Das Recht des Stärkeren

Die Verbilligung technischer Geräte sowie deren vergleichsweise einfache Handhabe liessen an Medienarbeit interessierte Gruppen in poblaciones, den ärmeren und armen Stadtvierteln, zu Beginn der 90’er Jahre das Radio als ihr Medium entdecken. Anstatt länger vergeblich darauf zu warten, daß die etablierten Medien die Lebenswirklichkeit der pobladores/as darstellen, griffen alternative Radiogruppen selber zum Mikrofon und machten sich die Vorteile eines über gesprochene Worte funktionierenden Kommunikationsmittels zu Nutze. Ohne die Hürden des Schreibens, des Druckens sowie der Verteilung von boletines überwinden zu müssen, stellte das gesprochene Wort den direkten Kontakt zwischen MacherInnen und Publikum her und nutzte so das große Partizipationspotential des schnellsten aller Medien.

Neues Konzept für kommunale Radios

Im April 1990 ging Radio Villa Francia aus der gleichnamigen población in Santiago auf Sendung. In kurzem Abstand entstanden weitere Sender auf kommunaler Ebene. Bereits im Januar 1990 war die ANARAP als Dachverband gegründet worden. Die ANARAP nahm vor allem koordinierende Aufgaben wahr, um den Erfahrungsaustausch der einzelnen Gruppen zu erleichtern. Darüber hinaus schulte sie die MitarbeiterInnen der Sender in den grundlegenden Techniken des Radiomachens. Von Anfang an litten die radios populares vor allem unter chronischer Geldnot und mußten mit geliehenen Anlagen arbeiten.
Aus der Praxis dieser kleinen Sender ergab sich bald ein neues Konzept für kommunale Radios. Selbstverwaltete Gruppen aus poblaciones, die keinerlei Gewinnabsichten verfolgen, versuchen ihre unmittelbare Nachbarschaft in die Produktion einer wöchentlichen Sendung einzubeziehen. In erster Linie geht es darum, auf die Probleme der pobladores/as aufmerksam zu machen, die in den etablierten Massenmedien keinen Widerhall finden. Die Radios verfügten über eine geringe Sendeleistung von einem Watt, was einer Reichweite von ungefähr zwei Kilometern entspricht. Von Anfang an unterwarfen sich diese Radios der strengen Selbstdisziplin, nur auf freien Frequenzen zu senden, um keinesfalls den Empfang lizenzierter Sender zu stören.
Dennoch erregten die radios populares bald den Zorn der etablierten Sender und der traditionell mit ihnen liierten politischen Rechten. Die rechte Partei UDI und die ARCHI, der Dachverband chilenischer Radioanstalten, protestierten bereits im Oktober 1990 öffentlich und bezogen sich dabei auf den mangelhaften juristischen Status der radios populares, die ohne Lizenzen sendeten. Der damals zuständige Minister für Transportwesen und Telekommunikation, der “Sozialist” Germán Correa, bezeichnete die kleinen Radios zwar als illegal, erklärte jedoch, keinerlei rechtliche Handhabe gegen sie zu besitzen. Die betroffenen Radiogruppen reagierten prompt, indem sie sich um Lizenzen bewarben. Mit der Begründung, sie verfügten nicht über die Mindestkapazität von 250 Watt, wurden diese Bewerbungen abgelehnt. Die ANARAP wies daraufhin auf eine offenkundige Lücke im Gesetz hin und forderte, die Existenz kommunaler Radios zu legalisieren.

Regierung gibt Drängen der rechten Opposition nach

Sehr bald wurde klar, daß die radios populares den etablierten Medien nicht nur aufgrund ihres demokratischen Ansatzes ein Dorn im Auge waren. Darüber hinaus gerieten sie zwischen die Mühlsteine der politischen Auseinandersetzung der neuen, demokratisch gewählten Regierung mit der rechten Opposition, die den Konflikt um eine neue Radiogesetzgebung instrumentalisierte. Die rechte Renovación Nacional beklagte die “Unfähigkeit der Regierung, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen” und reichte deshalb eine Verfassungsklage gegen den Minister Correa ein. Correa reagierte mit der Zusage, gesetzliche Grundlagen für die Verfolgung “illegaler” Radios zu schaffen und gleichzeitig mit der Reform des “Allgemeinen Gesetzes der Telekommunikation” auch die Frequenzvergabe für Radios geringer Reichweite zu regeln. Mit diesem Zugeständnis wollte sich die Concertación die Unterstützung der UDI im Senat erkaufen, ohne die eine schnelle Neuregelung unmöglich erschien.
Bereits im August 1991 wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Radiobetrieb ohne Lizenz unter Strafe stellte. Der drohenden Beschlagnahme der Sendeanlagen und der Verhängung von Bußgeldern kam die ANARAP zuvor, indem die überwiegende Mehrheit ihrer 59 Mitglieder “freiwillig” den Sendebetrieb einstellte. Als weitere Geste des guten Willens übergab die ANARAP offiziellen Stellen eine Liste mit den Namen der Verantwortlichen der als “klandestin, subversiv, terroristisch” diffamierten “Piratensender”.
Während die ANARAP Lobby-Arbeit auf den Korridoren des Parlaments betrieb, leisteten die MitarbeiterInnen der radios populares in den poblaciones erfolgreich Überzeugungsarbeit. Der ANARAP gelang es, verschiedene Kongreßmitglieder für ihre Ideen über kommunalen Rundfunk zu begeistern, so daß der erste Gesetzesentwurf vom November 1991 in entscheidenden Punkten den Vorstellungen der alternativen RadiomacherInnen entsprach. Auch wenn dieser Entwurf keine Bevorzugung der radios populares bei der Frequenzvergabe vorsah, lagen die Voraussetzungen für den Erhalt einer Lizenz auch für die finanzschwachen kleinen Radios im Bereich des Möglichen. Die ausdrückliche Erlaubnis von Werbeeinnahmen erschloß eine neue Finanzquelle. Voller Optimismus erwarteten die ANARAP und ihre Mitglieder die baldige Legalisierung ihrer Sender. Die “freiwillige” Sendepause sollte zur Fortbildung und zur Verbesserung der technischen Ausstattung der Radios genutzt werden.

Verzögerung im Senat gefährdet Überleben der radios populares

Die erwartete schnelle Verabschiedung der Gesetzesreform blieb jedoch aus. Die Beratungen im Senat zogen sich ein Jahr lang hin. Die Existenz der kleinen Radioprojekte wurde durch die lange Unterbrechung des Sendebetriebs gefährdet. Schließlich hatte die vom Senat beschlossene Gesetzesvorlage kaum noch Ähnlichkeit mit der Vorlage der Deputiertenkammer, die zu so viel Hoffnung Anlaß gegeben hatte. Die rechte Senatsmehrheit ließ die sozialen Funktionen kommunaler Radios unberücksichtigt und stellte diese in allen Belangen kommerziellen Sendern gleich. Der einzige Vorteil, den radios populares daraus zogen, bestand in der Erlaubnis, Werbeeinnahmen zu erzielen. Die Voraussetzungen für den Erhalt von Lizenzen waren jedoch einseitig an die Bedingungen kommerziell betriebener Sender orientiert: Die geforderten technischen und finanziellen Auflagen entsprachen in keiner Weise den knappen Ressourcen der Radios geringer Reichweite. Außerdem sah der Senatsentwurf vor, die LizenzinhaberInnen zu täglichen Sendungen zu verpflichten und ging so an der Wirklichkeit der radios populares vorbei, deren MitarbeiterInnen Radiojournalismus eben nicht als Broterwerb betreiben. Eine Siebentage-Woche würde diese Radios zum Kauf der bisher geliehenen Sendeanlagen sowie zur Bezahlung ihrer MitarbeiterInnen zwingen. Davon abgesehen, daß dies den finanziellen Rahmen der Gruppen sprengen würde, läuft der Zwang zur Professionalisierung dem eigentlichen Anliegen der radios populares zuwider.
Um das Überleben der Radiogruppen zu sichern, entschied die Mitgliederversammlung der ANARAP, trotz aller Bedenken weiterhin auf die schnelle Verabschiedung der Gesetzesreform zu drängen. Außerdem bestand die Hoffnung, daß die gemischte Kommission beider Parlamentskammern, die bei unterschiedlichen Stellungnahmen von Senat und Kongreß eingesetzt wird, den Senatsentwurf noch nachbessern würde.
Entsprechend groß war die Enttäuschung, als die comisión mixta mit den Stimmen der Regierungsparteien einen Entwurf verabschiedete, der die Version des Senats in negativer Hinsicht sogar noch übertraf. Radios mit geringer Reichweite, einer Sendeleistung von höchstens einem Watt, sollen keine Werbeeinnahmen erzielen dürfen und nicht über die Grenzen von Kommunen hinweg senden dürfen.
Während die radios populares also im Hinblick auf die Bewerbung um Lizenzen der Konkurrenz finanzstarker kommerzieller Sender ausgesetzt werden, verweigert somit das neue Gesetz, das für sein Inkrafttreten nur noch der Unterschrift des Staatspräsidenten bedarf, gleichzeitig die Voraussetzungen, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können. Außerdem ist kommerzieller Wettbewerb dem Wesen dieser alternativen Radioprojekte fremd.

Die ANARAP nimmt die Herausforderung an

Die mit dem Beginn der Formaldemokratie verknüpften Hoffnungen sind der Ernüchterung gewichen. An die Stelle direkter staatlicher Repression treten heute die Zwänge des Marktes, die vor allem eines bewirken: Dieselben wirtschaftlich und politisch einflußreichen Gruppen, die unter der Militärdiktatur den Medienmarkt unter sich aufteilten, ersticken auch noch unter der zivilen Regierung jeden Versuch der Demokratisierung des Kommunikationswesens. Trotzdem nimmt die ANARAP die Herausforderung an. Einer ihrer Sprecher, Luis Gallego, stellt fest: “Um mehr herauszuholen, hätten wir eine andere Regierung gebraucht.” Die Mitgliederversammlung der ANARAP verständigte sich erneut darauf, an der Forderung nach einer schnellen Verabschiedung des Gesetzes festzuhalten.
Die Radiogruppen mit den besten Erfolgsaussichten sollen von der ANARAP in besonderer Weise bei der Bewerbung um Lizenzen unterstützt werden. Um Kosten zu senken, sollen notwendige Sendeanlagen gemeinsam eingekauft werden. Die Gründung einer Radioschule soll die Grundlage für die Fortsetzung der Ausbildungsprogramme sein. Die ANARAP-Mitglieder werden sich zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation einerseits darum bemühen, auf kommunaler Ebene Unterstützung zu finden. Andererseits ist vorgesehen, ausländische GeldgeberInnen zu suchen. Mit “kreativen” Programmen soll das Werbeverbot umgangen werden.
Dieselbe Zähigkeit, die ermöglicht hat, daß 26 der ehemals 59 in der ANARAP organisierten radios populares eine fast zweijährige Sendepause überstanden haben, soll heute das Überleben am Markt gewährleisten. Die Praxis wird zeigen, ob das emanzipatorische Anliegen der kommunalen Radios stärker ist als die auf Profit ausgerichtete Logik des Marktes. Werden die radios populares, die im Wettbewerb bestehen, sich am Ende noch von ihrer kommerziellen Konkurrenz unterscheiden?

Schwarzer Frühling

Nach einem Banküberfall flüchteten die TäterInnen in einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs und zwangen den Fahrer, mit den Fahrgästen an Bord ohne Halt weiterzufahren. Eine fast klassische Situation von Geiselnahme. Noch im Umfeld des Tatorts fing ein Einsatzwagen der Polizei den Bus ab und brachte ihn zum Stehen. Ein Polizist, der sich dem Bus näherte, kam sofort zu Tode. War es mörderischer Dilettantismus oder militarisiertes Denken – über drei Minuten lang feuerte die Polizei auf den Bus mit BankräuberInnen und PassagierInnen: der Bus wies anschließend über 16o Einschüsse von außen auf… Das Ergebnis: sechs Tote, über ein Dutzend Verletzte im Bus.
Für die Polizei war klar (seit welchem Moment des Einsatzes?), daß es sich bei den TäterInnen um “TerroristInnen”, Mitglieder der Stadtguerilla Lautaro, handelte. Entsprechend wurden auch die Verletzten be- bzw. mißhandelt, teilweise mit Handschellen in die Krankenhäuser eingeliefert. So weit, so schlimm.

Regierung billigt Massaker

Schlimmer aber war die erste Reaktion der Regierung auf den Polizeieinsatz – weder Innenminister Krauss noch Präsident Aylwin fanden irgendeinen Anlaß, das Vorgehen der Polizei zu kritisieren. Das Totschlag-Wort “Terrorismus”-Bekämpfung blendete offenbar jede weitere Überlegung aus…
Erst die Recherchen der Medien ergaben im Anschluß, daß von den Opfern im Bus nur drei “Lautaristas” waren, die anderen drei jedoch unbeteiligte Fahrgäste, unter den Verletzten waren zwölf Passagiere…Für die Einschätzung des Polizeieinsatzes sollte es keine Rolle spielen, aber es soll nicht unterschlagen werden – bei ihrem Überfall hatten die Lautaristas sofort einen Bankwächter erschossen.

Kleine Fragezeichen

Wären alle Opfer tatsächlich “Terroristen” gewesen, hätten wohl nur wenige ChilenInnen noch weitere Fragen gestellt So aber, angesichts der unbeteiligten Fahrgäste, fragten nicht nur einige Medien, sondern auch PolitikerInnen des Regierungsbündnisses “Concertación” nach der Angemessenheit des Polizeieinsatzes. Und auch die Regierung ließ erkennen, daß sie das Vorgehen der Polizei nicht einfach unhinterfragt weiter billigen wollte – sie verlangte von der Polizei einen detaillierten Bericht… und sie beantragte die Einsetzung eines Sonderrichters zur Untersuchung der Vorgänge, und das bedeutet: den Überfall der Lautaristas und das Verhalten der Polizei. Wird ihm dieses Bündel von Aufgaben den Blick auf die zivilen Opfer freilassen?
Weitere politische Konsequenzen sind für diese Regierungsperiode nicht zu erwarten. Die Frage nach dem möglichen Rücktritt des verantwortlichen Ministers erledigt sich damit, daß die Polizei – Folge der Militärdiktatur -, sowohl dem Innen- wie dem Verteidigungsminister unterstellt ist. Die Praxis zeigt, sie untersteht keiner wirklichen Kontrolle, sondern agiert autonom – ein für eine demokratische Gesellschaft unhaltbarer Zustand.
Aber hier stellt sich eine weitere Frage – als wie unerträglich wird das Vorgehen der Polizei in Chile empfunden? Nach einer im Regierungsauftrag durchgeführten nicht-repräsentativen Umfrage findet etwa die Hälfte der befragten ChilenInnen an dieser Art, die Gesellschaft zu schützen, nichts auszusetzen. Und die berüchtigten Gespräche im Taxi oder auch Zufallsgespräche im Bus lassen dieses Ergebnis sogar glaubwürdig erscheinen…
Als am 3. November schon wieder Polizisten der Finger zu locker am Abzug der Maschinenpistole lag, war das Opfer weder “Terrorist” noch bloßer Passant, sondern erwies sich als Angehöriger der rivalisierenden Kripo (Investigaciones). Unter diesen Umständen war es unmöglich, einfach zur Tagesordnung überzugehen oder sich mit einer fadenscheinigen Rechtfertigung zu begnügen.
Die rasche Reaktion der obersten Polizeiführung – die sofortige Entlassung der drei beteiligten Polizisten aus dem Dienst und Neuordnung von Zuständigkeiten – berührt das zentrale Problem natürlich überhaupt nicht: Welche Grundsätze gelten für den Waffengebrauch der Polizei? Wer entscheidet über die Politik der inneren Sicherheit im Lande?
In einer längeren Erklärung, die man als Armuts- wie als Ohnmachtszeugnis verstehen kann, bekannte Innenminister Krauss am 6. November, daß sein Ministerium aufgrund der Rechtslage den Einsatz von Carabineros und Investigaciones nur “koordinieren” kann, aber diese Koordination “bezieht sich nicht auf operative Einsätze und bedeutet schon gar keine wirkliche Befehlsgewalt (mando efectivo) über die polizeilichen Institutionen”.
Die Feststellung ist sachlich richtig, aber in diesem Zusammenhang fast bedeutungslos. Weder Krauss noch Aylwin können sich aus ihrer politischen Verantwortung stehlen: schließlich waren sie es, die das Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen am 11. September und beim Massaker in Las Condes ausdrücklich rechtfertigten.

Ein Neuer bei Interpol

Während der Regierung Allende genoß Mery noch den Ruf, der Unidad Popular nahezustehen. Mit dem Putsch aber scheinen sich für ihn die Zeiten gewandelt zu haben. VertreterInnen chilenischer Menschenrechtsorganisationen und ehemalige politische Gefangene geben an, Mery sei eine der Schlüsselfiguren für die Organisation der Repression in der Region Linares gewesen, deren Kriminalpolizei er seinerzeit leitete.

Merys Grill

In dieser Position organisierte er im Verbund mit der berüchtigten Geheimpolizei DINA und dem militärischen Geheimdienst SIM die Verhaftung von GewerkschafterInnen und Linken, die dann in den Kellern der Artillerieschule von Linares inhaftiert wurden. Seine Beteiligung an den Folterungen wurde bereits in der Ende 1992 herausgegebenen Dokumentation “Labradores de la esperanza” des CODEPU (Comité de defensa de los derechos del pueblo) benannt und wird nun unter dem Titel “Merys Grill” erneut in der September-Ausgabe der Zeitschrift “Punto Final” herausgestellt.
In den meisten Berichten der Opfer wird Mery nicht als der unmittelbare Folterer bezeichnet. Er bestimmte, wer verhaftet und wer gefoltert wurde. Im Zusammenhang mit den Folterungen selbst nahm er vor allem die Rolle des “Guten” ein, der selbst keine Gewalt anwendete, sondern nach der Folter den Weg zur Kooperation und zur Aussage ebnen sollte. “Mery war der Ideologe während der Folter und des Verhörs. Er war immer vor dem Folterraum, aber er entschied, wann der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Folter beendet und die Kooperation versucht wurde”, so Solidia Leiva von der Vereinigung der Familienangehörigen von Verschwundenen. Silvia Sepúlveda, in den 70er Jahren Vorsitzende der Bauerngewerkschaft Luciano Cruz und in Linares gefangen und gefoltert, beschreibt, daß Mery den Gefangenen klarzumachen versuchte, Schweigen sei sinnlos. “Mery hat mir gesagt, ich solle alles sagen, was ich weiß, dann würde ich schnell freigelassen.”
Frau Sepúlveda berichtet weiter, sie habe gesehen, wie Mery den Gefangenen Alejandro Mella dazu bringen wollte, eine Erklärung über seine Freilassung zu unterschreiben. Gefangene, die eine solche Erklärung unterschrieben, wurden häufig sofort danach umgebracht. Derartige Dokumente gehörten ins feste Repertoire des Verschwindenlassens: So konnte die Polizei ihre Hände in Unschuld waschen, da sie nachweisen konnte, den Gefangenen freigelassen zu haben.

