diese Angaben ähneln dem soziographischen Durchschnitt der Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen. Nach Zahlen von ISER, einer kirchennahen Nichtregierungsorganisation, waren 1988 68,6 Prozent der Häftlinge im Bundesstaat Rio de Janeiro Schwarze, während sie nur 40 Prozent der Bevölkerung von Rio ausmachen. Ein Viertel der Gefangenen war jünger als 25 Jahre, ein Drittel 25 bis 31 Jahre alt. In den Gefängnissen waren 97 Prozent der Insassen Männer, drei Fünftel von ihnen hatten keine oder nur wenig Schulbildung erhalten, die Hälfte mußte vorher ohne die gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherungskarte, der carteira assinada, arbeiten, und 46 Prozent der Inhaftierten waren erstmalig zu einer Haftstrafe verurteilt.
Die Opfer von Polizeigewalt sind die Gleichen wie diejenigen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, und das auf mehreren Ebenen: Die Marginalisierten in peripheren Konkurrenzgesellschaften werden von der Teilhabe an ökonomischen Prozessen ausgeschlossen, sie werden wegen ihrer Armut als Bedrohung der Ordnung angesehen, die es zu schützen gelte. In der Vorstellungswelt der besitzstandswahrenden Mittelklasse werden die Begriffe “arm”, “schwarz” und “gefährlich” als identisch gleichgesetzt. Die Segregation der Armen findet im sozialen Ausschluß ihren kruden Ausdruck. Die soziale Frage in der brasilianischen Gesellschaft wird weiterhin behandelt nach dem miesen Bonmot eines ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Washington Luis, der 1926 verlautbaren ließ, die soziale Frage wäre nur eine Frage der Polizei. Polizei und Sicherheitskräfte tragen ihren Teil zum Schutz dieser ungerechten Ordnung bei, indem sie die Ausgeschlossenen aus den Stadtteilen der Wohlhabenderen vertreibt, in überfüllten Gefängnissen von der Gesellschaft abschließt oder sie erschießt.

Literatur:
amnesty international: Brasilien. Jenseits des Gesetzes, Köln 1990.
Barcellos, Caco: Mord in Sâo Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur, Göttingen 1994.
Campos Coelho, Edmundo /ISER: Estudo Descritivo do Censo Penitenciário do Rio de Janeiro 1988, Rio de Janeiro 1988.
FDCL/amnesty international: Carandiru – das Gefängnismassaker in Sâo Paulo, Berlin 1995.

Stabilität auf Zeit

Die kleine Minderheit von vier Millionen BürgerInnen, die nach Jahren der Deindustrialisie­rung und Deregulierung von der argentini­schen Mittelklasse noch übriggeblieben sind, haben wohl am mei­sten von der Währungs­stabilität profitiert. Gestiegene Gehälter in der Pri­vatwirtschaft und in leitenden Positionen der Verwaltung bei einer erleichter­ten Kreditaufnahme haben ihr Zugang zu den mo­dernsten Im­portprodukten ermöglicht. In den Jahren galoppierender Inflation unter der Regierung Alfonsín schien ein gewisser Nach­holbedarf entstanden zu sein, der in den letzten Jahren befriedigt werden kann wie zu Zeiten des “süßen Geldes” (plata dulce) unter der letzten Militärdiktatur. In erster Linie wurden die flüssi­gen Dollar-paritätischen Pesos in langlebige Konsumgüter, Ap­partements und Reisen umge­setzt.
Mehr denn je ist der Konsum nicht nur auf die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung ausge­richtet, sondern darauf, das neu Erwor­bene zeigen zu können. Ein Auto sollte importiert sein, auch wenn auf dem heimischen Markt vergleichbare Qualität zu bekommen ist. Bei Bekleidung und Schuhen zählt nichts mehr als das sicht­bare Markenzeichen. Reisen werden danach gebucht, was gerade “in” ist. Dazu zählen Disneyland in Orlando, Florida, oder Cancun in Mexico.
Heute fährt der Mittel­klasse-Argentinier allerdings auch nach Punta del Este, in den uruguayi­schen Badeort der “Reichen und Schönen” des Cono Sur, und wenn’s nur für eine Woche ist.
Konsum und Image
als Lebensinhalt
Natür­lich wird auch an die Bedürf­nisse der Kinder gedacht. So rechnete das bedeutendste politische Wochenmagazin “Noticias” kürzlich vor, was die Spröß­linge der Mittelklasse so benötigen: Für Studium, Un­terhaltung, Bekleidung, Miete und Fahrtkosten kommen mo­natlich ca. 850 US-Dollar zu­sammen, etwa das Dop­pelte ei­nes argentinischen Min­destlohns.
Viele haben sich zur Erfül­lung dieser lang gehegten Wün­sche bis über die Oh­ren ver­schuldet. Selbstverständlich sind Kredite in US-Dollars aufzu­nehmen. An­sonsten gilt nach wie vor die beliebte Zah­lungsweise mit Kreditkarte, wobei man bis zur Abbuchung im besten Fall zwei Monate gewinnen kann, und es wird auf Raten gekauft.
An­gesichts seiner eigenen Ver­schuldungssituation resü­miert ein selbstkritischer Gesprächs­partner, die Ar­gentinierInnen hätten wohl eine ökonomi­sche Harakiri-Mentalität entwickelt: Was zähle, sei der Konsum im Augenblick, auch wenn die Verschuldung beispiels­weise bei einer Abwer­tung des Peso sicher in den fi­nanziellen Ruin führe.
Für Aufsehen sorgte Ende 1994 die Veröffentlichung der offiziellen Arbeitslo­senstatistik. Mit über 13 Prozent wurde ein neuer Rekord aufge­stellt, in ei­nem Land, dem sein Präsident vor fünf Jahren eine “produktive Revolution” versprochen hatte. Gleich nach der Veröffentli­chung meldeten sich Regie­rungsvertreter und schließlich der Präsident, an dem Besorg­nis über die soziale Lage im Lande sonst abperlen wie an einem Re­gencape, höchstpersönlich zu Wort, um die Daten als übertrie­ben zu demen­tieren. Bei höchstens 9 Prozent liege die Arbeitslo­sigkeit, rechnete Menem vor.
Tatsächlich jedoch, so belegt Susana Torrado, ehe­mals hohe Funktionärin des nationalen Sta­tistikinstituts INDEC, haben rund 40 Prozent der Argenti­nierInnen Probleme mit dem Ar­beitsplatz. Offiziell würden je­doch le­diglich die Personen stati­stisch berück­sichtigt, die sich ar­beitslos gemeldet hät­ten. Wer sich dagegen innerhalb der letz­ten Woche nicht mehr arbeitslos gemeldet habe, falle aus der Sta­tistik. Ebensowenig tauchten diejenigen in der Da­tensamm­lung auf, die hoffnungslos unter­be­schäf­tigt seien, mit Ein­künften unter­halb des Ex­istenzminimums auskommen müßten oder schwarz arbeiteten. Dabei gebe es von Mal zu Mal weniger Lohnab­hängige und immer mehr unabhängig Be­schäftigte, womit in erster Linie infor­melle Tätig­keiten gemeint sind – etwa ambulante Händ­lerInnen.

