Adiós Hetero-Image!

Das chilenische Strafgesetzbuch ist direkter Nachfahre des “codigo español” vom Ende des vergangenen Jahrhunderts und wurde im Punkte “Homosexualität” nie reformiert. Nicht Homosexualität an sich wird mit Strafe belegt, sondern das Gesetz schlägt erst zu, wenn jemand diese Tatsache öffentlich macht oder ihm “Akte der Sodomie” vorgeworfen werden. Unter Sodomie versteht das StGB sexuelle Akte zwischen Männern, wenn diese mit Gewalt durchgeführt werden oder mit Personen, die jünger als 14 Jahre sind. Wegen derlei Delikte sitzen zur Zeit landesweit mehr als 180 Personen im Knast.
1954 wurde von Präsident Ibañez ein weiterer Artikel gegen Homosexualität eingefügt. Danach droht all denen Internierungslager, die “in irgendeiner Form Homosexualität unterstützen oder propagieren”. Diese Internierungslager hat es nur wenige Jahre gegeben, so daß der Artikel jetzt praktisch ins Leere läuft. Aber bisher hat auch keine Regierung daran gedacht, ihn abzuschaffen. Ein entsprechender Antrag des Abgeordneten Vodanovic von der Sozialistischen Partei an den Kongreß wurde stillschweigend übergangen.
Worauf das Strafgesetzbuch nicht eingeht: sexuelle Beziehungen zwischen Frauen. Frauen haben mehr Närrinnenfreiheit, was öffentliche Umarmungen oder gemeinsam verbrachte Nächte angeht. Wenn allerdings ruchbar wird, daß es sich nicht um eine rein freundschaftliche Beziehung handelt, unterliegen sie den gleichen sozialen Diskriminierungen wie Männer.
Daß Homosexuelle per Gesetz kriminalisiert werden, weiß in Chile kaum jemand. Wegen einer zweifelsfrei patriarchalischen Gesellschaftsstruktur und der übermächtigen katholischen Moral wird das Thema “Homosexualität” höchstens in anzüglichen Bemerkungen behandelt. Seit einigen Monaten wird dieser Burgfrieden allerdings empfindlich durch das “Movimiento de liberación homosexual” (Movihl) gestört, das sich vor zwei Jahren gegründet hat.

Movihl macht mobil

Zu Anfang waren es nur acht Leute, die sich aus gutem Grund konspirativ in irgendwelchen Hinterzimmern trafen. Darin hatten sie Routine, denn während der Diktatur waren die Gründungsmitglieder ausnahmslos in Oppositionsparteien organisiert. Trotzdem waren konspirative Treffen nicht das, was sie in einer Demokratie fortsetzen wollten.
Im Juni letzten Jahres stellte sich Roberto (41) vor eine Fernsehkamera, lächelte und sagte: “Ich bin homosexuell.” Seitdem ist Homosexualität ein Thema in den Medien und Roberto als freiberuflicher Schauspieler einige Jobs los.
Die Leute von Movihl tauchen immer häufiger in Zeitungsinterviews, Talkshows und auf Demonstrationen auf. Mittlerweile bilden sie eine von sieben Homosexuellen-Organisationen, bisher allerdings die politisch aktivste. Ein Büro mit Telefon und Faxanschluß haben sie getarnt als “Zentrum für Sexualforschung”. Daß es sich dabei nicht um ein solches handelt, ist allerdings stadtbekannt.
Bisher gab es noch keine Hausdurchsuchung, was einige als typisch für die katholische Doppelmoral bezeichnen. Andere sind nicht so optimistisch und meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Staat, Kirche oder beide zusammen zuschlagen.
Nicht alle Leute von Movihl (mittlerweile sind es ungefähr 50) können sich offen für die Forderungen der Bewegung einsetzen. Andere tun es, aber nicht vor der Kamera und unter anderen Namen. Die, die sich der Kamera stellen, sind entweder arbeitslos oder haben einen Job, der ihnen eine gewisse Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung garantiert (zum Beispiel in einer Nichtregierungsorganisation [NGO]).
Einer von ihnen ist Juan-Pablo, 25 Jahre, Student der Sozialkommunikation, angestellt bei einer NGO, die in den Armenvierteln Sozialarbeit leistet. Mit ihm und Roberto führten wir das folgende Interview.

“Auch die Schwulen im Militär brauchten was zum Amüsieren”

LN: Was für Erfahrungen habt ihr als Homosexuelle mit der Diktatur gemacht?
Roberto: Erstmal möchte ich sagen, daß die Militärdiktatur nicht nur für uns Homosexuelle ein schwerer Schlag war, sondern für das gesamte chilenische Volk. Eine schwarze Nacht, von der wir uns noch längst nicht erholt haben. Wenn die Militärs dich allerdings wegen irgendwas verhaftet haben und rauskriegten, daß du schwul bist, dann warst du echt dran. Ich habe von Leuten gehört, daß sie in Frauenkleider gesteckt wurden und unter dem Gejohle der gesamten Kompanie auf- und abtänzeln mußten.
Ansonsten aber muß ich sagen, daß sich die Militärs uns gegenüber verdammt schlau verhalten haben – sie gestatteten, natürlich immer zu ihren Bedingungen, einige Freiräume wie Bars oder Discos, in denen diese armen Marginalisierten sich amüsieren und tanzen konnten. Alles nach dem Prinzip “Brot und Spiele”, in diesem Fall “Spiele”.

Wie erklärst du dir das?
R.: Schau mal, wir waren einfach keine Gefahr für die Diktatur, wir bildeten weder eine soziale Bewegung noch eine politische Kraft, es gab kein kollektives Bewußtsein. Na, und du darfst natürlich auch nicht vergessen, daß die Schwulen im Militär, den Regierungs- oder sonstwelchen hohen Kreisen auch was zum Amüsieren brauchten.
Juan-Pablo: Wenn du mich fragst, dann ist die Sache mit den Schwulendiscos einfach eine Frage des Marktes. Die sind nämlich verdammt teuer, nicht nur der Eintritt. Und natürlich können deswegen auch nicht alle da hingehen.

Was hat sich für Euch mit dem Übergang zur Demokratie geändert?
R.: Ich ziehe auch die schlechteste Demokratie einer Diktatur vor, aber ich sage Dir, daß sich für mich persönlich nicht viel verändert hat. Persönlich – was sich auf meine Homosexualität bezieht. Die katholische Kirche ist ja nicht mit abgewählt worden.

Welches sind die Unterdrückungsmechanismen gegen Euch?
J.-P.: Solange du Dein Hetero-Image überzeugend pflegst, passiert dir nichts. Aber wenn jemand rauskriegt, daß du homosexuell bist, werden deine Papiere mit einem “H” gekennzeichnet und du wirst nie wieder im öffentlichen Dienst eingestellt.

Also nicht offen, sondern eher subtil?
R.: Gut, wenn du das subtil nennen willst. Für mich ist das ein klarer Fall von Diskriminierung.

Warum habt ihr das Movihl gegründet?
R.: Weil wir vor zwei Jahren während eines Seminars über die bürgerlichen Rechte auf einmal festgestellt haben, daß es anderen genauso geht wie uns, und daß es sich bei der Unterdrückung gegen uns nicht um ein individuelles Problem handelt. Während der Diktatur waren die meisten von uns ja in anderen Parteien organisiert. Es gab einfach keinen Raum für Diskussionen über Sexualität, sondern es mußten Aktionen gegen die Diktatur gemacht werden.

Ihr beide wart in der Kommunistischen Partei. Warum seid ihr nicht mehr dort?
R.: Ich hatte da wegen meiner Homosexualität Probleme. Lange Zeit konnte ich sie für mich selbst nicht anerkennen, weil Homosexualität laut Kommunismus eine Krankheit des Kapitalismus ist, und da konnte ich als Revolutionär ja schlecht schwul sein, oder? Als ich dann dazu stehen konnte, ging es eben mit der KP nicht mehr.
J.-P.: Die politischen Parteien, aber auch die Menschenrechtsorganisationen in Chile haben eine total starre Vorstellung davon, was in die Kategorie “Menschenrecht” reinpaßt und das Thema “Homosexualität” fehlt dabei. Das liegt aber nicht unbedingt daran, daß sie nicht bereit sind, Homosexuellen die gleichen Rechte zuzugestehen wie allen anderen, sondern daran, daß es immer gleich einen Skandal gibt, wenn jemand über Kondome redet. Es wird einfach nicht darüber gesprochen, und dann kannst du dir ja vorstellen, wie die Perspektiven für eine politische Auseinandersetzung sind.

Welches sind die Forderungen der Movihl?
J.-P.: Erstmal daß wir als Homosexuelle generell nicht diskriminiert werden, daß wir öffentlich auftreten können, ohne daß uns gleich der Job gekündigt wird oder wir verhaftet werden. Die Streichung des Artikels 365 im Strafgesetzbuch. Stattdessen fordern wir einen geschlechtsneutral formulierten Artikel gegen Vergewaltigung und gegen sexuellen Mißbrauch.

Warum fordert ihr nicht die Abschaffung der Artikels 374?
J.-P.: Weil der nicht nur uns betrifft, sondern auch andere Gruppen, denen unterstellt wird, die öffentliche Moral zu beleidigen. In dem Fall brauchen wir eine Zusammenarbeit.

Gibt es Kontakte?
J.-P.: Bisher eher locker.
R.: Ja, aber alleine können wir sowieso nicht viel ausrichten, außer für Sensationen in der Presse zu sorgen. Wenn wir nicht mit sehr viel mehr Leuten und Gruppen zusammenarbeiten, bleiben wir ein kleines Grüppchen, das sich einbildet, gesellschaftlichen Wandel erzeugen zu können. Kooperation gibt es bisher mit der feministischen Bewegung.

Wie ist Euer Kontakt mit den politischen Parteien?
R.: Die Kontakte von damals existieren noch, aber sie helfen uns nicht viel.

Warum nicht?
J.-P.: Weil die meisten Parteien vermuten, daß es Wählerstimmen kosten kann, sich für Homosexuelle einzusetzen, was ja vielleicht auch stimmt. Aber wenn wir einmal eine politische Kraft bilden sollten, steigen unsere Chancen vermutlich.
R.: Im Augenblick nehmen wir gerade Kontakt zu den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten auf, und die Reaktionen sind nicht durchgängig negativ.

Was habt Ihr sonst noch an konkreten Aktionen?
J.-P.: Wir haben gerade unsere erste Pressekonferenz abgehalten, und die war ein voller Erfolg. Wir sind so politisch aufgetreten, daß sie keine Chancen hatten, uns mal wieder sensationalistisch zu verreißen. Es ist wichtig, eine gute Presse zu haben.

Aber wenn ich mir anschaue, was hier normalerweise über das Thema geschrieben wird, ist das doch weit entfernt von politischen Inhalten… ich glaube, die chilenische Öffentlichkeit ist bestens darüber informiert, welche verschiedenen Theorien es über die “Entstehung” von Homosexualität gibt, aber daß eine juristische Verfolgung stattfindet, wissen die wenigsten.
J.-P.: Da hast du recht, aber du vergißt dabei, daß Homosexualität hier erst seit kurzer Zeit überhaupt Thema in den Medien ist. Und da sich die Medien am liebsten mit den Themen beschäftigen, die hohe Verkaufszahlen bzw. Einschaltquoten garantieren, behandeln sie natürlich erstmal die Punkte, von denen sie glauben, daß sie die Leute interessieren. Und der Erfolg gibt ihnen recht. Es braucht Zeit, bis es an politische Inhalte gehen kann. Aber: die Inhalte der Berichterstattung haben sich sehr wohl schon geändert. Ich habe das Gefühl, daß wir immer mehr ernstgenommen werden.

Neuer Präsident aus den Reihen der alten Stroessner-Partei

Stroessner ging – der Beginn eines steinigen Wegs zur Demokratie

Die Zerstrittenheit der Opposition hat den “Colorados” bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg beschert und somit zunächst die Perspektive auf eine demokratische Öffnung Paraguays blockiert. Juan Carlos Wasmosy reichte eine relative Mehrheit von 40 Prozent, um den Einfluß der Partei des Ex-Diktators Alfredo Stroessner auch für die kommenden fünf Jahre zu sichern. Nach fast 35 Jahren Militärdiktatur wurde Stroessner im Februar 1989 in einem blutigen Militärputsch gestürzt. Der Führer des Staatsstreiches, General Andres Rodríguez, kündigte noch in derselben Nacht die Demokratisierung Paraguays an. Dieses Versprechen machte ein Mann, der in der Militärhierarchie unmittelbar hinter Stroessner stand und der seinen gewaltigen Reichtum während der Diktatur zusammengerafft hatte. So groß die Hoffnungen nach der Vertreibung Stroessners ins brasilianische Exil waren, so gering erschienen die Chancen auf Veränderung. Rodríguez nutzte die Gunst der Stunde und wurde kurz nach dem Putsch im Mai 1989 als Kandidat der offiziellen “Colorado”-Partei, die auch schon Stroessner als politische Basis gedient hatte, mit offiziell über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Die nach dem Abgang Stroessners immer stärker werdende Opposition zwang Rodríguez und die “Colorado”-Partei zu schrittweisen Zugeständnissen. Dabei nutzten die GegnerInnen Rodríguez’ die Freiräume aus den nach dem Putsch wiedereingeführten Grundrechten der Presse- und Versammlungsfreiheit. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Kommunalwahlen von 1991. Der Bürgermeisterposten in Asunción, eines der wichtigsten Ämter in Paraguay, ging an den unabhängigen und als links geltenden Kandidaten Carlos Filizzola der Bewegung “Asunción für alle”. Doch der über 35 Jahre gut funktionierende Apparat der “Colorados”, offiziell auch unter dem Namen “Nationale Republikanische Vereinigung” (ANR) agierend, hatte nur wenig von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Trotz der Fraktionierung der Partei nach dem Sturz Stroessners wahrte sie in entscheidenden Momenten nach außen stets eine gewisse Einheit. Die kommunalen Parteisektionen sind nach wie vor relativ leicht zu mobilisieren. Dies zeigte sich Ende 1991 anläßlich der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die “Colorados” erzielten wie zu Zeiten der Diktatur eine absolute Mehrheit. Die 1992 von diesem Gremium verabschiedete Verfassung wurde als die Grundlage des neuen demokratischen Paraguays dargestellt. Obwohl die “Colorados” über die absolute Mehrheit verfügten, entsprach die Verfassung in vielen Punkten den Forderungen der Opposition. Abgeordnete aus den eigenen Reihen stimmten oft aus machtpolitischem Kalkül gegen die offizielle Linie der Partei. In einem Punkt waren sich die “Colorados” jedoch einig: Wahlen werden bereits im ersten Wahlgang mit relativer Stimmenmehrheit entschieden. Das Kalkül, mit dieser Wahlrechtsreform die in sich gespaltene Opposition zu überflügeln, ging schließlich auf.

Kandidatenkür als Farce: Pressemanipulationen und interner Wahlbetrug

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann schon sehr zeitig. Bereits unmittelbar nach dem unerwarteten Sieg des unabhängigen Kandidaten Filizzola bei den Kommunalwahlen erklärte der reiche Unternehmer Guillermo Caballero Vargas seine Kandidatur. Anfangs war er um ein ausgesprochen sozialdemokratisches Image bemüht. Da die Sozialdemokratie in Paraguay aber kaum eine Basis hat – nur die eher unbedeutende “Febrerista”-Partei baut auf sozialdemokratischen Grundsätzen auf – wurde mehr auf den Aspekt des Neuen, Unverbrauchten und Erfolgreichen gesetzt. Caballero Vargas stützte sich auf das Bündnis “Nationales Zusammentreffen” (“Encuentro Nacional”), einen Zusammenschluß verschiedener kleiner Organisationen, Parteien und Parteiflügel. Vargas investierte Millionen in den Wahlkampf. Vor allem Presse und Rundfunk wurden von ihm beherrscht, ausgesprochen tendenziöse und wahrscheinlich gekaufte Artikel und Wahlprognosen unterstützten seine Kandidatur.
Der zweite Oppositionskandidat, Domingo Laino, wurde von der “Authentisch Liberal Radikalen Partei” (PLRA) nominiert. Er zehrte vor allem von seinem Ruf als unerschrockener Kämpfer gegen die Stroessner-Diktatur. Allein 1988 wurde er zehnmal verhaftet. Die PLRA besteht bereits seit über einhundert Jahren und verfügt vor allem in den ländlichen Gegenden traditionell über eine große AnhängerInnenschaft, die sie auch in den Jahren der Diktatur bewahrte.
Der dritte aussichtsreiche und letztlich siegreiche Kandidat war Juan Carlos Wasmosy, nominiert von der herrschenden “Colorado”-Partei. Er ist ebenfalls reicher Unternehmer und vorrangig in der Baubranche tätig, die seit dem Bau des Itaipú-Staudamms an der Grenze zu Brasilien ständig wächst.
Bereits seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat hing der Ruch von Betrug und Manipulation an. Wasmosy, erklärter Favorit des derzeitigen Präsidenten Rodríguez sowie der nach wie vor sehr mächtigen Militärs, hatte die parteiinternen Wahlen gegen den erzkonservativen und stroessnerfreundlichen Luis María Argana verloren. Eine von der Parteiführung eingesetzte Untersuchungskommission erklärte diese interne Wahl mit dem zweifelsohne berechtigten Hinweis auf Manipulationen für ungültig und ernannte prompt den als gemäßigt geltenden Wasmosy zum Sieger. Argana rief daraufhin offen dazu auf, nicht für Wasmosy zu stimmen. Seine zahlreiche AnhängerInnenschaft stand daher vor dem offensichtlichen Dilemma, mit der Erststimme (Präsidentenstimme) entweder einen Oppositionskandidaten zu wählen oder einen ungültigen Wahlschein abzugeben. Die meisten AnhängerInnen Arganas stimmten für Caballero Vargas, denn die Stimme dem liberalen Erzfeind Domingo Laino zu geben, kam für diesen konservativsten Teil der “Colorados” nicht in Frage.