Ahnungslose Interpol?

Sicher kann man nicht annehmen, daß sämtliche Delegierte der Interpol-Generalversammlung über die Rolle des chilenischen Kripo-Chefs informiert waren. Kein Grund allerdings, gegenüber einem Sicherheitsbeamten aus der Zeit der chilenischen Diktatur nicht generell vorsichtig zu sein. In einer Organisation, die sich in Artikel 2 ihrer Statuten ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte bezieht, ist eine solche Wahl mehr als eine Kleinigkeit.
Die Versuche, Folterer und andere Verantwortliche für schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Amnestien vor einer Verurteilung zu bewahren, das Beharren der Militärs auf einer Teilhabe an der Macht im Land, sind in allen seriösen Zeitungen nachzulesen. Mit der Wahl Mery Figueroas in eine Schlüsselposition beteiligt sich die Interpol-Generalversammlung an der nachträglichen Rechtfertigung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur.
Die nach Kontinenten gewählten Delegierten sollen vor allem die polizeiliche Zusammenarbeit in ihrer Region fördern – ein Vorhaben, das Interpol seit den 80er Jahren verstärkt betreibt. Als einer der zwei Delegierten für Amerika im Exekutivkomitee übernimmt Mery eine bedeutende Position in der einzigen weltweiten Polizeiorganisation, der mittlerweile über 170 Länder angehören. Das Exekutivkomitee von Interpol hat die Aufgabe, die Arbeit des Generalsekretariats in Lyon zu überwachen. Mery dürfte dafür kaum der geeignete Mann sein, denn auch unabhängig von seiner Rolle während der Militärdiktatur des Generals Pinochet hätte der chilenische Kripo-Chef bei den Herren von Interpol auf gesteigertes Interesse stoßen müssen. So veröffentlichte z.B. die chilenische Zeitschrift “Apsi” in ihrer Ausgabe vom 21.9.92 einen längeren Bericht über den Drogenhandel in Chile. Darin findet sich ein Foto, das ihn in freundlicher Begrüßungsszene mit Cabro Carrera zeigt. Der Handschlag der beiden, so betont das Blatt, sei keineswegs ein Einzelfall gewesen. Carreras Name steht in Chile für Drogenhandel, illegales Glücksspiel und andere Dinge, die Hans-Ludwig Zachert, Präsident des BKA und ebenfalls neu gekürtes Mitglied des Interpol-Exekutivkomitees, hierzulande sonst als “organisierte Kriminalität” bezeichnet.

Bearb. Vorabdruck aus “Bürgerrechte und Polizei/CILIP”, Nr.46 (3/93)

Zwanzig Jahre danach

Staatspräsident Aylwin versuchte verkrampft den Anschein zu erwecken, er wolle es allen Recht machen. Das konnte aber immer weniger die Tatsache verbergen, daß die demokratisch gewählte Regierung die Machtposition der Militärs im Sinne einer “Verbesserung der zivil-militärischen Beziehungen” akzeptiert.
Gleichzeitig wurde in den vergangenen Wochen der Verzicht auf Wahrheit und Gerechtigkeit bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur wieder so offensichtlich, daß diejenigen, die die Aufklärung und Verurteilung der Verantwortlichen fordern, umso heftiger die Regierungspolitik kritisierten (vgl. LN231/232).
Es war vorauszusehen, daß sich an diesem zwanzigsten Jahrestag des Putsches die Konflikte deutlich zeigen würden.

“Allende, das war nicht irgendein Präsident, Salvador Allende war mein Präsident”

General Augusto Pinochet feierte am 23. August den zwanzigsten Jahrestag seiner Ernennung zum Oberkommandierenden der Streitkräfte.
Der Festakt galt gleichzeitig als Auftakt für verschiedene Aktivitäten der Streitkräfte im “Monat des Heeres”, wie der September seit den Jahren der Militärdiktatur genannt wird.
Diese Veranstaltungen und vor allem die weitgehend unkritische Presseberichterstattung darüber stellten für Pinochet die Möglichkeit dar, sich ausführlich zum Putsch zu bekennen. Er bezeichnete wiederholt alle Verhafteten-Verschwundenen als “Banditen” und “Guerrilleros”, woraufhin die Organisationen der Angehörigen Anzeige wegen Verleumdung und Beleidigung erstatteten.
Als Antwort auf den “Monat des Heeres” hatten die Kommunistische Partei und weitere Organisationen der linken Opposition zu einem “Monat des Widerstands” aufgerufen, in dem durch vielfältige Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen an Salvador Allende, die Regierungszeit der Unidad Popular und den Putsch erinnert werden sollte. Der Jahrestag des Putsches sollte zum Anlaß genommen werden, erneut auf die Kontinuität der Politik der Militärs und die fehlende Aufklärung der Verbrechen hinzuweisen.
Die Erinnerung an Salvador Allende ist heute noch so lebendig, daß er weit über die Kreise linker Parteien hinaus als Märtyrer und Symbolfigur gilt. Das Verhalten der Regierung machte deutlich, wie unangenehm ihr diese Tatsache ist.
“Der 11. September ist ein schwieriges Datum, aber das darf nicht Anlaß geben zu Konfrontationen oder Gewalt”, sagte der Generalsekretär der Regierung, Enrique Correa. “Es sollte ein Tag der Erinnerung sein, der Reflektion und des Nachdenkens über die Ursachen des Putsches”, fügte der Präsidentschaftskandidat der Concertación, Eduardo Frei, hinzu.
Jede Erinnerung an Allende, jeder damit verbundene Protest und jede Kritik der aktuellen Situation von linker Seite sollte möglichst schon im Keim erstickt werden.
“Die Carabiñeros haben Anordnung, jede illegale Demonstration oder Versammlung am 11.9. oder vorher aufzulösen, um öffentliche Ruhe und Ordnung zu gewährleisten”, erklärte der Direktor der Carabiñeros General Rodolfo Stange, als er eine Sperrzone für Demonstrationen in der Innenstadt und den Vor-Ausnahmezustand bekanntgab.

Widerstand an den Universitäten

Schon bevor die erste Kundgebung aus Anlaß des Jahrestages an der staatlichen “Universidad de Chile” stattgefunden hatte, beschloß das Erziehungsministerium ohne eine Erklärung abzugeben, die sozialwissenschaftlichen Fakultäten auf dem Campus im Stadtviertel Macul in der Woche vor dem 11.9. geschlossen zu halten.
Am 4. September, dem Jahrestag des Amtsantritts der Regierung Allende und in der darauffolgenden Woche wurden Kundgebungen und Demonstrationen von StudentInnen in Santiago, Valparaiso, Concepción und Antofagasta unter starkem Polizeieinsatz behindert oder aufgelöst. Dabei wurden 75 StudentInnen festgenommen und über zwanzig, mehrheitlich durch Gummigeschosse, verletzt. Der Jurastudent Jaime Lagos von der Privatuniversität Arcis in Santiago wurde duch eine gezielt geschossene Tränengasbombe schwer am Kopf verletzt. Zwei weitere Studenten sind seitdem in Haft.

Frühzeitiger Streit um die Route des Trauerzuges

Die Vorbereitungen des Trauerzuges am 11. September selbst, zu dem das “Comité Pro Anulación de la Ley de Amnistia”, das linke Parteienbündnis MIDA, sowie Menschenrechtsorganisationen aufriefen, zeigten schnell, daß die Regierung auch nicht zu symbolischen Zugeständnissen bereit war. Keinesfalls sollte die Demonstration am Regierungspalast, der Moneda, vorbeiziehen dürfen, um wie traditionell üblich, Blumen vor dem Fenster des ehemaligen Büros Allendes niederzulegen. Auch die Straßen der nächsten Umgebung blieben der Demonstration ohne schlüssige Begründung versperrt. Der Bürgermeister von Santiago Pareto erklärte, er wolle vermeiden, daß “die Hauswand der Moneda wie im vergangenen Jahr beschmiert werde”. Als Kompromiß wurde nur erreicht, daß eine Delegation von 50 VertreterInnen des Organisationskommitees die Sperrzone betreten durften, um Blumen niederzulegen.
Aus Concertaciónskreisen wurde jedoch das Gerücht bekannt, die Beschränkungen für die Demonstration seien als Zeichen des Ausgleichs zu verstehen. Denn die Regierung hatte sich geweigert, den PinochetistInnen das Kongresszentrum Diego Portales für deren Feier zur Verfügung zu stellen.

Rechte Jubelfeiern unter Polizeischutz

Der traditionelle rechte Demonstrationszug, den General Pinochet von seiner Villa zur Escuela Militar begleitet, wo die alljährliche Jubelfeier des Putsches mit anschließender Messe stattfindet, erhielt seine Erlaubnis stattdessen problemlos. An den Feierlichkeiten nahmen dieses Jahr beide rechten Präsidentschaftskandidaten, der vom Parteienbündnis “Pacto por el Progreso” unterstützte Gustavo Allessandri und der unabhängige Jose Piñera, teil. Schon Tage vor dem 11. September versammelten sich Pinochet-AnhängerInnen zu einer “Ehrenwache” vor seinem Haus und schwenkten Transparente mit Aufschriften wie “Danke, Pinochet” oder “Noch ein Putsch, Herr General!”. Fahnenschwenkende Jugendliche, teilweise mit Hakenkreuzbinden am Arm, zogen durch das Nobelviertel Las Condes, während die Carabiñeros den Verkehr umleiteten.

Repression wie in den Zeiten der Diktatur

Am Vormittag des 11. September fand in der Kapelle der Moneda eine von der Regierung veranstaltete Trauermesse zu Ehren der Toten des Putsches statt, an der die Witwe Salvados Allendes, Hortensia Bussi, weitere Familienangehörige, sowie VerterterInnen der Concertacions-Parteien teilnahmen. Staatspräsident Aylwin ließ sich durch Innenminister Krauss und den Generalsekretär der Regierung Enrique Correa vertreten.
Gleichzeitig hielt die Sozialistische Partei eine eigene Kundgebung ab und hatte beschlossen, die Ehrung am Grab des Sozialisten Allende auf den nächsten Tag zu verschieben.
Zur selben Zeit versammelte sich der Trauerzug auf der Hauptstraße Santiagos, der Alameda. Nach dem Ende einer Messe in der nahegelegenen Kirche San Ignacio, sollte die Demonstration, an der auch der Präsidentschaftskandidat des MIDA, Eugenio Pizarro, teilnahm, von der Innenstadt zum Cementerio General führen, dem Friedhof, auf dem Salvador Allende begraben ist. Dort sollte eine Abschlußkundgebung stattfinden, um danach Blumen an seinem Grab niederzulegen.
Die Straßen rings um das Regierungsgebäude waren abgesperrt und teilweise vollständig durch Polizeifahrzeuge, Wasserwerfer, sogar Traktoren und Baustellenfahrzeuge blockiert. Seit dem frühen Vormittag kreisten ununterbrochen Hubschrauber über der Innenstadt.
Aufgrund eines starken Polizeieinsatzes mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppeln schon kurz nach Beginn der Demonstration, konnte nur ein kleiner Demonstrationszug die genehmigte Route fortsetzen und eine Zwischenkundgebung am Frauengefängnis Santo Domingo abhalten. Damit sollte die Solidarität mit Belinda Zubicueta Carmona ausgedrückt werden, der einzigen Frau der noch 21 politischen Gefangenen der Diktatur.
Die Mehrzahl der TeilnehmerInnen konnte nur in kleinen Gruppen den Polizeisperren ausweichen und zum Friedhof gelangen.
Auf dem Weg zum Kundgebungsort gab es regelrechte Hetzjagden der Militärpolizei auf Gruppen von DemonstrantInnen, hauptsächlich in der Innenstadt. Dabei gab es Verletzte, vor allem durch Gummigeschosse und Tränengasbomben. In einem Bereich der Alameda, wo sich zu diesem Zeitpunkt keine DemonstrantInnen befanden, wurde ein 67-jähriger Rentner beim Überqueren der Straße von einem Wasserwerfer zu Boden geworfen und überrollt. (Siehe Kasten)

Zwischen Wut und Trauer

Bei der Abschlußkundgebung drängten sich die Menschen auf dem Platz vor dem Friedhofseingang. Die Rede der Präsidentin der Angehörigenorganisation AFDD, Sola Sierra, wurde plötzlich durch die Nachricht unterbrochen, es habe einen Toten auf der Alameda gegeben. Der darauffolgenden Rednerin Gladys Marin von der Kommunistischen Partei gelang es aber, die Anwesenden soweit zu beruhigen, daß alle bereit waren, erst die Kundgebung zu beenden, um dann gemeinsam in die Innenstadt zurückzuziehen.
In diesem Moment wurden die ersten Tränengasbomben direkt hinter die Bühne geschossen. Alle Zufahrten zum Friedhofsvorplatz waren von der Polizei besetzt. Fast panisch versuchte sich die Menge in alle Richtungen zu zerstreuen, viele quälten sich hustend und tränend durch die Gaswolke, die den Zugang zum Friedhof versperren sollte.
Draußen wurde, knapp 100 m vom Friedhofseingang entfernt, scharf geschossen. Der 18-jährige Jose Ortiz Araya, Mitglied der Kommunistischen Jugend, wurde von einem 9mm-Projektil am Hals getroffen und verblutete beim Transport mit einem Privatauto ins nächste Krankenhaus. Mehrere andere DemonstrationsteilnehmerInnen wurden durch Schüsse verletzt.
Die Versammlung, die währenddessen auf dem Friedhof stattfand, wurde ebenfalls abgebrochen, als von allen Seiten Carabiñeros auftauchten, die auch hier mit Gasbomben und Gummigeschossen auf die Anwesenden zielten. Der Friedhof wurde solange unter Tränengas gesetzt, bis sich nur noch vereinzelte kleine Gruppen von ehemaligen DemonstrationsteilnehmerInnen, BesucherInnen gleich, auf die Ausgänge zubewegten.
Noch während eine Delegation der DemonstrationsorganisatorInnen der Demonstration am Nachmittag vergeblich eine Stellungnahme des Innenministeriums forderte ging die Militärpolizei in der Innenstadt weiter mit Wasserwerfern und Tränengas gegen einzelne Gruppen von DemonstrantInnen vor. Als Reaktion darauf wurde durch Steinwürfe Sachschaden angerichtet.

Straßenkämpfe in der Nacht

Den ganzen Tag über hatten sich schon Menschen am Nationalstadion versammelt, das 1973 als Konzentrationslager der Militärs gedient hatte. Mit Kerzen erinnerten sie an die dort Gefolterten und Getöteten und die von dort Verschwundenen. Der populäre Musiker Victor Jara wurde ebenfalls hier ermordet.
Gegen Abend wurden in den Poblaciones, vor allem im Süden und Osten Santiagos Kerzen für die Ermordeten der Diktatur angezündet. Später errichteten vor allem Jugendliche wie auch schon in den vergangenen Jahren brennende Barrikaden, die die Carabiñeros daran hinderten, die Viertel zu betreten. “Klar waren wir wütender dieses Jahr. Zwanzig Jahre nach dem Putsch, und außerdem wegen der Toten am Nachmittag”, erzählt Manuel aus der Poblacion La Victoria.
Die Carabiñeros reagierten auf Steinwürfe und Molotowcocktails gegen Polizeifahrzeuge und Räumpanzer, indem sie ganze Stadtviertel unter Tränengas setzten.

Spontane Schuldzuweisungen

Insgesamt wurden 127 Menschen, überwiegend Jugendliche, während der Ereignisse festgenommen. Es gab 55 Verletzte, hauptsächlich mit Schußverletzungen, Verletzungen durch Tränengasbomben oder Knüppel. Zwei Schwerverletzte wurden einen Tag lang im Krankenhaus mit Handschellen ans Bett gefesselt, ohne daß Haftbefehle gegen sie vorlagen.
Sieben Polizisten wurden verletzt. Noch am selben Abend forderten die OrganisatorInnen der Demonstration den Rücktritt von Innenminister Krauss und Luis Pareto, dem Bürgermeister von Santiago, die sie für die Repression verantwortlich machten. Außerdem forderten die OrganisatorInnen die Berufung eines Untersuchungsrichters zur Aufklärung der Vorgänge und kündigten gleichzeitig im Namen der Angehörigen der beiden Toten eine Anzeige gegen Carabiñeros an. Der Vertreter der Alianza Humanista Verde, Gabriel Feres, der selbst auf der Bühne durch mehrere Gummigeschosse am Kopf verletzt worden war, bezeichnete die Polizeiaktion als einen “im voraus strukturierten Plan, die Ehrungen des Ex-Präsidenten Allende zu verhindern”.
Demgegenüber beeilten sich die Regierung und weite Kreise der Concertación, die Kommunistische Partei für die Ereignisse verantwortlich zu machen, forderten ihrerseits jedoch ebenfalls einen Untersuchungsrichter. Noch bevor die formellen Schritte dafür in die Wege geleitet waren, bezeichnete aber Innenminister Krauss das Verhalten der Militärpolizei als angemessen und beschuldigte die außerparlamentarische Linke, “Veranstaltungen zu organisieren, ohne die Möglichkeit zu haben, die TeilnehmerInnen unter Kontrolle zu halten”.
Der Direktor der Carabiñeros, General Rodolfo Stange, rechtfertigte das Verhalten seiner Untergebenen, indem er daran erinnerte, daß schon Tage vorher davor gewarnt worden war, die “öffentliche Ordnung zu gefährden”. Er bezeichnete den Waffengebrauch der Polizei als angemessen, um eine Demonstration aufzulösen, wenn die Polizisten dabei persönlich gefährdet seien.

Die Ermittlungen suchen schuldige Einzelpersonen …

Am 13.9. ernannte das Oberste Gericht Richter Umberto Espejo als verantwortlichen Untersuchungsrichter, die Ereignisse während der Demonstration aufzuklären.
In den darauffolgenden Tagen erstatteten bei ihm sowohl die Angehörigen des überfahrenen Sergio Calderon wie auch die Menschenrechtsorganisation CODEPU Anzeige gegen die Verantwortlichen am Tod Jose Arayas und Sergio Calderons, außerdem wegen Körperverletzung in mehreren Fällen sowie Mißhandlung und Bedrohung von Festgenommenen. Mehrere Jugendliche hatten ausgesagt, nach ihrer Festnahme auf den Polizeiwachen gefoltert worden zu sein.
Die Untersuchungen Umberto Espejos richten sich nun darauf, verantwortliche Einzelpersonen für die Ereignisse zu benennen. Dazu gehörte beispielsweise, festzustellen, aus wessen Waffe der tödliche Schuß auf José Araya abgegeben wurde. Die Spurensicherung am Tatort war jedoch mangelhaft und die Waffen der beteiligten Polizisten wurden erst Tage später untersucht.
Logischerweise bestritt der verantwortliche General der Carabiñeros, Oscar Tapia, gegenüber der Presse dann auch die Verantwortung seiner Leute am Tod José Arayas. “Ich weiß nicht, welcher Carabiñero das gewesen sein sollte”, war sein Kommentar auf die Frage nach dem Täter.