An der Spitze der Arbeitslo­senstatistik stehen Städte wie San Mi­guel de Tucu­mán, die wichtigen Hafenstädte Bahía Blanca und Rosa­rio und die Provinzhaupt­stadt Santa Fé. Im Großstadtgürtel um Buenos Ai­res liegt die offi­zielle Arbeitslo­senquote bei 14,9 Prozent, und die Industriebetriebe sterben weiter. Gerade hier hat man Angst vor den Kon­sequenzen der Marktöffnung im Zuge des Mer­cosur. Der brasilianischen Industrie­produktion fühlt man sich nicht gewachsen. Schon jetzt sind in den Straßen zahlrei­che Volkswagen do Brasil zu se­hen, und auf den Landstraßen aus Richtung Norden rollen im­mer mehr brasilianische LKWs, ob nun mit Auto­teilen oder Brahma-Bier bela­den.
Der Besitzstand
wird verteidigt
Wichtigste Antwort der Poli­tik auf die wachsende Arbeitslo­sigkeit ist ein Geset­zespaket zur weiteren Flexibilisierung der Ar­beit. Erwartet werden Produktivitäts­zuwächse und eine Verbesserung der in­ternationalen Konkurrenzsitua­tion, denn die Arbeitskraft sei in Argentinien nach wie vor teurer als in den Nachbarländern – ver­sprochen wird eine rasche Ab­nahme der Arbeitslosenzahlen.
Publikums­wirk­samer ist aller­dings eine mit Unter­stüt­zung der Medien betriebene Kampa­gne ge­gen illegal Beschäftigte, die über­wiegend aus Chile, Peru und Bolivien kommen. Daß diese auf dem Bau und in einfachen Dienstleistungen Eingesetzten zahlenmäßig eigentlich keine Rolle spie­len, stört dabei wenig. “Die Chilenen nehmen uns die Ar­beitsplätze weg”, heißt es.
Der Staat, hier personifiziert durch den Innenminister, veran­laßt Raz­zien, und das Fernsehen setzt alles ent­sprechend ins Bild: Illegale ausländische Arbeiter werden wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt, als erste Mel­dung in den Abendnach­richten. Die neue­sten Daten des INDEC belegen dagegen: Selbst wenn alle in den letzten fünf Jah­ren nach Argentinien ge­kommenen Arbeits­kräfte in ihre Heimat­länder zurückkehren würden, sänke die Arbeitslosig­keit um le­diglich 0,2 Prozent.
Insbesondere im Großstadt­gürtel von Buenos Aires sind Armut und soziale Ungerechtig­keit weiter gewachsen. Hier tei­len sich 54 Prozent der am unte­ren Rand der Einkommenspyra­mide Angesiedelten un­ter­einander ebensoviel wie die 6 Prozent an ihrer Spitze. Die so­zialen Konflikte und die Krimi­nalität nehmen drastisch zu, und auch hier reagiert der Staat demon­strativ mit harter Hand. Immer häufiger werden beson­ders jugendliche Delin­quenten von Polizisten umgebracht.
Medien, Glanz und Glitter trüben die Wahrnehmung
Wäh­rend die Reichsten in pri­vat bewachten Vierteln des Hauptstadtbezirks wohlge­schützt leben, sind in dieser Region ange­siedelte Kleinun­ternehmen und Mittel­klasse-Wohnungen Ziel von Einbrüchen und Rau­büberfällen. Immer häufiger verteidigen die Besitzer ihr Ei­gentum mit der Waffe in der Hand, und die Justiz zeigt dabei weitgehend Verständnis.
Vor etwa zwei Jahre erregte der Fall eines Mannes Aufsehen, dem mehr­fach sein Cassettenre­corder aus dem Wagen gestohlen worden war. Als er bei einem weiteren Diebstahlversuch den Täter stellen konnte, erschoß er ihn auf of­fener Straße. Nach wie vor befindet sich der Schütze, ein Ingenieur und braver Fami­lienvater, auf freiem Fuß. Das Ge­richt gestand ihm zu, er habe sich in einer Schocksituation be­funden.
Ähnliches wer­den wohl ein Vater und sein Sohn geltend ma­chen können, die im Dezember nach dem Diebstahl ihres Autos den po­tentiellen Täter verfolg­ten, mit mehreren Schüssen verletz­ten, auf ein leeres Grund­stück warfen und dort verbluten lie­ßen.
Daß die Wahrnehmung der wirklichen sozialen Lage allzumal bei der konsumorien­tierten Mittelklasse getrübt er­scheint, dafür sorgen die Wer­bung und die Me­dien, allen voran das Fernsehen. Geradezu obszön erscheinen in diesem Kontext die Hinweise auf Schlankheits­kuren, Diäten und Fitness, die neben der Markenklei­dung die äußere Er­scheinung der moder­nen Argen­tinierin und ihres männlichen Pendants vervollkommnen sol­len. Vor- und Nachmittagspro­gramme des Fernse­hens sind mit Telenovelas argentinischer Pro­duktion, venezo­lanischen oder mexi­kanischen Culebrones, die unendli­chen Fernseheserien, oder Spielshows ge­füllt.
Unterhaltung ist alles, je greller und lauter, um so besser. Die höchsten Ein­schaltquoten erzielt nach wie vor die nie al­ternde Mirta Legrand, die seit Jahren Gäste aus Politik, Sport und Showbusiness zum Small­talk beim Mittagessen einlädt. Einmal im Jahr darf auch der Präsident kommen und nach Herzenslust plaudern.
In den Abendprogrammen dominieren seit zwanzig Jahren dieselben Namen die Diskussionssen­dungen. Bernardo Neu­stadt (“Tiempo Nuevo”) ver­breitete seine reaktionären Weis­heiten schon unter der Militärdikta­tur. Mariano Gron­dona tat dies frü­her mit ihm ge­meinsam, hat mittlerweile jedoch sein eigenes Programm (“Hora Clave”). Die beiden Altmeister haben inzwi­schen mit “Hadad y Longobardi” eine ju­gendliche Konkurrenz bekommen. Und bei allen haben in den letzten Mo­naten Sex und Crime als Thema gegenüber der Politik an Ge­wicht gewonnen.
Die Korruption ist öffentlich wie selten – macht nichts
Die Korruption grassiert. Pa­gina/12 als einzige bedeutende kritische Tageszeitung mit einer Auflage von über 100.000 Ex­emplaren denun­ziert zwar nach wie vor unermüdlich die zahlrei­chen Korruptions­fälle. Aber auch sie mußte zum Jah­resende fest­stellen, daß zwar einige Fälle vor Gericht verhandelt wurden, kein einziger aber auch zur Verurtei­lung kam.
Zwar stehen über 70 hohe FunktionäInnen und persön­liche FreundInnen des Präsidenten aus Unter­nehmerkreisen vor Gericht, aber längst ist die Justiz selbst Teil des Korrupti­onssystems ge­worden. Um so un­verfrorener wird in die Kameras der Nach­richtenprogramme gelogen, um so heftiger werden Journali­stInnen der Ver­leumdung be­schimpft.
Während die argentinischen RentnerInnen nach wie vor für die pünkt­liche Auszahlung ihrer Renten demon­strieren müs­sen, wurden in der staatlichen Ren­tenversicherung PAMI in den Jah­ren der Menemregierung 1500 sogenannte ñoquis in den Gehaltslisten geführt. Das sind Funktionäre, die ledig­lich am Monatsende an ihrem Arbeits­platz erscheinen, um den Ge­haltsscheck entge­genzunehmen. Hier bediente die peronisti­sche Regierung ihre Klientel teilweise mit Gehältern zwischen 3.000 und 5.000 US-Dollar monatlich.
Lästig scheint die Denunzia­tion der Korruptionsskandale in den Me­dien für die Regierung trotzdem zu sein. Wie sonst er­klären sich die Versuche der Re­gierung, die Presse mundtot zu ma­chen. Der dritte Anlauf wurde Anfang des Jahres gestar­tet: Die neueste Gesetzesvorlage zum soge­nannten Ley Mordaza (Knebel) wurde von Menem selbst eingebracht. Es droht Jou­nalistInnen, die “Verleum­dun­gen” publi­zieren oder “falsch be­richten”, mit ho­hen Strafen. Für die veröffentli­chenden Me­dien sollen Geldstra­fen bis zu 200.000 US-Dollar und Ver­pflichtungen zur Ent­schädigung der Betroffenen bis zu 500.000 US-Dollar fällig werden.
Ein weiterer Schritt, kleinere, kritische Me­dien ökonomisch auszuschalten, ist die Verpflich­tung, sich unabhängig von ihrer Größe in Höhe von 500.000 US-Dollar versichern zu lassen. Zu­sätzlich soll eine neue Rechtsfi­gur geschaffen werden, die so­genannte “falsche Beschuldi­gung”. Da­nach dürfen keine Verdächtigungen, die “auf falschen Tat­sachen beruhen”, mehr veröffentlicht werden.
Die Mittelklasse steckt ob ih­rer vielen Kredite tief in der menemistischen Schuldenfalle. Sie wird den Präsiden­ten wählen, der am glaub­würdigsten die Fortsetzung der Währungs­stabilität ver­spricht. Menem machte mit der Wahl des jetzi­gen In­nenministers Ruckauf zu seinem Kandidaten auf die Vizepräsident­schaft ein weiteres Angebot an die Mittel­klasse.
Ruckauf, unter Isabel Peron 1975 schon einmal Mi­nister, ist ein aalglatter Law and Order-Vertreter. Er verspricht hartes Durch­greifen gegen Kriminelle und Schutz des Besitzstandes. Menem selbst scheint Garant für den Wahlsieg im alles entschei­denden Stim­menbezirk des ver­armenden Großstadtgürtels von Buenos Ai­res.
Ausschlaggebend auch hier: die Währungsstabi­lität nach den Jahren der Geldentwertung unter der Regierung Alfonsín mit sei­ner “Radikalen Bürgerunion”, UCR. Zudem bietet eben diese zweite große Volkspar­tei keine Alternative. Ihr erst vor wenigen Monaten gekürter Spit­zenkandidat Massa­chessi, bisher Gouverneur der Agrarpro­vinz Rio Negro, scheint von vorne­herein weit abgeschlagen. Auch er ver­spricht die Fortführung der Stabilität allerdings mit mehr so­zialer Gerechtigkeit. Die wich­tigsten wichtigsten Schritte der ökono­mischen Umstrukturie­rung hatte die UCR in den letzten Jah­ren mitgetragen.

Der politi­sche Pakt zwischen den beiden großen Parteien, der zur Verfas­sungsänderung zwi­schen dem aktuellen Präsidenten und seinem Vor­gänger arran­giert worden war, scheint für die Wäh­lerInnen ein weite­rer Grund, sich eher für eine be­reits bekannte Regie­rungspolitik zu entscheiden, anstatt mit der UCR ein neues Risiko einzuge­hen.
Die Frente Grande (FG), das linke Op­positionsbündnis, hat in den letzten Mona­ten vor allem personalpoli­tisch von sich hören lassen. Unter Protest gegen den Führungsstil und den Verlust linken Profils trennte sich Pino Solanas von der FG. Es gehe an­scheinend nur noch darum, wer Präsident­schaftskandidat werde, monierte der Filmema­cher. In­zwischen hat er selbst eine neue Partei gegrün­det, die ihn sicher als Präsident­schaftskandidaten auf­stellen wird.
In der FG selbst ist der pero­nistische Dissident Chacho Alva­rez Spit­zenkandidat. Unter seiner Führung schloß sich die FG mit anderen Oppositionsgrup­pie­run­gen zusammen, deren wichtigste von einem weiteren Sprößling des Anti­menemismus, dem Gou­verneur von Neu­quén, José Octavio Bordón, geführt wird. FREPASO heißt dieses neue Oppositions­bündnis nun, Frente País Solidario.
Zum Gründungs­akt im De­zember in Buenos Aires kamen immerhin rund 10.000 Men­schen. Nach der end­gültigen Verabschie­dung von radikalen Positionen etwa der PC und der Vereinigung mit Bordón, der al­lerdings ein relevanteres Stim­menpotential mitbringt, soll nun bald durch eine offene Wahl ent­schieden wer­den, wer von den beiden Ex-Peronisten gemeinsa­mer Präsident­schaftskandidat der FREPASO werden soll. Bisher treten Alvarez und Borbón ge­meinsam auf, Hauptthemen: Korruption und soziale Unge­rechtigkeit. Auf ihr wirt­schafts­po­liti­sches Konzept angespro­chen, läßt sich die Kernaussage der Link­sopposition jedoch so zu­sammenfassen: “Wir ga­ran­tie­ren die Stabilität besser als der Mene­mismus”, so Chacho Alva­rez in einem Inter­view.
Bei solch offen­sichtlichem Mangel an politi­schen Alter­nativen scheint die Wiederwahl Carlos Menems sicher. Politik ist darauf reduziert, Währungs­stabilität zu garan­tie­ren. Obwohl offensichtlich ist, daß auch die jetzige Regie­rung dies längerfri­stig nicht kann, hat die argen­tinische Mit­tel­klasse doch keine Wahl, sie hat nur eine Hoffnung und eine Op­tion.