Wahlkampf mit Mauscheleien

Caballero Vargas hatte zwar Presseberichten zufolge leichte Vorteile in Asunción, verfügte aber in den ländlichen Regionen über keine nennenswerte politische Basis. Die “Colorado”-Partei mobilisierte ihre AnhängerInnen mit populistischen Losungen und vor allem mit dem Schüren von Angstpsychosen: Falls die Opposition siegen würde, bekämen alle “Colorados” die Rache für die langjährige Unterdrückung während der Diktatur zu spüren, zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst.
Am 9. Mai, dem Wahlsonntag, standen nicht nur das Präsidenten- und das neu geschaffene Vizepräsidentenamt, sondern auch 45 Senatoren- und 80 Deputiertensitze sowie 17 Gouverneursposten und 167 Gouverneursräte zur Abstimmung. Das Wahlverfahren selbst war ausgesprochen umständlich. In Asunción galt es drei, im übrigen Land fünf Stimmzettel auszufüllen. Um unmittelbarem Wahlbetrug vorzubeugen, waren zahlreiche Kontrollmechanismen eingeführt worden. Die Stimmabgabe selbst verlief recht ruhig, die Beteiligung war mit über 70 Prozent ausgesprochen hoch. In der Provinz Alto Paraguay kam es zu Übergriffen und Manipulationsversuchen durch “Colorados”, die vor allem der Einschüchterung der Opposition und der indigenen Bevölkerung dienen sollten. Gerüchte, daß Personalausweise, die zur Identifizierung als Wahlberechtigte notwendig sind, aufgekauft wurden, konnten allerdings nicht bewiesen werden.
Der eigentliche Eklat begann mit Schließung der Wahllokale um 17 Uhr. Bereits Minuten später gab Humberto Rubin vom bekannten Radiosender Nanduti Hochrechnungen bekannt, die die “Colorado”-Partei zur Siegerin erklärten. Diese Prognose beruhte auf willkürlichen Befragungen von WählerInnen beim Verlassen der Wahllokale. Offensichtlich wurden diese Aussagen gekauft. Pikanterweise unterlag gerade Radio Nanduti während der Stroessner-Diktatur harten Verfolgungen und direkten Repressalien durch die “Colorados”. Mit Bekanntgabe dieses “Ergebnisses” begannen sofort im ganzen Lande Siegesfeiern der AnhängerInnen der “Colorados”, deren Schar erstaunlich schnell um zahlreiche “ÜberläuferInnen” anwuchs.
Offensichtlich sollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Offizielle Angaben zu einem Teil der Wahlbezirke lagen dagegen erst 24 Stunden nach der Wahl vor. Gleichzeitig wurde die Auswertung der unabhängigen Initiative SAKA (Guaraní-Wort für Transparenz) von offizieller Seite lahmgelegt. Die staatliche Telefongesellschaft ANTELCO unterbrach unter dem Vorwand technischer Probleme, die eigenartigerweise nur bei SAKA auftraten, alle entscheidenden Telefonleitungen. Erst durch massive Einflußnahme des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der eine BeobachterInnengruppe leitete, intervenierte Präsident Rodríguez bei der Telefongesellschaft. Schließlich konnten die MitarbeiterInnen von SAKA doch noch ihre Ergebnisse zur Auswertung nach Asunción weiterleiten.
Die Parallelauswertung dieser Initiative bestätigte am Ende allerdings bis auf geringe Differenzen die offiziellen Wahlergebnisse. Die befürchtete Manipulation der Wahlergebnisse blieb anscheinend aus. Alles spricht indessen dafür, daß die “Colorado”-Partei darauf vorbereitet war, Wahlfälschungen vorzunehmen. Eine “interne” Stimmenauszählung, die den Sieg Wasmosys ergab, machte Manipulationen jedoch überflüssig.
Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen wurden auch durch die Tatsache genährt, daß am Wahltag völlig überraschend die Landesgrenzen geschlossen wurden. Eine Million ParaguayerInnen, die beispielsweise in Argentinien wohnen, wurden daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Die im Ausland lebenden ParaguayerInnen gelten fast ausschließlich als AnhängerInnen der Opposition.

Favorit der Militärs neuer Präsident

Eine Woche nach der Wahl lagen noch immer keine offiziell bestätigten Wahlergebnisse vor. Den bisher veröffentlichten Angaben zufolge, die aber kaum noch größeren Veränderungen unterliegen werden, wird Juan Carlos Wasmosy von der “Colorado”-Partei der neue Präsident Paraguays und Angel Roberto Seifert neuer Vizepräsident. Wasmosy erhielt 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, Laino 32 Prozent und Caballero Vargas 23,4 Prozent. Die “Colorados” verfügen über insgesamt 60 Senatoren und Deputierte, die Liberalen über 49 und die “Nationale Zusammenkunft” entsendet 16 Abgeordnete ins neue Parlament. Die “Colorado”-Partei wird zukünftig in 13 Provinzen und die Liberalen in vier Provinzen den Gouverneur stellen.
In Paraguay wird es von 1993 bis 1998 eine Regierung geben, die fast zwei Drittel der WählerInnen gegen sich hat. Die “Colorado”-Partei profitierte davon, daß zwei fast gleich starke Oppositionskandidaten gegeneinander antraten und sich die Stimmen streitig machten. Damit sind die Oppositionsführer mitverantwortlich für den Erfolg der “Colorado”-Partei, denn ein gemeinsamer Kandidat hätte gewiß die Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht.
Wie schon zu Zeiten der Stroessner-Diktatur macht sich der Mangel an politischer Zusammenarbeit zwischen den Oppositionskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Chance für einen politischen Wechsel und die Fortführung der Demokratisierung wurde für weitere fünf Jahre vertan. Allerdings ist die Opposition mit einer Mehrheit im Parlament jetzt seit Jahrzehnten erstmals in der Lage, in Paraguay Politik und gesellschaftliche Veränderung mitzubestimmen oder gar zu erzwingen, denn mit der neuen Verfassung sind auch die Rechte des Parlaments gewachsen. Es bleibt zu hoffen, daß sowohl die “Authentisch Liberal Radikale Partei” als auch die “Nationale Zusammenkunft” aus den Wahlen entsprechende Lehren gezogen haben und eine gemeinsame parlamentarische Arbeit anstreben. Die parlamentarische Zusammenarbeit könnte für die Wahlen von 1998 zu einer Listenverbindung der Oppositionsparteien führen, deren Erfolg dann den endgültigen Schlußstrich unter die Stroessner-Diktatur bedeuten könnte.

Plebiszit – Alles bleibt beim Alten

Debakel der ReformerInnen

Auf den ersten Blick kann die Entscheidung für das Präsidialsystem überraschen, und tatsächlich hatten die BefürworterInnen des Parlamentarismus noch Ende letzten Jahres fest mit einem Sieg gerechnet. Die Korruptionsaffäre um den damaligen Präsidenten Collor, die Schwierigkeiten einen einmal gewählten Präsidenten wieder abzusetzen, das extrem negative Image der letzten Präsidenten – all das schien ein günstiges Klima für den Parlamentarismus zu schaffen. Die wichtigsten VerfechterInnen formierten im “modernen” Flügel des bürgerlichen Lagers unter der intellektuellen Führerschaft der PSDB, die gerne eine brasilianischen Sozialdemokratie werden möchte. Die PSDB war die einzige größere Partei, die geschlossen für den Parlamentarismus eintrat. Für die VordenkerInnen der Partei sollte der Wechsel zum Parlamentarismus der große Schritt zur Modernisierung der brasilianischen Politik werden.
Das parlamentarische System sollte in den Konzeptionen seiner BefürworterInnen somit auch die Vorausetzungen für die Politisierung der brasilianischen Parteien schaffen. Diese müßten sich auf ein Regierungsprogramm einigen und könnten der von ihnen gewählten Regierung nicht nach Belieben das Vertrauen entziehen. Das jetztige System würde ein System der ad hoc Entscheidungen und des Kuhhandels begünstigen: Der vom Volk gewählte Präsident ist stark und schwach zugleich. Er ist durch die direkten Wahlen stark legitimiert, ist aber abhängig von einem Parlament, das völlig unabhängig von seinem Programm agiert. Dieses System hat dazu geführt, daß ein Großteil der Abgeordneten sich die Unterstützung für den Präsidenten “abkaufen” läßt, beispielsweise für Vergünstigungen, die der Heimatstadt des Abgeordneten zukommen. Abgeordnete stehen nicht primär für ein Programm einer Partei, sondern für ein Bündel partikularer Interessen, das sie vertreten. In Brasilien wird diese Politikform als “fisiologismo” bezeichnet. So richtig die Analyse der Fehler des derzeitigen politischen Systems sein mag, die BefürworterInnen des Parlamentarismus konnten damit kaum Anhängerschaft gewinnen. Zwar hat sich ein großer Teil des intellektuellen Brasiliens für den Parlamentarismus ausgesprochen, aber im Volk hat das nicht gegriffen. Warum ?

Parolen und Sandkastenspiele

Zunächst hatte das erfolgreiche Impeachment-Verfahren gegen Collor in gewisser Weise ein Hauptargument gegen das präsidiale System dementiert: daß ein einmal gewählter Präsident nicht mehr weg zu bekommen sei. Zum anderen ist es der Kampagne für das präsidiale System gelungen, mit einer groben Vereinfachung Punkte zu sammeln: “Sie wollen dir deine Stimme nehmen” und “Direktwahlen – immer”, das waren die Hauptparolen, unterlegt mit Bildern aus der Kampagne gegen die Militärdiktatur und für Direktwahlen. Demgegenüber verlor sich die Kampagne für den Parlamentarismus in komplizierten Begründungen, die niemand mehr verstand. Aber ein anderes Argument war wohl ausschlaggebend: der allgemein verbreitete Haß (Mißtrauen wäre zu schwach) gegenüber PolitikerInnen, schafft keinen Boden für ein System, das die Rolle der Abgeordneten stärken will. “Die einzige Konsequenz wird doch sein, daß der Preis für einen Abgeordneten steigen wird”, ist ein vielgehörtes Argument. Tatsächlich hatte die Argumentation für den Parlamentarismus viel von intellektueller Sandkastenspielerei, die sich eher aus europäischer Politikwissenschaft denn aus brasilianischer Realität speiste. Aber gerade die politische Realität Europas zeigt, daß Parlamentarismus völlig kompatibel ist mit übelsten Formen von Korruption und “fisiologismo”. Ein Detail macht die Niederlage der ParlamentaristInnen noch bitterer: wahrscheinlich hat die Mehrheit derjenigen, die für Parlamentarismus gestimmt hat, gleichzeitig auch für die Monarchie gestimmt: deren Vorschlag war eben Monarchie mit Parlamentarismus. Für den “modernen” Vorschlag Parlamentarismus mit Republik hat sich damit nur eine verschwindende Minderheit erwärmen lassen.
Die PT (Arbeiterpartei) hatte ihre liebe Mühe mit einer innerparteilichen Positionsfindung: Die Mehrheit der “VordenkerInnen” der Partei war für den Parlamentarismus, nach einigem Zögern auch der Parteivorsitzende Lula, ein Plebiszit in der Partei, das für die Positionsfindung angesetzt war, ergab aber einen überwältigenden Sieg für die Präsidialdemokratie. Viele sahen darin einen Opportunismus der Parteibasis, die auf einen Sieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr hofft. Dieses Argument hat zwar sicherlich eine Rolle gespielt, insgesamt wird sich die PT-Basis aber von denselben Überzeugungen hat leiten lassen wie die Mehrheit des Volkes.

Überdruß und Desinteresse

Wochenlang wurde vor dem Plebiszit das Fernsehvolk mit Propaganda zur besten Sendezeit (kostenlos eingeräumt) überschüttet. Der “Wahlkampf” reduzierte sich – abgesehen von einigen Diskussionsveranstaltungen – auf eine Fernsehschlacht auf niedrigstem Niveau. Nachdem die ParlamentaristInnen einsahen, daß ihre komplizierten Argumentationen niemand verstand, beantworteten sie die Kampagne der PräsidialbefürworterInnen auf gleicher Ebene: Sie zeigten Schockbilder vom heutigen Brasilien, Dürre im Nordosten, hungernde Kinder, Elend in den Städten etc. – unterlegt mit pathetischer Musik und einer donnernden Stimme: Elend und Hunger – das ist Präsidialsystem. Alles das half nur eine politische Debatte auf traurigstes Niveau einer Publicitykampagne herunterzuholen.
Die Mehrheit der Bevölkerung reagierte darauf mit Überdruß und konnte einfach nicht einsehen, warum sie den Hauptverantwortlichen nicht selbst wählen soll – auch wenn’s mit Collor beim letzten Mal einen kapitalen Fehlgriff gab. Bald zeigte sich auch ein allgemeines Desinteresse: angesichts von Wirtschaftskrise und einer Inflation von annähernd 30% im Monat sahen viele in dem ganzen Spektakel nur ein Ablenkungsmanöver der Herrschenden. Entsprechend hoch war der Anteil derjenigen, die nicht zu den Urnen gegangen sind.
Und die Konsequenz von all dem? Da die Meinungsverschiedenheiten quer durch fast alle Parteien gingen, kann kaum davon gesprochen werden, daß ein bestimmtes Lager gestärkt worden wäre. Lediglich das bürgerliche Reformlager ist um ein Kernstück seiner Änderungsvorschläge gebracht. Nur eins ist klar: jetzt wird der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 1994 noch intensiver geführt werden. Und in den ersten Meinungsumfragen führt Lula klar.

“Gefährliche Klasse”

Brasilien wird manchmal in seiner Sozialstruktur mit einer Schweiz und zwei Bangladeshs verglichen. In der Zone des Aufpralls zwischen diesen beiden Lagern befinden sich die Kinder und Jugendlichen. Daher die vielen Toten, die Todeskommandos. In den letzten Jahren ist in dieser Zone des Aufpralls auch eine politische Bewegung entstanden, die – anders als zahlreiche NGO’s – die Kinder nicht von der Straße holen, sondern mit ihnen die politischen Bedingungen fürs Überleben erkämpfen will. Man kann sich darüber streiten, ob diese Bewegung der ErzieherInnen in Wirklichkeit nur die Funktion hat, die Konfrontation ein wenig abzumildern. Festzustellen ist, daß ihr Platz vor Ort massiv – ja mit dem Mittel der bewaffneten Gewalt – bekämpft wird, und zwar von den Hütern der alten Ordnung.
Das “Straßenkinderkomitee Brasilien” (Treffpunkt im FDCL) hat Anfang April 1993 Volmer do Nascimento, einen der Gründer dieser politischen Bewegung der ErzieherInnen und Straßenkinder (MNMMR) eingeladen. Im Kulturhaus Berlin Mitte hielt er am 2.4.1993 einen Vortrag, am nächsten Tag gab es eine Diskussionsrunde im kleineren Kreis. Wir fassen im folgenden den Bericht und die Diskussionen in einem Themenaufriß zusammen.

Volmer do Nascimento – zur Person

Volmer do Nascimento betätigte sich in den 70er und frühen 80er Jahren in den Gewerkschaften. Er war Mitglied der kommunistischen Partei (PCB) und wechselte, als diese 1982 verboten wurde, zum legalen Sammelbecken der demokratischen Opposition PMDB. Seit 1985 ist er Mitglied der Arbeiterpartei (PT).
1985 übernahm er leitende Funktionen in der staatlichen Behörde FUNABEM (Stiftung der Kinder- und Jugendwohlfahrt) und begann in Duque do Caxias, einem Stadtteil von Rio de Janeiro, seine Arbeit mit Straßenkindern. Diese Arbeit vor Ort organisierte die Kinderpastorale, eine kirchlichen Institution, die – von der Befreiungstheologie inspiriert – den direkten Weg zu Kindern und Jugendlichen gesucht hat. Als 1986 einige Straßenkinder, mit denen Volmer zusammengearbeitet hatte, verschwanden und umgebracht wurden, begann er mit Untersuchungen zu den Hintergründen der Morde.
Volmer do Nascimento gehört zu den Gründungsmitgliedern des Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR), das seit 1985 besteht. Er hat seitdem zahlreiche Initiativen auf dem Feld des Kinder- und Jugendschutzes organisiert. Inzwischen ist er einer der international bekanntesten Verfechter der Rechte der Straßenkinder. In diesem Jahr sieht er sich besonderen Repressionen ausgesetzt, wie weiter unten ausgeführt wird.

ErzieherInnen und Straßenkinder organisieren sich

Gegen Ende der Militärdiktaturen in Südamerika erfuhren gerade die pädagogischen Bereiche eine Neubestimmung ihrer Aufgaben; es galt Erziehungsalternativen zum Autoritarismus zu entwerfen. Viele Gruppen von ErzieherInnen machten sich recht selbständig auf den Weg in die Favelas und auf die Straßen. Die Aufbruchstimmung in Brasilien entging den staatlichen und internationalen Einrichtungen nicht; sie versuchten, Impulse in diese Basisbewegungen hineinzutragen und die zahlreichen Gruppierungen durch koordinierte Förderung einzubinden.
UNICEF führte von 1983-85 zusammen mit dem Ministerium für Soziales auf Bundesstaatsebene (SAS) und der Stiftung für Kinder- und Jugendwohlfahrt (FUNABEM) ein Betreuungsprogramm für Straßenkinder durch, in dem partizipative Modelle der Erziehung erprobt werden sollten. Nach Auslaufen des UNICEF-Programms wurde auf einem nationalen Treffen die Gründung einer von Staat, Kirche und Parteien unabhängigen Organisation beschlossen. Auch inhaltlich wollte man sich stärker von sozialfürsorgerischen und paternalistischen Konzepten abgrenzen. Die politische Auseinandersetzung unter ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, Kindern und Jugendlichen stand im Vordergrund. So entstand 1985 das Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR). Die innere Struktur dieser Bewegung ist basisdemokratisch angelegt. Es gibt regelmäßige Diskussionen auf der Straße, in der Schule und im Stadtteil. Dort werden Kinder von ihren AltersgenossInnen gewählt, um so die Vertretung auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zu gewährleisten. Landesweit sind heute 3.000 ErzieherInnen dem MNMMR angeschlossen, und die Bewegung erreicht mehr als 80.000 Kinder und Jugendliche. Im Dezember 1992 hat in Brasilia der dritte Nationalkongreß des MNMMR mit 1.200 Kinder- und JugendvertreterInnen aus allen Landesteilen stattgefunden.
In der Selbstdarstellung des MNMMR wird betont, daß man “mit” statt “für” die Bevölkerung arbeite. Das kritische Bewußtsein solle gestärkt werden (nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen!), um dadurch zu einem Wandel der ungerechten Strukturen der Gesellschaft zu gelangen. Die Identität auch der Straßenkinder solle respektiert und davon ausgehend ein Lebensentwurf dieser Gruppen gesucht werden. Die Arbeitssituation, in der sich die meisten Kinder und Jugendlichen Brasiliens befinden, solle zum Ausgangspunkt genommen werden, damit die Arbeitenden selbst zu den Akteuren der Veränderung werden könnten.