… anstatt die Institutionen verantwortlich zu machen

Noch viel weniger als die Benennung von einzelnen Verantwortlichen ist zu erwarten, daß die Untersuchungen die Strategie und das Verhalten der Militärpolizei insgesamt in Frage stellen. Zu schnell und zu explizit haben sich Regierungsparteien und rechte Opposition hinter die Verantwortlichen gestellt. Auch als bekannt wurde, daß sich Maximiliano Leon Urbina, der Verantwortliche des Bezirks, in dem der Friedhof liegt, nach dem Putsch 1973 als Folterer in Buin und Umgebung hervorgetan hatte, wurden kaum kritische Stimmen innerhalb der Concertación laut, die auf personelle und institutionelle Kontinuitäten der Diktatur hinwiesen.
Nur zwei Vertreter der Concertación, die Abgeordneten Vivente Sotta (PPD) und Camilo Escalona (PS) kritisierten offen die paradoxe Situation, daß das Innenministerium zwar für die “öffentliche Ordnung zuständig sei, gleichzeitig aber keine Kontrolle über die Carabiñeros hat, die vom Verteidigungsministerium abhängen”.
JournalistInnen der konservativen Tageszeitung “Epoca” waren Augenzeugen, als ein Carabiñero aus einem Wagen ausstieg und direkt auf DemonstrantInnen schoß. Trotzdem wurde in den Medien fast einstimmig die Verantwortung der OrganisatorInnen für die Demonstration betont und versucht, das repressive Verhalten der Militärpolizei zu rechtfertigen, indem auf verletzte Polizisten und den angerichteten Sachschaden verwiesen wurde, den sie als gewöhnlichen “Ausbruch linker GewalttäterInnen” bezeichneten.
Rechtsanwälte der verletzten Carabiñeros drohten sogar damit, Anzeige gegen die OrganisatorInnen der Demonstration, speziell gegen Gladys Marin, zu erstatten, um damit exemplarisch Schuldige für Körperverletzung an Polizisten und Sachschaden zu verurteilen.
Im nachhinein erscheint die Zahl der Toten und Verletzten erstaunlich gering, gemessen an der Zahl der eingesetzten Militärpolizisten und der Brutalität ihres Vorgehens.
Selbst wenn die Untersuchungen Umberto Espejos einzelne Carabiñeros für ihr Verhalten verurteilen sollten, hat die Reaktion der Regierung Aylwin gezeigt, daß sie nicht bereit ist, die Ideologie und die Machtstrukturen des Repressionsapparates der Diktatur zu kritisieren oder gar zu verändern. Vielmehr bedient sie sich weiterhin dieser repressiven Institutionen, um Kritik zum Schweigen zu bringen und scheinbare politische Stabilität zu erzeugen. Der 11. September war ein Tag, der zeigte, wie wenig sich geändert hat in den vier Jahren des “Übergangs zur Demokratie”.

Kasten:

Das Ehepaar Victor Espinoza Aviles und Marisol Arriagada Godoy beobachteten das Geschehen auf der Alameda, als sie um ca. 13 Uhr auf der Nordseite der Straße auf den Bus warteten. Ein Gruppe von ungefähr 25 anderen Personen befand sich ebenfalls am Tatort.
Sergio Leopoldo Calderon befand sich auf dem Rückweg vom Einkaufen und überquerte gerade die Straße, auf der kein Verkehr war. Der Wasserwerfer LA 12 befand sich gegen die Fahrtrichtung der Straße auf dem Weg in die Innenstadt. Er beschleunigte plötzlich in Richtung auf den Fußgänger, warf ihn mit der Stoßstange zu Boden und fuhr mit dem linken Vorderrad über Kopf und Oberkörper des Rentners. Nachdem er kurz angehalten hatte, beschleunigte er die Fahrt erneut und verschwand. Auch die Polizisten der Patrouille Z-735, die an der Kreuzung stehend Augenzeugen des Vorgangs wurden, stiegen in ihr Fahrzeug und fuhren davon. Kurz darauf fuhren mehrere Polizeifahrzeuge und Motorräder vorbei, ohne anzuhalten.
Erst ca. 15 Minuten später kamen mehrere Mannschaftswagen an den Tatort, deren Besatzung die PassantInnen auseinandertrieb und einen Kreis um den Toten bildete. Dabei bedrohten sie mehrfach ZeugInnen mit ihren Waffen.
Nachdem die beiden AugenzeugInnen vor laufender Kamera der Fernsehkanäle 7 und 13 das Geschehen beschrieben hatten, näherte sich ihnen einer der befehlshabenden Carabiñeros mit den Worten “Redet weiter- und wir machen euch fertig!”
Erst Minuten später wurde die Leiche mit einer Plastikfolie abgedeckt, bis ein Krankenwagen sie schließlich nach einer dreiviertel Stunde abtransportierte. Sofort darauf tauchte ein anderer Wasserwerfer auf, der die Blutspuren von der Straße spritzte, um gleich danach mit dem Strahl die Menschenmenge auseinanderzutreiben.
In den Tagen nach dem 11. September wurden die beiden AugenzeugInnen mehrfach telefonisch bedroht, so daß sie in der darauffolgenden Woche Polizeischutz gestellt bekamen.

“Townley-Bazillus” legt das chilenische Kabinett lahm

ein ins Fettnäpfchen tretender Präsident,
ein kranker Minister,
ein sich vernachlässigt fühlender Minister
diverse betroffene Politiker,
ein gefeuerter sowie mehrere sanktionierte Journalisten.
(Prolog) Nach etlichen Querelen im Vorfeld der Ausstrahlung konnte der staatliche Fernsehsender TVN am Montag dem 16. August mit einer Sensation aufwarten: Ein über zweistündiges Interview mit Michael Vernon Townley, dem Mann, der im Auftrage des ehemaligen Geheimdienstes der Militärdiktatur DINA am 19. September 1976 die Autobombe unter dem Wagen des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier installierte, die diesen zwei Tage später mit seiner Mitarbeiterin Ronni Moffitt mitten in Washington in die Luft sprengen sollte. Allerdings hätte das Interview eigentlich schon fast zwei Wochen zuvor, am 4. August, gesendet werden sollen, wurde aber kurzfristig durch ein Unterhaltungsprogramm ersetzt. Was war geschehen?
(1. Auftritt: P. Rojas, Krauss, Correa, ein Telefon.)
Montag zuvor: Das Telefon klingelt beim chilenischen Staatspräsidenten Aylwin: Es ist sein Verteidigungsminister Patricio Rojas, der ihm nahelegt, die Ausstrahlung des Townley-Interviews irgendwie zu verschieben und es nicht gerade 24 Stunden nach seiner mit Spannung erwarteten Ansprache über das weitere Verfahren mit den in Menschenrechtsverletzungen verwickelten Militärs oder Carabineros über die Bildschirme laufen zu lassen. Zudem befinde sich das Verfahren gegen den damaligen Auftraggeber und DINA-Chef Manuel Contreras gerade in einer entscheidenden Phase. Der Urteilsspruch werde in wenigen Wochen erwartet, eine Ausstrahlung zum jetzigen Zeitpunkt und dazu noch durch einen staatlichen Sender könne als offene Einflußnahme gewertet werden. Überhaupt sei es besser, die Beziehungen zwischen Militärs und Regierung möglichst nicht zu strapazieren. Der Christdemokrat dachte offenbar an den “boinazo” vom vergangenen Mai (vgl. LN 229/30), als Pinochet seine militärische Macht demonstrierte und dabei so nebenbei auch die Machtlosigkeit des Verteidigungsministers selbst offenlegte. Allerdings fühlte sich Rojas nicht erst seit diesem Zwischenfall von seinem Präsidenten vernachlässigt. Neidisch mußte er miterleben, wie sein Kabinettskollege von den Sozialisten, der Regierungssekretär im Ministerrang Enrique Correa im Hause Aylwin zunehmend die besseren Karten hatte. Dementsprechend war es wohl ein auch für ihn unerwarteter Erfolg, als er zusammen mit dem Innenminister und Parteifreund Enrique Krauss seinen Chef von seinen Argumenten überzeugen konnte, und zwar entgegen Correas Auffassung, man solle die Entscheidungsgewalt von TVN nicht antasten. Correa bekam dann prompt die unangenehme Aufgabe, dem Fernsehsender TVN den “Wunsch” des Präsidenten zu übermitteln. Fernsehdirektor Jorge Donoso veranstaltete eine Blitzumfrage bei seinen Direktoriumskollegen und die einstweilige Verschiebung der Ausstrahlung des Interviews wurde mit 5:1 beschlossen.
Mittlerweile meldete sich Correa in schlechter Vorahnung erst einmal für ein paar Tage bei Innenminister Krauss krank. Dieses Mal ließ sich Krauss von der Klugheit seines Kollegen überzeugen und fügte 24 Stunden später gleich seine eigene Krankmeldung hinzu. Der “Townley-Bazillus” breitete sich im Kabinett aus. (Correa und Krauss ab.)
Die weise Voraussicht Correas sollte sich auszahlen. Ein Mitglied des für das Interview verantwortlichen Journalistenteams von Informe Especial hatte die Nachricht von der Zensur durch den Präsidenten an seine KollegInnen von der Presse weitergegeben.
(Auftritt: Aylwin.) Im Hause Aylwin brach daraufhin der Erklärungsnotstand aus. In seiner Not verfiel dieser schließlich darauf, seine Intervention als “Petition” zu verkaufen, die immerhin das Recht jeden Staatsbürgers sei. (Er tritt ins Fettnäpfchen.) So recht überzeugen konnte er damit allerdings niemanden und vor allem nicht die JournalistInnen, die sich mittlerweile in immer größerer Zahl mit ihren zensierten Kollegen solidarisch erklärt hatten. Sie konterten mit dem Argument, daß die “Petition” des höchsten Würdenträgers des Staates schwerlich mit der eines gewöhnlichen Bürgers vergleichbar sei.
2. Auftritt (Pinochet, Contreras)
Unterdessen schlug die Polemik bezüglich des Interviews immer höhere Wellen. “?Cuánto le pagaron? – Wieviel haben sie ihm gezahlt?” wollte der Ex-Diktator Pinochet wissen. “Alles Lügen” behauptete der von Townley hauptsächlich beschuldigte Begründer und ehemalige Chef der DINA Manuel Contreras, in dessen Auftrag jener seine Verbrechen begangen hatte. Townley sei ein Feigling und überhaupt arbeite er heute wie damals im Auftrage des nordamerikanischen Geheimdienstes CIA, um den chilenischen Staat und seine Streitkräfte zu unterminieren. Contreras kündigte an, notfalls seine DINA-Informanden zu nennen, von denen in jeder Partei und in den höchsten Kreisen der Regierung viele zu finden seien.
(Jorge Schaulsohn stürzt auf die Bühne.) Genau in diesem Augenblick sah der Abgeordnete der PPD (Partei für die Demokratie in der Regierungskoalition) Jorge Schaulsohn seine Stunde gekommen und schaltete sich in das Geschehen ein: Momentan noch auf Profilsuche für die kommenden Wahlen, verkündete er, daß entgegen den Beteuerungen der Regierung ein Angehöriger derselben das volle Interview von insgesamt 8 Stunden Länge zusammen mit dem Programmdirektor von TVN Jorge Navarrete angesehen habe. Zufällig sei dieser Jemand der Staatssekretär des Verteidigungsministers, Jorge Burgos, dessen Chef wiederum der ist, der um die Verschiebung des Programms gebeten hatte. Spekulationen tauchten auf, daß von Townley in Zusammenhang mit anderen Attentaten benannte Personen sich in höchsten Regierungskreisen befänden und deshalb ungenannt bleiben sollten (allgemeines Getuschel).
Auf Spekulationen war man angewiesen, denn Townley hat in der gezeigten Zwei-Stunden-Version eigentlich nichts Neues offenbart. Vielmehr hat er nur das wiederholt, was er bereits in Miami zwei Vertretern der chilenischen Justiz gegenüber ausgesagt hatte und was in einem BBC-Interview bereits im britischen Fernsehen gezeigt worden war.
3. Auftritt (Correa gegen Contreras)
Unterdessen war Enrique Correa auf das Spielfeld zurückgekehrt. Offen bezeichnete er die DINA als kriminelle Vereinigung. Contreras’ Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Correa sei ein Feigling und obendrein ein unverbesserlicher Marxist, der die Bedeutung des Wortes “Demokratie” immer noch nicht verstanden habe. Die DINA wäre einzig und allein aus Angehörigen der Streitkräfte gebildet worden, was allein sie schon über jeden Zweifel erhaben mache. Die Ehre der Armee wollte nun auch kein anderer Politiker besudeln lassen: Selbst der Sohn des ermordeten Letelier, der Abgeordnete der Sozialisten Juan Pablo Letelier, beeilte sich, die völlige Unabhängigkeit der DINA und ihrer Verbrechen von der Armee zu betonen. Der Name Pinochet wurde von niemandem erwähnt, obgleich er in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die Finanzen zu bewilligen hatte, die die DINA für die “Neutralisierung der Hauptwidersacher im Ausland” brauchte. In dem Finanzierungsantrag wurden auch die einzelnen Länder genannt, in denen die Agenten tätig waren. So zum Beispiel Italien, wo ebenfalls im Jahre 1976 der Christdemokrat und ehemalige Stellvertreter von Präsident Frey, Bernardo Leighton schwerverletzt ein Attentat überlebte. Oder Mexiko, wo der Kommunistenchef Volodia Teitelboim und der Ex-Präsidentschaftskandidat Carlos Altamirano einem Mordanschlag nur deshalb entgingen, weil sie für ihre Killer unauffindbar waren. Auch Argentinien wurde genannt, wo ein Jahr zuvor der Vorgänger Pinochets im Oberkommando der Streitkräfte, Carlos Prats, ermordet wurde.
4. Auftritt (Townley: Monolog)
Immer wieder taucht jedoch ein Name auf: Michael Townley. Er gibt zu, Leighton in Italien überwacht zu haben sowie dem Mordkommando in Mexiko angehört zu haben. Das Attentat gegen Prats streitet er nach wie vor ab, obwohl die Beweise eindeutig gegen ihn sprechen. Ändern werden all diese Geständnisse allerdings für ihn persönlich ohnehin nicht mehr viel. Nach fast vier Jahren in einem nordamerikanischen Gefängnis (wegen dem Mord an Leteliers amerikanischer Mitarbeiterin) kam er Anfang der 80er Jahre mit Hilfe der Kronzeugenregelung frei. Offensichtlich versprachen sich die Amerikaner Insider-Informationen über die Exil-Kubaner-Szene in den USA, mit denen Townley nicht nur bei dem Anschlag mitten in der Hauptstadt zusammengearbeitet hatte – und sie dabei ziemlich schlecht aussehen ließ.
Epilog: Zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews sind die Wogen schon wieder etwas geglättet, die Schuldigen der ganzen Polemik endlich ausfindig gemacht worden: Der Chef des Informe Especial-Teams ist gefeuert, seine Mitarbeiter sind mit harten Sanktionen bedacht worden. Der Vorwurf: Interna von TVN an die Presse weitergegeben zu haben. Seine KollegInnen von Informe Especial haben sich mit ihm solidarisiert und erwägen rechtliche Schritte. Offensichtlich hat auch der staatliche Sender die Transitionsphase hin zur Demokratie noch nicht abgeschlossen. (Der Vorhang fällt.)

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Der Militärputsch am 11. September 1973 ist nicht nur ein für die chilenische Geschichte einschneidendes Ereignis, sondern er markiert auch den Beginn für die größte Flucht und Migrationsbewegung in Lateinamerika seit den Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhunderts. Schätzungen der chilenischen Menschenrechtsorganisation CODEPU (Comite de Defensa de los Derechos del Pueblo) zufolge haben in den Jahren nach dem Militärputsch insgesamt 1,6 Millionen ChilenInnen ihre Heimat verlassen, außerdem mehr als 700.000 ArgentinierInnen nach dem Staatsstreich im Jahr 1976. Schließlich folgten die Fluchtbewegungen aus Uruguay und Peru mit jeweils rund 500.000 Menschen.
Das politische Exil hat in den siebziger und achtziger Jahren die lateinamerikanischen Migrationsbewegungen bestimmt. Heute hat die Emigration dagegen ihre eindeutig politische Konnotation verloren. An die Stelle der offenen Gewaltanwendung gegenüber politisch Andersdenkenden ist die Gewalt der neoliberalen Wirtschaftspolitik getreten. Die Menschen fliehen nicht mehr primär vor dem Militärterror und den Todesschwadronen, sondern vor der wirtschaftlichen Verelendung, von der heute bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In diesem Sinne ist eine klare Trennung in politische Flüchtlinge und die vielfach diskriminierten Armutsflüchtlinge gar nicht möglich und erweist sich als ethnozentrisches und interessengeleitetes Konstrukt.

Deutsch-chilenische Migration

Mit dem Putsch 1973 wurde Deutschland zum Einwanderungsland für exilierte ChilenInnen. Man sollte aber nicht vergessen, daß schon seit der Unabhängigkeit Chiles 1818 immer wieder große Migrationsbewegungen stattgefunden haben, allerdings in umgekehrter Richtung, von Deutschland nach Chile. Zunächst kamen durch die Anwerbung des chilenischen Staates und deutscher Handelsunternehmen zahlreiche deutsche Siedlerfamilien, die das Handwerk in den großen Städten modernisierten und vor allem die IndianerInnengebiete südlich des Flusses BioBio für die Landwirtschaft nutzbar machen sollten.
Seit der chilenischen Staatsgründung hat es fünf große Einwanderungswellen aus Deutschland gegeben: Die erste große Fluchtbewegung erfolgte nach der Revolution von 1848, die zweite nach der Verkündung der Sozialistengesetze unter Bismarck 1878; sie hielt bis Ende der 80er Jahre an. In diesem Jahrhundert löste die Wirtschaftskrise in den 20er Jahren erneut eine große Auswanderungsbewegung aus. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren starken Migration nach Chile. Während das Land zunächst flüchtende NazigegnerInnen und jüdische EmigrantInnen aufnahm, tauchte hier nach dem Krieg eine große Zahl von
SS-Angehörigen und Nazigrößen unter, deren Verbindungen zu den Reichsdeutschen im Süden Chiles seit jeher sehr gut waren.