Repression gegen Arme und ihre FürsprecherInnen

LN: Hat der Militäreinsatz in Rio eigentlich irgendjemanden überrascht?
Volmer do Nascimento: Nein, schon 1993 und 94 hat es eine Art Probelauf gegeben, als die Militärs in einigen Vierteln Rio de Janeiros wie in Tijuca patrouillierten. Und schon im Sommer 1994 konnte man in der Zeitung lesen, was geplant war, so daß die Drogenbosse genü­gend Zeit hatten, die Favelas zu verlassen.
Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?
Volmer: Wir haben unter­sucht, ob die Gewalt abgenom­men hat, und festgestellt, daß seit Beginn der Invasion 46 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Die Militärs selber geben an, daß der Drogenhandel um 50 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig haben die Überfälle auf Banken um 200 Prozent zugenommen und die Zahl der Entführungen hat sich verdreifacht. Die Gewalt hat sich insgesamt nicht verrin­gert, sondern nur verlagert.
Tania: Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß man sagen, daß die Militäraktion zu nichts anderem als zu einer weiteren Gefahr für die arme Bevölkerung geführt hat. Wie man sieht, ist der Staat kein bißchen daran in­teressiert, sich wirklich um die öffentliche Sicherheit zu küm­mern.
Wie könnte die öffentliche Si­cherheit denn gewährleistet werden?
T: Um eine öffentliche Si­cherheit in Brasilien wirklich zu garantieren, bedarf es als erstes einer gerechteren Einkommens­verteilung. Man muß berück­sichtigen, daß es in Brasilien nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gibt und der monat­liche Mindestlohn 70 Reais beträgt. Die Tatsache, daß Jugendliche im Drogenhandel täglich den zweifachen Min­destlohn verdienen, gibt eine Er­klärung dafür, warum die Dro­genbanden eine derartige Macht erringen konnten. Dazu kommt eine völlige Unterbezahlung der Polizei mit 170 Reais, was er­klärt, weshalb die Polizei an die­sem Gewaltgeschäft beteiligt ist.
Ein weiterer Schritt müßte die Erneuerung der Zivil- und der Militärpolizei sein. Zudem müßten auch mehr Mittel für be­reits laufende Verfahren und die Aufklärung der Morde zur Ver­fügung gestellt werden. Es kann nicht angehen, daß wie in Duque de Caxias tausende von Mord­fällen von nur 2 Polizeibeamten untersucht werden. In Wirklich­keit handelt es sich bei dieser Intervention um einen Probelauf für eine viel weitergehendere militärische Intervention. Das wahre Motiv ist, daß das Militär in das zivile Leben eingreifen will.
Welche Rolle spielt die jetzige Regierung von Fernando Hen­rique Cardoso hinsichtlich des Militäreinsatzes?
Mit der Wahl Fernando Hen­rique Cardosos war die Hoffnung verbunden, daß sich vieles ver­bessern würde. Die Realität ist aber, daß nicht durch soziale, sondern durch militärische Ak­tionen eingegriffen wurde. Kennzeichend für den neuen Re­gierungsstil ist die Amnestie des Senators Humberto Lucenas, der vom Obersten Gerichtshof we­gen Machtmißbrauch und Kor­ruption verurteilt worden war. Statt wirklich gegen Fälle von Korruption vorzugehen, wurde das gesamte Ministerium für So­ziales aufgelöst. Stattdessen wurde ein neues Sportministe­rium eingerichtet, das wir “Fußballministerium” nennen, mit Pelé als Minister. Die Ge­hälter der ParlamentarierInnen wurden um 100% erhöht, wäh­rend sich der Präsident Cardoso persönlich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 100 Reais ausgesprochen hat.
Unterschiedliche Reaktio­nen bei der Bevölkerung
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Militäroperation?
Das größte Interesse an einer Militärinvasion hatten die Rei­chen und die Mittelschicht. Sie stehen mit der Bewegung “Viva Rio” in Verbindung, die letztes Jahr gegründet wurde, um gegen die Gewalt in Rio de Janeiro et­was zu unternehmen.
Von den FavelabewohnerIn­nen haben viele zunächst ap­plaudiert, da sie sich erhofften, daß die Hausdurchsuchungen durch die Polizei und die Feuer­gefechte zwischen den soge­nannten Banden aufhören wür­den. Auch die OAB (die An­waltsorganisation “Ordem das Avogados do Brasil”) hat sich am Anfang hinter die Invasion gestellt.
Heute teilt sich die Bevölke­rung in diejenigen, die die Inva­sion von außen beobachten und ihr von den Medien beeinflußt positiv gegenüberstehen und in die FavelabewohnerInnen, die sie ob der am eigenen Leib er­fahrenen Auswirkungen ableh­nen.
Ist ein Ende der Intervention abzusehen?
Wir beobachten, daß die In­tervention ständig verlängert wird. Zunächst wurde gesagt, daß die Invasion auf den 31. Ja­nuar begrenzt sei. Obwohl schon seit Beginn des Jahres eindeutig ist, daß die Militäroperation ge­scheitert ist, hieß es dann, daß die Touristen wegen des anste­henden Karnevals mehr Schutz bräuchten. Und so stand die Ar­mee weiterhin auf den Straßen, um die AusländerInnen zu schüt­zen. Wir rechnen weiterhin da­mit, daß es noch vereinzelte Ein­sätze geben wird.
Dabei ist die Armee völlig un­fähig, eine Strategie gegen die Kriminalität zu entwickeln. Sie kann nur auf die Bevölkerung einschlagen und steigert damit noch einmal die Gewalttätigkeit in den ärmsten Stadtteilen. Es traf wieder einmal nur diejeni­gen, die mit der ganze Sache nichts zu tun haben und vorwie­gend die schwarze Bevölkerung.
Uns ist wenig Kritik an der Militärinvasion bekannt. Wel­che Reaktionen hat es seitens der zi­vilen Gesellschaft, der NGOs und den Menschen­rechts­gruppen gegeben?
Tania: Bisher haben sich nur die NGOs, die direkt mit Marginali­sierten arbeiten vehe­ment gegen die Invasion ausgesprochen. Wenn man Ver­öffentlichungen wie Brasil-Nunca mais liest, könnte man meinen, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Phase der Militärdiktatur und endet 1986 mit der Amnestie. Das ent­spricht nicht den Tatsachen, denn die Gewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, wird nicht berücksichtigt. Ein solches Buch müßte heute neu geschrieben werden.
Volmer: Nur die Organi­sationen der Favela­be­woh­nerInnen, die FAMERJ (Fede­raçao das Asso­ciaçaoes de Moradores do Rio de Janeiro) und FAFERJ (Fede­raçao das Faveladas do Rio de Janeiro) haben von Anfang an die Militärintervention kritisiert. Aber diese Gruppen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre unter starkem Einfluß von Politi­kern entstanden, befinden sich momentan genauso wie andere Bürgerbewegungen in einer Krise. Die Kräfte, die heute Aufwind haben, sind ganz an­dere Gruppen wie Viva Rio, die von ISER, IBASE und Betinho getragen werden. Nichts gegen solche Versuche wie die Kampa­gne gegen Hunger, aber letztlich benutzen sie nur die linke Rheto­rik. In Wirklichkeit stehen aber andere Kräfte dahinter, sie wer­den von der Regierung korrum­piert, bekommen Geld und トm­ter. Was wir heute brauchen sind neue Kräfte.
Duque Caxias – Vorort der Gewalt
Volmer du hast seit 1986 mit Straßenkindern in Duque de Caxias gearbeitet und zusammen mit Tania 1991 ein Dossier vorgelegt, in dem do­kumentiert ist, wer für die Morde an den Straßenkindern verantwortlich ist. Wie ist der­zeit die Situation in diesem Vor­ort, der als der gewalttätigste von Rio de Janeiro gilt?.
Volmer: Man sollte zuerst kurz die Vorgeschichte erzählen. Duque Caxias wurde nach dem Militär­putsch 1964 wegen seiner Erdöl­raffinerien als strategischer Ort betrachtet. Sie galt als Stadt der höchsten Sicherheitsstufe. Eine Tradition der Gewalt läßt sich bis in die dreißiger Jahre zurück­verfolgen. Ab den fünf­ziger Jah­ren verwandelte sich Duque de Caxias in ein Ghetto, daß vor allem von Nordestinos bewohnt wurde. Heute stammen von den über 660.000 Ein­wohnerInnen mehr als 60 Prozent aus dem Nordosten. Geprägt ist die Stadt von einer klein- und mittelstän­dischen Industriestruktur und einem hohen Anteil an marginalisierter Bevölkerung. Insgesamt gibt es 72 Favelas und eine hohe Krimi­nalitätsrate. Dies war das Motiv für die Gründung der Todes­schwadrone. Die Gewalt stieg dann vor allem mit dem organi­sierten Verbrechen der Todes­schwadrone in den 60er und 70er Jahren an. Nach der Statistik gibt es in Duque de Caxias genauso­viele Morde wie in Rio.
Tania: Das liegt daran, daß ein großer Teil der Morde in Duque de Caxias nicht in der Stadt selbst verübt wurden. Die mei­sten Opfer hatten nie in Duque de Caxias gewohnt – aber ihre Leichen wurden dort auf­gefun­den. Das heißt, sie wurden in Rio umgebracht und nach Duque de Caxias transportiert, um die Nachforschungen zu be­hindern. Diese Situation hat sich aller­dings geändert. Heute sind wir zunehmend mit unserer eigenen Kriminalität konfron­tiert. In der Zwischenzeit gibt es hier eine gro゚e Anzahl von Personen, die systematisch töten, ohne straf­rechtlich verfolgt zu werden.
Welches sind die Hauptpro­bleme bei der Strafverfolgung?
Tania: Gegen die Todes­schwadro­nen konnte man früher leichter vorgehen. Die Killer waren in die Gesellschaft integriert, sie hatten eine Wohnung, eine Ar­beit und einen Personalausweis. Auch wenn die Beweisführung immer schwierig war, konnte man sie verhält­nismäßig einfach festnehmen. Mit den Drogen­händlern ist es anders. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft, ha­ben keine Arbeit und keine Wohnung. Selbst von Drogen­händlern, die vielfache Morde begangen haben, sind nicht ein­mal die Namen bekannt.
Das Ergebnis ist, daß die Un­sicherheit in der Stadt in einem solchen Ausmaß zugenommen hat, daß sich eine parallele Struktur der Sicherheit, der pri­vaten Sicherheitsdienste etabliert hat. Es sind sehr große Unter­nehmen – und alle sind in den Händen von Offizieren der Militärpolizei.
Seit wann gibt es die Ver­flechtung privater Sicherheits­dienste mit der Polizei?
Tania: Die ganze Ent­wicklung be­gann vor einigen Jahre. Die Poli­zisten verdienen sehr wenig – in der Regel reicht es nicht, um die Familie zu ernähren. Und um ihre Löhne zu erhöhen, begannen sie nebenher in privaten Sicher­heitsfirmen zu arbeiten. Heute hat fast jeder Po­lizist einen zweiten Job – der Ne­benjob ist die Haupteinnah­mequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. Ich habe zum Beispiel ein Büro im zweitgrößten Polizeirevier von Duque de Caxias. Dieses Revier hat zwei Beamte. Sie müssen nicht nur die Morde, sondern alle Verbrechen bearbeiten, darunter 2346 Mordfälle. Sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, um ausreichend Nachforschungen anzustellen und haben zudem noch einen Nebenjob. Die ganze Struk­tur der normalen Polizeiar­beit ist zerfallen, denn die Polizi­sten sind davon abhängig, in den pri­vaten Sicherheitsdiensten zu ar­beiten. Heute funktionieren ei­gentlich nur noch die privaten Sicherheitsdienste.
Was unternimmt der Staat gegen diese Verflechtung?
Tania: Nichts. Im Gegenteil. Bisher war diese Neben­beschäftigung illegal, die Kom­munalregierung Batista hat diese Arbeit nun le­galisiert. Dies bedeutet die In­stitutionalisierung der privaten Sicherheitsdienste und der To­desschwadrone. Dazu muß man wissen, daß die wichtigsten Be­rater von Nilo Batista die Besit­zer der größten Sicherheitsdienste sind. Die Re­gierung löst das Problem also nicht, indem sie die Löhne der Polizisten erhöht und die Aus­stattung verbessert, sondern in­dem sie die privaten Tätigkeiten legalisiert.
Du hast dich sehr stark dafür eingesetzt, daß viele Mitglieder der Todesschwadrone in Duque de Caxias verhaftet wurden. Wie ist deine gegenwärtige Si­tuation?
Tania: Als ich vor fünf Jahren in Duque de Caxias als Staatsan­wältin anfing, traf ich die drei größten Killer der Stadt. Sie ar­beiteten in dem gleichen Ge­bäude wie ich – es waren Hilfs­kräfte der Richter. Sie hatten Waffen und genossen Immunität. Meine erste Arbeit war, sie aus dem Gerichts­gebäude zu werfen. Sie hielten sich dann davor auf, so daß ich es nicht mehr verlassen konnte. Ich machte dies in der Presse und im Fernsehen bekannt und veröf­fentlichte ihre Gesichter. Nach­dem ich Anklage gegen sie erho­ben hatte, begannen die Todes­drohungen gegen mich. Es gab enormen Druck, damit ich aus der Stadt verschwände. Um eine Vorstellung davon zu ha­ben: Selbst der Senator von Du­que de Caxias ist mit dem Ver­brechen verbunden. Ich bewege mich seit Jahren nur noch zwi­schen dem Gerichtsgebäude und meiner Wohnung, ich habe praktisch kein Privatleben mehr. Nach vier Jahren, in denen ich diesem Druck widerstanden habe, bat ich beim Governeur um einen persönlichen Schutz. Ich machte Druck über amnesty in­ternational und andere Organisa­tionen. Danach wurde ich unter den Schutz der Bundespolizei gestellt – in der gleichen Zeit wie Volmer. Als Brizola Gouverneur wurde, verschlechterte sich die Situation immens. Die Bundes­polizei wurde abgezogen. Statt­dessen sitze ich heute in einem alten klapprigen Auto mit zwei Polizisten, die so schlecht be­waffnet sind, daß sie sich kaum gegen Angriffe verteidigen kön­nen. In der Woche vor Karneval veriet ein Gefangener einer ande­ren Staatsanwältin einen Plan, mich umzubringen. Als ich Bra­silien verließ, bat ich den Gouverneur per Brief, die zwei Polizisten abzu­ziehen, da ich nicht das Leben anderer Per­sonen gefährden möchte. Es gibt noch immer keine Nach­richt, was passieren wird.
Volmer, du hast Duque de Caxias seit zwei Jahren verlas­sen und hast ein Projekt für Kinder und Jugendliche in Na­tividade, 400 km von Rio ent­fernt, aufgebaut. Wie ist der aktuelle Stand in deinem Ver­fahren?
Volmer: Seit dem letzten Jahr bin ich in letzter Instanz zu vier Jah­ren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da ich öffentlicher Angestellter bin, könnte ich tagsüber arbeiten, müßte allerdings im Gefängnis übernachten. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wann ich diese Strafe antreten soll. Die einzige Möglichkeit, nicht diese absurde Gefängnisstrafe anzu­treten, be­steht jetzt noch darin, daß der Präsident des Landes eine Neuaufnahme des Verfah­rens anordnet. In einem öffentli­chen Brief habe ich ihn darum gebeten, diese ungerechte Ver­urteilung aufzuheben.