Demokratie und Todesschwadrone

Der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie brachte in Brasilien nicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Die 80er Jahre bedeuteten auch für dieses Land eine Zunahme an Verarmung, Hunger und einen Rückgang der Löhne. Die sozialen Auseinandersetzungen haben sich verschärft. Noch nie wurden in Brasilien so viel Menschen auf dem Land wie in der Stadt durch staatliche und parastaatliche Repression umgebracht.
Die Doktrin der Militärdiktatur der 70er Jahre richtete sich mit Folter und Todesschwadronen gegen die politische Opposition. Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gibt die oberste Militärinstanz Brasiliens, die ESG, neue Richtlinien vor: In das Schußfeld geraten nun die “gefährlichen Klassen”, die Obdachlosen, die Plünderer, die Straßenkinder, die Homosexuellen und HIV-Positive. Nach dieser neuen, nach der “Sozialhygiene” ausgerichteten Doktrin soll die Armut durch die Vernichtung der Armen bekämpft werden. Diese Ideologie ist in den letzten Jahren in Brasilien durchaus gesellschaftsfähig geworden: Die neuen Todesschwadrone (escuadrôes de exterminio) werden nicht nur von Militär und Polizei gebildet. Auch Geschäftsleute, Richter und hohe Politiker erteilen “Exterminio”-Aufträge an private Sicherheitsdienste und Killerkommandos.
Nach einem parlamentarischen Untersuchungsbericht (1992) wurden in Brasilien zwischen 1987 und 1991 über 16.000 Kinder ermordet, 80% von ihnen Schwarze. Nach offiziellen Angaben werden in Brasilien täglich vier Kinder umgebracht, das MNMMR geht von täglich sieben bis acht Morden an Kindern aus. Während in Sâo Paulo die (Militär-)Polizei aktiv wird – von zehn Morden gehen nach Schätzungen sechs auf das Konto der Polizei – sind in Rio de Janeiro ganze Stadtviertel in der Hand von Todesschwadronen.
Parallel zu dieser Entwicklung der tausendfachen Morde formte sich der brasilianische Staat zu einer Verfassungsdemokratie um. Es gab eine sehr breite Diskussion um die einzelnen Artikel der Verfassung, die schließlich 1988 verabschiedet wurde und 1990 in Kraft trat. Auch das MNMMR beteiligte sich an der Ausarbeitung eines in der Verfassung verankerten Statuts der Kinder- und Jugendlichenrechte. Laut UNO hat Brasilien eines der fortschrittlichsten Kinder- und Jugendschutzgesetze.
Die Jugendrechtsreform hat in einigen Bereichen tatsächlich enorme Umbrüche ausgelöst. Die frühere Form der staatlichen Kinderfürsorge, die Kinderverwahranstalten, die eher Gefängnissen glichen, wurde weitgehend abgeschafft. Es gab keine Nachfolgeeinrichtungen. Von den Vorteilen des Gesetzes haben die Kinder und Jugendlichen allerdings bisher kaum etwas zu spüren bekommen. Die Auflösung von staatlichen Erziehungsanstalten, die Schließung von Heimen hat viele Kinder auf die Straße entlassen, so daß sich die Todesschwadrone mehr denn je berufen fühlen, Minderjährige zu foltern und umzubringen. Daß den Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, mehr Rechte eingeräumt werden als früher, sehen die Todeskommandos und ein Teil der (zivilen!) Gesellschaft als Provokation.
In anderen Bereichen hat die Jugendrechtsreform nichts verändert. Nach wie vor werden in wohl allen Gefängnissen und auf vielen Polizeistationen dauerhaft Kinder und Jguendliche festgehalten – illegal wie auch zuvor.
Nach dem Geist der Verfassung sollte an die Stelle der Kinderverwahranstalten eine ausdifferenzierte Form der Gesellschaftskontrolle treten. Auf kommunaler wie auf regionaler und nationaler Ebene wurden gewählte Gremien eingesetzt, die zur Hälfte aus staatlichen Vertretern und zur Hälfte aus der “Zivilen Gesellschaft” stammen. Im strafrechtlichen Bereich sollen Vormundschaftsräte erzieherische und disziplinarische Maßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche beschließen können und ihre Durchführung überwachen. Diese Gremien und vor allem die Vormundschaftsräte sind unterdes auf viel Widerstand gestoßen. Vor allem Polizisten und Richter, die bisher über uneingeschränkte Kompetenzen verfügten, wollen die Beschneidung ihrer Macht nicht hinnehmen. In ihrer Befürchtung, daß “der Gesellschaft” zuviel Macht zugestanden wird, haben Politiker inzwischen über 150 Gesetzvorlagen zur stückweisen Abschaffung dieses Statut eingereicht. Wenn im Oktober 1993 über eine Verfassungrevision entschieden wird, befürchtet das MNMMR die gänzliche Abschaffung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes.
Das MNMMR sieht zur Zeit einen wichtigen Kampf in der Durchsetzung und Verwirklichung des Statuts. Es sieht das Statut als Bestandteil einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. In diesem Sinn mobilisiert die Bewegung nun die Kinder, damit diese ihre Rechte einklagen und damit die Regierung gezwungen wird, sich um die Belange der Kinder zu bemühen.

Repressalien gegen MNMMR

Die ErzieherInnen des MNMMR haben angefangen die Morde an den Kindern anzuprangern und die gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen zu benennen, die hinter den Todesschwadronen stehen, – so wurden die Namen von Geschäftsleuten, Richtern, Politikern und Polizeipräsidenten bekannt. Seitdem werden Personen des MNMMR verfolgt und bedroht. Volmer do Nascimento berichtete, daß von den sechzig Kindern, mit denen er in der Kinderpastorale in Duque de Caxias arbeitete, einundzwanzig Kinder in neunzehn Monaten umgebracht wurden, und zwar von den Escuadrôes de Exterminio, die im Auftrag von Geschäftsleuten handelten. Schließlich kamen auf starken Druck hin staatliche Ermittlungen in Gang. Es wurde festgestellt, daß die Zahl der ermordeten Kinder in Duque de Caxias noch weitaus höher lag. 147 Kinder waren laut dieser staatlichen Ermittlung allein in diesem Stadtteil und 427 Kinder in der Baixada Fluminense, also dem gesamten Bezirk, im gleichen Zeitraum (bis Juni 1988) umgebracht worden. Unterstützt von Amnesty International reichte das MNMMR eine Klage wegen dieser Morde ein. Obwohl die Namen der Mörder bekannt waren, wurde niemand festgenommen oder zur Rechenschaft gezogen.
Eine 500-seitige Untersuchung, die Volmer do Nascimento mit der Staatsanwältin Tania Moreira 1989/90 erarbeitete und 1991 vorlegte, versammelte eindeutige Beweise unter anderem gegen vier Richter aus Duque de Caxias. Einer der Anführer der Todeschwadrone war demnach ein Gerichtsdiener beim Amtsgericht dieses Stadtteils.
Zwei Richter strengten daraufhin einen Prozeß wegen Verleumduung und übler Nachrede gegen Volmer do Nascimento an. Sie verloren den Prozeß, weil Volmer Beweise in der Hand hatte, die aus den Büros der Richter entwendet worden waren, und die die Richter nicht zum Gegenstand des Verfahren machen wollten, weil sie sich damit allzu kompromittiert hätten. Der Justizminister Brasiliens mußte eingestehen, daß Luis Cesar Bittencourt, immerhin Präsident des Gerichtshofs von Rio de Janeiro, mit Hilfe des Richters Rubens Medeiros jahrelang Kriminellen Schutz gewährt hat.
Seitdem häuften sich Morddrohungen gegen Volmer. Anfang 1991 bekam er auf Anweisung des Präsidenten Brasiliens Polizeischutz, allerdings eher zu seiner Überwachung als zu seiner Sicherheit. Im April 1991, kurz nachdem dieser zweifelhafte Schutz unangekündigt eingestellt wurde, wurde Volmer für 43 Stunden von Unbekannten entführt und wieder freigelassen. Die Polizei ermittelte nicht wegen der Entführung, stattdessen erhielt Volmer seinen nächsten Prozeß. Nochmals klagten ihn Richter wegen Verleumdung und übler Nachrede an. Volmer hatte nicht ausgeschlossen, daß dieselben namentlich bekannten Hintermänner der Todesschwadrone auch hinter seiner Entführung gestanden hätten. Zudem wurde auf richterlichen Beschluß das Kinderhaus der Kinderpastorale in Duque de Caxias geschlossen, unter dem Vorwand, daß die Kinder dort zum Klebstoffschnüffeln animiert würden.
So wurde Volmer im November 1992 zu insgesamt sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das Strafmaß übersteigt das für das Delikt vorgesehene Höchstmaß um fünf Jahre. Wahrscheinlich läuft im Mai 1993 die Revision des Prozesses. Falls das Urteil bestätigt wird, muß Volmer befürchten, daß er die Gefängnisstrafe antreten muß und das Gefängnis nicht lebend verlassen wird.

Colonia Dignidad vor dem Aus?

Auseinandersetzungen vor Gericht

Bereits im Februar 1991 hatte Präsident Patricio Aylwin ein Dekret erlassen, nach dem der “Sociedad Benefactora Colonia Dignidad” der Status als eigenständige Gesellschaft und damit als “Staat im Staate” entzogen werden sollte. Dieser von der Presse international gefeierte Schritt der chilenischen Regierung erwies sich allerdings recht schnell als “Schuß in den Ofen”, denn die Dignidad-Anwälte gingen wie erwartet in Berufung, indem sie das Dekret des Präsidenten als nicht “verfassungsgemäß und willkürlich” bezeichneten. Der Fall wurde dem Corte Suprema (dem Obersten Gerichtshof Chiles, ein Tribunal aus neun Pinochet-treuen Richtern) übergeben, und die chilenische Öffentlichkeit hörte eineinhalb Jahre nichts mehr von dem Fall, bis im September der Corte Suprema dem Einspruch der Colonia stattgab und Aylwins Initiative als nicht verfassungskonform bewertete. Über die darauf folgende Berufungsklage der chilenischen Regierung entschied jetzt das Berufungsgericht. In dem Urteil werden die Anschuldigungen der Colonia-Anwälte und damit auch das Urteil des Corte Suprema zurückgewiesen. In der Begründung heißt es, die Entscheidung Aylwins sei als fester Bestandteil des chilenischen Bürgerlichen Gesetzbuches bezüglich der Befugnisse des Präsidenten durchaus verfassungskonform. Gegen die angebliche Willkürlichkeit wendeten die Richter ein, daß die Maßnahme ein Ergebnis umfangreicher Untersuchungen gewesen seien. Außerdem hätten sowohl der chilenische “Rat zum Schutze des Staates” als auch die staatliche Finanzbehörde dazu geraten. Zudem habe es während der Zeit der Militärdiktatur über 100 solcher Fälle gegeben, in denen die Berufungsklage der Gesellschafts-Eigner jedesmal abgelehnt wurde. Warum also bei der Colonia jetzt anders verfahren?

Suche nach Beweismaterial

Der “Fall Dignidad” hat aber im Augenblick noch eine ganz andere Brisanz. Im Zusammenhang mit Nachforschungen über 21 Personen, die während der Militärregierung in Parral (ein Ort nahe der Colonia Dignidad) zwischen 1973 und 1974 verschwunden sind, stieß der Richter des 7. Kriminalgerichtes, Lientur Escobar, auf eindeutige Hinweise für eine Zusammenarbeit zwischen der DINA (chilenischer Geheimdienst während der Diktatur) und der Colonia Dignidad. Vermutungen hatte es darüber schon seit langem gegeben, unter anderem durch Zeugenaussagen von Gefolterten, die überzeugt waren, in der Colonia gefoltert worden zu sein. Bisher gab es aber kein Beweismaterial, das für eine Anklage gereicht hätte. Escobar fand im Februar heraus, daß das Haus des ehemaligen DINA-Chefs in Parral, Fernando Gómez Segovia, der Colonia gehörte. Dafür gibt es Verkaufsbelege. Zudem sagte ein Verwandter Segovias aus, zwischen der Familie des DINA-Chefs und den Obersten der Colonia hätten freundschaftliche Kontakte bestanden. Anfang März ordnete Escobar eine umfangreiche Untersuchung sowohl des Colonia-Geländes als auch sämtliche Akten der Gesellschafter an. Zudem beantragte er zu überprüfen, ob die Colonia zwischen 1973 und 1975 einen Antrag auf Anlage eines Friedhofes gestellt hatte. Zusätzlich wollte Escobar Daten über sämtliche Deutsche haben, die sich nach 1960 in Chile angesiedelt haben und die Akten der Miltärschule in Linares (in der Nähe der Colonia) untersuchen, in der unter anderem DINA-MitarbeiterInnen ausgebildet wurden.

Eine neue Qualität ?

Der erste Schritt gegen den Richter erfolgte bereits Ende Februar. Das Berufungsgericht (das gleiche Berufungsgericht, das jetzt den Colonia-Einspruch abgewiesen hat) entschied, den Fall dem zivilen 7. Kriminalgericht zu entziehen und ihn dem 3. Militärgericht in Concepción zu übergeben. Damit war für eventuell verwickelte Militärs und Verantwortliche die Gefahr gebannt – bei einer Untersuchung des Falles durch die Militärs laufen sie kaum Gefahr einer Bestrafung, zumal für den fraglichen Zeitraum das Gesetz der Generalamnestie für Menschenrechtsverletzungen (bis 1978) gilt.
Am 10. März kam für Escobar das “Aus”: Der “Corte Suprema” enthob ihn seines Amtes mit der Begründung, der Richter habe im Fall Parral nicht objektiv genug und damit nicht im Sinne eines Richters gearbeitet. Die Absetzung Escobars hat in Chile eine Welle des Protestes von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgelöst.
Dennoch hat der Richter einen Prozeß in Gang gesetzt, den auch der “Corte Suprema” nicht so schnell wird stoppen können. Denn die Anordnungen, die er noch vor seiner Amtsenthebung getroffen hat, müssen ausgeführt werden. Und das ist eine spezielle Untersuchung der Colonia Dignidad, mit Schwerpunkt bei den Finanzgeschäften der Gesellschaft.
Derartige Untersuchungen hat es allerdings schon Dutzende gegeben, und bisher ist dabei nicht viel herausgekommen. Bisher konnte sich die Colonia aber auch immer auf ihren Rechtsstatus als Gesellschaft berufen, und der wird ihr jetzt entzogen.

Im folgendem dokumentieren wir ein Interview mit Julia Urquita, der Rechtsanwältin von CODEPU (chilenische Menschenrechtsorganisation) zum Fall “Parral”:

LN: Gibt es Hoffnung, im Fall “Parral” noch etwas zu ändern?
Julia Urquita: Wir haben eine Berufungsklage eingelegt, um den Fall zumindest in der Schwebe zu lassen. Das bedeutet in der Praxis, daß gegen die fünf Hauptangeklagten – unter ihnen ist auch der EX-DINA-Chef Segovia – weiterhin ermittelt wird, und daß die beiden von ihnen, die in Haft sind, zunächst nicht freikommen. Außerdem kann der Fall solange nicht an die Militärjustiz übergeben werden, bis der “Corte Suprema” darüber entschieden hat. Wenn Du mich also fragst, ob es Hoffnung gibt … es gibt immer Hoffnung, solange noch nichts entschieden ist. Wenn wir uns aber die juristische Praxis des Corte Suprema anschauen, sage ich Dir, daß unsere Hoffnung nicht groß ist, denn gerade vor einigen Tagen wurden zwei sehr ähnliche Fälle der Militärjustiz übergeben.

LN: Hat Escobar auch die Möglichkeit, Berufung einzulegen?
Julia Urquita: Escobar hat bereits beantragt, seine Qualifikation noch einmal zu überprüfen.

LN: Kann er dabei politische Gründe angeben?
Julia Urquita: Offiziell nicht, aber er hat in seiner Verteidigungsschrift einige Punkte angeführt, die klar auf eine politische Entscheidung hindeuten. So fragt er zum Beispiel, wie es möglich sei, daß er noch letztes Jahr, bevor ihm der “Fall Parral” übertragen wurde, als “gut” qualifiziert wurde, jetzt aber durchgefallen ist.

LN: Welches ist die Position von CODEPU zu den Vorgängen?
Julia Urquita: Wir haben uns öffentlich mit Escobar solidarisiert und verlangt, daß ihm seine frühere Verantwortung im “Fall Parral” wieder übertragen wird. Wir glauben, daß es sich hier um politische Verfolgung handelt, weil es anderen Richtern in ähnlichen Fällen genauso ergangen ist.

LN: Ist dieses “Übergeben an die Militärjustiz” eine normale Praxis?
Julia Urquita: Bisher leider ja. Und bisher ist es uns nicht gelungen, den “Corte Suprema” zu entmachten.

LN. Gab es bisher Anstrengungen von Seiten der Regierung, in diesen Fällen zu intervenieren?
Julia Urquita: Bisher leider nicht. Die Regierung hat sich bisher bei keinem der Fälle von Menschenrechtsverletzungen eingemischt, bis auf den “Fall Letelier”*, aber der ist auch sehr speziell.

LN: Haben sie denn die Möglichkeit, sich einzumischen?
Julia Urquita: Haben sie. Es gibt keine gesetzliche Regelung, die dem entgegensteht.

LN: Was passiert jetzt im Fall “Colonia Dignidad”?
Julia Urquita: Die Anwälte haben wieder Berufung eingelegt, aber die Chancen sind gering, daß dem Einspruch stattgegeben wird. Bei Entzug des Rechtsstatuses wird der Besitz der Colonia an eine andere Gesellschaft zur Verwaltung übergeben, vor zwei Jahren war die Rede von einer kirchlichen Organisation.