Exil in der Bundesrepublik

Mit dem Putsch vor zwanzig Jahren wurde nun also das Einwanderungsland Chile über Nacht zum Auswanderungsland. Was hätte sich da mehr angeboten, als Zuflucht in den Herkunftsländern der Vorfahren zu suchen? Doch diese schlossen nach einem ersten Ansturm von Flüchtlingen ihre Botschaften in Santiago (mit Ausnahme Spaniens, das die Einreise ohne Reisepaß und Visa ermöglichte), obwohl die Medien voll von grauenhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen in Chile waren und internationale Kommissionen zu folgenden Untersuchungsergebnissen kamen: “Die Praktiken der Folter und Hinrichtungen werden derart systematisch angewandt, daß sie an Völkermord grenzen, wie er von den Vereinten Nationen definiert wurde”.
Zwar beschloß das bundesdeutsche Kabinett noch im Oktober, daß den ChilenInnen unbürokratisch geholfen werden sollte, doch schließlich wurde nur die Aufnahme eines Kontingentes von 2.000 ChilenInnen zugesagt. Im Rahmen dieser Quotenregelung durften in die Bundesrepublik aber ausschließlich inhaftierte ChilenInnen einreisen, deren Prozesse bereits abgeschlossen waren und deren Haftstrafen in Landesverweise zwecks Ausreise umgewandelt werden konnten. Aber gerade die Gefangenen ohne rechtskräftiges Urteil waren der Folter und der Gefahr des ‘Verschwindens’ besonders ausgesetzt. Diesen Menschen hätte also besonders geholfen werden müssen.
In der Folge kam es zu erbitterten Kontroversen zwischen Bundesregierung und einzelnen Bundesländern, als diese ihre Zusage zur Aufnahme der Verfolgten mit den unterschiedlichsten Bedingungen verknüpften. Während das Saarland und Bayern die Aufnahme kategorisch verweigerten, stellte BadenWürttemberg folgende Forderungen: “Die Bundesregierung muß unbedingt sicherstellen, daß von der Aufnahme Angehörige extremistischer und anarchistischer Gruppen und darüberhinaus solche Personen ausgeschlossen sind, deren Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates ist”.
Angesichts dieser Logik, mit der die ChilenInnen als ‘Sicherheitsrisiko’ stigmatisiert wurden, war es dann nur konsequent, daß ein Vertreter des Verfassungsschutzes aus Köln die Sonderkommission der Bundesregierung im November nach Santiago begleitete, um bei der Befragung der Verfolgten anwesend zu sein, was schon damals eine eklatante Verletzung beziehungsweise Nichtbeachtung des Artikels 16 des Grundgesetzes war. Trotz scharfer Proteste von SPD, Diakonischem Werk, Amnesty International und Chile-Komitees kam es zu den Verhören der chilenischen Flüchtlinge in Santiago, und erst nach der Zustimmung des Verfassungsschutzes wurde den ersten 23 ChilenInnen Mitte Dezember 1973 die Ausreise erlaubt.
Angesichts der breiten Debatten über das ‘Sicherheitsrisiko’ und die Übernahme der Kosten für die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge zeigte sich, daß je reicher ein Land ist, desto perfekter auch sein Machtapparat zur Ausgrenzung der Fremden funktioniert.

Koordinierung der Chilesolidarität

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Ineffizienz staatlicher Strukturen kam es bereits Ende 1973 zu einer Koordinierung der ChileKomitees mit Amnesty International, an der sich bereits im Mai 1974 auch die Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften (heute HansBöcklerStiftung) beteiligte, um den Flüchtlingen über die Vergabe von Stipendien oder Arbeitsverträgen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Viele Gemeinden der Evangelischen Kirche halfen mit Notunterkünften aus, zur Überbrückung wurden Sach und Geldspenden mobilisiert, und die chilenischen Flüchtlinge wurden persönlich betreut und bei ihren Wegen zu den Ämtern begleitet.
Innerhalb weniger Monate wurde so eine effiziente Struktur für verfolgte ChilenInnen errichtet, die nicht unter die Regelungen des staatlichen Kontingentes fielen. In Einzelfällen wandte sich sogar die deutsche Botschaft mit der Bitte um Hilfe an die ChileKoordination. Neben der breit gefächerten praktischen “Integrationsarbeit” leisteten die Komitees vorrangig eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die die Lage in Chile sowie das Verhalten der Behörden in der Bundesrepublik thematisierte. Ohne diesen Druck, der gemeinsam von Gewerkschaften, Diakonischem Werk, Amnesty International und ChileKomitees ausgeübt wurde, und der eine positive Resonanz in den öffentlichen Medien fand, wäre es sicherlich nicht zur Aufnahme der circa 4.000 Exil-ChilenInnen gekommen, die in den folgenden Jahren Schutz in der Bundesrepublik fanden. Denn nach wie vor mahlten die Mühlen der staatlichen Aufnahmeverfahren – inzwischen in der Kompetenz des Innenministeriums- äußerst langsam.
“Während es in England oder den Niederlanden etwa sechs bis zwölf Wochen dauerte, und manche skandinavischen Staaten in dringenden Fällen innerhalb von Stunden Einreisevisa erteilten, benötigten die deutschen Behörden wegen der eingehenden Sicherheitsprüfungen häufig ein dreiviertel oder gar ein volles Jahr”.
Als Beispiel für den Erfolg der internationalen Öffentlichkeitsarbeit sei an den Fall der Gefangenen Gladys Diaz erinnert, die mehrfach gefoltert und vergewaltigt wurde und tagelang spurlos aus den Gefängnissen verschwand, sowie an die Prozesse der Holzarbeiter von Panguipulli, die für einen nicht nachgewiesenen Überfall auf eine Polizeistation Höchststrafen zu erwarten hatten. In beiden Fällen konnte die Ausreise erwirkt werden.
Im Zentrum der Aktivitäten der privaten bzw. nicht-staatlich organisierten Solidaritätsaktionen stand die Basisarbeit in Komitees und Nicht-Regierungs-Organisationen in den vielfältigsten Formen und auf verschiedensten Ebenen, weniger die Lobby-Arbeit.
Getragen von der Überzeugung einer notwendigen Solidarität mit Verfolgten und dem klaren Feindbild einer Militärdiktatur ist es nach und nach zu einer Übernahme staatlicher Aufgaben durch die Solidaritätsbewegung gekommen, die sich heute unter anderem in dem Nichtvorhandensein offizieller Daten oder einer analytischen, inhaltlich bewertenden Stellungnahme zum chilenischen Exil ausdrückt. Selbst nach ausgiebigen Recherchen war es nicht möglich, offizielle Daten über die chilenischen Flüchtlinge in Deutschland zu erhalten. Zwar gibt es eine allgemeine Bevölkerungsstatistik, die unter anderem auch die Zahl der chilenischen Bürger in Deutschland aufweist. Diese enthält jedoch weder Hinweise auf die Verhältnisse während der Ein und Ausreise, noch gibt sie Aufschluß über die Einreisegründe.
Hochrechnungen chilenischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen ergeben aber eine relativ gleiche Zahl, nämlich ca. 1600 anerkannte politische Flüchtlinge bei einer Gesamtzahl von 6000 chilenischen Staatsbürgern in der Bundesrepublik. Diese Zahl von rund 6000 Flüchtlingen ist weitgehend konstant geblieben, weil die seit 1984 verstärkt einsetzende Rückkehr von Exil-ChilenInnen durch den Zuzug von Familienangehörigen, Studenten oder Arbeitssuchenden ausgeglichen wurde.

Ende des Exils

Mit dem Plebiszit im Jahr 1988, mit dem die chilenische Bevölkerung die Beendigung der Militärregierung und die Rückkehr zu demokratischen Politikformen einleitete, war die politische Begründung des chilenischen Exils nicht mehr gegeben. Die Verteidigung der Menschenrechte muß heute nur noch in Einzelfällen vor Gerichten eingeklagt werden und nur in einigen wenigen Fällen muß die Rückkehr von Flüchtlingen, deren Militärgerichtsprozesse in Chile noch anhängig sind, weiterhin erkämpft werden. Somit kann man sagen, daß das chilenische Exil mit der Regierungsübernahme durch Präsident Aylwin im März 1990 beendet wurde. Heute gilt es, in Chile selbst die psychischen Wunden und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Diktatur zu heilen, beziehungsweise deren menschenrechtsverletzenden Charakter anzuklagen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Die Integration

“Das Exil wurde uns mit Gewalt aufgezwungen. Wir wurden gezwungen, unser Land zu verlassen. Es war eine nicht gewollte Erfahrung, eine ungerechte und unendliche Strafe, ohne irgendwelche rechtfertigenden Gründe. Das Exil gehört zu den gravierenden Verletzungen der Menschenrechte des Pinochetregimes”.
In dieser kurzen Aussage wird bereits der zentrale Unterschied benannt, der das Exil von jeder anderen Form der Migration unterscheidet und der das Leben der Menschen als Exilierte grundlegend charakterisiert. Es ist der Gewaltcharakter, der zur Folge hat, daß Menschen aus ihren politischen, beruflichen und familiären Zusammenhängen gerissen werden und sich gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun, oftmals völlig unvorbereitet, in einer völlig fremden Gesellschaft wiederfinden, zu der sie keine Beziehungen haben, deren Menschen in anderen Sozialisationsmustern handeln, von denen sie sich tendenziell ausgeschlossen fühlen; die eine ihnen fremde Sprache spricht und dadurch die Herstellung von normalen Alltagsbeziehungen ungemein erschwert.
Obwohl diese Charakteristika des Exils zunächst alle gleichermaßen betrafen, gab es im Umgang mit den Problemen große Unterschiede, z.B. zwischen jüngeren und älteren Flüchtlingen: Es war erstaunlich, mit welchem Pragmatismus sich erstere in die Universitäten einschrieben, sich um Umschulungen beziehungsweise Lehrberufe bemühten und in kürzester Zeit über das notwendige Beziehungsnetz verfügten, um die Sprache zu lernen und an Gelder heranzukommen.
Frauen haben vielfach, nachdem sie sich in den ersten Jahren total auf den Zusammenhalt der Familien konzentrierten, eigenständige Entwicklungen genommen, sich stark mit den deutschen Sozialisationsmustern auseinandergesetzt und an selbständigen Beziehungen zu deutschen Freundinnen gearbeitet. Viele haben sogar Ausbildungsgänge erfolgreich abgeschlossen, während Männer sich oft, nach den ersten bestätigenden Erfahrungen als Vertreter revolutionärer Bewegungen, in ihrer traditionellen Rolle in Familie und Gesellschaft zu behaupten suchten.
Zudem hat es deutliche Unterschiede im Aufeinanderzugehen zwischen den deutschen, mehrheitlich mittelständisch geprägten Mitgliedern der Solidaritätsbewegung sowie den exilierten ChilenInnen akademisch-mittelständischer oder proletarischer Provenienz gegeben. Besonders im ersten Jahr, als hauptsächlich StudentInnen und AkademikerInnen ankamen, gab es ein unausgesprochenes Einverständnis, sich gegenseitig als gleich anzuerkennen und über die “gemeinsame Sache” zu kommunizieren. In den Folgejahren, als nach und nach immer mehr GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen flüchteten, funktionierte dies nicht mehr so bruchlos. Man achtete viel stärker auf Distanz, was für viele chilenische Familien einem zweiten Exil gleichkam, d.h. sie wurden hierdurch tendenziell auf ihre eigenen Familien oder ihre chilenischen Vertretungsorganisationen zurückgeworfen.
Quer durch alle Schichten und Untergruppen des chilenischen Exils läßt sich sagen, daß ein Hauptproblem für viele in den ersten Jahren war, überhaupt zu akzeptieren, daß das Exil möglicherweise von längerer Dauer sein würde. Denn dieses anzuerkennen bedeutet nicht nur, seinem Leben eine andere berufliche und politische Perspektive zu geben, sondern vor allen Dingen zu akzeptieren, daß es “das Modell Chile der Unidad Popular” nicht mehr geben würde. Zur Verhinderung dieses Eingeständnisses wurden alle Energien für die Kontaktpflege mit dem Widerstand in Chile mobilisiert, der Aufbau von Exilvertretungen der Parteien in der Bundesrepublik wurde vorangetrieben, und die deutschen Solidaritätsorganisationen wurden in deren Aktivitäten einbezogen. Vielfach wurden die alten parteipolitischen Rivalitäten im Exil – ohne die Sachzwänge des chilenischen Alltags – erbitterter als im Herkunftsland selbst ausgetragen.
Auch viele Deutsche aus der Solidaritätsbewegung haben sich in diese Auseinandersetzungen – oder waren es Fluchtbewegungen vor der Realität? – einspannen lassen. Es galt die Vision einer utopischen Wirklichkeit in Chile. Aber vielleicht waren dies notwendige Prozesse, um den brutalen Bruch, das Hinausgeschleudertsein aus seinem eigenen Leben, zu verkraften.

Verlust von politischer Identität

Die chilenische Migration wurde fast ausschließlich politisch begründet, das heißt die Ankommenden hatten in Chile viele Jahre ihres Lebens in kollektiven Prozessen nicht nur für einen abstrakten “Neuen Menschen” gekämpft, sondern hatten ihr individuelles Leben stark an gesellschaftliche Veränderungsprozesse geknüpft. Ihr Alltag war – neben dem Beruf und den traditionellen vielfältigen familiären Aktivitäten – geprägt von einer aktiven Suche nach alternativen gesellschaftlichen und politischen Modellen. Diese wurden in den Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, MütterOrganisationen, Jugendverbänden und Parteien gelebt, und zwar desto leidenschaftlicher, je stärker die Außenbedrohung durch die Rechten wurde. Hierdurch ging tendenziell der Blick für die Außenwelt immer mehr verloren, und der Bruch des Exils war um so brutaler.
Über Nacht befand man sich in der reichen deutschen Gesellschaft, die mit dem Kapitalismus identifiziert wurde und die Wurzeln des Nationalsozialismus noch immer in sich zu tragen schien. Beeinflußt von vielen USMedien, die in Chile stark das Bild von Deutschland geprägt hatten und von dem elitären, geschlossenen Charakter der deutschen Kolonie (Colonia Dignidad), gab es zunächst ein großes Mißtrauen gegenüber dieser deutschen Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung schien zudem nicht opportun, weil die ganze Kraft für die Arbeit dem Widerstand in Chile gewidmet werden sollte.
Schwierigkeiten entstanden auch aus den gegenseitigen Projektionen. Erst heute können uns Vertreter des Exils offen sagen, daß sie schon lange nicht mehr an den Widerstand in Chile geglaubt hatten, aber weil die Deutschen es so haben wollten, sie entsprechende Informationen auf großen Veranstaltungen weitergaben. Jeder hatte seine Funktion in dem Bild, das sich die 68er Generation von einer besseren Gesellschaft gemacht hatte. Die ExilchilenInnen waren greifbare Beweise dafür, daß es MärtyrerInnen und Henker gibt und daß es nur eine Frage von konsequenter Haltung und Informationsmacht ist, diese Bilder in ihrer Ungebrochenheit zu reproduzieren und zu verbreiten.
Damals hat niemand richtig durchschaut, daß der Preis hierfür der Verlust von politischer Identität, Authentizität und Entwicklungsfähigkeit sein würde. So kam es im Laufe der Zeit zu immer ritualisierteren Beziehungen, statischen Bündnissen der verschiedenen Gruppierungen mit “ihrer” Exilgruppe, zu Solidaritätsfesten mit der immer gleichen Musik von “vorher”, den chilenischen Teigtaschen “empanadas” und politischen Diskursen, die durch leere Worthülsen bestimmt waren. Wir haben uns gegenseitig gebraucht, und -oftmals unbewußt- unter dem Deckmantel der Solidarität persönliche Sehnsüchte ausgelebt. In der Idealisierung unserer Zusammengehörigkeit wurden Differenzen überspielt. Zur wirklichen Begegnung kam es auf beiden Seiten oft nicht. Trotz alledem: Diese Zusammentreffen wurden auch gebraucht! Sie waren ein Trost gegen die Individualisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft, die kaum eine familiäre oder politische Kultur des Zusammenseins kennt. Es hat unvergeßliche und intensive gemeinsame Erfahrungen gegeben, Freuden und Ängste, Siege und Niederlagen, Kampf mit Behörden und interkulturellen Austausch, worin alle Beteiligten eng miteinander verbunden waren.
Erst mit der Erfahrung der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Weg des Umgangs miteinander zu finden, konnte die Grundlage der Toleranz gegenüber der anderen Kultur, politischen Haltung oder dem jeweiligen Ethnozentrismus entstehen, zum Beispiel bezüglich der Unterschiedlichkeit der Frauensolidarität dem Machismo gegenüber. In der gegenseitigen Annahme von unterschiedlichen Wertvorstellungen, der Suche nach einer gemeinsamen Ethik haben wir uns Maximen eigenen Verhaltens erarbeitet, die oftmals noch heute Orientierungshilfen darstellen, sowohl für uns hier in der interkulturellen Arbeit gegen Ausgrenzung und Rassimus als auch für manche ChilenInnen, die nach ihrer Rückkehr mit den hier erfahrenen Organisations- und Solidaritätspraktiken ihr neues Arbeits- und Lebensfeld gestalten. Diese Toleranz zuzulassen und anzuerkennen, sowie das, was einmal als total “chilenisch” oder “deutsch” empfunden und eingeordnet wurde, auf dem Hintergrund gemeinsamer Lebensgeschichte politisch neu zu bewerten, ist sicherlich eine der wichtigsten Lehren des chilenischen Exils beziehungsweise der Solidaritätsarbeit.

Sprachverlust bewirkt kulturelle Stagnation

Die große Mehrzahl der chilenischen Flüchtlinge hatte keine Deutschkenntnisse und höchstens relativ schlechte Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Diese “Sprachlosigkeit” hatte eine totale Orientierungslosigkeit in den neuen Verhältnissen zur Folge. Es ist nicht nur das Sozialverhalten in der fremden Gesellschaft, es sind auch die sprachlichen Grenzen, die eine nur funktionale, oberflächliche Beziehung zur Umwelt ermöglichen. So verarmt schließlich das Leben selber und ist nur noch ausgerichtet auf gewohnheitsmäßiges und materielles Bewältigen von Anforderungen.
Die Deutschkurse, die nun in kürzester Zeit von den verschiedenen Sozialdiensten angeboten wurden, sollten nicht nur der Sprachvermittlung dienen, sondern auch auf die jeweilige soziale Situation der Lernenden eingehen. So gab es Gesprächskreise zu Fragen des deutschen Sozialhilferechts, zu spezifischen Frauenthemen, zu Themen der 68er Studentenbewegung etc. Die Resonanz dieser Kursangebote war jedoch relativ schwach, weil die Mehrheit der ChilenInnen mehr über ihre baldige Rückkehr und über Chile nachdenken wollte, als sich mit den Problemen des Hierseins auseinanderzusetzen.
Argumente wie: Deutsch brauche man sowieso nicht mehr nach der Rückkehr nach Chile, oder daß die Kinder in der Familie nur Spanisch lernen sollten, um die chilenische Identität nicht zu verlieren, haben sich zehn bis fünfzehn Jahre lang gehalten. Erst angesichts der baldigen Rückkehr wurde der hieraus resultierende Verlust sozialer Kompetenz deutlich. Die Sehnsucht nach einer Welt, die einerseits vergangen und mit vielen leidvollen Nachrichten verbunden ist, und deren Entwicklung einem andererseits in den vielen Jahren der Abwesenheit fremd geworden ist, hat die vitale, alltägliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft verstellt. Viele ExilchilenInnen waren so, ohne sich dessen bewußt zu sein, zu AnalphabetInnen beider Kulturen geworden.