“Bei Gedächtnisschwund gibt es keine Versöhnung”

Lateinamerika Nachrichten: Warum hast Du in Deinem Film ‘Amnesia’ auf einen direkten Bezug zu Chile und der dortigen Militärdiktatur verzichtet?
Gonzalo Justiniano: Um das Thema des Films in aller Tiefe zu behan­deln, muß man es als etwas darstellen, was allen Menschen passieren kann, überall auf die­sem Planeten. Über die Besonderheiten der chi­lenischen Vergangenheit hinaus gibt es ein universales Phänomen, nämlich daß der Mensch von Zeit zu Zeit den Fehler begeht, sich sel­ber bzw. seinen Bruder zu zerstören. Ich bin also davon ausgegangen, daß die Thematik mehr Ge­wicht bekommt, wenn die belegten Details und eine geschichtsgetreue, realistische Behandlung des Themas in den Hinter­grund treten.
Andererseits ist “Amnesia” auch ein sehr chilenischer Film, die Landschaften, die Städtebilder, die Namen lassen un­schwer auf Chile schließen.
Natürlich geht es um ein Thema, das erkennbar im Zusammenhang mit Chile steht. Das ist ganz offensichtlich. Wenn Du aber einen Film machst, der nicht nur starke chilenische Elemente und Bezüge auf die Geschichte des Landes enthält, sondern sich eindeutig nur auf Chile be­zieht, geht dabei der Aspekt verloren, daß sol­che Dinge auch woanders geschehen. So etwas hat es in Europa ge­geben, in den Län­dern des Ostblocks. Auch in Frankreich nach dem Al­gerien-Krieg, nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in Spanien. Ich wollte es nicht überbetonen, daß der Film in Chile spielt.
Welche Bedeutung hat für Dich die Tat­sache, daß der Film gerade jetzt zum er­sten Mal in Deutschland gezeigt wird, 50 Jahre nach dem Ende des Faschismus und der Befreiung der Nazi-Konzentrati­onslager?
Das ist sehr beeindruckend. Bevor die­ser Film gezeigt wurde, habe ich heute ei­nen Bericht über die Bombardierung von Dres­den gesehen, die man als Ra­cheakt an­sehen muß. Ich bin da sehr neu­gierig und habe versucht, etwas darüber zu lesen, wie es hier gewesen ist. Durch meinen Film habe ich gemerkt, daß nicht alles die Schuld eines Ver­rückten ist. Die gesamte Ge­sellschaft ist dafür verant­wortlich. Und dabei gibt es bestimmte Gruppen, die die falschen Führer ansta­cheln, bis diese schließlich glauben, sie hätten die un­geteilte Unterstüt­zung der Bevölkerung und könnten aufgrund dieser Macht­befugnisse über das Leben der an­deren Menschen bestimmen. Der Prozeß hier in Deutschland ist ziemlich kompli­ziert, denn es gibt eine neue Welle des Ras­sismus mit seinen traurigen Auswüch­sen in den letzten Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit die Verantwortung hier richtig über­nom­men worden ist.
Und wie ist das mit der Verantwortung in der chilenischen Ge­schichte?
Ich habe eine totale Abneigung gegen das ganze militärische System, das ist ein großer Irrweg. Wenn der Mensch aufhört, primitiv zu sein, werden die Armeen ab­geschafft. Wenn wir die Geschichte Chiles betrachten, ist dieser faschistische Wahn­sinn, der aus einer be­stimmten Ecke des Heeres kommt, nicht allgemein gültig. Das Heer ge­hört nicht allein diesen Leu­ten, es gab dort auch andere. Dabei muß man an Carlos Prats erinnern, den ehema­li­gen Oberbefehlshaber des Heeres, der von seinen eigenen Leuten ermordet wur­de. General Schneider wurde ebenfalls er­mordet. Das waren loyale Militärs. Ein Teil der Armee hat sich jetzt die patrioti­schen Werte zu eigen ge­macht und bildet sich ein, den wahren Patriotismus zu ver­tre­ten, nur weil sie diesen Krieg des Bru­dermordes angezettelt haben. Das muß klar gesagt werden.
Der Film ‘Amnesia’ spricht von Schul­digen und von Opfern, es klingen aber auch Zwischentöne an. Welche Rolle spielt Ramírez, war er Opfer, oder war er ein Mitläufer?
Ich war sehr beeindruckt von einigen Fäl­len, wo junge Wehrpflichtige vor die Wahl gestellt wurden, zu töten oder selbst getötet zu werden. Viele wur­den des Ver­rats angeklagt oder verschwanden, weil sie sich ge­weigert hatten, andere Men­schen umzubringen. In diesem Sinne ist Ra­mírez natürlich Opfer. Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn ich selber in einer solchen Situation wäre, schließlich gibt es bei uns Wehrpflicht. Wenn ich gezwungen wäre, einen anderen Men­schen umzubringen. Ich glaube, ich hät­te es nicht getan.
Der Soldat Ramírez spürte allerdings auch eine gewisse Bewunderung für Sergeant Zúñiga …
Natürlich, da mischen sich viele Ge­füh­le, gerade dieses Wechsel­spiel hat mich in­teressiert. Wir sprechen von sehr all­gemeinen The­men, ich wollte haupt­sächlich einen Film machen, der auf zwei Per­so­nen aufgebaut ist, die für konkrete Erfahrungen stehen. Es muß viele Zúñigas ge­ben. Er hatte keine Ahnung, was in Chi­le und in der Welt passierte. Von ei­nem Tag auf den anderen fühlte er sich als Held und hatte die Vorstellung, die Erde zu säubern. Viele Militärs haben so ge­sprochen. Aber ich glaube, auch diese Leu­te sind auf die eine oder andere Art Op­fer. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so jemand ruhig schlafen kann. Viele dieser Leute haben sich umgebracht oder sind verrückt geworden. Im Grunde ge­nom­men wissen sie sehr wohl, daß sie sich falsch verhalten haben.
Im Film spricht Zúñiga vom kontrol­lierten Gedächtnisschwund. Ist das ein sehr verbreitetes Phänomen in Chile?
Das ist ein ironisches Spiel, es ist wie die Ironie des Lebens. Alle wissen, daß ein bestimmter Politiker, der im Fernsehen auftritt, soundsoviele Leute auf die Straße gesetzt hat und eine sehr bedeu­tende poli­tische Stellung innehatte, während im Land gemordet wurde. Jetzt ist keine Rede mehr davon, jetzt ist er ein Demokrat! Das kann ja wohl nicht sein. Das menschliche We­sen ist in dieser Beziehung sehr merk­würdig, denn der Mensch legt bei vielen Themen einen Mantel des Vergessens über sich. Wenn wir uns andauernd selber hin­terfragen und nicht ständig betäuben oder alles verdrängen würden, wäre das Le­ben unerträglich und schrecklich. In die­sem Sinn handelt es sich in Chile um ei­nen kollektiven Prozeß, einen falschen Ge­dächtnisschwund.
Wo liegt das Problem dabei?
Dahinter stehen die Leute, die am mei­sten Interesse daran haben, einfach umzu­blättern und nie mehr zurückzuschauen. Wer in Chile durch die Straßen geht, fragt sich unwillkürlich, wieso die Menschen al­le so nett sind, wieso sie sich so freund­lich verhalten. Wie kann das möglich sein? Das war ein bißchen der Ursprung des Films, alle die Leute zu sehen, die sich herzlich begrüßen und unterhalten. Und hin­terher merkst Du, was die alles auf dem Kerbholz haben … Ich wollte diese Leute in meinem Film darstellen.
Gibt es eine Beziehung zwischen kol­lektivem Gedächtnisschwund und der Am­nestie?
‘Nicht Vergessen’ ist der Leitspruch. Amnestie vielleicht. Das ist der Leitspruch in Südafrika, wo viele für eine Amnestie sind, aber nicht für das Vergessen.