* Der Fall Letelier: Letelier war Minister unter Allende; er wurde im September 1976 im Exil Opfer eines Bombenattentates der DINA in Washington D.C. Vergeblich drängte die US-Regierung das Pinochet-Regime, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Erst unter Aylwin wird jetzt dem EX-DINA-Chef Contreras der Prozeß gemacht

Das “Barrio Sur”

Bis zur Unabhängigkeitserklärung Uruguays 1830 war das auf einer Halbinsel liegende Montevideo durch eine Stadtmauer gegen feindliche Angriffe geschützt, aber auch in sei­ner flächenmäßigen Ausdehnung eng begrenzt. Das erste Stadtviertel, das nach dem Abbruch dieser Mauern entstand, war das Barrio Sur, das “Stadtviertel Süden”.
Die Bewohner des Barrio Sur waren im allgemeinen Arbeiter unter­schiedlichster Herkunft: Spanier, Ita­liener, Schwarze und auch in die Stadt gezogene Bewohner aus dem Landesinneren. Später ließen sich hier auch Einwanderer jüdischer Abstammung nieder und fügten der farbigen Welt des Barrio Sur eine neue Schattierung hinzu.

“Die Candombe genannten Tänze mit dem Einsatz von Trommeln sind innerhalb der Stadt verboten und nur an Feiertagen direkt am Meer südlich der Stadt erlaubt; um 9 Uhr abends müssen sie beendet sein.” (Polizeierlaß vom 28.6.1839)

Im Barrio Sur entstand die Tradition des uruguayischen Kar­nevals. Die Gemeinschaften der Schwarzen bildeten die kon­kurrierenden Karnevalsgrup­pen, die mit dem lauten Rhythmus ihrer Trommeln die Straßen und die Nächte bevöl­kerten.
Der Candombe ist eine Mischung aus Weinen und Hei­terkeit, der in seinen Noten etwas von dem Schmerz beinhaltet, den die Ketten der Ver­gangenheit hinterließen, und ein wenig der Heiterkeit und Unbefangenheit, die das heu­tige Lächeln der Freiheit der Schwarzen erleuchten.
Die Wohnform des einfachen Volkes im Barrio Sur waren die “Conventillos” genannten großen Mietshäuser, in denen Bad, Küche und Wasserstelle gemeinsam beutzt wurden. Viele Frauen im Barrio Sur waren Wäscherinnen und wuschen morgens in den Innenhöfen des Conventillo die Wäsche der reichen Familien von Montevideo. Die von Wand zu Wand gespannten Wäscheleinen in den Patios wurden so zu einem typischen Bild der Conventillos.
Die ersten Conventillos wurden von Spekulanten erbaut, die allein an möglichst hohem Profit interessiert waren und sich um die hygienischen Bedingungen in den Häusern nicht kümmerten. Schwere Erkrankungen der Bewohner waren oft die Folge. Erst 1865 wurde die erste Vorschrift zu öffentlicher Hygiene erlassen, 1911 sollten gar alle Conventillos per Gesetz geschlossen werden, was jedoch scheiterte.
Das Gasometer, das am Rande des Barrio Sur erbaut wurde, war auch einer der Gründe, warum sich hier vor allem arme Leute niederließen. Man hatte damals Angst vor den giftigen Dämpfen dieser Anlage.
1885 entstand das “Conventillo de Cuareim”, ein für die damalige Zeit enormer Bau, der den Beinamen “Medio Mundo” erhielt, weil er so groß war, daß hier die “halbe Welt” unter­kam. In den 52 Räumen des Medio Mundo lebten über 150 Menschen, überwiegend Schwarze. Das Medio Mundo wurde zum “Tempel des Candombe” und hatte seine eigene Karnevalsgruppe, die “Morenada”.
Ein Gesetz der Militärdiktatur vom 8. Oktober 1979 gab 57 historische Gebäude Montevideos zum Abriß frei, darunter auch das Medio Mundo. Die Bewohner wurden auf die Straße gesetzt und durften nur das Not­wendigste mitnehmen, die Betten, einen Tisch, vier Stühle, einen Schrank. Man verbot ihnen, die Trommeln mitzunehmen. So wollte die Diktatur auch noch dem Barrio Sur die Seele nehmen.
Während der Militärdiktatur wurden direkt an der Rambla, der Küsten­straße, Appartement-Hochhäuser er­richtet, die den meist ein- oder zwei­geschössigen Wohnhäusern des alten Barrio Sur den Blick auf’s Wasser ver­sperren.
Mit den modernen Wohntürmen kamen aber vor allem auch Leute aus einer anderen Schicht: Sie sind relativ wohlhabend und meiden den Kontakt zu den Bewohnern des Barrio Sur so weit es geht. Sie wollen nicht, daß ihre Kinder mit denen des Viertels spielen, die Kultur des Barrio Sur, die Trommeln und der Candombe, sind ihnen fremd.

“Vorher war es anders hier im Barrio – seit die Leute aus den Appartements hierhergekommen sind, hat sich alles verändert.”

“Früher bin ich am Wochenende immer zu den Sportpläzen an der Rambla ‘runtergegangen, da gab es viele. Für Kinder, für Erwachsene, wir haben alle gespielt. Jetzt gibt es dort nur die Hoch­häuser, und nur ein winziger Sportplatz ist übrig, und die Leute kommen nicht mehr…”

“Jetzt ist alles anders, alles ist moder­ner… Es gibt so viele hohe Häuser, daß man nicht mehr die Sonne sehen kann!”

Seit Ende 1989 das Linksbündnis Frente Amplio mit Tabaré Vázquez den Bürgermeister der uruguayi­schen Hauptstadt stellt, hat sich auch im Barrio Sur einiges verändert. Im Juli vergangenen Jahres wurde der älteste Teil des Viertels, vor allem die zentrale Straße “Carlos Gardel” und die meisten ihrer Querstraßen zum Patrimonio Cultural, zum “schützenswerten Kulturgut” erklärt: “Alle Veränderungen, Erweiterun­gen, Sanierungen oder Neubauten mssen sich in die vorherrschenden Charak­teristika der Straße oder des Häuser­blocks einfügen.”
Die Absicht ist das Viertel, seine Straßen und seine Häuser zu renovie­ren, ohne jedoch mit horrenden Mietsteigerungen die dort ansäßigen Bewohner zu vertreiben. Das Geld dazu kommt großteils aus Spanien, an den Projekten und Plänen arbeiten Architekturstudenten der Uni von Montevideo mit. Aber vor allem sol­len die Bewohner bei der Planung ihres Viertels mitmachen, helfen, kri­tisieren, Ideen vorschlagen. Auch die, die das Barrio verlassen mußten, sind eingeladen – letztendlich all jene, die wollen, daß das Barrio Sur das Barrio Sur bleibt.
Ein Projekt: Für die Jugendlichen des Barrio Sur soll die Möglichkeit zu einer Berufsausbildung geschaffen werden. Bei der hohen Arbeitslosig­keit Uruguays und der wirtschaftli­chen Misere ihrer Familien sehen viele keine Perspektive für sich, flüchten sich in Alkohol und Drogen, beginnen zu stehlen oder wandern aus. Nur wenige beenden die Schule oder erlernen gar einen Beruf. So sollen im Barrio selbst Ausbildungs­werkstätten geschaffen werden.
Ein Gebäude dafür ist bereits gefun­den: Das alte “Edificio Talleres”, das auch bei seiner Errich­tung schon für Werkstätten vorgese­hen. Später wurde es als Lagerraum, aber auch als Vorberei­tungsraum für die großen Karnevals­umzüge verwendet. Seit einigen Jah­ren steht es leer. Nun sol­len hier eine Drucke­rei, eine Tischlerei und Werkstät­ten für Schuhe und für Schmuck entstehen – und auch für den traditionellen Trommelbau des Barrio Sur.

Adiós Juventud

Adiós Barrio Sur
El tiempo no pasa en vano
Adiós Barrio Sur la mano
De unos cuantos fue cruel
No les convenció
El borocotó
Un nuevo cemeterio ven
Les parece bien
Adiós a Cuareim…

Adios, Du meine Jugend

Adios Barrio Sur
Die Zeit vergeht nicht ohne Sinn
Adios Barrio Sur, die Hand
Von einigen war grausam
Der Klang der Trommeln
Überzeugte sie nicht
Sie sehen einen neuen Friedhof
Haltet Ihr das für gut
Adios Cuareim

(Aus einem Lied von Jaime Roos)

Erziehung zum Kapitalismus?

Anfang Februar dieses Jahres setzte das Rotationsroulette der argentinischen Regierungsposten wieder ein und ließ den bisherigen Außenminister Domingo Cavallo (s.LN 200) zum neuen Chef des Wirtschaftsministeriums avancieren. (s.Kasten) Damit soll versucht werden, die argentinische Bourgeoisie zum Kapitalismus zu erziehen. Zwei Wochen zuvor hatte bereits ein Korruptionsskandal zur völligen Kabinettsumbildung geführt . Der seitdem amtierende Verteidigungsminister Guido Di Tella nahm im Februar Cavallos Außenministerposten ein, der bisherige Wirtschaftsminister “Sup”-Ermán Gonzales wurde neuer Verteidigungsminister. Köpfe sind eben beliebig austauschbar. Die Wirtschaftspolitik wird unter Cavallo allerdings bezüglich des eingeschlagenen neoliberalen Kurses der peronistischen Regierung kontinuierlich bleiben. Diese drei modernisierungswilligen Ökonomen sollen unter der Leitung von Cavallo eine Art Mini-Kabinett bilden, was die starke Position des neuen Wirtschaftsministers zeigt.

Der ökonomische Putsch

Mitte Januar wurde die Position des damaligen Wirt¬schaftsministers Gonzales zunächst gestärkt. Im Zuge der Umbildungen nach dem Korruptionsskandal innerhalb der Regierung wurde das Ministerium für öffentliche Dienstleistungen und Staatsbetriebe aufgelöst und dessen Aufgaben Gonzales direkt übertragen. Gerade innerhalb dieses Ministeriums, das für die Privatisierung der Staatsbetriebe zuständig ist, war es in der Vergangenheit immer wieder zu Korruptionsfällen gekommen. Im Anschluß präsentierte “Sup”-Ermán dann eine neue Anpassung seines Wirtschaftsplans (die sechste innerhalb eines Jahres), welche vor allem rigorose Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und Korruption vorsahen. Die Steuern sollten in fast allen Bereichen erhöht werden, um das chronische Haushaltsdefizit des argentinischen Staates (4,5 Mrd. US-Dollar) zu senken. Gleichzeitig sollten Steuerhinterzieher mit hohen Strafen rechnen. Als Bonbon bot Gonzales der argentinischen Bourgeoisie zwar an, ihre Dollars nun legal auf Auslandskonten anlegen zu dürfen – geradezu eine Aufforderung zur Kapitalflucht – doch den wirtschaftlichen Machtgruppen gingen diese Ankündigungen zu weit.
“Diese ökonomischen Tendenzen können uns in eine sehr delikate Situation bringen, sollten sie nicht korrigiert werden”, sagte der Präsidentenberater für Wirtschaftsfragen und Auslandsverschuldung Alvaro Alsogaray bei seinem Rücktritt Mitte Januar. Diese Aussage des ultraliberalen Ökonomen hätten eine Warnung für den Wirtschaftsminister sein können. Gerade mit Alsogaray hatte es in den vergangenen Monaten immer wieder Differenzen bezüglich der Wirtschaftpolitik gegeben. Doch alle Warnungen schienen nichts zu helfen, Gonzales blieb bei seinen Maßnahmen.
Ende Januar wurde dann durch eine gezielte Intervention der argentinischen Wirtschaftsgruppen auf dem Finanzmarkt die Inflation erneut angeheizt. Die Wirtschaftsbosse agierten ähnlich wie im Frühjahr 1989. Damals wurde durch eine inszenierte Erhöhung der Dollarnachfrage die Hyperinflation in Gang gebracht, die nicht nur den argentinischen Austral binnen eines Monats um 200% an Wert verlieren ließ, sondern auch zu landeswei¬ten Plünderungen und dem vorzeitigen Rücktritts von Menems Vorgänger Alfonsín führte (LN 183/4). Der Dollar stieg diesmal innerhalb weniger Stunden um 25% und die Tageszeitungen konnten am nächsten Tag titeln: “Der Dollar schlug Ermán k.o.”. “Gonzales hat den Kampf gegen seine Feinde verloren”, kommentierte freimütig ein Großunternehmer. Der Wirtschaftsminister zog es vor, mit seinem gesamten Stab zurückzutreten, anstatt weitere Maßnahmen zu ergreifen.

Die grauen Eminenzen der argentinischen Politik

Inflation entsteht allerdings nicht aus heiterem Himmel, sie wird in Argentinien gezielt als machtpolitische Waffe angewandt. Um diesen Mechanismus zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die argentinische Geschichte notwendig:
Ab 1976 setzte eine der blutigsten Militärdiktaturen Lateinamerikas ein neues ökonomisches Akkumulationsmodell durch. In den vorhergehenden Jahrzehnten sorgte die traditionelle Rivalität zwischen der Agraroligarchie auf der einen und der Industriebourgeoisie auf der anderen Seite für die charakteristische politische Instabilität des Landes: Innerhalb kürzester Zeit wechselten die Regierungen, je nachdem welche politische Allianz sich aus den Wirtschaftgruppen, den Militärs und anderen gesellschaftlichen Einflusgruppen zusammengesetzt hatte. Keine dieser konkurrierenden Allianzen war in den 50er und 60er Jahren mehrheitsfähig. Entsprechend lösten sich kurze Phasen der liberalen Exportorientierung und Außenöffnung mit binnenwirtschaftlichen Entwicklungsmodellen ab. Während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) wurde dieser alte Interessengegensatz aufgehoben. Gemeinsam mit der dann entstandenen Finanzbourgeoisie, welche ihre Gewinne ausschließlich aus dem lukrativen Geschäft der Finanzspekulation auf dem argentinischen Devisenmarkt schöpft, beherrschen diese Gruppen (grupos económicos) die wirtschaftliche Entwicklung. Ihre Interessensvertretungen und Verbände bilden heute eine einheitliche Gruppe. Während der Diktatur hat sich das Kapital enorm konzentriert: Durch umfangreiche Firmenaufkäufe wurde die Anzahl der argentinischen Großkonzerne immer geringer, ihre Tätigkeit hingegen diversifiziert. So sind heute alle argentinischen Großunternehmen in mehreren Branchen gleichzeitig aktiv. Dies ermöglicht es ihnen, sich je nach Konjunktur wechselweise auf verschiedene Sektoren zu konzentrieren. Die klassische Trennung zwischen Agrar- und Industriesektor wurde aufgehoben.
Die völlige Liberalisierung der argentinischen Wirtschaft, die die Militärs durchsetzten, ließ die exportorientierten Großbetriebe wachsen, während die binnenmarktorientierte Kleinindustrie zugrunde ging. Viele Unternehmen waren durch die rigorose Öffnung für Importe nicht mehr konkurrenzfähig, so daß eine regelrechte De-Industrialisierung einsetzte.
Die Interessen der großen Wirtschaftsgruppen gehen mit denen der Auslandsbanken einher. Eine möglichst hohe Exportquote sorgt für zusätzliche Einnahmen des Staates, der dann damit die Zinsen auf die Auslandsschulden bezahlen kann. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist allerdings der parasitäre Charakter der argentinischen Bourgeoisie. Sie will zwar ihre Profite vergrößern, dies allerdings lieber mit Finanzspekulation als mit produktiven Investitionen. Entsprechend versuchte der Staat durch Investitionssubventionen diese Aufgabe der Privatwirtschaft zu übernehmen. Neun von zehn der von Großkonzernen investierten Dollars sind Subventionnen des Staates.

Der Druck auf die “demokratischen” Regierungen

Der demokratisch gewählte Präsident Alfonsín scheiterte letzlich an der Konfrontation mit den herrschenden Unternehmensgruppen. Menem setzte hingegen in offener Allianz mit dem Großkapital (sein erster Wirtschaftsminister entsprang dem argentinischen Multi Bunge y Born) das liberale Export-Modell weiter fort. Die Macht der Wirtschaftsgruppen ist letztlich für jede Regierung Argentiniens entscheidend. Sie benutzen die demokratischen Regierungen, egal welcher Couleur, lediglich dazu, ihre Profite zu sichern und zu vergrößern. Sollte es dennoch eine Regierung wagen, in Kenntnis dieses entscheidenden Machtfaktors dessen Interessen einzuschränken, etwa indem höhere Steuern eingeführt werden, so wird durch einen ökonomischen Putsch klargemacht, wer die eigentlichen Machthaber im Land sind.
Die wenigen Großkonzerne intervenieren gezielt auf dem Devisenmarkt und kaufen Dollars in Massen. Dadurch erhöht sich die Anzahl der in Umlauf befindlichen argentinischen Australes. Geschieht dies in ausreichendem Umfang, setzt umweigerlich die Inflation ein. Dieses Spiel findet zudem nicht irgendwann, sondern meistens im argentinischen Sommer statt. Das Motiv dafür ist simpel: Die Agrarexporteure erzielen in den Monaten Dezember bis Februar ihre größten Dollar-Erlöse. Diese wollen sie natürlich dann durch die Spekulation auf dem Finanzmarkt zu einem möglichst günstigen, das heißt hohen Wechselkurs tauschen. Wird der Dollar künstlich niedrig gehalten, inszenieren sie die Inflation, damit letztlich der Wechselkurs freigegeben wird und sie ihre Gewinne erhöhen können. Das Geschäft besteht darin, zunächst Dollars in Australes zu tauschen. Diese werden dann zu dem sehr hohen, über der Inflation liegenden Zinskurs für einige Tage oder Monate angelegt und dann wieder in Dollars umgetauscht. Die so vermehrten Dollars transferieren sie dann auf ihre Auslandskonten: Kapitalflucht, wie das so schön heißt.
Diese Kapitalflucht hat in Argentinien einzigartige Ausmaße angenommen. Auf den Auslandsbanken der Großkonzerne befinden sich Devisen in Höhe der Auslandsverschuldung Argentiniens, also um die 65 Mrd.(!) US-Dollar. Jährlich vergrößert sich diese Summe um 1,2 bis 1,5 Mrd. US-Dollar. Ein lukratives Geschäft.
Auf diese Art und Weise sind im Frühjahr 1989 Alfonsíns Wirtschaftsminister Sourouille, im Dezember 1989 Menems Wirtschaftsminister Rapanelli und nun “Sup”-Ermán Gonzales weggeputscht worden. Die Regeln ökonomischer Lehrbücher sind in Argentinien durch dieses Vorgehen der großen Konzerne völlig auf den Kopf gestellt worden. So kommt es zu dem für IWF- und Weltbank-Strategen ‘unerklärlichen Phänomen’, daß bei einer tiefen Rezession gleichzeitig Hyperinflation entsteht. Gewußt wie!