Die Rückkehr beginnt im Exil

Diese Erkenntnis war es, die das chilenische Exil bereits 1983, zehn Jahre nach seinem Beginn, zu einer breiten, in vielen Städten der Bundesrepublik organisierten RückkehrerInnenarbeit motivierte, die auf der rechtlichen, beruflichen, ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Ebene gleichzeitig laufen sollte. “Wir verstehen diese Rückkehr der ChilenInnen im Kontext des Kampfes für die Menschenrechte und die Wiederherstellung der Demokratie in unserem Land. Wir sehen sie jedoch auch als persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen oder der jeweiligen Familie”.
Zahlreiche Veranstaltungen wurden seit 1983 zur Vorbereitung der Rückkehr durchgeführt, so Veranstaltungen über spezielle rechtliche Probleme; Informationsveranstaltungen zur aktuellen Situation in Chile und Erfahrungen von Rückkehrern in ihrem Integrationsprozeß; Informationsveranstaltungen über Eingliederungsprobleme in das Erziehungssystem und die Anerkennung von akademischen Titeln und Ausbildungs und Studiengängen.
Kontakte mit Instituten in Chile und anderen Ländern wurden aufgenommen, um die Finanzierung der Rückkehr und der ersten Zeit im Heimatland zu gewährleisten. Aber der wohl wichtigste Inhalt der RückkehrerInnenarbeit war die Begegnung mit anderen Exilierten, die kritische Auseinandersetzung mit sich selber, den eigenen Veränderungsprozessen und der Wiederbegegnung mit Chile über die Erfahrungsberichte der Besuchsreisenden in die Heimat.

Exil zwischen Solidarität und Bevormundung

Diese letzte Phase, die schon vom Abschiednehmen und der kritischen Auseinandersetzung mit der neuen neoliberalen Wirtschaftspolitik der AylwinRegierung gekennzeichnet war, hat darüber hinaus ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen ChilenInnen und Deutschen geworfen. Weder das HelferInnensyndrom noch die eigene Profilierung mit Hilfe der chilenischen RevolutionärInnen standen mehr zwischen uns, so daß unsere Begegnung auch unter der Perspektive der Beziehungen der Deutschen zu den Fremden thematisiert werden konnte. Schwierigkeiten in der Verständigung, in der Zusammenarbeit, in den Beziehungen, die immer auch Ausdruck von gesellschaftlicher Akzeptanz, Einfühlung und politischer Kultur sind, wurden nunmehr unter dem Blickwinkel des deutschen Dominanzverhaltens und Ethnozentrismus gesehen.
Als VertreterInnen der deutschen Chile-Solidarität mußten wir uns mit dem eigenem Größenwahn und einem idealisierten Selbstbild konfrontieren, das auf der Überhöhung der chilenischen RevolutionärInnen beziehungsweise edlen MärtyrerInnen im Widerstand beruhte. Mit der Idealisierung eines Chilebildes löschten wir jedoch gleichzeitig jene Widersprüchlichkeit des Entwicklungsprozesses aus, mit der wir schon in unserer eigenen Gesellschaft nicht zurecht gekommen waren. Nicht die Probleme mit einem reformistischen Entwicklungsweg, nicht die Ambivalenz der Moderne, die alles Fremde degradiert und tendenziell ausmerzt, waren Inhalte unserer Zusammenarbeit, sondern der strahlende Morgen der Revolution. Es war das Fehlen einer politischen Alternative in Deutschland beziehungsweise die bescheidene Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten politischer Arbeit in Deutschland, die aus dem chilenischen Exil unsere Projektionsfläche machte. Hier haben wir uns getroffen, ChilenInnen und Deutsche, um die Geschichte für einige Jahre anzuhalten.
Die Bilder, die wir uns voneinander machten, waren jedoch nur von kurzer Dauer. Die Solidarität mit Portugal, Argentinien, Uruguay sowie seit Mitte der siebziger Jahre mit Nicaragua und später El Salvador hielt immer neu in Atem, ließ unseren Blick in die Ferne schweifen und die Probleme des chilenischen Exils zum Alltag werden, bis “plötzlich” Themen wie Rassismus und vielfältige Diskriminierungen in diesen Alltag Einzug hielten.
Wir hatten uns in unserer Solidarität menschlich gleichberechtigt gefühlt, aber dies war offensichtlich einseitig gewesen. Nicht nur Behörden hatten gegängelt, sondern chilenische Identität war mit “wohlgemeintem” Integrationsdruck ausgelöscht worden. Je angepaßter die ChilenInnen lebten, desto “erfolgreicher” waren sie. Wer von uns hätte dies vor Hoyerswerda und Rostock so selbstkritisch gesehen? Wer hätte gespürt, daß wir noch immer eine Gesellschaft von ClaqueurInnen sind?
“Es bleibt ein Stachel für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, daß diese politischen Flüchtlinge, die nach der Verfassung bei uns Asyl genießen, sich nicht heimisch fühlen, sich nicht angenommen fühlen konnten in einer Gesellschaft, die gleichzeitig eine Entsorgung der deutschen Geschichte von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit versucht, alten Antisemitismus hochkommen ließ, Fremdenfeindlichkeit mit Parolen wie ‘Asylantenschwemme’ schürte und unter diesem publizistischen und politischen Druck zuließ, daß die Asylgesetze bei uns dramatisch verschärft wurden”.
Anstatt aus unserer Geschichte und aus dem vielfältigen Mißbrauch der Asylgesetzgebung während der Chile-Solidarität zu lernen, vermeiden wir die Auseinandersetzung damit, indem wir sie zu einem “Sicherheitsproblem unserer Gesellschaft” (so Innenminister Seiters in der Asyldebatte im Deutschen Bundestag am 25. Mai 1993) umdefinieren. Das Grundrecht auf Asyl, das von den Gründern der Bundesrepublik angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, ist in den Asyldiskussionen der letzten Jahre zu einer Inszenierung deutscher Dominanzkultur verkommen. Die Festung Europa, das heißt das Schengener Abkommen und die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes, richten Mauern auf, anstatt den Blick frei zu machen auf Prozesse, wie sie angesichts der chilenischen Erfahrung deutlich wurden.

Der obige Artikel erscheint in seiner vollständigen, 26 seitigen Fassung, mit ausführlichem statistischen Material und über die Arbeitsmigration in Chile in einem Reader: Ethnische Minderheiten in Deutschland – ein Handbuch. (Hg.) Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Oktober 1993, DM 42,-

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

Gelingt der Demokratisierungsprozeß?

Lange Zeit sah es so aus, als würde die internationale Solidarität mit Haitis demokratisch gewähltem Präsidenten Aristide sich durch vollmundige Bekundungen und halbherzige Taten auszeichnen. Das Wirtschaftsembargo gegen die Insel, welches die “Organisation Amerikanischer Staaten” (OAS) mit internationaler Billigung nach dem Putsch von General Cédras vom September 1991 verhängte, funktionierte äußerst lückenhaft. Betroffen war in erster Linie die arme Bevölkerung, während der Schmuggel von Luxusgütern und Waffen ziemlich ungehindert vonstatten ging. Das Einfrieren internationaler Kreditprogramme trieb die Inflation in die Höhe und den Staatshaushalt der armen Karibikinsel endgültig in den Ruin.
Wirtschaftliche Not und die Repression durch die Militärdiktatur trieben immer mehr Menschen dazu, Haiti in überfüllten Booten Richtung Nordamerika zu verlassen. US-Präsident Bush reagierte mit einer Seeblockade gegen die “boatpeople”, die sein Nachfolger Bill Clinton entgegen eigenen Wahlversprechen fortsetzte (siehe LN 225).
Der innenpolitische Druck, der in den Vereinigten Staaten angesichts der haitianischen Flüchtlinge entstand, war letztendlich wohl das entscheidende Motiv für die US-Regierung, auf eine Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen das Militärregime zu drängen. Nachdem einige Vermittlungsinitiativen von UNO und OAS an der kategorischen Verweigerung der Militärs gescheitert waren (siehe LN 227), zwang erst die Verhängung eines 01-und Waffenembargos durch die UNO am 23. Juni Juntachef Cédras an den Verhandlungstisch.
Hinzu kam, daß die Situation auf Haiti sich im Juni aufgrund des Rücktritts von Premierminister Bazin weiter destabilisiert hatte. Der Zivilist, den die Militärs nach dem Putsch ernannt hatten, legte sein Amt anläßlich eines Streits mit der Junta um eine Kabinettsumbildung nieder. Tiefere Ursache für Bazins Schritt war sicher, daß es ihm nicht gelungen war, die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen und Haitis außenpolitische Isolierung zu durchbrechen. Gleichzeitig verstärkten sich auf Haiti die Aktivitäten der Opposition: Um der Forderung nach Aristides Rückkehr Nachdruck zu verleihen, riefen die Gewerkschaften am 24. Juni zu m Generalstreik auf, der in Port-au-Prince weitgehend ‘ befolgt wurde.

Beseitigung der Diktatur durch Verhandlungen?

Ende Juni begannen in New York unter internationaler Vermittlung indirekte Verhandlungen zwischen Aristide und seinen BeraterInnen mit einer Delegation des Militärregimes. Resultat der indirekten Diplomatie von UNO und oAS -die gegnerischen Parteien waren nicht bereit direkt miteinander zu sprechen -war ein Zehn-Punkte Plan, der am 17. Juli unterzeichnet wurde. Das Abkommen sieht die Rückkehr Haitis zur Demokratie binnen sechs Monaten unter Aufsicht von UNO und OAS vor. Kernpunkte sind die Ernennung eines Premiers durch Aristide und dessen Bestätigung durch Senat und Parlament, die Aufhebung des Embargos, die Neustrukturierung von Polizei und Armee und die Rückkehr Aristides zum 30. Oktober. Spätestens dann muß Juntaführer Raoul Cedras einem von Aristide ernannten Armeechef weichen. Gleich-zeitig beinhaltet der Zehn-Punkte-Plan eine Amnestie für alle am Putsch beteiligten Militärs.
Um mit der Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse zu beginnen, ist Haiti ein internationales Hilfspaket in Aussicht gestellt worden. So bieten die USA der Insel für den Rest dieses Jahres ungefähr 100 Millionen Dollar an. Laut Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen
NDP) benötigt Haiti in den nächsten 18 Monaten Hilfeleistungen von
mindestens 535 Millionen Dollar. Um den Demokratisierungsprozeß abzusichern, hat Aristide die UNO um die Entsendung eines Kontingents von 500 bis 600Polizeibeamtensowie 550 militärischen Fachleuten gebeten, die bei der Neustrukturierung von Armee und Polizei behilflich sein und auf die Einhaltung der Menschenrechte achten sollen.
– Am 10. August wurde als erster Schritt zur Umsetzung des Abkommens Firmin Jean-Louis von Aristides Nationaler Front für Wandel und Demokratie (FNCD) zum Senatspräsidenten gewählt. Kurze Zeit später bestätigten Senat und Parlament den von Aristide ernannten Robert Malval als Premier. Etliche Abgeordnete machten allerdings keinen Hehl daraus, dies nur in Hinblick auf ein Ende des Embargos zu tun. Dieses ließ dann erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten: Nachdem die Vereinten Nationen am 26. August die Blockade aufgehoben hatten, lief bereits zwei Tage später der erste Öltanker in Port-au-Prince ein.
Sollte es also tatsächlich gelingen, eine Diktatur mit friedlichen Mitteln zur Abdankung zu zwingen -was in der Geschichte des amerikanischen Kontinents ein Novum wäre? Skeptische BeobachterInnen räumen ein, noch sei Aristide nicht nach Haiti zurückgekehrt. Es gibt sogar Stimmen, die meinen, durch die Aufhebung des Embargos sei ein wichtiger Trumpf zu früh aus der Hand gegeben worden. Entsprechend fordern Malval und Aristide, die internationalen Sanktionen sofort wieder in Kraft zu setzen, wenn sich abzeichnet, daß die Militärs den Demokratisierungsprozeß doch torpedieren wollen.
Der Druckereibesitzer Robert Malval ist für Aristide und seine AnhängerInnen ein Kompromißkandidat. Er entstammt der haitianischen Oberschicht, gilt politisch als moderat und ist auch im bürgerlichen Lager anerkannt. Malvals Hauptaufgabe wird darin bestehen, einen friedlichen Übergang zu gewährleisten und die Rückkehr des Präsidenten durch Verhandlungen mit allen Seiten abzusichern. Formale Schikanen bei seiner Bestätigung durch das Parlament haben bereits gezeigt, daß die Abgeordnetenmehrheit vorhat, Malvals Politik so weit wie möglich zu behindern. Im Senat verfügt er nur über die hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Weitere Stolpersteine wird sicher auch die mit Aristide-GegnerInnen durchsetzte staatliche Bürokratie für ihn bereithalten.

Amnestie für Putschisten

Dadurch, daß Aristide eine Amnestie für die Putschisten abgerungen wurde, bleiben diese als Macht- und Unsicherheitsfaktor präsent. Daran wird auch die vorgesehene Umstrukturierung der Armee kaum etwas ändern können. Daß die Militärs auf Haiti nicht daran denken, sich aus der Politik zu verabschieden, demonstriert besonders deutlich Juntachef Raoul Ckdras, der in letzter Zeit häufig in den Medien auftritt und nach seinem Rücktritt die Gründung einer Partei mit dem Namen “Sammlungsbewegung für ein neues Haiti (RPNH) plant.
Die Amnestie für die Putschisten erscheint besonders fatal angesichts der Tatsache, daß seit der Verabschiedung des Zehn-Punkte-Plans die Zahl der Menschenrechtsverletzungen durch Militärs und Todesschwadronen gestiegen ist -und dies trotz der Präsenz von mehr als 200 internationalen BeobachterInnen. Opfer sind in erster Linie BewohnerInnen der Armutsviertel, in denen Aristide besonderen Rückhalt hat. So wurden am 17. August in Pétionville der Pater Yvon Massac und zwei weitere Personen verhaftet, als sie in einer öffentlich angekündigten Aktion Fotos von Aristide und Transparente gegen die Repression plakatierten. Die Festnahmen fanden unter den Augen der internationalen BeobachterInnen statt. Deren Anwesenheit war allerdings sicher auch zu verdanken, daß die Fest-genommenen 72 Stunden später wieder freikamen.
Zur Zeit ist die Unterstützung der Bevölkerung für Aristide sehr stark: Laut BeobachterInnen könnte er, wenn auf Haiti zum jetzigen Zeitpunkt gewählt würde, mit einer überwältigenden Stimmenmehrheit rechnen. Gleichzeitig knüpfen seine AnhängerInnen an Aristides Rückkehr Erwartungen, die dieser in den verbleibenden zwei Jahren Amtszeit auf keinen Fall erfüllen kann. Die Zeit wird nicht reichen, um die Politik zu demokratisieren und die katastrophale Wirtschaftssituation entscheidend zu verbessern -von sozialen Umstrukturierungen ganz zu schweigen. Das, was durch den Zehn-Punkte Plan eingeleitet wurde, sind lediglich Übergangsmaßnahmen. Viel wird davon abhängen, ob die versprochene Hilfe aus dem Ausland tatsächlich fließt oder ob der Präsident, dessen soziale Reformbestrebungen vielen ein Dom im Auge sind, nach Abschluß der formalen Demokratisierung international hängengelassen wird.

Wahrheit und Gerechtigkeit – ?Dónde están?

Die “doctrina Aylwin”, die der neue Präsident bald nach Amtsantritt zur Grundlage der Menschenrechtsprozesse erklärte, stellte jedoch das Amnestiegesetz nicht in Frage. Sie schrieb Untersuchungen und Gerichtsverfahren bei darauffolgender Anwendung der Amnestie vor. Schon damals wurde deutlich, daß es keine Gerechtigkeit geben würde. “Wahrheit und Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” heißt heute die Zauberformel, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ermöglichen soll.
In einer Rede an die Nation stellte der Präsident am 3. August einen Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der 183 noch schwebenden Menschenrechtsverfahren vor. “Selbstverständlich wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht alle zufriedenstellen”, bekannte Aylwin. Den Zielen, die das Militär mit seinem “boinazo” vom Mai (vgl. LN 229/3O) anstrebte, kam die ursprüngliche Version der “Ley Aylwin” jedoch fast vollständig entgegen. Auf die Ablehnung der Vorlage durch das Parlament reagierte der Präsident, indem er seinen Entwurf zurückzog, ohne die Stellungnahme im Senat abzuwarten. Die von den Militärs erhoffte erneute Bestätigiung des Amnestiegesetzes von 1978 bleibt so vorerst noch aus.

“Klima der Hexenjagd”

Die Wochen, die der Rede Aylwins vorangingen, waren angefüllt mit Unterredungen zwischen dem Staatsoberhaupt und – zumindest nach der offiziellen Lesart – den wichtigsten an der Menschenrechtsfrage interessierten Gruppen. Besonders den Generälen schenkte der Präsident seine Aufmerksamkeit, während sich die Kommunistische Partei vergeblich um einen Gesprächstermin bemühte. Die Gespräche wurden unter strikter Geheimhaltung geführt, so daß die Gerüchteküche brodelte. Im sicheren Gefühl, mit dem “boinazo” für nachhaltige Verunsicherung gesorgt zu haben, forderte das Militär den “punto final”, die Einstellung aller noch schwebenden Menschenrechtsverfahren. Die einflußreiche rechte Tageszeitung “El Mercurio” meldete, die Regierung denke ernsthaft über einen “punto final” nach. Die Öffentlickeit war auf das Schlimmste vorbereitet, so daß die Aussage Aylwins, diesen niemals zuzulassen, als Standfestigkeit gegenüber den Militärs verkauft werden konnte. Dabei kam das Gesetzesprojekt des Präsidenten einem Zurückweichen auf der ganzen Linie gleich.
Bereits bei der Begründung seiner Initiative machte sich Aylwin die Argumente der Miltärs zu eigen und rechtfertigte damit den “boinazo”. Die schleppende juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen lasse die nationale Versöhnung nicht zu. Die Vorverurteilung von Militärangehörigen durch die Massenmedien und die öffentliche Meinung habe ein Klima der “Hexenjagd” erzeugt und innerhalb der Streitkräfte zu großer Verunsicherung geführt, die sich schließlich im “boinazo” entladen habe.
Das Interesse der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen reduzierte Aylwin darauf, den Fundort der Leichen zu ermitteln, um diese dann bestatten zu können. Daß nicht nur die Angehörigen jedoch auch ein Interesse an der öffentlichen Aufklärung der Verbrechen und an einer Bestrafung der Schuldigen haben, verschwieg er. “Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” bedeutet Leichensuche, um dann endlich die Akten schließen zu können. Der Zynismus dieser Argumentationsweise offenbarte sich vollends darin, daß Aylwin sämtliche Betroffenen dazu aufforderte, sich im Interesse der nationalen Versöhnung in die Lage der Gegenseite zu versetzen. Eine Mutter, die seit fast zwanzig Jahren verzweifelt nach dem Verbleib ihrer Tochter forscht, soll sich also in die Lage eines folternden Militärs versetzen?