Aber diese Diskussionen gibt es in La­teinamerika auch!
Natürlich, das ist ein sehr kompliziertes Thema, besonders weil Pi­nochet nie ge­schlagen wurde. Er wurde in Wahlen be­siegt, er hat aber noch einen großen Teil der Macht. Und die Regierung hat Angst vor ihm, auch wenn sie es nicht zugibt, große Angst. Bei allem, was sie tun, blik­ken sie zur Seite, um zu sehen, ob der Herr womöglich böse wird. Es sei daran er­innert, daß es unter der Aylwin-Regie­rung zwei­mal Aufruhr gab: Einmal, weil Pi­nochet wegen Unregelmäßigkeiten beim Ausstellen von Schecks überprüft werden sollte, und beim anderen Mal ging es um Menschen­rechtsverstöße. Beide Male hat das Heer reagiert. Darum ist bei uns alles et­was merkwürdig. Es gibt Äußerungen, die einen wirklich sprachlos machen, so wie die des Senatspräsidenten in Chile: ‘Der Preis für die Demokratie ist das Ver­gessen.’ Damit bin ich nicht einverstan­den.
Funktioniert das denn überhaupt?
Angeblich will sich niemand erinnern. Es ist aber erstaunlich, daß Fernsehsen­dungen über die Zeit der Diktatur hervor­ragende Ein­schaltquoten erzielen. Das heißt, daß alle das sehen wollen. Wovor man aber Angst hat, ist eine ernsthafte und verantwortungsbe­wußte Auseinanderset­zung über die jüngere Vergangenheit und über die Frage der Verantwortung. Dann heißt es immer – ähnlich wie bei den Per­sonen im Film – das sei ein uner­freuliches Thema, es müßten positive Dinge gezeigt werden.
Hast Du den Film deswegen gerade jetzt gedreht?
Ich habe das Gefühl, in einer sehr heuchlerischen, verlogenen Ge­sellschaft zu leben. Wir sollen uns selbst betrügen. Wie gesagt, wenn man heute durch San­tiago geht, mit all den sympathischen, net­ten Leuten, kann man gar nicht glauben, daß so etwas geschehen ist. Dabei sind schlimme Dinge passiert. Ich bin der Mei­nung, wenn es keine richtige Aufarbeitung gibt und die wichtigsten Themen in Bezug auf die Vergangenheit nicht auf das Tapet gebracht werden, werden wir keine solide De­mokratie aufbauen, sondern nur eine Scheindemo­kratie, eine heuchlerische De­mo­kratie. Man muß erst richtig reinema­chen und die ganze Fäulnis besei­tigen, be­vor man ruhig in einem Haus wohnen kann.
Wie wurde der Film in Chile aufge­nom­men?
Im allgemeinen ziemlich gut, offen­sichtlich wurde jegliche Polemik darüber vermieden. Alle beglückwünschten mich ganz allgemein, aber niemand wollte über das Thema polemisieren. Das heißt, sehr wenige. Alle sprachen von der guten Mu­sik, von der hervorragenden Darstel­lung, von dem genialen Julio Jung (Darsteller des Soldaten Ramírez, Anm. der Red.). Aber das eigentliche Thema wurde nicht eingehend be­handelt, man ging eher dar­über hinweg.
Welche Rolle können die Filmemacher bei der Aufarbeitung der Vergan­genheit spielen?
Eins verstehe ich nicht: Mir wird immer gesagt, schon wieder diese Themen. Zeig’ mir einen einzigen Film, in dem es um dieses Thema geht! Alle denken, es hätte zwanzig Filme darüber gegeben. Es gibt nicht einen einzigen, nun gut, bis auf ‘Náufragos’ (‘Schiffbrüchige’) von Miguel Littin, der auch dieses Thema behandelt hat. Das verstehe ich überhaupt nicht, und oft wird mir das Gefühl vermittelt, ich müßte mich schuldig fühlen, weil ich die­ses Thema verfilmt habe. In Chile zu le­ben, ist etwas ganz Besonderes, es ist ein Land mit einem ganz besonderen politi­schen Übergang, mit dem Diktator ne­benan, der alles kontrolliert. Eigentlich sollte die Armee im Dienste des chileni­schen Volkes stehen, und nicht das Volk im Dienste der Armee. Das ist heutzutage ein bißchen durcheinander gekommen.
Soll der Film ein Beitrag zum Rückzug der Armee sein?
Eher ein Beitrag, zur eigenen Würde zurückzufinden, damit die Chi­lenInnen nicht weiter mit Füßen getreten werden. Dabei muß man al­lerdings sehr vorsichtig sein, denn natürlich will niemand den al­ten Konflikt wieder aufnehmen, der zu ei­ner Art Bürgerkrieg führen würde. Die Stoßrichtung des Films ist, die Gesell­schaft zu ‘säubern’. Es geht nicht an, daß bestimmte Leute Privilegien genießen
Noch einmal zurück zu Deinem Film: In der Schlußszene verzichten Ra­mírez und Carrasco darauf, sich an dem bru­talen Sergeanten zu rächen. Warum hast Du dieses Ende gewählt?
Es war sehr schwierig, ein Ende für diesen Film zu finden. Es han­delt sich um ein gewichtiges und ernsthaftes Thema. Es taucht die Frage auf, was Du mit diesem Menschen machen würdest. Würdest Du selbst Gerechtigkeit an ihm üben? Wür­dest Du ihn der Justiz überge­ben? Gut, ich glaube, nur ganz wenige würden ihn lau­fen lassen. Das wäre dumm. Aber auch die Rache führt zu nichts. Rache ist aber auch ein natürliches Gefühl der Leute, die darüber frustriert sind, daß sie in einem Land Leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt. Die beste und zivilisierteste Form ist die Verfolgung all dieser Fälle durch die Justiz. Ich bin gegen die Rache. Sie zieht eine Spirale der Gewalt nach sich, von der keiner sagen kann, wohin sie uns führt.
Was wäre geschehen, wenn Du einen anderen, einen gewaltsamen Schluß ge­wählt hättest?
Ein US-amerikanischer Film hätte so aufgehört. Mit einer Detaildarstel­lung des zerfetzten Gehirns und einem Blutfleck hinter dem Baum. Viele kritisieren mich, wa­rum hast Du diesen Mörder nicht umge­bracht? Ich denke schon, daß man all den Tätern eine Lektion ertei­len muß. Al­lerdings gibt es genügend Leute, die viel zu clever sind, um mit der traumatisieren­den Erfahrung zufrieden zu sein, erneut ei­nen Menschen umzubringen.
Wäre es denn überhaupt möglich ge­wesen, den Film mit einem Racheakt am Schluß in Chile zu zeigen?
Diesen Film habe ich unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Armee gemacht. Sich auf solche Themen einzulassen, birgt weiterhin gewisse Risiken in sich, denn einige Herrschaften fühlen sich über die Ge­setze erhaben und agieren mit dem Ge­fühl, dies ungestraft tun zu können. Ganz persönlich bin aber auch ich mit einem sol­chen Ende nicht einverstanden, mit der Rache, und darum habe ich es so gemacht. Sonst hätte ich gelogen und Effekthasche­rei betrieben. Und darüber hinaus hätte ich mehr Probleme bekommen.
Viele halten das Vergessen für eine unabdingbare Voraussetzung der Ver­söhnung. Was hältst Du von dieser Vor­stellung?
Das ist eine Lüge. Ich prangere ja ge­rade diesen Zustand des Ge­dächt­nis­schwunds an, der uns auferlegt werden soll. Daraus wird nichts Gutes kommen. Versöhnung wird es erst geben, wenn die­jenigen, die Fehler begangen ha­ben, um Verzeihung bitten. Und be­stimmte Herr­schaften haben nie um Ver­zeihung gebe­ten! Mit einem auferlegten Gedächt­nischwund gibt es keine Versöh­nung, es entsteht etwas sehr Brüchiges.
Interview: Bettina Bremme und Jens Holst