Cavallo sucht die Konfrontation – oder doch nicht?

“Ein frontaler Schlag gegen das Haushaltsdefizit und die Korruption. Eine große Operation ohne Anästhesie”, so bezeichnete Präsident Menem die neuen Maßnahmen seines Wirtschaftsministers Domingo Cavallo, der Anfang Februar seinen Plan verkündete. Eindämmung der Kapitalflucht, Erhöhung der Steuereinnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits und Beginn einer produktiven Wachstums- und Investitionsphase sind die wesentlichen Zielsetzungen. Erreicht werden soll all dies durch einen völlig freien Wechselkurs, die Erhöhung der Steuern und ein rigides Regime gegen die Steuerhinterziehung. Listen sollen veröffentlicht werden mit den Namen derjenigen Unternehmen, die ordnungsgemäß ihre Steuern abliefern. Andere Unternehmen sollen dann denunziert und strafrechtlich verfolgt werden. So soll der enorme Steuerbetrug in Argentinien aufgedeckt und bekämpft werden. Den Unternehmen, die ihre Preise senken und so der Inflation Einhalt gebieten, verspricht Cavallo ebenfalls Steuervergünstigungen, während Preistreiber mit besonders harten Steuerkontrollen zu rechnen haben. Parallel will die Regierung Preislisten für die Grundprodukte und Arzneimittel veröffentlichen, damit die Bevölkerung beim Einkauf einen Anhaltspunkt hat.
Die staatliche Subventionierung für Investitionen des privaten Sektors wurde von Cavallo aufgehoben. Investitionsanreize sollen vielmehr über Steuererleichterungen geschaffen werden. Gleichzeitig wurden die Tarife für öffentliche Dienstleistungen erhöht und eine Reihe neuer Steuern für viele Produkte, so zum Beispiel Benzin, eingeführt. Die ArbeiterInnen erhalten einen einmaligen Lohnzuschlag von umgerechnet 25 US-Dollar als Inflationsausgleich, die RentnerInnen nur 20 US-Dollar.
Diese Maßnahmen sind eindeutig unpopulär unter den Wirtschaftsbossen. Auch wenn Cavallo als eine seiner ersten Amtstaten die Großkonzerne konsultierte, stieß sein Plan bei ihnen überwiegend auf heftige Kritik und Ablehnung. Klar, schließlich führt Cavallo die Politik von Gonzales noch rigider fort: Die argentinischen Großunternehmen werden durch die Steuerhöhungen zur Kasse gebeten und gleichzeitig aufgefordert, produktiv zu investieren, anstatt Gewinne durch Spekulation zu erzielen. Dennoch gingen Dollar-Nachfrage und Zinssätze nach Cavallos Amtsübernahme schlagartig zurück. Einige Preise für Grundnahrungsmittel wurden ebenfallls gesenkt, die Inflation dadurch gedämpft.
Die argentinischen Kleinunternehmer reagierten hingegen positiv auf Cavallos Wirtschaftplan. Auch innerhalb des Parlaments bekam Cavallo fast ausschließlich Zustimmung: “Sollte das von Cavallo Geäußerte in Taten umgesetzt werden, wird sich die Haltung der Radikalen Bürgerunion ändern”, ließ der “grand old man” der oppositionellen UCR, Juan Carlos Pugliese, verlauten.
Die VerliererInnen dieser erneuten wirtschaftlichen Anpassung stehen auf jeden Fall schon jetzt fest: für die argentinische Bevölkerung wird sich zunächst nichts Grundlegendes ändern, denn Lohnerhöhungen oder soziale Ausgleichsmaßnahmen sieht auch Cavallos Plan nicht vor. Die permanente wirtschaftliche Instabilität, die Inflation und die Verteuerung der Lebenshaltung treiben die ArgentinierInnen massenweise in die Armut: 13 von 32 Millionen werden mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze eingestuft. Vor einem Jahr waren es noch 11 Millionen.
Es ist fraglich, ob die peronistische Regierung wirklich gewillt ist, ein produktives kapitalistisches Entwicklungsmodell in die Wege zu leiten. Dies ist nur möglich gegen die bisherigen Interessen der Wirtschaftsgruppen und indem die argentinische Bourgeoisie zur “echten Kapitalistenklasse” erzogen wird. Cavallo, so scheint es, will dem parasitären Kapitalismus in Argentinien auf die Sprünge helfen. Sollte er dies nicht schaffen würde es ihm guttun schon im voraus sein Ticket auf die Bahamas gebucht zu haben – für den nächsten Sommer.

Kurznachrichten

Menems tiefe Depressionen
Das Image des Präsidemten ist stark angeschlagen. Menems Popularitätsrate ist von 85% bei Amtsantritt auf derzeit 30% gesunken. Zur Zeit machen in Argentinien allerlei Speku-lationen über einen vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten die Runde. Wirtschaftsminister Gonzales ließ dann auch verlauten, daß Menem von tiefen Depressionen befallen sei – “ein klinischer Fall”. Derweil zog sich der Peronist zu einem Meditationswochenende der Benediktiner aufs Land zurück. “Über die schwierigen Momente, in denen wir leben”

Der “produktive Revolutionär”
“Ich bin zufrieden damit, Außenminister zu sein. Ich wollte dort arbeiten, wo ich benötigt werde. Von der Ausbildung her gesehen wäre ich am besten für den Posten des Wirtschaftsministers oder Zentralbankchefs geeignet gewesen. Nach zwei Monaten als Außenminister denke ich, daß ich besser geeignet gewesen wäre für diese Aufgaben.” So sah Domingo Cavallo im September 1989 kurz vor seiner Abreise zu Verhandlungen mit dem IWF in Washington seine Position. Mit 45 Jahren ist Cavallo der jüngste der vier Wirtschaftsminister Menems. Insgesamt 26 Jahre widmete er dem Studium der Ökonomie. 1977 machte er gemeinsam mit einigen Leuten, die er in Washington beim IWF wiedertraf, an der Harvard-Universität seinen Doktor.
Seit vielen Jahren ist Domingo Cavallo ein Mann mit den besten internationalen Kontakten. 1982 war er Zentralbankchef unter der letzten Regierung der Militärs. Unter anderem hatte er damals die Verstaatlichung der privaten Auslandsschulden der Unternehmer, die heute einen Großteil der Auslandsschulden Argentiniens ausmachen, mitzuverantworten. Seit dieser Zeit verfügt er über beste Kontakte zu Teilen der argentinischen Bourgeoisie.
Dennoch ist er innerhalb der Unternehmer umstritten. Als Wirtschaftsberater in Menems Wahlkampf 1988/9 galt er als der sichere Kandidat für das Wirtschaftsministerium. Er arbeitete den Plan der “Produktiven Revolution” Menems aus. Ihm gegenüber schickten die Großunternehmen allerdings ihren eigenen Kandidaten ins Rennen: Miguel Roig vom Multi “Bunge y Born”, den ersten Wirtschaftsminister unter Menem.

Als Außenminister ist er für den neuen Kurs der Regierung verantwortlich: Traute Allianz mit den USA, Verhandlungen über die Malvinas mit Großbritannien, regionale Integration mit Brasilien und die Entsendung der beiden Fregatten an den Golf. Gleichzeitig war er bei den Verhandlungen mit IWF und Weltbank einer der wesentlichen Strategen. Cavallo wurde zum wesentlichen Kontaktmann zwischen Washington und Buenos Aires.
Cavallo ist zwar ein neoliberaler Ökonom, sieht allerdings die Ka¬pitalflucht und Steuerhinterziehung als Hauptursachen für die Wirtschaftskrise. Entsprechend will er die parasitäre argentinische Bourgeoisie endlich zu produktiven Investitionen anstelle der Finanzspekulationen bewegen. Ein Unterfangen, das ihn seinen Kopf kosten könnte.

“Der Golf ist weit weg, aber den Weltpolizisten haben wir auf der anderen Seite der Grenze!”

Der mexikanische Präsident Salinas hält eine Rede an die Nation. Er stellt seine Anstrengungen für eine Verhandlungslösung heraus. Und mit sanfter Stimme versichert er den MexikanerInnen, sie hätten allen Grund, Ruhe zu bewahren. Mexiko als Ölproduzent werde keine unmittelbaren Auswirkungen spüren. Die Versorgung mit Treibstoffen und Nahrungsmitteln sei gesichert. Damit spricht er die Hauptsorge der MexikanerInnen an. “Die Leute haben Angst, daß die Preise steigen,” erzählt mir ein Straßenverkäufer der populären Schlagzeilen-Zeitungen. Die erste größere Unruhe habe er gespürt, als die Ölpreise fielen. Das war, als die CNN allen Anschein erweckte, als ob die USA den Krieg schnell gewinnen würden.
Mit den Angriffen des Irak auf Israel ändert sich die Stimmung. Die Nachrichtenbombardierung von CNN verfehlte die vorgesehene Wirkung, verbale Angriffe gegen die USA wurden nun häufiger. “Ein ganzer Kerl ist der Saddam”. “Die Yankees haben Abschußrampen aus Pappe bombardiert”. Mit Schadenfreude und einem Schuß Machismo werden die Angriffe Iraks auf Israel kommentiert. Auch der Unmut über die “Desinformation” wächst. Besonders die offensichtliche Lüge der Medien, die berichten,. im Irak seien bisher zwanzig Menschen umgekommen, erregt die Gemüter. Über die ständigen Demonstrationen vor der US-Botschaft in Mexiko informieren die großen Radiosender nur indirekt. Sie warnen vor Staus und Verzögerungen in der Gegend um die Botschaft und empfehlen, sie weiträumig zu umfahren. Diese gegen die US-Regierung gerichteten Demonstrationen hatten einige Tage vor Ablauf des Ultimatums begonnen. Spontan versammelten sich dort die Leute, denen plötzlich die Gefahr eines Krieges bewußt wurde -eine winzige Minderheit.

‘Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!’
Die erste große Demonstration in Mexiko-Stadt fand erst neun Tage nach Beginn des Krieges statt. 40.000 Menschen folgten dem Aufruf der Parteien: “Alle vereint für den Frieden”. Es war abgemacht, daß keine Parteifahnen getragen werden sollten. Daraus ergab sich das seltsame Bild von offensichtlich organisierten Blöcken, die mensch aber nicht zuordnen konnte. Die weißen Fahnen und die Friedenstauben konnten keine Einheit herstellen. Die beiden großen Oppositionsparteien rechts und links von der regierenden “Partei der institutionalisierten Revolution” (PRI) hatten ihre Mitglieder erst nach heftigen internen Auseinandersetzungen dazu aufgerufen, gemeinsam mit der PRI zu demonstrieren. Doch im Laufe der Demonstration ließ sich der vorgesehene Pazifismus nicht durchhalten, die DemonstrantInnen gingen zu antiimperialistischen Parolen über. Überall waren Plakate zu sehen, auf denen der Abzug der USA aus Panama gefordert wurde. Und sogar die PRI-Blöcke wechselten zu Sprechchören im Stil von “Hussein, seguro, al yanqui dale duro!” über (“Hussein, gib’s dem Yankee kräftig!”).
Am Tag darauf fand ein nationales Treffen der mexikanischen Solidaritätsgruppen (mit Zentralamerika und Haiti) statt. Dort wurde die Unfähigkeit der Bewegung beklagt, sich in spontane Mobilisationen wie die vor der US-Botschaft einzugliedern. Die PRI dagegen habe es wieder einmal verstanden, die Friedensdemonstration unter ihrer Schirmherrschaft stattfinden zu lassen und politisch zu nutzen. Die Diskussion der Soli-Gruppen über den Golfkrieg begann sich schnell um die Frage zu drehen: Ist es besser für uns, wenn die USA gewinnen, oder wenn sie verlieren? Ein Vertreter der salvadorenischen Guerilla, der FMLN, stellte klar: “Wenn die USA schnell gewinnen, und gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen, wird der ganze Kontinent unter dieser Militärmacht zu leiden haben. In dem Maße, in dem der Krieg andauert und die USA schwächt, wird auch ihr Interesse an einem Ende des Krieges in E1 Salvador wachsen”. Bei der Diskussion mit ihm forderten die Soligruppen, die Rolle der UNO bei den Verhandlungen in E1 Salvador neu zu bewerten. Es habe sich gezeigt, daß die UNO keine Organisation für den Frieden ist, sondern daß sie dem Weißen Haus als Vorzimmer gedient und den Krieg unterstützt hat.
Die Soli-Bewegten warfen außerdem die Frage auf, ob es überhaupt richtig sei,
für Hussein Partei zu ergreifen, für einen Mann, der Ausrottungskampagnen
gegen die KurdInnen geführt habe, und von dem man nicht wüßte, ob er das
irakische Volk unterdrücke. Diese Diskussion erinnerte viele an die Auseinandersetzungen während des Malvinen-Krieges, als darum gestritten wurde, ob
eine Stellungnahme gegen die Briten die argentinische Militärdiktatur aufwerten
würde. Ergebnis der Diskussion: Jede imperialistische Unterdrückung macht es
einem Volk noch schwerer, sich gegen die nationalen Herrschaftsstrukturen , aufzulehnen.
Reisende aus den rnittelamerikanischen Ländern beschreiben die Stimmung dort als ganz anders als in Mexiko-Stadt. Die Abhängigkeit dieser Länder von Energie-Importen hat die Regierungen schon zu Sparmaßnahmen greifen lassen und bei der Bevölkerung eine viel größere Unsicherheit ausgelöst als in Mexiko. In Guatemala-Stadt beispielsweise sollen Hamsterkäufe getätigt worden sein. In E1 Salvador zeigt sich deutlich, daß jeder noch so schwachsinnigen Nachricht, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Golf-Krieg steht, eine größere Bedeutung zugemessen wird als den wirklich wichtigen Informationen. Während E1 Salvadors Präsident Cristiani einen Tag lang in den Nachrichten auftauchte, weil er die “alliierten Truppen am Golf einen Monat lang mit Kaffee versorgen” will, fand das Massaker an 15 Bauern.. und Bäuerinnen am 22.Januar nicht die angemessene Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit.
Obwohl der Krieg am Golf weit weg ist, gibt es auch hier Menschen, die ihn als eine unmittelbare Bedrohung empfinden. In der mexikanischen Region Chilapa beispielsweise treffen sich christlichen Basisgemeinden jeden Abend, um gemeinsam zu beten.
Die GuatemaltekInnen, die im Süden Mexikos in Flüchtlingslagern leben, verfolgten die Ereignisse seit August aufmerksam. Als sich das Ultimatum vom
15. Januar näherte, besorgten sich viele von ihnen Kurzwellenradios, melden die “Witnesses for Peace”. In den Lagern in den Bundesstaaten Chiapas, Campeche und Quintana Roo, in denen ungefähr 43.000 guatemaltekische Flüchtlinge leben, sei der Beginn des Krieges mit Entsetzen aufgenommen worden, “Den Führern sind all die armen Leute, die sterben werden, egal”, sagte eine Flüchtlingsfrau. “Sie sorgen sich nur um ihr Geschäft und ihre Profite.” Ein älterer Mann meinte: ‘Wenn es doch so viele arme Menschen in den USA gibt, warum schickt die US- Regierung dann soviel Geld ins Ausland, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Leute versorgen kann?” Als eine Gruppe von Jungen aufgeregt ihr Wissen über die High-Tech-Flugzeuge und die Bombardierungen austauschte, sagte ein Vater traurig: “Diese Kinder wissen nicht, worüber sie reden. Sie waren klein, als wir (vor dem Militär; d.Red) aus Guatemala fliehen mußten. Aber wir erinnern uns genau daran, was Krieg bedeutet und darum sind wir so traurig und besorgt über diesen Krieg.”

Warten auf die Begnadigung

Oberst Seineldin -der Anführer der vorhergehenden drei Rebellionen gegen Alfonsin 1987 und 1988 -hatte die vollständige Verantwortung für die Rebellion am 3.Dezember übernommen und sich eigentlich schon auf die Todesstrafe eingestellt. Verurteilt wurde er am 8.Januar als “Motor und Kopf’ des vierten Aufstandes zusammen mit sechs anderen Anführern zu unbefristeten Haftstrafen, was lebenslänglich bedeutet bzw. bei guter Führung Entlassung nach 20 Jahren. Sechs weitere Hauptangeklagte kamen mit Haft zwischen 12 und 20 Jahren davon und zwei wurden freigesprochen. Alle Angeklagten wurden degradiert und aus dem Dienst entlassen. “Während meiner Amtszeit werden sie nicht begnadigt werden, sie haben keine Zukunft”, verkündete Präsident Menem, doch wer mag dies dem Weltrekordler in Sachen Begnadigung schon glauben.
21 Tote, über 200 Verletzte und 30 Millionen US-Dollar Sachschaden hatte der letzte Aufstand der Carapintadas gekostet. Bei dieser Rebellion gab es zum ersten Mal Tote auf Seiten der Militärs. Die loyalen Truppen reagierten von Anfang an kompromisslos und schlugen den Aufstand in weniger als 18 Stunden nieder. Das Agieren der ultranationalistischen Militärs war in den Augen der Heeresführung nicht mehr opportun, hatten doch die Militärs mit der Begnadigung und dem Zugriff auf die Innere Sicherheit längst ihre Hauptforderungen durchgesetzt.
Den entstandenen Sachschaden von 30 Millionen US-Dollar sollen die Carapintadas nun in einem zweiten Gerichtsverfahren angelastet bekommen. Für Menem war der Aufstand “ganz klar als Staatsstreich gedacht”. Als Beweis muß eine angebliche Liste, mit den Namen der jeniger, die die Carapintadas ermorden wollten herhalten. Der Geheimdienst will diese Liste, auf der alle hohen Regierungsbeamten und die Armeespitze stehen, gefunden haben.
Die Beteiligung an dem Aufstand lag mit über 500 Unteroffizieren über der bei den vorhergehenden Rebellionen. Doch diesmal waren es fast ausschließlich junge Soldaten, die sich erhoben. Die vorherigen Rebellen fanden sich diesmal auf der Seite der loyalen Truppen. Die 500 Unteroffiziere müssen lediglich mit milden Arreststrafen rechnen. Sie sind für den Apparat noch “reformierbar” und müssen sich jetzt gezielten Schulungen unterziehen. Der Kern der Carapintadas sollte hingegen ausgeschaltet werden.