Der “punto final” als Alternative zum “punto final”

Zu den wichtigsten Maßnahmen des Gesetzesprojektes gehört die Berufung von SonderrichterInnen, die sich der schwebenden Verfahren annehmen sollen, um sie zu beschleunigen. Um Militärangehörige zur Aussage über den Fundort von Leichen zu bewegen, versprach Aylwin sowohl die Geheimhaltung der Namen als auch der Tatumstände. Nach Ansicht des juristischen Beraters des Präsidenten, Guzmán Vidal, besteht ein moralischer Anreiz für Militärs, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte sei durch Verfehlungen Einzelner untergraben worden. Warum dieselben Militärangehörigen, die die Möglichkeit der anonymen Beichte gegenüber einem Geistlichen nicht wahrgenommen haben, heute ihr Schweigen brechen sollten, bleibt allerdings unklar. Die Geheimhaltung, die Gegenstand des Artikels 3 der “Ley Aylwin” ist, soll gewährleistet werden, indem der Zugang der AnwältInnen von Familienangehörigen zu Zeugenaussagen durch richterliche Entscheidung geregelt wird. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Aussagen soll mit Gefängnisstrafe und Entzug der Anwaltslizenz geahndet werden. Dem Anspruch auf eine öffentliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur, der von den Opfern und ihren Angehörigen eingefordert wird, wird diese Beschränkung der Pressefreiheit und die drohende Maßregelung von AnwältInnen jedenfalls nicht gerecht.
Aus Protest gegen die Politik der Regierung riefen Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Verschwundenen zu Protestkundgebungen und Hungerstreiks auf. Unter Berufung auf Gesetze, mit denen unter der Militärdiktatur das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt wurde, löste die Polizei Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast auf. Wasserwerfer stellten sich protestierenden RentnerInnen entgegen. Infolge des Knüppeleinsatzes wurden mehrere von ihnen verletzt und stundenlang auf Polizeiwachen festgehalten, ohne medizinisch versorgt zu werden. Die Hungerstreiks diffamierte Innenminister Enrique Krauss als “völlig unzulässigen Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen”.

“Ley Aylwin” – ein schlampig ausgearbeitetes Projekt

In den Tagen nach der Rede Aylwins wurde vor allem eines klar: Die Gesetzesinitiative war so vage gehalten, daß alle Interessengruppen unterschiedliche Interpretationen anbieten konnten. Das Gesetz sollte eine Gültigkeit von zwei Jahren haben. Unklar blieb jedoch, ob sich diese Zeitspanne auf die Berufung von SonderrichterInnen bezog oder auf die Behandlung der Fälle. Gilt die Zusicherung der Geheimhaltung für alle Aussagen oder nur für verwertbare? Erstreckt sich der “Vertrauensschutz” nur auf ZeugInnen oder auch auf Beschuldigte? Nehmen sich die SonderrichterInnen nur der gegenwärtig 183 unter Zivilgerichtsbarkeit laufenden Fälle an, oder auch der bereits zu den Akten gelegten Altfälle sowie der Verfahren, die die Militärjustiz untersucht? Können Militärrichter Sonderrichter werden? Die Auseinandersetzung, ob die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit angetastet werden soll, hat insofern neue Brisanz erhalten, als Militärrichter Verfahren einstellten, während über das “Ley Aylwin” diskutiert wurde.
Die meisten der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts, der “Corte Suprema”, wurde noch unter Pinochet ernannt und machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, Chile habe sich in den Jahren nach 1973 im Kriegszustand befunden. Dies dient heute als Begründung dafür, daß Menschenrechtsverfahren zivilen Gerichten entzogen und an Militärtribunale weitergeleitet werden.

Spannungen in der “Concertación”

Unterschiedliche Interpretationen sowie die Tatsache, daß Aylwin dem Parlament seine Gesetzesvorlage mit Dringlichkeit präsentierte, führten zum offenen Konflikt innerhalb der Regierungskoalition, der “Concertación”. Die Sozialistische Partei (PS) und die “Partei für die Demokratie” (PPD) drängten vergeblich darauf, den Beratungszeitraum auszudehnen. Es erregte innerparteiliche Streitigkeiten, daß die VertreterInnen von PS und PPD in der Verfassungskommission des Parlaments gemeinsam mit den ChristdemokratInnen eine leicht modifizierte Gesetzesvorlage verabschiedet hatten. Die vorgenommenen Veränderungen bezogen sich vor allem auf den Geheimhaltungsparagraphen. Diese Modifikationen gingen den Abgeordneten von PS und PPD jedoch nicht weit genug. Als die Vorlage schließlich im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, verweigerten die Abgeordneten von PS und PPD ihre Stimmen. Im ersten Wahlgang, der sich auf das Gesetz als Ganzes bezog, brachte die Christdemokratische Partei (DC) mit den Stimmen der rechten Opposition eine Mehrheit hinter sich. Bei der Abstimmung über die einzelnen Paragraphen der Vorlage wurde hingegen der Artikel 3 über die Geheimhaltung mit den Stimmen von PS und PPD einerseits sowie der Rechten andererseits gekippt.
Abgeordnete der rechten Parteien UDI (Unabhängige Demokratische Union) und RN (Nationale Erneuerung) erklärten ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten damit, daß sie der Beschleunigung der Menschenrechtsverfahren zwar insgesamt positiv gegenüberständen, ein Aufweichen der Geheimhaltungsvorschriften aber als unzumutbar empfänden. Die unzureichende Gewährleistung der Geheimhaltung von Zeugenaussagen behindere die Anwendung des Amnestiegesetzes von 1978, gestand die UDI unverblümt ein. Außerdem sei die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit nur unzureichend abgesichert. Um den Abschluß der Prozesse auch tatsächlich zu beschleunigen, setzte sich die Rechte außerdem dafür ein, Fristen für die einzelnen Bearbeitungsschritte der Nachforschungen zu setzen.
Das politische Kalkül der Rechten, das ihrem Abstimmungsverhalten zugrunde lag, bestand offenbar darin, den Zusammenhalt der “Concertación” zu gefährden. Gemeinsam mit der Rechten die Gesetzesinitiative Aylwins zu Fall gebracht zu haben, trug der PS und der PPD den Vorwurf ein, ihre christdemokratischen RegierungspartnerInnen verraten zu haben.
Im Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen kündigte Präsident Aylwin an, dem Senat die ursprüngliche Fassung seiner Gesetzesinitiative vorzulegen. Weite Teile der Rechten, die im Senat die Mehrheit stellt, signalisierten daraufhin ihre Unterstützung. Eine drohende Neuauflage der Allianz von DC und Rechten, die sich bereits 1973 gegen Salvador Allendes Regierung gestellt hatte, brachte sowohl die DC als auch den “sozialistischen” Flügel der “Concertación” in Bedrängnis. Gerade in der sensiblen Frage der Menschenrechte wollten die ChristdemokratInnen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, den offenen AnhängerInnen der Militärdiktatur nachgegeben zu haben. In dieser Angelegenheit waren PS und PPD jedoch keinesfalls bereit, von ihren Prinzipien abzurücken, zumal sie auch von der linken außerparlamentarischen Opposition unter starken moralischen Druck gesetzt wurden.
Bereits wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament versuchten führende Mitglieder der Regierungskoalition, die Wogen zu glätten. Im Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit angesichts der im Dezember anstehenden Wahlen beschworen DC, PS und PPD den Zusammenhalt der “Concertación” und kündigten an, die Meinungsverschiedenheiten in koalitionsinternen Verhandlungen beizulegen. Obwohl die Sozialistische Partei auch offiziell von der Unantastbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 ausgeht, kam es zu keiner Einigung, denn die DC war nicht bereit, die im umstrittenen Artikel 3 enthaltenen Geheimhaltungsvorschriften entscheidend zu lockern. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien und dem Präsidenten zog Patricio Aylwin seine Gesetzesinitiative auf unbestimmte Zeit zurück. Innerhalb seiner Amtszeit wird es keinen neuerlichen Versuch geben, den Streit um die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beizulegen. Menschenrechtsgruppen zweifeln aber an der Bereitschaft und Sensibilität seines designierten Nachfolgers Eduardo Frei, sich des Themas anzunehmen. Trotzdem betrachten die hungerstreikenden Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen das Scheitern des “Ley Aylwin” als Erfolg. Für die Präsidentin des Zusammenschlusses der Angehörigen (AFDD), Sola Sierra, haben “die Prinzipien, die Ethik über den Pragmatismus gesiegt”. Gleichzeitig kündigte sie das Ende des Hungerstreikes an.

“Warum soll es ausgerechnet in Chile Gerechtigkeit geben?”

Nach dem Scheitern des “Ley Aylwin” hat sich zumindest in juristischer Hinsicht die Situation nicht verändert. Auf der politischen Ebene ist hingegen vieles deutlich geworden: Die Bereitschaft der Regierung, dem Militär die Stirn zu bieten, ist immer noch nicht vorhanden. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten hat das Amnestiegesetz legitimiert und den “boinazo” vom vergangenen Mai gerechtfertigt. Entgegen früheren Zusagen hat die Regierung darauf verzichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Militär ziviler Kontrolle zu unterstellen. Seit Jahren fordert beispielsweise die Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) vergeblich von der Regierung, das umstrittene Amnestiegesetz vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Zumindest die politische Elite des Landes hat sich schon lange damit abgefunden, daß es in Bezug auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen keine Gerechtigkeit geben wird. Der Generalsekretär der DC, Genaro Arriagada, gibt offen zu: “In keinem Land der Erde gibt es Gerechtigkeit. Warum soll das ausgerechnet in Chile anders sein?”
Im Interesse der Verbesserung der sogenannten militärisch-zivilen Beziehungen ist die Regierung Aylwin dazu bereit, jede öffentliche Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sie betreibt die Individualisierung der Schuldfrage und vermeidet es so, das Militär als Institution für die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verantwortlich zu machen.
Die Macht der Militärs ist im Zuge der Auseinandersetzungen um die “Ley Aylwin” gestärkt worden, denn die Regierung hat unmißverständlich klargemacht, unter allen Umständen einen Konsens mit den Generälen erreichen zu wollen.
Die für das Militär juristisch zufriedenstellende Lösung der Menschenrechtsfrage läßt hingegen weiterhin auf sich warten. Auf die Frage, wie die Regierung auf zukünftige Provokationen des Militärs reagieren werde, antwortet DC-Generalsekretär Arriagada: “Wenn das passiert, dann werden wir weitersehen.” Darüber, ob und wann das Militär die Regierung mit erneuten Machtdemonstrationen wie dem “boinazo” zum Handeln zwingen wird, kann vorerst nur spekuliert werden.

Den deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen!

Zwischen 500.000 und einer Million Unterschriften wollen das brasilianische Anti-Atom-Netzwerk REDE und GREENPEACE noch vor Ende des Jahres dem brasilianischen Präsidenten Itamar Franco übergeben und damit den Weiterbau des nur 150 Kilometer von Rio de Janeiro gelegenen Atomkraftwerks Angra dos Reis 2 verhindern. Gleichzeitig wird der Präsident aufgefordert, den 1975 von der Alt-BRD mit der brasilianischen Militärdiktatur ausgehandelten deutsch-brasilianischen Atomvertrag endgültig aufzukündigen. Dieses Abkommen hatte ursprünglich den Bau von 8 (tatsächlich: acht!) Atomkraftwerken durch KWU/Siemens vorgesehen, inklusive Technologie zur Urananreicherung, finanziert durch deutsche Banken und gesichert durch Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung. Da der geschlossene Brennstoffkreislauf im Rahmen eines “zivilen” Atomprogramms nicht offen machbar war, hat die brasilianische Marine damals das sogenannte “Parallelprogramm” zum Bombenbau gestartet -und bis heute weiterbetrieben.

Ein Toter ohne Totenschein

Weniger erfolgreich hingegen waren die sogenannten “friedlichen” Atomiker: Angra 2 ist seit fast zehn Jahren stillgelegt, es fehlt(e) das Geld für den Weiterbau. Von Angra 3 zeugt nur ein großes Loch; Itamar Franco verordnete im Dezember 1992 die endgültige Einstellung aller weiteren Arbeiten. Lediglich das von Kanada gebaute erste und einzige brasilianische Atomkraftwerk Angra 1 (in Brasilien besser bekannt unter dem Namen “Glühwürmchen”) erzeugte bisher überhaupt Strom. Doch wegen technischer Probleme (erhöhte Radioaktivität im Primärkreislauf) und Wartungsarbeiten ist der Reaktor seit Anfang März fast durchgehend abgeschaltet. Im September des vorigen Jahres nun besuchte eine brasilianische Delegation unter Leitung des Energieministers Marcus Vinicius Pratini de Moraes die Bundesrepublik, um mit Siemens, dem Bundeswirtschaftsministerium und den deutschen Banken die Modalitäten für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Atomkraftwerk Angra 2 auszuhandeln. Immerhin sind fast alle Teile des Reaktors seit Jahren geliefert und lagern zu hohen Kosten in Brasilien. Das zu 65% fertiggestellte 1300-Megawatt-AKW sollte laut Siemens bis zum Jahr 1997 betriebsbereit sein. Allerdings ist seitdem so gut wie nichts geschehen und in Brasilien wird weiter um die Finanzierung gestritten. Folgerichtig erklärte GREENPEACE den deutsch-brasilianischen Atomvertrag zum “Toten ohne Totenschein”.

“Es gibt tausend gute Gründe …’

Größter Verbündeter der brasilianischen Anti-AKW-Gruppen ist in der Tat die mittlerweile chronische Finanzmisere des Staates; ein um’s andere Mal kürzte sie den Umfang des Atomprogramms und verzögerte die verbliebenen Bautermine bis heute erfolgreich (siehe Kasten).
Der Bau von Angra 1 hat 3,5 Milliarden Dollar gekostet. Für Angra 2 wurden bisher 4,5 Milliarden ausgegeben, weitere 1/37 Milliarden werden für dessen Fertigstellung veranschlagt -Tendenz steigend. Mit den noch ausstehenden Beträgen könnte mensch nicht nur 2000 Schulen oder 250.000 einfache Wohnhäuser bauen, sondern ein landesweites Alternativ-Energie-Programm initiieren, das sämtliche weiteren Atompläne überflüssig machen würde. Von unabhängigen Energie-Experten wurde bereits vorgeschlagen, das AKW Angra 2 in ein konventionelles Gas-Kraftwerk umzubauen, wie das in einem ähnlichen Fall bereits in den USA geschehen sei.
“17 Jahre nach seiner Unterzeichnung besteht der “Erfolg” des Atomvertrags in mehreren Milliarden unnütz ausgegebener Dollars, keinem Kilowatt produzierter Energie, mehreren Bauruinen und einer enormen Erhöhung der brasilianischen Auslandsschulden, die die aktuelle ökonomische und soziale Krise noch um einiges verschärfen”, faßt GREENPEACE Brasilien das finanzielle Debakel des Atomprogramms zusammen.
Doch die Umweltorganisation führt noch eine ganze Reihe weiterer Argumente für einen endgültigen Baustopp von Angra 2 und das Ende des deutsch-brasilianischen Atomvertrags ins Feld:
-Der Weiterbau von Angra 2 ist illegal, da die gesetzlich notwendige Zustimmung des Kongresses fehlt; außerdem existiert bis heute keine Umweltverträglichkeitsprüfung für das Atomkraftwerk.
-Atomkraftwerke stellen untragbare Risiken dar, zumal in Angra dos Reis nicht einmal ein richtiger Notfallplan existiert. Auch ist Angra 2 nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt, “aufgrund der natürlich geschützten Lage von Angra 2 in einer engen Bucht” (!?!), wie Siemens schreibt (Standpunkt, September 1992).
-Fast jede andere Energie ist in Brasilien billiger als Atomstrom; Stillegung und Abbruch der Atomkraftwerke dabei noch nicht eingerechnet.
-Auf die Frage der Endlagerung der radioaktiven Stoffe gibt es nicht einmal provisorische Antworten.
-Die militärische Nutzung der Atomkraft ist zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen; das geheime militärische Parallelprogramm existiert von anfang an und wird weiterhin fortgeführt.
-Die Atomkraft stellt für Brasilien ein unpassendes technologisches Modell dar. Bei der Größe des Landes muß jegliche Energiepolitik dezentral ansetzen und sich auf die Charakteristiken und Potentiale der jeweiligen Region stützen.
Dies dürften mehr als genug gute Gründe sein, auch hierzulande für die Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags aktiv zu werden.