NAFTA-Fieber

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Die PT nach der Wahlniederlage

LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müs­sen uns über die heu­tige Si­tu­ation in einem größeren Kontext klar­werden. Sie ist ge­kenn­zeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewe­gungen, auf der anderen Seite durch die Kon­solidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bour­geoisie. Angesichts dieser Situation wach­sen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT be­zeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozial­demokraten zu nennen, das wäre eine Un­gerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stär­kung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die blo­ße Teilnahme an der Regierung, die Sich­erung der Re­gier­barkeit. Natürlich gibt es an­dere Kräfte in der PT. Aber das ist die herr­schende Logik, die einen Konser­vativis­mus produziert, der nur noch die Regie­rungsbeteiligung im Auge hat. In die­ser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung auto­no­mer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt ge­sehen werden? Auch eine Regierungs­beteiligung kann dazu beitragen, die au­tonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Admini­strationen der PT, die sich über “con­selhos populares” (Volksräte) ver­ankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares ver­wirklicht worden? Die PT hat sich dar­auf ver­legt, nur eine gute Verwaltung ma­chen zu wollen. Aber das ist nur das ab­solute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Ver­wal­tung. Gut, Cristovam Buarque, der neu ge­wählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das un­ter­scheidet die PT nicht von irgendeiner demo­kratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirk­lich in die Gefüge der Macht eingreift und al­ter­native politische Erfahrungen er­möglicht. Ich meine nicht, daß eine Re­gie­rungsbeteiligung per se die Stärkung au­to­no­mer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirk­lichkeit nicht für alle regieren, son­dern sich den dominierenden Interessen unter­ordnen. Ich stehe auch den Allianzen ab­lehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundes­staaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalver­waltungen gemacht hat, sind doch viel­leicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Re­formisten sich durchgesetzt haben, son­dern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermei­ster/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle wer­de ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sich­ern, im zweiten, mit dieser Herr­schaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen In­stitutionen in Kon­frontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb die­ser In­sti­tu­tionen. Eine Partei, die Ände­rungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse för­dern. Wenn aber die Frage der Regier­barkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Par­tei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demo­kratische Partei mit sozialem Anlie­gen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der auto­nomen Subjekte in den sozialen Bewe­gungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbun­den. Wer heute entscheidet, das ist der Ap­parat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regie­rungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativi­stischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forde­rungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebig­keit, in der einfach ein Menü für alle Ge­schmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den be­treffenden Teil des Programms genom­men, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zu­sam­men­geführt worden? Den ent­schei­den­den Einfluß hatten einige In­tel­lek­tuelle, die oftmals keine historischen Ver­bin­dungen mit den sozialen Bewegun­gen ha­ben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Ge­sund­heitsversorgung, die Bildung zu ver­bes­sern. Das sagen doch alle. Ein Pro­gramm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jet­zige Programm will die Regierungsfä­higkeit untermauern und nicht eine Dy­namik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es ge­ben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung auf­grund der Vorherrschaft der institutionali­sierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die For­mierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal ha­ben selbst die PT-Mitglieder die Kampa­gne nicht als ihre angesehen. Schwerwie­gend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Nie­derlage. Politisch wurde die PT massa­kriert. Sie konnte kein alternatives politi­sches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundle­gend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundle­gende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Macht­strukturen im Weltmarkt in Erwä­gung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Par­teitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisie­rung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozi­aler Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Si­cher­heitsfragen in ihren Regierungen er­nannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Zie­le werden aufgegeben. Das ist die Kon­sequenz der Logik der Regierungsfä­higkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwind­sucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerk­schaften und die professionalisierten Po­litiker. Schwierig ist es aber, eine funk­tionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der po­litischen Repräsentation, der Stellvertre­terpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Orga­nisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsen­tation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzu­haben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergan­genen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Be­wegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialde­mokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewe­gungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwi­schen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, al­len voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am An­fang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie be­haupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen he­gemonialen Blocks? Sich an der Regie­rung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf ge­gen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokrati­scher Forderungen, wie der nach Direkt­wahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neo­liberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokra­tie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue histo­rische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokrati­schen Kampfes.