Abstruse Konstruktionen und unliebsame Äußerungen

Innerhalb des Schnellgerichtsverfahrens gab es mehrere Besonderheiten: Nach den langen Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit -zivile oder militärische Gerichtsbarkeit -für die Verurteilung der Aufständischen, setzten sich die Militärs mit einer abstrusen Konstruktion durch. Die Bundesgerichtskammer wertete die Tat als Rebellion. Nach dieser Definition hätte nur ein ziviles Gericht das Ur-teil fällen können, da das Delikt in den Geltungsbreich des “Gesetzes zum Schutz der Demokratie” gefallen wäre. Die Militärs plädierten auf Meuterei, um den Militärgerichten die Zuständigkeit zu geben. Dies forderte auch Präsident Menem. Der Oberste Gerichtshof führte nun die abstruse Konstruktion einer “rebellischen Meuterei” ein und überführte die Zuständigkeit an die Militärgerichte. Dahinter stand der Versuch, die negativen Enthüllungen möglichst gering zu halten und das Verfahren schnell durchzuziehen.
Der zweite heikle Punkt im Verfahren war die Anklageschrift des militärischen Staatsanwalts Carlos Horacio Domínguez. Er rollte mit der Anklage gegen die 15 Anführer die argentinische Geschichte seit 1973 auf. Ausgehend von der damaligen Amnestie für “5000 Terroristen”, die er als “großen politischen Fehler” bezeichnete, gab er seine Meinung über die letzte Militärdiktatur wieder: Zum ersten Mai in der argentinischen Geschichte griff ein General die Menschenrechtsverletzungen der Militärs während der 70er Jahre an und denunzierte Korruption innerhalb des Militärs. Dieser “Mangel an Führung und Professionalität” schwäche seit 20 Jahren das Militär und machte “Chaos und Anarchie unvermeidlich”. Schließlich verurteilte er aufs schärfste die Aktionen der Carapintadas und forderte für die Anführer die Todesstrafe. Gleichzeitig bezichtigte er zivile Politiker und Unternehmer, die Carapintadas unterstützt und zu ihren Aktionen motiviert zu haben.
Diese Äußerungen lösten in der Regierung und Militärführung erhebliche Unruhe aus. Der stellvertretene Verteidigungsminister bezeichnete seine Anklage als “Unverschämtheit”. Domínguez gehört keinem der Flügel im Heer an und ist innerhalb des Militärs eine umstrittene Figur. Um den “Schaden” gering zu halten, wurde der General dann im Januar nach seinen Äußerungen aus seinem Amt entlassen -so einfach geht das.

Der Pakt Menem-Seineldin

Aber die Bemerkungen des Staatsanwalts erhielten weitere Unterstützung durch die Aussagen der Angeklaten: Der Reihe nach erklärten alle Soldaten, daß hohe Regierungsvertreter im engen Kontakt mit den Carapintadas gestanden hätten.
Die Beziehungen zwischen Präsident Menem und Oberstleutnant Seineldin reichen weit vor Menems Amtsantritt zurück Beide debattierten in der Gewerkschaftszeitung “Acción Nacional“ über ihre Positionen. In der heißen Wahlkampfphase trat Menem nicht nur gemeinsam mit Seineldín auf, er ließ sich auch massiv von dem Einfluß Seineldíns im Militär unterstützen. Noch während des ersten Regierungsjahres verfolgten einige Minister ein Konzept zur Umstrukturierung der Streitkräfte, bei dem Seineldín zum neuen Oberstabschef ernannt werden sollte. Nach der Begnadigung des Putschoberst durch Menem im Oktober 1989 kam die Idee der Bildung einer “Schnellen Eingreiftruppe” zur Drogenbekämpfung auf, die Seineldin leiten sollte.

Die USA verlangten schließlich von Menem, daß er die Beziehungen zu dem Rebellen aufgeben solle, weil Seineldin ein ähnliches Profil aufweise wir Noriega in Panama. So brach auch der direkte Kontakt nach Menems erster US-Reise relativ schnell ab. Regierungsvertreter, wie z.B. Verteidigungsminister Romero hielten allerdings weiterhin den Dialog aufrecht.
Außerhalb der Regierung stehen ebenfalls eine Reihe von Zivilistlnnen in engem Kontakt mit dem Oberst. Menems Frau Zulerna Yoma hat nach eigenen Aussagen “eine sehr enge Beziehung” zu Seineldin. Auch andere Freunde Menems pflegen diesen Kontakt.
Delikat ist diese Angelegenheit vor allem deswegen, weil seit dem letzten Auf-stand massiv über die Beteiligung von ZivilistInnen an den Carapintadas spekuliert wird. Klar ist, daß die Nationalisten sich von UntemehmerInnen und anderen Privatpersonen ihre Aktionen -so auch den massiven Propaganda-Apparat-finanzieren lassen. Eine Namensliste hält die Regierung unter Verschluß, vor allem deswegen, weil sich eine Vielzahl engster Vertrauter der Regierung Menem darauf befinden sollen.
Ende Januar bestätigten dann die publizierten Aussagen Seineldins vor dem Militärgericht diese Spekulationen: Seineldin erläuterte explizit und mit vielen Details, daß er mit verschiedenen Regierungsvertretern und dem Präsidenten in engem Kontakt gestanden habe. “Menem wollte einen guten Verteidigungsminister haben, der das Heer beruhigen sollte. Ich schlug ihm Italo Luder und Humberto Romero vor. Dr. Menem sagte zu mir:’Akzeptiert.'”
Dennoch wirbelten all diese Enthüllungen im Zuge des Prozesses nicht genug Staub auf, daß der Präsident und seine korrupte Regierung mit ernsten Schwierigkeiten rechnen müssen. Sein Image ist vielmehr durch die kompromisslose Niederschlagung und den schnellen Prozeß aufgebessert, auch wenn er durch seine Amnestie Ende letzten Jahres sicherlich wieder an Popularität verloren hat.

Die neuen argentinischen Streitkräfte

“Argentinien hat am 3.Dezember die Gründung seiner neuen Streitkräfte erlebt”, verkündete Menem in seiner Rede zur Umstrukturierung des Militärs knapp eine Woche nach dem Aufstand. Mittels eines Präsidentendekrets will der Peronist im Zuge seiner allgemeinen “Modernisierung” der argentinischen Gesellschaft auch die Streitkräfte umgestalten. innenpolitisch soll endgültig “die Vergangenheit annulliert werden” und neben der militärischen Einheit das Verhältnis der Militärs zu den Bürgerinnen verbessert werden. Daneben soll über eine Föderalisierung ein Teil der Armee neu über das Land verteilt werden. Vor allem die dünn besiedelten südlichen Regionen des Landes sollen dadurch laut Menem “die Ansiedlung von BewohnerInnen fördern”. Die Daseinsberechtigung soll das Militär so künftig durch die nationale Verteidigung aller Ecken und Winkel des Landes erhalten. Darüberhinaus soll der gesamte Apparat durch Privatisierungen, Investitionen und Professionalisierung technisch modernisiert werden. Außenpolitisch spielen die Waffenträger “eine entscheidende Rolle zur Erhaltung des Friedens” und sollen als “strategische Säulen” die regionale intergration mitunterstützen.
“Die Streitkräfte haben niemals leichte Aufgaben übernommen, sie haben niemals risikolos gelebt und ihre Taten sind nicht mühelos erzielt worden. Aus diesem Grund rufe ich zu einer entscheidenden Schlacht, der wichtigsten und bedeutendsten Schlacht, die unsere Streitkräfte schlagen müssen.”
Ganz so unrecht hat der Präsident mit seinen Bemerkungen nicht, nur daß sich am 3. Dezember die Militärs nicht neugegründet haben, sondern sich vielmehr die alten Liberalen durchgesetzt haben, die nun konform mit der liberalen Wirtschaftspolitik des Präsidenten gehen. Weggefallen sind die nationalistischen Carapintadas als innermilitärischer Machtfaktor, auch wenn ihre Ideen sicherlich noch lange bleiben werden. Seineldin und seine Rädelsführer sitzen für’s erste im Knast. Aber vielleicht kommt dann ja in ein paar Jahren wieder einmal ein populistischer Präsident, der die Einheit der Streitkräfte und ihre Integration in die Gesellschaft dadurch herstellen will, daß er erst einmal alle Verbrecher begnadigt.

Kasten:

La Tablada-Gefangene zum Putschvenuch
Am 3.Januar 1989 überfiel eine Gruppe des “Movimiento Todos por La Patria” (MTP) die Kaserne von La Tabada, um nach eigenen Angaben einen bevorstehenden Putsch zu verhindern. (s. LN 197,180,181) Die Begründung für ihre Aktion war, da in einem Komplott zwischen dem zukünftigen Staatschef Menem und den Carapintadas der damalige Präsident Alfonsin
gestürzt und die demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt werden sollte. In einem Gerichtsverfahren unter der Regie der Militärs wurden sie zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.(s. LN 186) Im folgenden dokumentieren wir nur ihre Stellungsnahme zu dem erneuten Aufstand der Carapintadas, der ein anderes Licht auf ihre Argumentation wirft.
“Knast von Caceros, 04.12.1 990”

“Die politischen Gefangenen von La Tablada wollen erreichen, daß das Volk Fakten erfährt, vom Montag, dem 3.Dezember 1990. 1) Der Putschversuch der Carapintadas hat die Realität bestätigt: Die Denunzierungen, die gemacht wurden, waren wahr. Es war kein internes Problem der Armee, wie in diesem Moment behauptet wurde, sondern es umfaßte die gesamte Gesellschaft, wie es Präsident Carlos Menem anerkannt hat. Diese Situation wie die letzte Rebellion der Carapintadas manifestiert ein weiteres Mal, daß das Problem verdeckt war durch die Schwäche der Alfonsín-Regierung, durch die Spitze der Armee, durch die sensationalistische Presse sowie durch die Führungen der Parteien. Sie konnten nicht zulassen, daß eine revolutionäre Gruppe den Putsch vom 23.Januar 1989 verhindern könnte. Das zuzulassen, hätte das gleiche bedeutet, .wie seine Schwächen zuzugeben, das Lavieren zwischen den Bremsen der Übermacht des Militärs und dem Versuch, die ernsten Probleme des Volkes zu lösen. 2) Wir denunzieren noch einmal wie falsch die Beweise sind, die sie benutzen, um uns zu bestrafen. Diese Beweise wurden erbracht, von dem Pfarrer Moisés Jardin und den Arcangeles (paramilitärische Gruppierung, Anm. LN), die Verbunden sind mit den Carapintadas. Die aktive Teilnahme Jardins an dem Aufstand vom 3.Dezember, seine Präsenz der “Albatros”-Gruppe von der Hafenpräfektur (Hauptstützpunkt der Carapintadas, Anm. LN) bestätigt den Grund unserer Anklage. 3) Wir denunzieren auch, daß es eine psychologische Kampagne von Gerüchten und Falschmeldungen gegen die MTP und Gorriaran (Anführer des ERP, linke Guerilla der 70er Jahre, Anm. LN) gegeben hat in den Tagen vor dem 3.12.1990, an der Geheimdienste sowie nahestehende Gruppen der Carapintadas beteiligt waren. Z.B. die Veröffentlichungen eines Ministers aus der Provinz Buenos Aires, Díaz Bancaiari, und die letzte Nummer der Zeitschrift E1 Porteno. Hierin haben sie uns in Sachen beschuldigt, mit denen wir nichts zu tun haben und von einer möglichen Flucht von uns gesprochen. Mit diesen Lügen bringen sie unsere Sicherheit und unsere physische Integrität in Gefahr und schaffen ein günstiges Klima für einen Putschversuch. 4) Wir bekräftigen, daß diese Aufstände mit politischen Allianzen und Unternehmen zählen und mit der absoluten Stille von Ubaldini (Gewerkschaftsführer, Anm. LN) und anderen Gewerkschaftssektoren, gegenüber anderen so schwerwiegenden Ereignissen wie dem vom 3.Dezember. 5) Wir können nicht die Repression gegen die Carapintadas vergleichen mit der brutalen Repression der wir ausgesetzt sind. Diese haben die legalen Garantien zugesagt bekommen, die wir entbehrten. Ohne Richter, mit Ermordeten, brutal Gefolterten und Genossen, die immer noch verschwunden sind, weigert sich die Justiz trotzdem noch, die schweren Vergehen an den internationalen Konventionen und Menschenrechten zu untersuchen. 6)Noch einmal fordern wir die Untersuchung der Akten und der Umstände, in denen unsere Genossen ermordet wurden und daß Iván Ruiz, Jos6 Diaz, Juan Murua, Carlos Burgos und Carlos Samojedny lebend wieder auftauchen und wir fordern unsere Freiheit als ein Akt der Gerechtigkeit.”

“Politische Gefangene von La Tablada”

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

Die Linke und das Ende des europäischen Sozialismus

Die PT – eine sozialistische Partei neuen Typus?

Es lohnt sich, gerade die Diskussion innerhalb der PT etwas näher zu betrachten, da diese Partei nicht in den Rahmen der traditio­nellen kommunistisch-sozialistischen Parteien in Lateinamerika paßt und eine Massenpartei ist, deren Kandidat Lula im letzten Jahr fast die Wahlen gewonnen hätte. Während des Präsidentschafts­wahlkampfes war die PT gezwungen, sich intensiv damit auseinander­zusetzen, wie eine sozialistische Alternative für Brasilien auss­sehen könnte und mußte Angriffe kontern, sie wolle in Brasilien das überholte Gesellschaftsmodell einführen, das in Europa gerade zu Grabe getragen werde.
Die PT entstand 1980 als ein Zusammenschluß von Menschen aus der neuen Gewerkschaftsbewegung, links-katholischen Kreisen und Intel­lektuellen. Zahlreiche Basisinitiativen, oft beeinflußt von den links-katholischen Strömungen, schlossen sich der Partei an oder verstanden sich als PT-nahe. Nicht in die Partei gingen hingegen die beiden (damals noch verbotenen) kommunistischen Parteien. Nach einem schematischen Etappenmodell wollten sie in der bürgerlichen Oppositionspartei PMDB zunächst für eine demokratische Umwälzung kämpfen.
Die PT verstand sich von Anfang an als eine Partei mit einer besonderen Bindung an die sozialen Bewegungen und zu Beginn bestimmte das Verhältnis zu den “Bewegungen” die internen Diskus­sionen der Partei: Soll sie nur ein Sprachrohr der Bewegungen sein oder eine eigenständige politische Kraft – eine Diskussion, die sehr an die Gründungszeiten der Grünen erinnert. Von den Grünen unterscheidet sich aber die PT radikal in einem Punkt: Prägend waren die Erfahrungen der neuen, kämpferischen Gewerkschaftsbewe­gung im industrialisierten Sektor Brasiliens. Ist der Kampf gegen Atomkraftwerke die Gründungssage der Grünen, so sind es die Streiks der MetallarbeiterInnen für die PT. In der PT waren und sind auch Kräfte – vor allem unter den Intellektuellen – vertre­ten, die traditionellen marxistischen Orientierungen anhängen, sowie einer recht bedeutsame trotzkistische Strömung.
Die Organisation verschiedener “Tendenzen” innerhalb der Partei ist erlaubt, und tatsächlich ist die PT in eine Vielzahl von Srö­mungen aufgegliedert, die sich zum Teil heftig bekämpfen. Immer­hin: Die PT ist eine Partei, die internen Pluralismus zuläßt und nicht nach den Prinzipien des “demokratischen Zentralismus” aufge­baut ist. Das heißt auch, daß in vielen Fragen eine Position der PT nur schwer auszumachen ist. Gerade in vielen Punkten, die Deut­sche immer wieder interessieren, ist die PT zutiefst gespalten: der Ökologie und dem Verhältnis zur Frauenbewegung. Selbst Grund­forderunge wie das Recht auf Abtreibung haben es in der PT schwer, da hier die progressiven Katholiken an ihre Grenzen geraten. Aber auch solche Diskussionnen werden innerhalb der PT geführt und in letzter Zeit konnten Feministinnen in der PT an Boden gewinnen, zum Beispiel daurch, daß eine erklärte Feministin zur Frauenbeauf­tragten in Sao Paulo ernannt wurde.
Die PT hat sich in vielen Positionspapieren (nicht aber in ihrem Gründungsdokument!) zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaft bekannt. Sie hat sich mit der polnischen Solidarnosc solidari­siert, gar Kampagnen zu ihrer Unterstützung in Brasilien gestartet – ein demonstrativer Akt der Abgrenzung zum real existierenden Sozialismus (Später sind die Beziehungen zur Solidarnosc aus ver­ständlichen Gründen abgekühlt). Auf der anderen Seite hat die PT intensive Beziehungen zu den kommunistischen Parteien Osteuropas unterhalten und zahlreiche PT Funktionäre besuchten Schulungskurse in der DDR. Diese seltsame Ambivalenz von Distanz und Nähe bestimmte auch das Verhältnis zu Kuba. Die Offenheit der PT macht natürlich auch in den verschiedensten Lagern Appetit. Auf dem letzten Parteikongreß (1990) waren zum Beispiel die SPD (als ein­zige deutsche Partei!) und die kommunistische Partei Nordkoreas vertreten.