Weitere Anti-Atom-Aktivitäten

* Vom 18.-22. Oktober 1993 findet in Rio de Janeiro der VI. Brasilianische Energie- kongress statt. Auf diesem alle drei Jahre von der dortigen Bundesuniversität organisierten Treffen gibt es neben einer Reihe von Workshops zu Energie-Alter- nativen auch eine Arbeitsgruppe zur Atomenergie.
Nähere Informationen über: Emilio Lebre la Rovere, Instituto de Ecologia e Desenvolvimento, Tel.: +55-21-2709995, Fax: +55-21-2906626
* Vom 3.-10. April 1994 wird in Brasilia das IV.Lateinamerikanische Anti-Atom- Treffen (ELAN) stattfinden. War es auf dem ersten Treffen 1988 in Mar del Plata (Argentinien) noch darum gegangen, die verschiedenen Anti-Atom-Gruppen aus Lateinamerika zusammenzubringen, soll 1994 in Brasilien ein gemeinsames Handlungs-und Strategieprogramm erarbeitet werden. Auf dem das Treffen begleitenden Lateinamerikanischen Alternativenergie-Markt (FLEA) sollen neue Produkte und Technologien vorgestellt und für ihre Verbreitung in der Gesellschaft geworben werden.
Organisation und weitere Information über: Secretaria Executiva: ABRASCA DF; SCLN 714/715, Bloco H, Loja 27, CEP 70760-780
Tel: 061-3490353, Brasilia-DF, Brasilien

Editorial Ausgabe 229/230 – Juli/August 1993

Daß die Lateinamerika Nachrichten ihren zwanzigsten Geburtstag mit dem Schwerpunkt Chile begehen, ist für die Redaktion so logisch, wie es vermutlich für einen Großteil unserer LeserInnen inzwischen der Erläuterung bedarf: 1993 – 1973? Richtig, der Putsch in Chile…
Der Impuls, auf hektografierten Blättern in ein paar hundert Exemplaren Informationen über Chile in der “Bundesrepublik und West-Berlin” zu verbreiten, entstand im Juni 1973 aus Solidarität mit dem “Chilenischen Weg zum Sozialismus” unter Salvador Allende – in der Hoffnung/Zuversicht, Unterstützung für das bedrohte Experiment mobilisieren zu kön­nen; schon für die Nummer 5 erzwang der Sep­tember-Putsch eine neue Zielrichtung: Unter­stützung für den Widerstand in Chile, Infor­mation für die unglaubliche Zahl spontan ent­stehender Chile-Solidaritätskomitees in (west)deutschen Städten. Das war in diesem unserem Land einmal möglich: Engagement für Menschen in fernen Ländern (wie, um wei­tere signifikante Beispiele zu nennen, davor mit Vietnam, danach mit Nicaragua). Nicht, daß wir uns (allzugroße) Illusionen über die Erfolge der Solidaritätsbewegung machen: Aber damals gingen Tausende auf die Straßen, wenn AusländerInnen in ihren Ländern um­gebracht wurden (und sammelten Gelder für den – auch bewaffneten – Widerstand).
Chile unter Allende – daran ist zu erinnern – war ein Beispiel, schien eine Alternative zu den bewaffneten Befreiungsbewegungen, stand für den friedlichen Weg zum Sozialismus. Die Re­gierung des heutigen Chile versteht sich wie­derum als beispielhaft, und das in zweierlei Hinsicht: als wenn schon nicht “friedlicher”, so doch weitgehend gewaltfreier Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie, gleichzei­tig als ökonomisch erfolgreiches Beispiel für den Weg aus der Unterentwicklung. Galt die Sympathie der Chile-Nachrichten eindeutig der zunächst bedrängten, dann geschlagenen Lin­ken, so versucht das vorliegende Heft, die Kehrseite der “makroökonomisch” so glänzen­den Erfolgsbilanz der heutigen Regierung Aylwin zu zeigen.
Was für die Welt im großen gilt, trifft natür­lich auch auf den Kosmos unserer Redaktion zu: Sie ist nicht mehr, was sie einmal war. Der Wechsel findet wie im “ächten Leben” ständig statt, von der “GründerInnengeneration” sind noch zwei Vertreter (sic! tatsächlich zwei männliche Wesen) in der Redaktion aktiv, und die Arbeitsweise ist wie seit den ersten Num­mer gebändigt chaotisch: Wir lernen ständig aus unseren Fehlern, wissen nur nicht, was. Nur so ist wohl ein Projekt wie die LN zwan­zig Jahre lebensfähig geblieben. Daß aus den Chile-Nachrichten im Jahre 1977 die Latein­amerika Nachrichten wurden, war der “roll-back”-Strategie der Rechten gegenüber linken Bewegungen in Lateinamerika geschul­det (nach Chile: Argentinien, dann Peru).
Daß wir über die Arbeiterklasse gar nicht mehr, über die ArbeiterInnenbewegung kaum noch, über Basisbewegungen gelegentlich, über Kuba viele Jahre gar nicht, dann vereinzelt, zuletzt häufiger und meist kritisch, über Fraueninitiativen und ökologische Pro­bleme relativ regelmäßig, über kulturelle Trends immer noch zu wenig, über spirituelle Trends hoffentlich nimmer berichten – das hat nur noch bedingt mit den objektiven Gegeben­heiten, aber viel mit den subjektiven Befind­lichkeiten, also der jeweils real-existie­renden Redaktion zu tun: Die zehn bis zwan­zig Leute, die sich wöchentlich versammeln, sind nach einem Jahr schon wieder andere. Ob im Laufe der zwanzig Jahre 200 oder 400 Individuen mitgearbeitet haben, ist ziemlich bedeutungslos und wohl auch nicht zuverlässig festzustel­len; die Redaktion der LN bestätigt allmonat­lich die jahrtau­sendealte Weisheit, daß “alles fließt”.
Diese antike Einsicht bedeutet auch – und das Unsseidank! – daß sich in der Redak­tion nie­mals hierarchische Strukturen ausge­bildet haben. Angesichts der Weisheit und Erfahrun­gen der länger Mitarbeitenden natür­lich ein Jammer, aber eben auch die Chance eines Pro­jektes wie den LN: ohne zu verkrusten (glauben wir) offen zu blei­ben und andere Menschen (hoffen wir) sensibel zu machen für die Probleme eines Kontinents jenseits der Grenzen unserer Festung (West-)Europa.

Geliebtes Erbe einer verhaßten Zeit

Wenn Leute, die die chilenische Regierung vertreten, heutzutage mit Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarländern diskutieren, vermeiden sie es sorgfältig, von Chile als Modell zu sprechen. Ihnen ist es, egal ob sie aus der Christdemokratischen oder der Sozialistischen Partei kommen, peinlich, als überheblich zu gelten, so als sollte am chilenischen Wesen die Welt ringsum genesen. Und gelegentlich lassen sie auch noch erkennen, daß sie keinem Nachbarland die Opfer wünschen, die die lange Nacht der Pinochet-Diktatur gekostet hat. Sobald sie aber untereinander sind, geht ihnen ganz flott von den Lippen, daß sich ihr Land jetzt in der “zweiten Phase des Exportmodells” befindet. Das soll bedeuten, daß sie die Ergebnisse der unter der Militärdiktatur durchgesetzten neoliberalen Revolution, nämlich eine exportorientierte, aktive Weltmarktintegration des Landes mit allen Konsequenzen für seinen inneren Zustand voll akzeptieren und nur innerhalb dieses Rahmens etwas im Sinne von Demokratie und sozialem Ausgleich ändern wollen. Nicht Chile ist also das Modell, sondern Chile hat sich nur frühzeitig nach einem Modell ausgerichtet, das nach dieser Vorstellung andere Länder – unter möglichst weniger kostspieligen Umständen – auch adoptieren müßten.

Die Linksintellektuellen ohne Alternative

Diese Einschätzung, daß es zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell keine wirkliche Alternative gebe, wird heute auch von der Mehrheit der einstmals linken Intellektuellen geteilt, die vor zwanzig Jahren mit Salvador Allende für einen demokratischen Sozialismus kämpften und dann für lange Jahre ins Exil gehen mußten. Diese Position ist in der Koalition, die den Präsidenten Patricio Aylwin trägt, so weit akzeptiert, daß die rechte Opposition derer, die mit der Diktatur sympathisierten, für den kommenden Wahlkampf gar kein rechtes Thema hat und in den Meinungsumfragen hoffnungslos zurückliegt.
Woher aber nun diese freudige Akzeptanz des neuen chilenischen Weges? Woher die Angst vor jeder Abweichung vom Pfad der kapitalistischen Tugend? Woher der Erfolg der Warnung “Keine Experimente!”, ganz im Sinne von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard seligen Angedenkens?
Ein großer Teil der Erklärung liegt in dem relativ hohen Wachstum, das die chilenische Wirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre und ganz besonders seit dem Amtsantritt der demokratischen Regierung Anfang 1990 erfahren hat. Chile war – neben Uruguay – eins der ganz wenigen Länder, die im sogenannten “verlorenen Jahrzehnt Lateinamerikas” zwischen 1980 und 1990 nicht einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlebt haben, und überhaupt das einzige Land, dessen Produkt pro Kopf in dieser Zeit spürbar zunahm.
Das folgende Schaubild zeigt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Chile im Vergleich zu den Nachbarländern verändert hat. Während es in Peru von 1980 bis 1992 um gute, genauer: katastrophale 30 Prozent gesunken ist, in Bolivien auf niedrigstem Stand noch nicht einmal das Niveau von 1970 wieder erreicht hat und in Argentinien trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren die gut 20 Prozent Schrumpfung seit 1980 immer noch nicht wieder wettgemacht hat, verzeichnet es in Chile seit 1982, als es dort unter den Stand von 1970 zurückgefallen war, ein erst langsames, dann sich steigerndes Wachstum um insgesamt 30 Prozent. Der Abstand zum reicheren Argentinien hat sich erheblich verringert, der zu den ärmeren Nachbarländern Peru und Bolivien erheblich vergrößert. Alle, die sich in Chile den Luxus einer Auslandsreise leisten können, kommen mit dem Eindruck zurück: “Bei uns funktioniert es besser!”
Bisweilen verbindet sich damit der Traum, binnen kurzem den Anschluß an die Entwicklung der Industrieländer zu erreichen, Teil der Ersten Welt zu werden. Und in der Tat: In dem großen, weiträumigen Oberklassenviertel von Santiago können sich die gutsituierten Leute wochenlang über weite Strecken bewegen, ohne der Armut zu begegnen. Modernste Wohnanlagen und schmucke Villen wechseln mit luxuriösen Einkaufspassagen, attraktiven Hotels und postmodernen Bankpalästen, zwischen denen geschniegelte Yuppies mit ihren schlanken Aktenkoffern – eifrig telefonierend – hin und her laufen oder fahren.

Eine gigantische Umverteilung

Dieser konzentrierte und heute offen zur Schau gestellte Reichtum ist aber nicht nur das Ergebnis der Wachstumsraten der letzten Jahre, sondern vor allem Resultat einer gigantischen Umverteilung der Einkommmen zu Lasten der Armen und zu Gunsten der Reichen. Nach Angaben der in dieser Hinsicht sicher unverdächtigen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (CEPAL) ist in Chile zwischen 1970 und 1990 der Anteil der Armen von 17 auf 35 Prozent der Bevölkerung und der Anteil der extrem Notleidenden von sechs auf zwölf Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese gigantische Umverteilung war einerseits das Ergebnis der nach 1973 erfolgten Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit der völligen Liberalisierung des Marktes, der totalen Ausrichtung auf den Außenhandel und der drastischen Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und im Bereich des Sozialen. Andererseits wurde die Umverteilung noch einmal verschärft durch die tiefen Wachstumskrisen von 1975 und 1982, die der Schockbehandlung durch die Chicago Boys unter der Diktatur folgten.
Nimmt man die geamte Zeit seit 1970 bis heute, so ist Chile – bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung – den Industrieländern keineswegs näher gerückt. Um ganze 1,2 Prozent jährlich ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den 22 Jahren seither gewachsen. Entscheidend für das Bewußtsein der Leute – auch der armen Leute – ist aber, was jetzt passiert; und jetzt boomt die Wirtschaft: Um 10,4 Prozent hat die Wirtschaftsleistung 1992 zugenommen. Wo gibt es das – außer in China – noch auf der Welt? Für 1993 sieht es nicht viel schlechter aus. Und die Inflation sinkt. Und das Auslandskapital strömt herein. Und die Deviseneinnahmen aus dem Export nehmen zu. Und die Investitionsquote steigt.
Unter diesen Umständen setzt auch die Mehrheit der Armen ihre Hoffnung nicht auf die Abschaffung des Wirtschaftsmodells, das ihre Armut erst erzeugt oder noch verschlimmert hat, sondern – unter der demokratischen Regierung – auf einen gerechten Anteil an dem produzierten Wachstum. Regierungsfunktionäre aus dem Planungsministerium haben ausgerechnet, daß tatsächlich im Jahre 1992 die Einkommen der unteren 40 Prozent der Einkommenspyramide um zwei Prozent schneller gewachsen sind als der Durchschnitt. Bei diesem Tempo würde es noch viele Jahrzehnte brauchen, bis eine ähnliche Einkommensverteilung wie im Jahr 1970 wieder erreicht würde; aber die Situation der Armen wird wenigstens nicht noch schlechter.

Liberalismus in den Köpfen

Daß das Wirtschaftsmodell so breit akzeptiert wird, liegt aber auch daran, daß es sich über die neoliberalen sogenannten “Modernisierungen” seit den achtziger Jahren in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in den Köpfen niedergeschlagen und festgesetzt hat. Die Privatisierung der grundlegenden sozialen Dienste im Gesundheitswesen und in der Sozialversicherung, die Übertragung des Bildungswesens auf die Gemeinden, die Zerschlagung und Neuordnung der Gewerkschaften durch den sogenannten “Plan Laboral” und die Zerstörung der Berufskammern, alle diese Maßnahmen zielten darauf, die Gesellschaft zu atomisieren und an den Gedanken zu gewöhnen, daß vom Staat nichts zu erwarten ist: “Jede ist ihres Glückes Schmiedin.” Und da unter der Diktatur diesen Ideen der Herrschenden nichts entgegengesetzt werden konnte, wurden sie zu den herrschenden Ideen im Lande. Unternehmerischer Geist kennzeichnet heute nicht nur die UnternehmerInnen, sondern auch die Werktätigen bis hin zu den Bettlern, die sich zur Steigerung der “Effizienz” ihrer Arbeit eine Krawatte umbinden.
Die Ausrichtung auf den Export ist auf den ersten Blick beeindruckend erfolgreich. Immer steigende Deviseneinnahmen haben nicht nur die Finanzierung des Luxus der Oberschicht, sondern auch eine Reduzierung der Auslandsschulden möglich gemacht. Aber auch der Blick auf die endlos erscheinenden neuen Obst- und Weingärten, Kiefern- und Eukalyptuswälder, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vielgepriesenen “nichttraditionellen” Exporte von Obst und Holz, Wein und Zellulose eben doch insofern sehr traditionell sind, als es sich um Rohstoffe oder wenig verarbeitete, rohstoffnahe Produkte handelt, bei denen die komparativen Vorteile gegenüber den ausländischen Konkurrenten in der Ausbeutung des Bodens und schlecht bezahlter – häufig weiblicher – Arbeitskräfte liegen. An ein dauerhaftes Wachstum dieser Art von Exporten ist nicht zu denken; und unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten wäre es auch gar nicht wünschenswert.
Die Vernachlässigung ökologischer Gesichtspunkte ist ohnehin eins der wesentlichen Kennzeichen des chilenischen Modells. Kaum jemand wagt es, die Argumentation gegen Smog und Pestizide, gegen Monokulturen und Naturwaldvernichtung soweit zu treiben, daß auch die Heilige Kuh des Wachstums um jeden Preis ins Zwielicht geriete. Die Regierung des Präsidenten Aylwin und ihre fast sichere Nachfolgerin unter dem Christdemokraten Eduardo Frei werden froh sein, wenn sie die Fortsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells mit fortgesetztem Wachstum, einem Minimum an Verbesserung im Sinne sozialen Ausgleichs und der Aufrechterhaltung einigermaßen demokratischer Verhältnisse kombinieren können. Für manche Länder in Lateinamerika und Osteuropa mag solches Streben Modellcharakter haben; von sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft sind die Verhältnisse in Chile immer noch weit entfernt.

Der stolze chilenische Wald !

Chile 1993. Es ist März. Die Schule beginnt. Die Hauptstadt Santiago wirkt wie aus der langen Siesta der heißen Sommermonate erwacht. In den Einkaufstraßen tummeln sich die Menschen, die sich nach den billigsten Angeboten an Schuluniformen umsehen. Tausende von Autobussen und Abertausende von Privatfahrzeugen sorgen für einen ohrenbetäubenden Lärm, über die Stadt setzt sich bedrohlich eine dichte Smogglocke. Das ist die passende Kulisse für ein Gespräch mit KollegInnen des CODEFF Chile (Komitee zur Verteidigung der Flora und Fauna), der ältesten Umweltorganisation, die mit regionalen Gruppen im ganzen Land den Versuch unternimmt, zusammem mit anderen Nicht-Regierungsorganisationen der drohenden ökologischen Katastrophe Einhalt zu gebieten. Nach fast vier Jahren demokratischer Regierung können die ökologischen AktivistInnen ihre Enttäuschung nicht verbergen. Die Wirtschaftsexperten der Regierung Aylwin setzen das Wirtschaftsmodell der Militärdiktatur fort. Alle Hoffnungen, die sie in die Beendigung des rücksichtslosen Raubbaus an den Naturressourcen gesetzt hatten, sind von den VerfechterInnen des neoliberalen Wirtschaftsmodells zunichte gemacht worden. Bisher ist es der Regierungskoalition nicht gelungen, die “Ley de Marco Ambiental” (Umweltrahmengesetz ) durch das Parlament zu bringen. Dieses Gesetz – falls es jemals in Kraft treten sollte – könnte zu einem wichtigen Instrument werden, um die verschiedenen Wirtschaftssektoren mit klaren Auflagen zu konfrontieren und somit ihrem rücksichtslosen Raubbau Grenzen zu setzen. Die Regierungskoalition tut sich aber sehr schwer mit diesem Gesetz. Beamte und PolitikerInnen sind sich darin einig, daß Umweltpolitik und ökologische Rücksichtnahme einen Luxus darstellen, den sich Chile nicht leisten könne. Die Unternehmerverbände im Lande und die internationalen Konzerne im Einklang mit Weltbank und internationalem Währungsfonds zollen solchen Ansichten lauten Applaus und preisen das chilenische Modell als “den Weg” für sogenannte Entwicklungsländer.

Neues Waldgesetz zerstört den Naturwald

Die ÖkologInnen erlitten vor kurzem eine weitere Schlappe. Die Regierung beschloß im Rahmen des neuen “Ley de Bosques” (Waldgesetz), die Aufsicht und Kontrolle über die Wiederaufforstung in private Hand zu übergeben. Wieder einmal macht man den Bock zum Gärtner. Damit wird der Prozeß der Monokulturen beschleunigt werden. Der Tod des chilenischen Naturwaldes ist nur noch eine Sache der Zeit. Der Süden hat sich schon in die größte Pinienplantage der Welt verwandelt. Zwei Millionen Hektar Naturwald mußten den schnell wachsenden Pinien- und Eukalyptussorten weichen. Ein bisher noch nie dagewesener Eingriff in den ökologischen Haushalt des Landes.

Vom chilenischen Fisch zum Exportschlager Fischmehl

Nicht weniger katastrophal sieht es mit einer der größten Naturressourcen des Landes aus, der Fischerei. Mit über viertausend Kilometern Küste verfügt Chile über enorme Ressourcen in diesem Bereich. Aber auch hier wird nicht anders verfahren als mit den Wäldern. Meeresbiologen des CODEFF erzählen mir, daß über 640 Arten von Fischen und Meeresfrüchten in unseren Gewässern zu finden sind. Aber ihre Lebensweise ist weitgehend unbekannt; lediglich etwa vierzig Sorten sind ausführlich erforscht worden. Eine unkontrollierte Fangpolitik würde die Vernichtung und Ausrottung nahezu aller dieser Arten bedeuten. Das ist aber kein Hindernis für die großen Fangflotten, die mit engmaschigen Netzen dafür sorgen, daß Chile an dritter Stelle des Weltfischfangs steht. Über neunzig Prozent dieses enormen Fangvolumens werden zu Fischmehl verarbeitet. Die Bundesrepublik Deutschland ist die beste Kundin der chilenischen Fischmehlindustrie. Sie kauft nämlich über dreißig Prozent der Fischmehlproduktion. Die chilenische Bevölkerung dagegen konsumiert viel weniger Fisch als vor zwanzig Jahren. Damals gab es ca. 95 000 Familien, die von der Fischerei lebten und das Land mit Fisch versorgten. Heute sind es nicht mehr als 18 000. Traditionelle Fischsorten sind von den chilenischen Märkten verschwunden, und das vorhandene Angebot erreicht Preise, die sich nur wenige leisten können.
Daß es zwischen Diktatoren und DemokratInnen bezüglich der Umweltpolitik in Chile kaum Unterschiede gibt, dafür war die Haltung der chilenischen Delegierten bei der diesjährigen internationalen Walfangkommission in Tokio ein Beispiel: Sie unterstützte die Position Japans und Norwegens. Wale dürfen also weiter gejagt werden.