Die Linke im Aufwind

Obwohl es Kritik an der merkwürdigen Informationspolitik des Innenministeriums gab, geht kaum jemand davon aus, daß es bei den Wahlen in Uruguay zu irgendwelchen Manipulationen oder Wahlfälschungen gekommen sein könnte. Zweifel haben bislang lediglich die MLN Tupamaros angemeldet. Sie fordern eine genaue Überwachung und eine vollständige Transparenz bei der erneuten Überprüfung der Stimmzettel durch den Wahlgerichtshof. Sicher aber ist: Der Colorado Politiker Dr. Julio Maria Sanguinetti wird neuer Präsident Uruguays. Am 1. März 1995 wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen. Es ist seine zweite Amtsperiode, denn Sanguinetti war bereits von 1985 bis 1989 Präsident, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jedoch die Linke. Zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist es ihr bei diesen Wahlen endgültig gelungen das traditionelle Zweiparteiensystem in Uruguay zu knacken. Als einzige politische Kraft konnte sie landesweit kräftige Stimmengewinne verbuchen. In Montevideo, dort lebt fast die Hälfte der etwa 3,2 Millionen UruguayerInnnen, wird sie mit dem Architekt und Stadtplaner Mario Arana erneut den Bürgermeister stellen. Arana kann zwar auf eine beruhigende Mehrheit im Stadtparlament bauen, verfügt aber nur über einen äußerst mageren Haushalt.
Machtverschiebungen in der Frente Amplio
Vor allem im traditionell eher konservativen Landesinneren hat das Wahlbündnis Encuentro Progresista, bestehend aus Frente Amplio, Christdemokraten und einigen Dissidenten der bislang regierenden Blancos, beachtlich dazugewonnen. Der Stimmenanteil verdoppelte sich im Vergleich zu den Wahlen von 1989. Die stärkste und die bestimmende Kraft im Encuentro ist die Frente Amplio – ein Listenbündnis verschiedenster Strömungen in der Linken Uruguays.
Innerhalb der Frente Amplio hat die Gruppe Asamblea Uruguay/Lista 2121 um den Ökonomen Danilo Astori einen sensationellen Erfolg verbuchen können. 40 Prozent der WählerInnen des Encuentros entschieden sich für die Liste von Astori, der damit zum neuen starken Mann innerhalb der Frente Amplio geworden ist. Auf den Plätzen folgen die Sozialistische Partei, das eher sozialdemokratische Vertiente Artiguista, die Rest-KP Uruguays und das Movimiento de Partizipación Popular (MPP) mit den MLN-Tupamaros.
Die Tupas werden zum ersten Mal in der Geschichte Uruguays mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Bisher hatten sie immer unabhängige Kandidaten innerhalb des MPP unterstützt. Pepe Mujica, Gründungsmitglied der Tupamaros und während der Diktatur viele Jahre unter den schlimmsten Bedingungen als Geisel der Militärs eingekerkert, zieht für die MLN ins Abgeordnetenhaus ein. Jorge Zabalza, der ebenfalls als Geisel während der Diktatur im Gefängnis saß, sitzt als erster Tupamaro im Stadtparlament von Montevideo.
ZTFrente zwischen Machtanspruch und Basistreue
Innerhalb der Frente Amplio haben jetzt eindeutig die Moderaten um Danilo Astori die Nase vorn. Sein Flügel stellt alleine 6 Senatoren und 15 Abgeordnete im neuen Parlament. Das MPP mit den MLN-Tupamaros hat nur leicht dazugewonnen. Schwer verloren haben dagegen die orthodoxen Reste der Kommunistischen Partei.
Die interne Stimmenverteilung hat auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Vollversammlung der Frente Amplio und auf die Debatten über den zukünftige Kurs der Uruguayischen Linken. Die Hälfte der Sitze wird nach errungenen Prozentpunkten bei den Wahlen vergeben, die zweite Hälfte wird von den Frente Basiskomitees gewählt. Der interne Streit scheint vorprogramiert. Schon einen Tag nach der Wahl kam die erste Kostprobe, als Astori im Fernsehen verkündete, daß er sich durchaus eine Zusammenarbeit mit der Regierung Sanguinetti, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik vorstellen könne. Viele BasisaktivistInnen der Frente sehen das etwas anders und wünschen sich eher eine starke Opposition. Nach dem ersten Frust über den heiß erträumten und knapp verfehlten Wahlsieg konnten sie dem Ergebnis aber auch durchaus positive Seiten abgewinnen: “Eine linke Regierung unter einem Präsidenten Tabare Vazquez hätte es sehr schwer gehabt gegen eine Mehrheit der traditionellen Parteien im Parlament zu regieren… “, kommentierten sie das Wahlergebnis und fügten hinzu, “es ist großartig, dass die Frente so viele Stimmen gewonnen hat, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle 5 Jahre nur auf Wahlergebnisse schielen und darüber vergessen, was wir eigentlich sein wollen: eine politische und soziale Basisbewegung.”
Innerhalb des Wahlbündnisses Encuentro Progresista hat bereits der Streit darüber begonnen, wer in Zukunft die erste Geige spielt. Ob Danilo Astori als großer Wahlgewinner oder der knapp geschlagene Präsidentschaftskandidat und ehemalige Bürgermeister von Montevideo Tabare Vazquez – mit Sicherheit kommt er aus der Frente Amplio. Vazquez wollte sich im Falle einer Wahlniederlage eigentlich vornehmlich seinem Beruf als Arzt widmen. Für einen Sitz im Parlament hatte er gar nicht erst kandidiert.
Vorläufiger Punktsieger im Richtungsstreit ist Vazquez, denn das Leitungsgremium der Frente Amplio (Organo de Conducción Politica) hat am 7. Dezember entschieden, ihn als Verhandlungsführer der Frente Amplio und als Repräsentanten des Encuentros für die Gespräche mit der neuen Regierung zu benennen. Etwas beleidigt reagierten darum auch die Vertreter der Asamblea Uruguay auf diese Personalentscheidung. Sie teilten mit, sie würden die Beschlüsse zwar mittragen, gleichzeitig kritisierten sie aber, daß Vazquez erheblichen Druck ausgeübt habe und seine weitere Mitarbeit vom Fortbestand des Encuentro Progresista abhängig gemacht habe. Für die anstehende Wahl eines neuen Präsidenten der Frente käme Tabare Vazquez ohnehin nicht in Frage. Ihr Kandidat der Wahl sei Danilo Astori.
ZTFlügel in der Frente geschwächt
Der linke Flügel innerhalb der Frente Amplio setzt jetzt vor allem auf die Delegierten der Basiskomitees in der neuen Vollversammlung. Der MPP Senator Helios Sarthou erklärte in einem Interview, der linke Flügel innerhalb der Frente werde es in Zunkunft schwer haben. Er kritisierte gleichzeitig den zukünftigen Präsidenten Sanguinetti, der sich gerne einige moderate PolitikerInnen vom Encuentro als Gesprächsspartner über die Bedingungen für eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesucht hätte . Sarthou wies solch patriarchale Anbiederungen zurück: “Die Verhandlungspartner aus der Linken bestimmen die Linken selbst”.
ZTDie Blancos im Tal der Tränen
Der ganz große Verlierer der Wahl sind die Blancos des noch amtierenden Präsidenten Dr. Luis Alberto Lacalle. Erdrutschartig verloren sie fast 10 Prozent ihrer Stimmen. In fünf Landkreisen müssen den Regierungssessel an einen Colorado Politiker abtreten.
Innerhalb der Blancos hat nun ein Richtungsstreit begonnen, der sich zu einer Frage zuspitzt: Wer wird in Zukunft an der Spitze der Partei stehen. Die Strömung, die dem Noch-Präsidenten Lacalle nahesteht, hat bei den Wahlen weniger Stimmen errungen als die, an deren Spitze dessen Widersacher Volonte steht. Volonte könnte nun mit seiner gestärkten Hausmacht die Führungsposition übernehmen
ZTWahlsieger Sanguinetti auf der Suche nach Koalitionen
Wahlsieger Sanguinetti steckt bereits in Beratungen, um sich eine tragfähige Mehrheit im Parlament aufzubauen. Er will sowohl mit den Blancos als auch mit dem Encuentro Progresista verhandeln. Denn seine Partei, die Colorados, verfügt im neu gewählten Parlament nicht einnal über eine relative Mehrheit und ist daher auf Bündnispartner und Absprachen angewiesen. Sanguinetti liess aber keinen Zweifel aufkommen, daß für ihn lediglich der moderate Flügel des Encuentro Progresista ein Gesprächspartner sein wird. Die Abgrenzungen haben bereits begonnen: Colorado Politiker beschuldigten den linken Flügel der Frente Amplio, für einige Glasschäden an Parteilokalen und Handgreiflichkeiten gegen Colorado Anhänger in der Wahlnacht verantwortlich zu sein. Man darf gespannt sein, welche Positionen die Frente Amplio in den Gesprächen mit Sanguinetti und seiner Regierungsmannschaft einnimmt.
Sanguinetti hofft auf einen reibungslosen Wechsel. Im Mittelpunkt seines Regierungsprogramms stehen die Förderung der nationalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Inflation und die sozial leicht abgefederte Integration Uruguays in den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR. Für drohende Konflikte zwischen ArbeitnehmerInnen und -arbeitgeberInnen schwebt ihm Sozialpakt vor. Sanguinetti verfügt über beste Beziehungen zum Internationalen Währungsfond und hat bereits in seiner ersten Amtszeit (1985-89) ein Strukturanpassungsprogramm mit der Weltbank unterzeichnet. Er rühmt sich, in seiner letzten Amtszeit keinen einzigen Arbeitskonflikt verloren zu haben. Auf die uruguayischen Gewerkschaften kommen schwere Zeiten zu.

Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image

Elói Pietá referierte im Berliner For­schungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatli­cher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Tot­schlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mit­glied zahlreicher Ausschüsse zur Untersu­chung von Massakern und Folter in Brasi­lien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offen­sichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikani­schen Land besondere Ausmaße ange­nommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasiliani­schen Gefängnissen ist die soziale Unge­rechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Ein­kommensdelikten”, das ist die erste Bi­lanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich da­bei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 geset­zeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Un­terdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist da­gegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vor­behaltlos hinter der Militarisierung der in­neren Sicherheit standen, hinter den ge­schaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militä­risch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Ge­sellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Kon­zepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprü­che des Landes in einen Fall von Krimi­nologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtre­gierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elabo­rierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Ar­mee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialein­heiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidri­gen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wur­den be­sondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politi­schen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Konti­nuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklet­tert, sie befinden sich heute in der Kom­mando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Me­dien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Ver­antwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Be­standteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekon­struktion – ,als sie von den Maschinenge­wehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getrof­fen wurden. Verletzte wurden anschlies­send exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im fol­genden Jahr 1993 die Zahl der gesetzes­widrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Re­gierung will,” so Pietá, “kann sie die Hin­richtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Men­schenrechtskampagnen gegen die geset­zeswidrigen Hinrichtungen und Folter­praktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einhei­ten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogen­handel. Konkurrenzkämpfe unter Drogen­kartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg ter­ritorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Ar­mee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Dro­genhandel sichtbar weiter. Die Profit­strukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz ver­bindet Militär, Geheimdienste und Poli­zeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinier­ten. Heute heißt dieses Zentrum in Anleh­nung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidi­gung” nun “Operationszentrum zur Inne­ren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheim­dienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaff­neten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum ange­kündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerIn­nen der Armensiedlungen von wesentli­chen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durch­suchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort blei­ben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Be­reiche der Gesellschaft ausdehnen. In je­der brasilianischen Großstadt gibt es Fa­velas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”

Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?

Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzuge­hen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppel­züngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppun­gen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies be­deutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ih­rer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiter­hin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschen­rechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten dar­über informierte, daß sie sich weigern dür­fen, Befehle zu verfolgen, die die Men­schenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein stän­diges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty internatio­nal, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisa­tionen und der Besuch von UNO-Sonder­berichterstattern Anfang Oktober in Ko­lumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der interna­tionalen Öffentlichkeit wächst das Be­wußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhält­nisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräf­ten, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäi­sche Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der ko­lumbianischen Regierung, die sich in An­wesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Men­schenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper ange­kündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position sei­nes liberalen Parteifreundes und Amtsvor­gängers Gaviria ab, der nach dem Schei­tern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Gue­rillera Simón Bolívar” zusammenge­schlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ih­rer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regie­rung Samper lehnte ein direktes Dia­logangebot der FARC jedoch mit dem Ar­gument ab, die Guerilla müsse klare Be­weise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaff­neten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse al­lerdings langsam und schrittweise vorge­hen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Mi­litär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesell­schaftliche Druck nicht nur die Kriegs­parteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ur­sachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerk­schaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeit­plan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.