Sozialismus + Demokratie + Pluralismus

Diese Formel wird in den meisten Beiträgen als Lösung des Problems angeboten. “Der Pluralismus ist unvermeidbar”, ist ein Interview mit dem Generalsekretär der PT, José Dirceu überschrieben. “Ich glaube, daß die leninistischen Konzeption von der Diktatur des Proletariats, nicht wie sie gedacht war, sondern wie sie verwirk­licht wurde, überholt ist. Sie oktroyiert eine staatliche Presse, die Abwesenheit von Opposition, ein Einparteiensystem und Plan­wirtschaft.Die Gesellschaft muß sich demokratisch entwickeln.” Seine Vorstellung von Demokratie konkretisiert Dirceu folgenderma­ßen: “Die Opposition hat das Recht zu existieren. Sie muß alle individuellen und kollektiven Rechte ausüben können, die in der Verfassung garantiert sind. Ihr muß auch die Freiheit eingeräumt werden, den Weg der Rückkehr zum Kapitalismus einzuschlagen. Es ist bewiesen, daß die kulturellen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse, es einem großen Teil der Menschen unmöglich machen, die Macht über die direkte Demokratie auszuüben, also durch Plebiszite oder Referen­dum. Somit ist die repräsentative Demokratie eine Notwendigkeit. Es ist ein Fehler der Sozialisten, ein fundamentales Instrument zur Erzielung von Legitimität und Konsens zu vernachlässigen: die Abstimmung in einer repräsentativen Körperschaft.”
Es ist die Kombination von Verfassungsrechten und repräsentativer Demokratie, die autoritäre Verzerrungen bannen soll. Im Scheitern des autoritären Sozialismus sehen einige Beiträge denn auch eine Chance: der Sozialismus muß nun endlich eine untrennbare Verbin­dung mit der Demokratie eingehen und kann gerade dadurch an Attraktivität gewinnen. “Der Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Osteuropa hat eine extrem positive Seite: Überkommene und nicht mehr aktuelle Ideen müssen neu überdacht werden.”(Luis Alberto Gomes) Zwar hatten die Marxisten, wie Herbert de Souza ausführt, immer schon die Demokratie im Munde geführt, aber eine im Grunde taktische Position zur Demokratie eingenommen und damit ihre Reichweite und Radikalität vermindert. Das Ergebnis war “Gleichheit ohne Partizipation und Solidarität ohne Freiheit.”
“Man kann sagen, daß die brasilianische Linke die Realität der brasilianischen Gesellschaft nie unter dem Blickwinkel der Demo­kratie analysiert hat. Generell war die Linke eher in der Lage, die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen als diese Entwick­lung unter dem Blickwinkel der Demokratie zu analysieren.” Oder noch einmal zugespitzt: Die Frage des Sozialismus hat nur Sinn als Frage der Demokratie. Der Sozialismus muß – und tut es auch schon – seinen Namen neu diskutieren. Der wahre Name des Sozialismus ist Demokratie.” An diesen Stellungnahmen überrascht vielleicht, wie unproblematisiert mit dem Konzept der (repräsentativen) Demokratie umgegangen wird. Allerdings betonen die Autoren immer wieder, daß die bürgerliche Demokratie keine Alternative sein kann, da sie vor den Fabriktoren aufhöre und eine Demokratie ohne soziale Gerech­tigkeit keine wirkliche Demokratie sei. Dirceu problematisiert, ob es jetzt überhaupt einen demokratischen Staat gäbe. Das würde ja voraussetzen, daß die Bourgeoisie bereit wäre friedlich einen übergang zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft zuzulassen. “Aber wenn das Volk in kapitalistischen Ländern die Macht ergreift, dann holen sie das Heer und veranstalten wahre Massaker, wie sie es schon in verschiedenen Ländern Lateinamerikas gemacht haben.” Diese Frage müsse noch gelöst werden.
Das glaubhafte Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus fällt der PT sicherlich nicht schwer, wie die kurze Charakterisie­rung der Partei zeigt. Daher wohl auch das Bemühen, diesen Punkt in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. In einigen Stellungnah­men scheint aber auch durch, daß die Fragen doch komplizierter sind: Schließlich forderten “die Massen” in Osteuropa nicht den demokratischen Sozialismus, sondern den Kapitalismus.

Sozialismus ohne Planwirtschaft?

In die Krise geraten ist doch auch eine Grundannahme aller sozia­listischen Konzepte: daß eine zentrale Planung und gesellschaftli­che Kontrolle der Produktion geboten sei, um den Übeln der Markt­wirtschaft beizukommen. Dieser Punkt wird in den meisten Stellung­nahem weniger ausführlich diskutiert. José Dirceu will an der Grundentscheidung für Planwirtschaft festhalten. “Ich glaube nicht, daß die Planung in sozialistischen Ländern aufgegeben wer­den darf (ich spreche von strategischer Planung) und obwohl ich die Beibehaltung des Kollektiveigentums an den wichtigsten Produk­tionsmitteln verteidige, ist es nicht vorstellbar, da? es möglich sein kann, die Produktivkräfte zu entwicklen, ohne kleines und mittleres Eigentum zuzulassen – oder anders gesagt: ohne die Exi­stenz von Privateigentum an Produktionsmitteln und Gütern.” Die Kombination von Wirtschaftsdemokratie, Planung und Privateigentum soll sowohl Bürokratisierung wie die Anarchie des Marktes beseiti­gen. “Ich glaube nicht, daß in den nächsten fünfzig Jahren irgend­eine Gesellschaft voranschreiten kann, ohne Kollektiveigentum mit mittlerem und kleinem Privateigentum zu verbinden.”

Der Marxismus – ein toter Hund?

Die PT-Dikussion bewegt sich – das ist unschwer zu erkennen – im Rahmen einer klassisch-sozialistischen Denktradition, die durch den Marxismus geprägt ist. ßkologie oder feministische Kritik spielen bei den durchweg männlichen Autoren keine Rolle. So kann es auch nicht überraschen, daß eine Krise des Marxismus konsta­tiert und erörtert wird. In Deutschlund scheint diese Frage ja – um im Tierreich zu bleiben – keinen Hund mehr hinter dem Ofen her­vorzulocken, die große Debatte dieses Jahrhunderts ist nicht ent­schieden worden, sondern siecht an Desinteresse dahin. Anders in Brasilien: “Die Krise des ‘realen Sozialismus’ ist vor allem die Krise des orthodoxen Marxismus… Der orthodoxe Marxismus ist heute nicht mehr als eine Philosophie des bürokratischen Konserva­tivismus…Die Kritik dieses Marxismus ist der Ausgangspunkt für die Formulierung einer revolutionären Alternative, die zugleich humanistisch und universal ist.” Man müsse den Kopf befreien von der Diktatur der “gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten” um zu einer “antideterministischen und libertären” Konzeption zu gelan­gen. Es gelte den Weg weiterzuverfolgen, den Gramsci eröffnet habe.(So Ozeas Duarte, einer der Herausgeber von “Teoria & Debate”) In einem anderen Beitrag fordert Augusto de Franco (Mitglied des Leitungsgremiums der PT), “die alte Fibel zu zerrei­ßen, die darauf basiert, der Marxismus-Leninismus sei eine wissen­schaftliche Theorie.” Besonders in diesem Beitrag wird nicht erst der Stalinismus als das Übel ausgemacht: “Die Geschichte zeigt, daß es weder vor noch nach 1917 eine Politik gab, die unabhängige und autonome Organisationen der Arbeiter aufbaute als Keimformen von Organisationen der Leitung und der Macht in der Gesellschaft.” Diese Äußerungen haben heftigen Widerspruch eines anderen Lei­tungsmitgliedes (Joao Machado) provoziert. Für ihn brach Stalin mit der gesamten marxistischen Tradition und errichtete eine büro­kratische Diktatur, die sich gerade über die physische Liquidie­rung der alten Garde des Bolschewismus etablierte. Der Stalinismus stelle einen radikalen Bruch mit der Tradition des Marxismus dar, die Kritik am real existierenden Sozialismus gäbe daher nichts her für die Kritik am Marxismus. “Daher haben wir bei der immensen Aufgabe, einen demokratischen, revolutionären und libertären Bezugsrahmen zu errichten, einen fundamentalen Stützpunkt in der marxistischen Tradition, die wir mit aller Energie vom Stalinismus unterscheiden müssen.”

Wir haben eine Mappe bereitgestellt, in der die Beiträge, auf die hier Bezug genommen wird, kopiert sind. Die Mappe enthält auch den vollen Wortlaut des Dokuments “O socialismo petista”. Alle Beiträge sind auf portugiesisch! Zu beziehen über den LN Vertrieb gegen Rechnung (DM 10,- plus Versandkosten) oder gegen DM 10,- Vorauskasse!

Kasten 1:

Dokumentation

O Socialismo petista

Dokument des 7.Nationalen Kongreß der PT (Juni 1990) Auszüge
Die PT entstand bereits mit radikaldemokratischen Vorschlägen. Unsere Ursprünge liegen im Kampf gegen die Militärdiktatur und Repression der Bourgeoisie. Auf der Straße und an unseren Arbeitsplätzen forderten wir die politischen Freiheiten und sozia­len Rechte. In den 10 Jahren ihrer Existenz war die PT immer an der Spitze der Kämpfe für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft … Aber die demokratische Verpflichtung der PT geht hinaus über die Parolen, die sie verteidigte und verteidigt. Auch unsere interne Organisation drückt die Verpflichtung zu einer freiheitlich orientierten Politik aus. Den monolithischen Hierar­chien traditioneller Parteien – und vieler linker Gruppierungen – abgeneigt, unternimmt die PT Anstrengungen, die interne Demokratie zu stärken. Dies ist die unabdingbare Voraussetzung für eine demo­kratische Praxis im sozialen Leben und bei der Ausübung der Macht. Diese fundamentale Verbindung mit der Demokratie verpflich­tete uns zum Antikapitalismus, wie sie auch unsere antikapitali­stische Opposition in unserem demokratischen Kampf stimulierte.
Die PT identifiziert sich mit den Kämpfen der Arbeiter und der Völker für ihre Befreiung und für den Sozialismus … Seit ihrer Gründung betrachtet die PT die Mehrheit der Erfahrungen des soge­nannten realen Sozialismus als eine Theorie und Praxis, die nicht in Einklang ist mit den humanistischen, libertären und egalitären Ideen des Sozialismus. Der Sozialismus, im Sinne der PT, wird radikal-demokratisch sein oder er wird kein Sozialismus sein … Aber was für ein Sozialismus? Für welche Gesellschaft, welchen Staat kämpfen wir? … Das 5. Nationale Treffen präsentierte den Arbeitern unseres Landes das grundlegende ideologisch-politische Profil unserer Vision: Um den Kapitalismus auszulöschen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu beginnen, bedarf es an erster Stelle einer radikalen politischen Veränderung: die Arbeiter müssen zur hegemonialen Klasse in der zivilen Gesell­schaft und in der Staatsmacht werden.
Der Sozialismus, den wir herbeisehnen, kann es nur geben mit einer demokratischen Organisation der Wirtschaft … Eine Wirtschaftsdemo­kratie, die ebenso die perverse Logik des Marktes wie auch die unerträgliche, autoritäre staatliche Planung der sogenannten sozialistischen Wirtschaften überwindet … Wir kämpfen für einen Sozialismus, der nicht nur die demokratischen Freiheiten,die in der kapitalistischen Gesellschaft errungen wurden, bewahren muß, sondern sie erweitert und radikalisiert.

Dies sind nur kurze Auszüge aus einem erheblich längerem Dokument.

Kasten 2:

Die Haupttendenz in der Welt ist Sozialismus

Die abweichende Meinung der Trotzkisten

In einem Interview mit “Teoria & Debate” stellt der Sprecher der größten trotzkistischen Tendenz innerhalb” der PT (Convergencia Socialista), Valerio Arcary, seine Sichtweise der Dinge dar:
“Noch nie in unserem Jahrhundert war die Lage für den Kampf um den Sozialismus so günstig. Ich werde eine noch schockierendere Fest­stellung machen: Nie war der Osten so dem Sozialismus zugeneigt! Denn die Massen sind in Bewegung und ein grundlegendes Element im Marxismus ist das Ver­trauen, daß die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein kann … Das Proletariat hat sich in Bewegung gesetzt. Das ist ein Beispiel für die ganze Welt … Die Massen wollen den Kapitalismus? Nein. Die Massen wollen nicht den Kapitalismus. Die Massen wollen bessere Lebensbedingungen. Es gibt eine Explosion von Freiheiten in Osteuropa. Es sind Freiheiten, die auf dem Weg, der zur Revolution führt, erobert worden sind. Im Kampf für ihre Forde­rungen haben die Massen die Illusion, ihre Länder könnten sich in ein Frankreich, in eine Schweiz verwan­deln … Es gibt Illusionen, aber es gibt auch Mobilisierung. Die Revolution geht weiter. Der Aufstand gegen die bürokrati­schen Dik­taturen war nur ein Moment.”

Teoria & Debate 10, Mai 1990

“Für eine neue argentinische Linke”

LN: Welches sind deiner Ansicht nach die grundlegenden Probleme der argen­tinischen Linken? Wie siehst du ihre Lage im Moment?

H.T.: Ich denke, daß die argentinische Linke dabei ist, sich von der schweren Niederlage zu erholen, die sie in den 70er Jahren hat hinnehmen müssen. Dies war nicht nur eine Niederlage für die Linke, sondern für das gesamte argentini­sche Volk. Viele Kader wurden verloren. Ich gehe davon aus, daß es für die ar­gentinische Linke zwei bedeutende Probleme zu überwinden gilt. Das erste wäre, daß es einen Teil der argentinischen Linken gibt, der sich reorganisiert, der aber eine klare, festere Position vermissen läßt, gegenüber diesen politischen Projek­ten (der Regierungen – LN) und mehr Unabhängigkeit gegenüber den traditio­nellen politischen Parteien. Daher haben wir begonnen, eine neue politische Organisation aufzubauen, die deutlicher und mit mehr Konsequenz als die bis­her existierenden Linksparteien Opposition betreibt.
Das zweite Moment, das bisher eine große Schwierigkeit darstellt, ist die Unfä­higkeit vieler linker Sektoren, sich zu vereinen. Es gibt lediglich eine Einheit gegenüber konkreten Regierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel gegen den Indulto (die Amnestierung der für Menschenrechtsverletzungen verantwortli­chen Militärs), aber es gibt keine permanente politische Einheit, und das macht es unmöglich, sich dem argentinischen Volk als eine starke Alternative zu präsen­tieren. Ich glaube, dies sind nur zwei Probleme, denen sich die argentinische Linke gegenübersieht. Sie steht vor einer großen Herausforderung…Denn, was passiert denn in Argentinien heute? Seit ca. 15 Jahren wird derselbe ökonomische Plan durchgesetzt. Durch Regierungen mit verschiedenen Gesichtern: erst eine brutale Militärdiktatur, dann eine Regierung, die mit dem Gesicht demokrati­scher und partizipativer Grundsätze antrat und damit endete, denselben ökono­mischen Plan umzusetzen, und zum Schluß sogar auf Repression zurückgriff, schließlich nun eine Regierung, die sich auf die Geschichte einer Partei stützte, die eine Geschichte der Interessenvertretung der Arbeiter ist und nun ebenfalls diesen Plan durchsetzt. Es gibt also eine Kontinuität. Die Konsequenzen sind fürchterlich. Argentinien hat sein Bruttoinlandsprodukt um 10% in 15 Jahren ver­ringert, die Arbeitslosenzahl hat sich verdoppelt, der Bruttolohn ist um 50% gefallen, Gesundheits- und Bildungssystem verfallen. Es gibt keine Investitionen mehr. Sie sind vielmehr von 22% des Bruttoinlandsprodukts auf 8% gefallen. Es gibt nicht einmal eine Erneuerung von bestehenden Anlagen. Die Armut wächst in extremer Weise. Und kein Land kann so einen Prozeß durchmachen, ohne daß sich die sozialen Spannungen erhöhen.

LN: Ein weiteres Problem der Linken ist doch, daß sie gegenüber der – nennen wir sie einmal global – neolibe­ralen Politik der Regierung dem Volk eine Al­ternative, also auch ein anderes ökonomisches Projekt anbieten muß. Siehst du diesbezüglich Fortschritte? Was kann die Linke unter den aktuellen Gegeben­heiten des Weltmarkts anbieten?

H.T.: Nun, die aktuelle Situation ist schwierig, insbesondere wegen der hohen Aggressivität des Imperialismus unseren Ländern gegenüber und andererseits aufgrund des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers, was den Kampf um nationale Unabhängigkeit natürlich erschwert. Denn alle sich aus der Abhängig­keit lösenden Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika hatten doch eine gewisse Unterstützung aus dem sozialistischen Lager. Trotz all dieser Schwierig­keiten und obwohl wir glauben, daß die Lage recht schwierig ist, sind wir trotz­dem der Überzeugung, daß dies weder früher noch heute ein Hindernis darstellt, sich die nationale Unabhängigkeit zu erkämpfen. Aber, was ist nun die Lehre aus dieser Situation? Man muß erkennen, daß man ein Wurmfortsatz des Imperia­lismus ist, mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Im konkreten Fall von Argentinien bedeutet dies eine Rückkehr zu kapitalistischen Formen, die zuletzt vor 60 Jahren geherrscht haben. So entspricht zum Beispiel die Investition in Argentinien heute dem Niveau von 1910, 1975 wurden 270 000 Autos in meinem Land produziert, in diesem Jahr werden es nur 70 000 sein. Natürlich werden dies luxuriöse Autos sein, für eine kleine Oberschicht, die sehr gut lebt. Das ist das Modell, das man uns auflädt und von dem sie sagen, es sei das einzig mögli­che in der aktuellen Weltlage…Ich denke jedoch, wir haben das Recht und die Pflicht, ein Modell zu entwickeln für ein Land mit nationaler Unabhängigkeit und Fortschritt. Mir scheint die erste Lehre zu sein, daß die Modelle nationale sein müssen. Jedes Land hat seine Geschichte, seine Realität, seine Probleme und es muß diese alleine lösen. Das heißt nicht, chauvinistisch zu sein und Hilfe von außen grundsätzlich abzulehnen, aber im wesentlichen muß jeder seiner Pro­bleme selbst angehen. In Argentinien sieht die Sache so aus. Wir haben Vor- und Nachteile. Unser Nachteil ist, daß wir ein starkes Land innerhalb Lateinamerikas sind und uns der Imperialismus daher nicht so leicht die nationale Unabhängig­keit lassen wird. Es wäre ein geopolitisches Risiko, ein potentiell rei­ches Land wie Argentinien mit 30 Millionen Einwohnern, einer industriellen Basis, qualifi­zierter Arbeiterschaft in die Unabhängigkeit zu entlassen. Für uns ist das also sehr schwierig…Aber wir haben auch Vorteile, um die nationale Unab­hängigkeit zu erkämpfen. Wir haben einigen Reichtum, wir sind nicht Nicaragua oder Kuba, kleine Länder… Also wir haben trotz der schwierigeren internationa­len Lage andere Möglichkeiten. Unser Ziel müßte nun sein, ein gerechtes Land zu werden, modern und mit Wohlstand. Wie erreichen wir das? In ökonomischer Hinsicht hat unser Land ein grundlegendes Problem: Das Kapital, das hier akkumuliert wird, verläßt das Land. Dazu kommt ein weiteres, nämlich daß es Produktions­sektoren in meinem Land gibt, die dominant sind, wie die Agrar- und Fleisch­produzenten, die eine niedrige Produktivität haben, da dies den Interessen der Großgrundbesitzer entspricht. Man muß also Maßnahmen ergrei­fen, die diese Formen des Privateigentums abschaffen, die die Situation herbeige­führt haben. Weiterhin muß man verhindern, daß sich eine kleine soziale Gruppe die Rente aneignet und sie außer Landes schafft. (…) Es sind nicht die großen internationa­len Gruppen, die dies tun, sondern die nationalen, die eine weit rückständigere Mentalität haben als die großen Kapitale in Brasilien. (…) Wir müssen also den Außenhandel verstaatlichen, die nationalen Banken verstaatli­chen und außerdem einen bedeutenden Teil der industriellen Produktion. Gleichzeitig müssen wir dies unter eine nationale Kontrolle stellen unter starker Beteiligung der Arbeiter in der Führung. Nun ist mein Land aber auch eines mit einer bedeutenden mitt­leren Unternehmerklasse. Wir haben mindestens 500 000 kleine und mittlere Handels- und Industrieunternehmen und 400 000 Agrarpro­duzenten. Diesen Teil der Ökonomie muß man als Privatunternehmen erhalten. Argentinien muß also eine gemischte Wirtschaftsordnung haben. Erstens weil aus politischen Gründen notwendig ist, diese mittleren Sektoren in den Kampf für ein anderes Argenti­nien zu integrieren. Wenn man also ankündigt, daß man ihnen den Privatbesitz wegnehmen wird, ist klar, daß man ihre Unterstützung nicht bekommen kann. Aber auch aus ökonomischen Gründen sind sie von Bedeutung, denn sie könnten gar nicht ersetzt werden. (…)

LN: Auf diesen Punkt wollte ich mich beziehen…Sagen wir die Wiege der argentinischen Industrieentwicklung liegt in den 30er und 40er Jahren, als der Peronismus begann durch Staatsunternehmen einen Industrialisie­rungsprozeß in Gang zu setzen. Aber, während man damals die weltwirtschaftliche Lage für sich nutzen und den Industrieaufbau durch den Export von Agrarproduk­ten auf den Weltmarkt finanzieren konnte, so sieht das heute ja anders aus.