Kupferabbau zerstört Umwelt und tötet Kinder

Die düsteren Berichte der CODEFF-KollegInnen setzen sich mit einem dramatischen Beispiel aus dem Norden Chiles fort. Die Hafenstadt Antofagasta hält bisher einen traurigen Weltrekord: laut Studien der Weltgesundheitsorganisation werden dort im internationalen Vergleich die meisten Kinder ohne Gehirn (Acephalie) geboren. Ärzte und andere Experten stimmen darin überein, daß die Ursachen dieses alarmierenden Phänomens in der hohen Konzentration von Arsen und Quecksilber liegen, die im Trinkwasser der Stadt zu finden sind. Auf der Suche nach den VerursacherInnen dieser hohen Giftkonzentration stieß man auf den Kupferbergbau, der in der Hochebene des Nordens Grundwasser benutzt, um die abgebauten Mineralien zu raffinieren, und Abwässer ungeklärt im Boden versickern läßt. Diese Giftbrühe erreicht den Grundwasserspiegel, aus dem die Stadt ihr Trinkwasser gewinnt. Die ganze Bevölkerung Antofagastas wird allmählich vergiftet. Die Führung des größten Kupferbergbaubetriebs der Welt in Chuquicamata ist trotz der Proteste von UmweltschützerInnen und Bevölkerung nicht bereit, Filter geschweige denn andere Techniken der Kupfergewinnung einzusetzen.

Kaum Hoffnung auf ökologische Kehrtwende

Die ökologische Sündenkartei des neoliberalen Wirtschaftsmodells ist groß und läßt sich anhand vieler Beispiele klar darstellen. Chile ist zwar in die Kategorie eines Schwellenlandes aufgestiegen, bezahlt aber einen unglaublich hohen Preis dafür. Fünf Millionen Menschen, die in Armut leben, und die ungezügelte Zerstörung der Lebensgrundlagen machen ein Umdenken und ein Ende des Raubbaus an Naturressourcen dringend erforderlich. Aber die Herren des Wirtschaftsmodells können nicht mehr so ungestört ihre Politik fortsetzen. Seit langem wird seitens der Umweltorganisationen und Basisgruppen Widerstand geleistet. Dabei sind nicht nur die AktivistInnen des CODEFF, sondern auch das Instituto de Ecologia y Politica und andere bis hin zu der grünen Partei aktiv. An vielen Fronten versuchen diese Organisationen gemeinsam das neoliberale Wirtschaftsmodell mit alternativen Entwicklungs- und Produktionsmodellen zu konfrontieren.
Die chilenische Linke hingegen tut sich mit dieser Problematik schwer. Immer noch mit alter ideologischer Verkrustung und Volksfrontmentalität behaftet, entwickelt sie keine Fähigkeiten, sich dieser Herausforderung zu stellen. Allzuoft werden Umweltprobleme als eine Art politisches Feigenblatt von der Linken benutzt, und es sieht so aus, als ob es noch lange dauern wird, bis eine solide Umweltpolitik und ein alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entworfen wird, das die Bedürfnisse der Bevölkerung zufriedenstellt, ohne die Lebensgrundlagen zu zerstören.
Es ist spät geworden über Santiago. Das Gespräch mit den UmweltakivistInnen hinterläßt einen bitteren Geschmack, trotzdem gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Allmählich formieren sich umweltbewußte Menschen in mehreren Vereinen im ganzen Land, und die Umweltproblematik ist aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken.
Der schwarze Humor der ChilenInnen ist auch nicht wegzudenken. Wegen des Ozonlochs über dem Südpol befinden sich zur Zeit mehrere Forschergruppen aus Industrieländern auf der südlichen Spitze Chiles und untersuchen die Auswirkungen auf Flora und Fauna. Sie sind mit viel Ausrüstung und Geld gewappnet. Kommentar der ChilenInnen: “Es ist wie immer. Sie bringen Know How und Geld, und wir stellen das Loch zur Verfügung”.

“Yankee” Goni wird Präsident

Diesmal wird der Erste nicht leerausgehen

In den vierten und nach Aussagen von allen BeobachterInnen fairsten allgemeinen Wahlen nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie 1982 scheint sich eine bolivianische Eigentümlichkeit nicht zu wiederholen. 1985 und 1989 wurden nicht diejenigen Kandidaten Präsident, die die relative Stimmenmehrheit hatten, sondern durch politische Deals der jeweils geschlagenen Parteien wurden die zweit- oder drittplazierten Kanditaten vomm Parlament zu Präsidenten gekürt. So wurde 1985 die Wahl von Hugo Banzer verhindert. Vier Jahre später hatte Sánchez de Lozada das Nachsehen, weil Banzer und seine rechtsgerichtete Partei ADN (Demokratisch Nationalistische Aktion) und die sozialdemokratische MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) ein Bündnis schlossen. Nach monatelangem Hin und Her wurde der Kandidat der MIR, Jaime Paz Zamora, zum jetzt noch amtierenden Präsidenten gewählt, obwohl seine Partei nur knapp 20 Prozent erreicht hatte. Die “Ströme von Blut”, die MIR und ADN aufgrund der Verfolgungen während der Diktatur Banzers in den 70er Jahren trennten, waren plötzlich irrelevant. Daß Hugo Banzer ein Bündnis mit der relativ schwachen MIR einging und Paz Zamora zum Präsidenten machte, war mit einem längerfristigen Kalkül verbunden. Einerseits konnte die ADN dadurch wichtige Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und deren Politik entscheidend mitbestimmen, andererseits hatte die MIR als die Partei des Präsidenten die politische Verantwortung zu tragen. Dem Ex-Diktator stand damit der Weg offen, sich auch im Falle politischer Krisen und der Abnutzung der Regierung in den nächsten Wahlen als unverbrauchter Retter zu profilieren.
Dieses Kalkül hat sich mit der Wahl vom 6. Juni als falsch herausgestellt. Obwohl die Meinungsumfragen andeuteten, daß Banzer allmählich zu Sánchez de Lozada aufschließen kann, erreichte das “Patriotische Bündnis” um Banzer, das diesmal neben der verschlissenen MIR noch die Christdemokraten und die sich links gebärdende Revolutionäre Front umfaßte, nur magere 21 Prozent. Damit ist Banzer auch in seinem fünften Versuch, auf legalem, parlamentarischen Wege Präsident zu werden gescheitert – nachdem er nach 7-jähriger Militärdiktatur 1978 von seinem Generalskollegen Juan Pereda aus diesem Amt geputscht worden war. Vielleicht war die Last der Vergangenheit am Ende doch zu schwer. Es wird wahrscheinlich sein letzter Versuch gewesen sein; er hat schon angekündigt sich bei einer Nichtwahl aus der Politik zurückziehen zu wollen.
Goni hingegen fehlen nur fünf Sitze im Parlament, um am 6. August endgültig von den Abgeordneten gewählt zu werden. Unmittelbar nach der Wahl hat er angekündigt, daß er bereit ist, mit allen im Parlament sitzenden Parteien zu verhandeln, um seine Wahl und darüber hinaus eine längerfristig stabile Regierungskoalition zustandezubringen. In Frage kommen vor allem die erfolgreichen populistisch orientierten Parteien. CONDEPA (Vaterlandsbewußtsein) unter Carlos Palenque, einem Besitzer eines Radio-und Fernsehsenders, der vor allem durch an die städtischen Unterschichten gerichtete Sendungen populär wurde, konnte den spektakulären Erfolg der letzten Wahlen wiederholen und gewann 16 Prozent der Stimmen. CONDEPA war vor vier Jahren eher zufällig entstanden, geriet aber schnell zur politischen Bewegung, in der die marginalisierte Bevölkerung indianischer Herkunft ihren Protest gegen die Diskriminierung durch das “weiße” Establishment artikuliert sieht. Mittlerweile ist die Partei schon stärker etabliert und erweitert allmählich die bisher auf La Paz beschränkte regionale Begrenzung.
Die UCS (Bürgerunion und Solidarität) des schwerreichen Brauereibesitzers Max Fernández enttäuschte dagegen und erreichte als vierte nur 13 Prozent der Stimmen. In den Umfragen lag Fernandez lange Zeit an zweiter Stelle hinter Goni. Auch die UCS existiert erst seit 4 Jahren und rekrutiert ihre WählerInnen tendenziell eher aus dem Milieu der indianisch geprägten Mittelschichten. Populär ist Fernandez vor allem durch zahlreiche “Geschenke” an verschiedene Dörfer und Städte in Form von infrastrukturellen Anlagen wie Krankenhäusern, Fußballplätzen und Trinkwasseranlagen, die er aus der Firmenschatulle seines Brauereiunternehmens finanziert.
Die MBL (Bewegung Freies Bolivien), eine Abspaltung der MIR, erreichte als einzig dezidiert linke Partei, die nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist, sieben Parlamentssitze. Im Gegensatz zu den anderen eher orthodox orientierten Linksparteien vertritt sie das Konzept einer sozial orientierten Marktwirtschaft und einer plurikulturellen Nation.

Auf der Suche nach dem sozialen Gesicht des Neoliberalismus

Wie schon 1990/91 bewegte sich im Verlaufe des Jahres die Inflationsrate auf einem niedrigen Niveau bei 10,5 Prozent im Jahr. Das Bruttosozialprodukt stieg um beachtliche 3,7 Prozent. So gesehen scheinen die wirtschaftlichen Daten ein positives, befriedigendes Bild zu geben. Betrachtet man die ökonomische Entwicklung aber differenzierter, löst sich das optimistische Gemälde wirtschaftlicher Stabilität etwas auf. Denn das Wachstum von 3,7 Prozent ist vor allem der enormen Ausweitung des Baugewerbes (+15 Prozent) und des Finanzsektors (+15,6 Prozent) geschuldet, was auf ein vorwiegend auf spekulativen Kapitalanlagen beruhendes Wachstum verweist. Die eigentlich produktiven Sektoren Exportlandwirtschaft, Bergbau und Erdgas schrumpften um ein Prozent. Sinkende Exporte (von 848 Millionen 1991 auf 751 Millionen Dollar 1992) und steigende Importe (plus 42 Millionen Dollar) ergaben 1992 ein Handelsbilanzdefizit von 382 Millionen Dollar.
Wichtiger als die Bewertung der ökonomischen Situation anhand quantitativer Indikatoren ist aber, daß die “Nueva Política Económica” (Neue ökonomische Politik), wie sie von Paz Estenssoro 1985 installiert und von der Regierung von Paz Zamora bis 1993 brav weiterverfolgt wurde, neben relativer Stabilisierung auch die ohnehin krassen sozialen Ungleichheiten weiter verschärfte und die Ressourcen des Landes in immer weniger Händen konzentrierte. Der aktuelle politische Diskurs scheint anzudeuten, daß das Erreichen der “sozialen deadline” heute auch den hegemonialen Block der etablierten Parteien berührt, weil dadurch ein wichtiges Fundament der “Neuen ökonomischen Politik” allmählich untergraben wird: Die politische Stabilität und die formale Demokratie.

Beliebigkeiten der Bündnisse

Diese Beobachtungen korrespondieren auch mit anderen bedeutsamen Veränderungen der politischen Kultur Boliviens. Seit einigen Jahren ist bedingt durch die soziale Krise des Landes das Entstehen neuer sozialer Akteure zu beobachten, die sich ihre eigenen politischen RepräsentantInnen suchen und so einen politischen Erdrutsch der bolivianischen Politik bewirkten. Während die linken Parteien fast völlig von der Bildfläche verschwanden, liefen die marginalisierten Gruppen, wie die städtische Bevölkerung aus dem informellen Sektor (Informales) zu neuen populistischen Parteien über. Die Parteien hängen faktisch von der Popularität ihrer charismatischen Führer ab, sind aber gleichwohl zu Sprachrohren der Armen und Diskriminierten aufstiegen.
Dies gilt für die CONDEPA von Carlos Palenque, in der sich ein guter Teil der armen “Informales” repräsentiert sehen, wie auch für die UCS von Max Fernández, die eher bei den bessergestellten “Informales” aus der Chola-Bourgoisie (indianische Herkunft) ihren Rückhalt hat. Die politische Herausforderung dieser neuen populistischen Parteien zwang auch die traditionellen Parteien zur Annäherung an die neuen sozialen Akteure. Diese Annäherung ist der späten Einsicht der Altparteien geschuldet, daß auch dise sozialen Gruppen potentielle WählerInnen sind, die über die Machtverteilung bei Wahlen mitbestimmen können. Das scheint aber das einzigste Interesse der etablierten Parteien an diesen Menschen zu sein. Die realen Probleme der Informales werden über die rhetorische Phrasen des Wahlkampfs hinaus nur dann Thema der politischen Debatte, wenn sie sich zu sozialen Bewegungen formieren und als unabhängige kollektive, politische Akteure ihre Interessen gegenüber dem politischen Establishment einfordern können.
Eine zweite Tendenz ist die zunehmende Annäherung der traditionellen Parteien MNR, ADN und MIR. Die Politik in Bolivien verliert zunehmend ihre in den Zeiten der Diktaturen so scharfe Links-Rechts-Konturen, alle treffen sich in der mehr oder minder neoliberalen Mitte. Und so entsteht die Möglichkeiten des vorher Undenkbaren. Der neue Zentrismus hat zur Folge, daß jede Koalition und jeder Pakt zwischen politischen Parteien möglich wird. Die Wahl von Paz Zamora von der MIR zum Präsidenten 1989 durch das Bündnis mit seinem vormaligen Todfeind Hugo Banzer (ADN), der ihn und seine Parteigenossen während der Diktatur verfolgt und ins Exil getrieben hatte, war insofern nur eine bestürzende Überraschung über die Normalität von heute.

Ex-Diktator und Ex-Guerillero vereint

Diese Tendenzen wurden auch im zurückliegenden Wahlkampf deutlich. Die Debatten um KandidatInnen, Programme und mögliche Allianzen waren trotz aller pathetisch vorgetragener Kontroversen einer extremen Vereinheitlichung der Themen und Positionen unterworfen. So war es für für das regierende Bündnis der “Patriotischen Übereinkunft” überhaupt kein Problem mit dem Ex-Diktator Banzer und dem knorrigen Ex-Guerillero Oscar Zamora von der Linken Revolutionären Front zusammen als Präsdentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten aufzutreten. Neben Banzer als Garant des herrschenden ökonomischen Modells trat Oscar Zamora als das personifizierte soziale Gewissen auf, galt der ehemalige Arbeitsminister in der Regierung seines Neffen Paz Zamora doch als “sensibler Vermittler” der mit Massenentlassungen verbundenen Privatisierungspolitik.
Ein ähnlich ungewöhnlich scheinendes Gespann schickte die MNR in den Wahlkampf, die 1952 noch die Revolution angeführt hatte, heute aber schon lange zur rechtsnationalistischen Partei mutiert ist, in den Wahlkampf. Überraschend nominierte er Víctor Hugo Cárdenas zum Vizepräsidenten, einen Intellektuellen indianischer Herkunft und Führer der einer wichtigen Bauernbewegung. Auch diese seltsame Symbiose zwischen Minenbesitzer und Bauernführer ist aus der Notwendigkeit der neoliberal orientierten Parteien zu erklären, sich ein menschlicheres Gesicht zu verpassen und zu versuchen, auch bei der marginalisierten ländlichen und städtischen Bevölkerung eifrig Stimmen zu sammeln.
Die gleiche instrumentelle Beliebigkeit drückt sich auch in den Programmen der größeren Parteien aus. Beide, Goni und Banzer, gaben sich besorgt um den “sozialen Frieden” im Lande und ergingen sich in rosaroter Zahlenmalerei bezüglich der Wachstumsprognosen der nächsten vier Jahre. Während Goni von völlig aus der Luft gegriffenen 8 Prozent Wachstum jährlich, von 287.000 neuen Arbeitsplätzen, 1,4 Milliarden Dollar für das Bildungssystem und 3,077 Milliarden für Investitionen im ländlichen Sektor faselte, sprach Banzer eben von 7 Prozent Wachstum und 356.000 Arbeitsplätzen. Beide unterscheiden sich nur in der Frage, wie das postulierte bolivianische Wunder finanziert werden soll. Während Banzer weiterhin die Privatisierung vorantreiben will und auf Privatinvestitionen in gigantischen Höhen hofft, möchte Goni die Staatsbetriebe mit einer Kapitalsumme der Privatwirtschaft ausstatten lassen, die den Wert der Betriebe um das Dreifache übersteigt, sie aber letzlich unter staatlicher Kontrolle lassen.
All diese völlig überzogenen Verlautbarungen sind nach der Wahl nicht mehr sein, als sie es auch vorher waren: in Luft aufgelöste Sprechblasen und bedrucktes Papier.

Mögliche Koalitionen

Obwohl alle Parteien um ein unabhängiges Image vor der Wahl bemüht waren, saßen alle schon in den Startlöchern, um nach der Stimmabgabe ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, Allianzen zu schmieden mit wem auch immer, wenn sie nur das Ziel allen Strebens erbringen: die politische Macht. Die Wahl ist vorbei und der nächste Präsident steht fest. Jetzt wird das große Gemauschel um Interessen, Kalküle, Angebote und Ablehnung ausbrechen, das eine längerfristig stabile Koalition hervorbringen soll. Es gibt zwei möglich Szenarien. Entweder die MNR schließt mit der sich anbiedernden CONDEPA und der pragmatischen Linkspartei MBL ein vergleichsweise heterogenes Bündnis, das die UnternehmerInnen, die internationalen GeldgeberInnen wie auch die BäuerInnen und städtischen Unterschichten gleichermaßen als Klientel abdeckt.
Oder es geschieht das, was auch schon den Kommentatoren des Wahlkampfs ins Auge sprang. Die programmatische Nähe, der vorherrschende Pragmatismus und die relative Sanftheit, mit der sich die politischen Häuptlinge Banzer und Goni behandeln, legen eine Erweiterung der “patriotischen Übereinkunft” nahe, diesmal mit der MNR und Goni an der Spitze. Mit einer Koalition von Banzer und Goni wäre auf jeden Fall das vorrangige Ziel des die nationale Politik nach wie vor dominierenden Blocks der weißen Oberschicht abgesichert: die alternativlose Fortführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dabei wird es wohl bleiben. Ein zunehmender Verschleiß und die fortgesetzte Erosion des politischen Systems wird die Folge sein. Das die soziale Grenze der Leidensfähigkeit des bolivianischen Volkes nicht unendlich ist, wird die verantwortlichen Politiker auch in Zukunft nur am Rande interessieren. Bis zur nächsten Wahl.

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