In Rio greift das Militär ein

Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Gewalt in Rio immer bedrohlichere Aus­maße angenommen. In dem Zeitraum von 1985 bis 1991 sind in Rio 70 061 Men­schen ermordet worden, und die Tendenz ist weiter steigend. In der Altersgruppe von 15 – 45 Jahren ist der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache. Die alltägli­che Gewalt in Rio existiert in vielfachen Formen. Am augenfälligsten ist die Ver­bindung von bewaffneter Macht und Dro­genhandel. In den Armenvierteln von Rio, den Favelas, haben lokale Drogenbosse das Sagen. Sie verfügen über bestens aus­gerüstete bewaffnete Gefolgschaft, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Seit dem letzten Jahr hat, anscheinend auf­grund der Verhaftung einiger Schlüsselfi­guren, der Kampf unter den Drogen­banden um Einflußgebiete zugenommen. Diese Kriege werden mit aller Heftigkeit geführt und lassen immer wieder die Be­völkerung ins Kreuzfeuer der rivalisieren­den Gruppen geraten. Im größten öf­fentlichen Krankenhaus Rios hat sich die Zahl der Personen, die wegen Schußver­letzungen behandelt werden müssen, seit 1984 vervierfacht.
Der Staat hat in den Favelas offensichtlich das Gewaltmonopol verloren. Die Dro­genbanden verfügen über das im Golf­krieg eingesetzte Maschinengewehr AR 15, das auch über hunderte von Metern tötet. Sie greifen Polizeistationen an oder befreien verhaftete Kumpane aus dem Krankenhaus. Würde sich das alles in ent­fernten Vororten der Peripherie abspielen, wäre die Beunruhigung der Öffentlichkeit sicherlich nur halb so groß. Aber die Hü­gel, auf denen sich die Favelas zumeist angesiedelt haben, sind in der gesamten Stadt verstreut. So grassiert bei der Mittel­schicht nun die Angst vor den verirrten Kugeln. Angeblich sind dieses Jahr schon mehr als zehn Menschen Opfer von verirrten Kugeln geworden.
Es ist diese Form von Gewalt, die Presse und Fernsehen ausführlich zeigen. Fast je­den Abend kann der Drogenkrieg in Rio im Fernsehen verfolgt werden. Und die damit vermittelte Botschaft ist klar: Die Polizei versagt, weil sie zu schwach ist, wir brauchen die Aufrüstung des Staates. Die Kampagne der Massenmedien hat an­scheinend Wirkung gezeigt. Inzwischen befürwortet nach Meinungsumfragen eine Mehrheit der Einwohner Rios ein Eingrei­fen der Militärs.

Massaker auf dem Hügel ‘des Deutschen’
Für die BewohnerInnen in den Favelas stellt allerdings eher die Polizei als die lo­kalen Drogenbosse eine Bedrohung dar. Letz­tere bemühen sich in der Regel um ein gutes Verhältnis zu den BewohnerIn­nen, fi­nanzieren sogar soziale Einrichtun­gen, und viele der Bewaffneten stammen aus der Favela. Die Polizei hingegen stürmt wahllos die Viertel und tötet, was ihr in den Weg kommt. In dieser alltägli­chen Gewalt ragte im Oktober eine Poli­zeiaktion auf dem ‘Hügel des Deutschen’, mit 200.000 BewohnerInnen einer der größten Favelakomplexe von Rio, heraus. 13 Tote in einer Schlacht von wenigen Stunden, das ist weder in Bosnien noch in Rio normal. Vorausgegangen war ein An­griff der Drogenbande des Hügels auf ein Polizeirevier, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, daß ein Bein am­putiert werden mußte. Der Angriff auf die Favela trug also Züge einer Racheaktion. Für die Polizei war das Ergebnis der Ak­tion ein voller Erfolg: “Das Gesetz erlaubt uns zu töten, ohne ein Verbrechen zu be­gehen”, erklärt der Chef der Drogenpolizei Maurilo Moreira und fährt fort: “Wir wer­den uns nicht wie Schafe von den Hügeln vertreiben lassen. Die Waffe ist das Sym­bol unserer Autorität. Wenn wir sie nicht gebrauchen, sind wir Feiglinge. Wenn wir 100 töten müssen, dann töten wir 100.”
Für die Polizei war das Massaker offen­sichtlich ein großes Fest, wie Mitschnitte vom Polizeifunk beweisen. Die Zahl der Getöteten wurde als Erfolgsziffer mit Ju­bel begrüßt. Selbst der Gouverneur von Rio, Nilo Batista, der die Aktion angeord­net hatte, kritisierte die Feststimmung und mußte eine Untersuchungskommission anordnen. Denn an Merkwürdigkeiten fehlt es nicht: Wenn die Polizisten tatsächlich in Notwehr gehandelt haben, wie kann es möglich sein, daß 13 getöte­ten Drogenhändlern nur ein verletzter Po­lizist gegenübersteht? Von den dreizehn Getöteten waren nur drei vorbestraft, vier waren minderjährig. Bewohner der Favela beschuldigen die Polizei, ein wahres Mas­saker veranstaltet zu haben. Eine Mutter erkannte ihren Sohn bei Fernsehaufnah­men wieder: “Er war von der Polizei ver­haftet worden. Aber wenig später lag sein Körper auf dem Haufen der Toten.” Am Tag nach dem Massaker schlossen alle Geschäfte der Favela im Zeichen der Trauer.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß trotz solcher martialischen Aktionen ein großer Teil der Polizei zu­tiefst im Drogenhandel verstrickt ist, in der Regel durch Abkassieren von Be­stechungsgeldern. Diese spannungs­geladene Symbiose führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen, wie im vergangenen Jahr in der Favela Vigario Geral. Dort hatten die lokalen Drogen­bosse vier Polizisten offensichtlich wegen zu hoher Schmiergeldforderungen umge­bracht. Die Polizei reagierte mit einem Massaker an 21 völlig unbeteiligten Be­wohnern der Favela.
Polizei: eine kriminelle Vereini­gung
Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande. Dieser krimi­nell-polizeiliche Komplex steht dazu in vielfältigen Verbindungen mit der Politik, die immer mehr einer Mafia gleicht. Hö­hepunkte waren die massiven Fälschungen bei den allgemeinen Wahlen am 3.10., die schließlich zu deren Anullierung führten. Am 15.11. mußten in Rio sowohl die Bundestags- wie die Landtagswahlen wie­derholt werden! Gegen all dies hilft gewiß nicht das Militär. Die Verbindung der Po­lizei zum organisierten Verbrechen ist al­lerdings inzwischen so offensichtlich, daß sie auch von Seiten der Bundesregierung nicht geleugnet wird. Presseberichten zu­folge sollen die Militärs über ein internes Dossier verfügen, nach dem 70 Prozent der Zi­vilpolizei (policia civil) und 30 Pro­zent der Mi­litärpolizei (policia militar) in illegale Ma­chenschaften verstrickt sind. Dem jetzigen Gouverneur von Rio, der seine politische Karriere dereinst als Menschenrechtsan­walt begonnnen hatte, ist es offensichtlich nicht gelungen, den Polizeiapparat in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist er an­scheinend dessen Komplize geworden. Wäre es der Bundes­regierung mit der Be­kämpfung des Dro­genhandels wirklich ernst, so müßte sie nicht in den Favelas ansetzen, sondern bei der Polizei und den Hintermännern des Waffenhandels und der Drogenbeschaf­fung. Diese wird sie si­cherlich nicht in den Favelas finden. So zielt der geplante Militäreinsatz im besten Fall auf die un­terste Riege des Handels: die Jugendli­chen, die an den Umschlag­plätzen Wache schieben und den Verkauf an die Mittel­schichtskunden bewerkstelli­gen. Gegen­über der Komplexität des kri­minellen Mi­lieus in Brasilien gibt der be­waffnete Dro­genhändler auf dem Hügel eher die Kari­katur eines Feindbildes ab, das sich aber gerne durch seine martiali­sche Ausstaffie­rung gut für die mediale Ausschlachtung eignet. Die Medien haben die vielen Fa­cetten der Gewalt auf das Feindbild des Drogenbosses reduziert, der, weil identifi­zierbar, auch gezielt zu be­kämpfen ist. Gleichzeitig erfolgte die Be­richterstattung immer aus der Sicht der normalen Bevöl­kerung außerhalb der Fa­velas. Diese wer­den so zu einem feindli­chen Territorium erklärt, das es zu erobern gilt, um es wie­der in die staatliche Kon­trolle einzubezie­hen. Wie Militärs feindli­che Territorien erobern, ist allerdings nur allzu bekannt. Bestürzend ist, daß nur zehn Jahre nach dem Ende der blutigen Militärdiktatur die Streitkräfte sich wieder als interner Ord­nungsfaktor profilieren können. Hierin liegt vielleicht die langfri­stige politische Bedeutung des Militärein­satzes in Rio. Ob die Militärs nämlich in der Lage sind, vielmehr als ein blutiges Spektakel zu veranstalten, ist äußerst fraglich. Die 158 Favelas, in denen es nach Anga­ben des militärischen Geheimdienstes Drogenum­schlagplätze gibt, sind auf die Dauer gar nicht zu besetzen. Es wird erwartet, daß militärische Aktionen erst nach dem 15. November beginnen, also nach den Wah­len in den Bundesstaaten, in denen die Gouverneurswahlen nicht im ersten Durchgang zusammen mit den Präsident­schaftswahlen am 3. Oktober entschieden wurden. Zunächst also lebt Rio seine fragwürdige Normalität weiter. Am ersten Sonntag nach der Vereinbarung über den Einsatz der Streitkräfte waren die Strände an einem wunderschönen Sonntag über­voll.

Lesetip: T. W. Fatheuer: Jenseits des staatli­chen Gewaltmonopols. Drogen­banden, Todesschwadronen und Profi­teure: die an­dere Privatisierung in Rio de Janeiro. In: Lateinamerika – Analysen und Berichte Nr. 18, Horlemann-Verlag.

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