H.T.: Richtig, aber dieser Prozeß hatte eine Schwäche. Man kam nicht vorwärts hinsichtlich der Bodenbesitzverhältnisse. Und als die Weltmarktbedingungen sich veränderten, war die Produktivität im Agrarbereich immer noch sehr nied­rig. Die peronistische Erfahrung hätte also einen kapitalistischen Entwicklungs­weg, wenn auch in Unabhängigkeit, weiterbeschreiten können, wenn die Frage des Bodenbesitzes gelöst worden wäre. Dann hätte man die Besitzverhältnisse ändern können, die Produktivität erhöhen und das weiter erwirtschaften können, was man in Argentinien die Differenzialrente nennt. (…) Auch wenn es Verände­rungen auf dem Weltmarkt gegeben hat, das hat nur begrenzte Bedeu­tung. Sogar das Modell, das gerade in Argentinien betrieben wird, stützt sich auf eine Exportpolitik. Das Problem ist für uns vielmehr, wie heben wir die Produk­tivität im Agrarsektor, damit wir diesen Investitionskreislauf erhalten können.(…)
Wir glauben, daß ein Argentinien notwendig ist, mit grundlegend demokrati­schen Strukturenen, die in der Verfassung festgeschrieben sind. Argentinien hat eine liberale Verfassung aus dem Jahre 53. Aber was passiert, ist, daß diese durch gesetzliche Entscheidungen in vielfältiger Weise eingeschränkt wird. Es gibt kein Referendum, kein Plebiszit, als gesetzliche Figur, d.h. die Regierenden konsultie­ren das Volk nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Wir sind daher der Meinung, daß es notwendig ist, diese Mechanismen abzuschaffen und ein wirklich demo­kratisches, partizipatives Argentinien zu verwirklichen und außerdem ein plura­listisches. Wir sind nicht für das Einparteiensystem, generell und ganz besonders in Argentinien, denn dies ist ein Land mit einer stark differenzierten Klassen­struktur. Es ist irreal, anzunehmen, daß eine einzige Partei alle Interessen dieser Gesellschaft repräsentieren könne, allzumal in Argentinien, in einem Land, in dem man auf 100 Jahre politischer Geschichte zurückblicken kann.

LN: Kann man also in der argentinischen Linken einen Wandel feststellen, der in Zusammenhang steht mit dem Zusammenbruch des real-existierenden So­zialismus?

H.T.: Sieh mal, der Wandel im Osten ist kein Thema, das im Mittelpunkt der lin­ken Debatte steht. Wir sind davon so weit entfernt und unser konkretes Problem ist der Kapitalismus, mit dem wir täglich leben müssen. Generell ist dies das Zentrum der Debatten, nicht ohne sich darüber im klaren zu sein, daß diese Pro­zesse im Osten von großer Bedeutung sind. Nicht zuletzt, weil die Rechte per­manent Kapital daraus schlägt. Eines der bedeutendsten Schlachtrösslein Men­ems ist zu sagen: Aber warum wollt ihr denn dahin gehen, was die Völker im Osten gerade hinter sich lassen. (…) In Argentinien gab es jedoch nie politische Prozesse von größerer Bedeutung unter der Flagge des Sozialismus. Die sozialen Auseinandersetzungen verliefen vielmehr immer zwischen der Oligarchie und ihrem externen Alliierten und der Flagge der Verteidigung der Nation.(…) Der Zusammenbruch des Sozialismus ist insofern kein Diskussionsthema in der Bevölkerung. Innerhalb der Parteien gibt es eine Debatte. Sehr stark in der kom­munistischen Partei, aber selbst da scheint mir die Diskussion doch mehr durch die Lage im Lande motiviert zu sein, als durch die internationalen Vorgänge, wenn sich das auch vermischt. Tatsächlich ist deren Problem, daß sie Schwierig­keiten im Land haben, denn sie haben in ihrer Geschichte schwere politische Fehler begangen. Um die interne Einheit zu erhalten, hatten sie Moskau immer als das große Ziel definiert: sozusagen, hier sind wir zwar klein, aber in der Sowjetunion sind wir an der Macht. Nun ist dies zusammengebrochen und sie stehen vor einem Scherbenhaufen. Die Partei hat sich weiter verkleinert. Sie ist jetzt 10 mal kleiner als vorher, glaube ich, und in sich gespalten. Die andere Kraft, in der es eine diesbezügliche Debatte gibt, ist das MAS. (das trotzkistische “Movimiento al Socialismo”). Sie haben einen strategischen Vorteil gegenüber der kommunistischen Partei. Sie sind Trotzkisten und sagten den Zusammenbruch dieses Sozialismus immer voraus. Nun fühlen sie sich bestätigt. Die Debatte aber hat als Ursache, daß man die Vorgänge interpretierte als eine Auseinanderset­zung zwischen den Arbeitern und der stalinistischen Bürokratie. Zum Teil mag das so gewesen sein. Aber inzwischen haben diese Prozesse eben nicht wie in der Erwartung mehr Sozialismus und Demokratie zum Ziel, sondern die Rückkehr des Kapitalismus. Sie bekommen nun also Schwierigkeiten bei der Interpretation der Prozesse. Zum Beispiel hieß früher ihre Parteizeitung “Solidaridad”. Inzwi­schen haben sie das geändert.(…) Hier gibt es also eine gewisse Debatte. Aber das sind politische Kräfte mit starken Beziehungen nach außen. Darüber hinaus geht die Diskussion nicht.(…)

LN: Ich habe eine gewisse Hoffnung aus deinen Worten herausgehört. Worauf stützen sich deine Hoffnungen? Kommt nur politische Unzufriedenheit zum Ausdruck oder gibt es Veränderungen in den Organisationsstrukturen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und wachsen­des politisches Bewußtsein?

H.T.: Es gibt natürlich eine wachsende Unzufriedenheit und Unmut in der Bevölkerung. Das ist schon ein Fortschritt, denn immerhin handelt es sich um eine peronistische Regierung. Der generelle Konsens ist also nicht mehr so leicht herzustellen. Es bleiben der Regierung natürlich weitere Werkzeuge, wie die Repression, aber den Konsens kann sie so leicht schon nicht mehr herstellen. Ein Fortschritt ist das, aber das reicht natürlich nicht aus. Immerhin sollte man nicht vergessen, daß sich Unzufriedenheit auch auf der Rechten Ausdruck verschaffen kann. Die Unzufriedenheit hat sich jedoch in bestimmten Sektoren bereits zu einer regelrechten Konfrontation entwickelt. In erster Linie bei den Arbeitern, genau genommen bei den Staatsangestellten. Zum Tragen kommt diese Kon­frontation in den Gewerkschaften, in diesem Falle in denen der Staatsangestell­ten. Außerdem gibt es Organisationen kleineren Ausmaßes in den Wohnvierteln. Das hat sein Höhen und Tiefen. Manchmal organisieren sich die Leute, aber genauso schnell fällt die Organisation wieder auseinander. Sie können eine kräf­tige Mobilisierung erreichen, wie zum Beispiel wie vor ca. 20 Tagen in der Pro­vinz Chubut…Solche Prozesse werden sich häufen, gerade in den Provinzen, wo das Regierungsprojekt besonders starken ökonomischen Druck hervorruft.(…) Außerdem gibt es jedoch ein Wachstum der Linken hinsichtlich ihrer politischen Repräsentation. So gab es eine große Demonstration der Linken am ersten Mai auf der Plaza de Mayo, zu der 100 000 Menschen kamen. Wir nehmen diesen Wachstumsprozeß der Linken durchaus wahr. Bisher noch vor dem Hintergrund der Unzufriedenheit der Menschen mit der aktuellen Politik. Noch haben wir keine politische Plattform gefunden, die attraktiver wäre, als die, die wir bisher anbieten.(…)

LN: Heißt das Ziel auf mittlere Sicht also, eine verei­nigte, linke politische Kraft im Lande zu etablieren? Ist da der Name Izquierda Unida schon Teil des Pro­jekts?

H.T.: Ich weiß nicht, ob der Name dem entspricht, was sie (die IU) tatsächlich repräsentiert. Denn in meinem Land ist dieser Name nur mit Einschränkungen zu verwenden. Er hat dazu gedient, einen Teil der Linken unter einem Dach zu vereinen. Aber das eigentliche Ziel muß sein, mehr unter einem Dach zusam­menzubekommen.

LN: Ich wollte mich weniger auf das bestehende Wahl­bündnis beziehen als vielmehr auf eine breitere linke Kraft. Könnte zum Beispiel die Frente Amplio in Uruguay in bestimmter Weise ein Modell sein?

H.T.: Das könnte ein Modell sein. Aber man muß berücksichtigen, daß in meinem Land die Krise sehr zugespitzt ist. Wenn man also einen signifikanten Teil der Gesellschaft, der von dieser Krise betroffen ist, ansprechen will, muß man eine starke Oppositionspolitik machen. Es wird zu einer weiteren Einschränkung der politische Freiheiten kommen, denn anders wird die herrschende Klasse die Situation nicht kontrollieren können.(…) Die Demokratie wird lediglich als for­male Schale übrigbleiben. Und es ist wichtig im Ausland daraufhinzuweisen, wo man zwar sieht, daß die ökonomische Lage des Landes schwierig ist, man aber davon ausgeht, daß Demokratie herrscht. Darüberhinaus sind wir davon über­zeugt, daß sich der imperialistische Druck in den 90er Jahren noch erhöhen wird. Dabei waren die 80er Jahre schon schlimm. (…) Die Herausforderung ist, eine neue Linke in Argentinien zu etablieren. Wir sind optimistisch, wenn auch bescheiden und vorsichtig.

Ökologie in Unordnung

“Die Entwicklungsprojekte der letzten 25 Jahre für Amazonien sind durchweg gescheitert”, darin herrschte weitgehende Einigkeit unter den RednerInnen und Zuhöre­rInnen. Tatsächlich ein “gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsalternativen für Amazonien” in Gang zu bringen, wie es die 5-tägige, unter anderem von der UNESCO, der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der US-amerikanischen FORD-Stiftung unterstützte Tagung als Ziel formuliert hatte, erwies sich in der Folge jedoch als ein schwieriges Unterfangen.
Bei den Podiumsdiskussionen, die Politiker und WissenschaftlerIn­nen, Holzexporteure und IndianerInnen zusammenbringen sollten, kam eine echte Debatte nur ansatzweise zustande. Die einzelnen Statements waren von sehr unter­schiedlicher Qualität, nur selten aufeinander bezogen, und auch viele interessante Beiträge endeten eben an dem Punkt, wo eine Diskussion über Entwicklungs­alternativen hätte beginnen müssen. So etwa die bedenkenswerte Überlegung des Vertreters des anthropologischen Museums von Belém: Wenn jetzt viele im Norden so gerne davon reden, “von den Indianern zu lernen”, wie sieht es dann eigentlich mit den “intellectual property rights”, den Rechten der intellektuellen Urheberschaft und des geistigen Eigentums aus? Sicherlich ist dies eine Vorstel­lung, die der internationalen Pharmaindustrie mit ihren großen Interessen an pflanzlichen Wirkstoffen aus Amazonien wenig gefallen wird.

Sammelreserven und CO2-Lager

Ein anderer Ansatzpunkt, der ein positives Echo fand, waren die “Sammelreserven”, wie sie beispielsweise auf Druck der Kautschukzapfer in dem brasilia­nischen Bundesstaat Acre einge­richtet wurden. Diese Schutz­gebiete, in denen die Nutzung des tropischen Regenwalds nicht in seiner Vernichtung besteht, bringen auch fast in jedem Falle mehr ökonomischen Gewinn als die extensiven Viehweiden auf gerodetem Urwaldland, wie der nordamerikanische Anthropologe Emilio Moran erläuterte. Und durch den gezielteren Einsatz forstwirtschaftlicher Methoden wäre in diesem Bereich noch eine beträchtliche Ertragssteigerung zu erzielen.
Die besonders von Umweltgruppen aus den USA propagierten sogenannten “Debt-for-nature-swaps” (Auslandsschulden-gegen-Natur-Tausch) wurden auf der Konferenz in Belém als “Mittel der entwickelten Länder, Kontrolle über Gebiete in unter­entwickelten Ländern zu erlangen” abgelehnt. Der katalanische Ökonom Martinez Allier jedoch riet der Umweltbewegung Brasiliens, diese Idee aufzu­nehmen und im Gegenzug aber einen gerechten Preis einzufordern: Wenn die Bedeutung des Amazonas-Waldes für die Lagerung von Kohlen­stoff und für das Weltklima einberechnet wird, müßten die Hauptproduzentenländer von Kohlendioxid alljährlich Zahlun­gen in Millionenhöhe an Brasilien leisten…
Ausgehend von der Erkenntnis, daß Amazonien nicht als ein homogenes Ökosystem betrachtet werden darf, sondern die Besonderheiten der einzelnen Regionen beachtet werden müsseen, wurde die Forderung nach einer “ökologischen und ökonomischen “Zoneneinteilung” (zoneamento) erhoben. Nur durch eine derartige Unterteilung des riesigen Amazonasgebietes ließen sich sinnvolle Aussagen über die unterschiedlichen ökologisch verträglichen Nutzungsmöglichkeiten einzelner Regionen treffen, machte der Geograph Aziz Ab’Saber von der Universität Sao Paulo deutlich.

Lutzenberger als Collors Alibi

Nur am Rande kam bei der Amazonas-Konferenz die Sprache auch auf die Politik der Regierung in Brasilia. Der erst im März gewählte Präsident Collor hatte mit der Ernennung des international bekannten Umwelt­experten José Lutzenberger zum Staatssekretär für Umweltschutz einen Überraschungscoup in Sachen Öko-Image gelandet. Dennoch setze Collors Politik das von der Militärdiktatur implantierte Konzept der Inbesitznahme Amazoniens unverändert fort, kritisierte Fabio Feldman, Abgeordneter der bei den Wahlen im März unterlegenen PT (Arbeiterpartei). Über das “Ministerium für strategische Angelegenheiten” hat das Militär auch heute noch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung Amazoniens. Und José Lutzenberger – der zu der Konferenz in Belém eingeladen, aber nicht erschienen war – habe für Collor lediglich die Funktion, durch Auftritte auf internationalen Kongressen die Kritik des Auslands zu neutrali­sieren.
Konkrete Ergebnisse konnte das Treffen über die “ökologische Unordnung in Amazonien” keine vorweisen. Die unvermeidliche Schlußresolution faßte in “22 Empfehlungen” so richtiges wie altbekanntes zusammen, von der Forderung nach einem Stopp für Großprojekte und neue Ansiedlun­gen im Amazonasgebiet über die Eindämmung der Landspekulation bis hin zur Kontrolle der Gold­sucher und dem effektiveren Schutz der Indianer- und Natur­schutzgebiete. Befriedigende Antworten, wie all dies denn erreicht werden könne, blieben jedoch aus; die Schlußresolution wird so erst einmal der Planungs­kommission für den nächsten Kongreß zum Thema übergeben, der im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattfindenden UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung…

Fujimori aus anderer Sicht

Neue Zeiten: Impressionen und Depressionen

Wenn es auch richtig ist, daß die vom gewählten Präsidenten Alberto Fujimori geführte Bewegung CAMBIO 90 nicht über die rund 2500 ausgebildeten Kräfte, Techniker und Experten verfügt, die benötigt werden, um die Schlüsselstellungen der staatlichen Verwaltung zu besetzen und die zudem nicht über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, die ein leichtes Regieren zuließe, die über keinerlei politische Erfahrung verfügt, so ist es ebenso zutreffend, daß es Fujimori verstand, diese Schwächen in ihr Gegenteil zu verwandeln.
Sein erster Vorschlag bezog sich auf die Notwendigkeit einer breit angelegten Zusammenarbeit, zu der er alle politischen Kräfte aufforderte. Antworten ließen nicht auf sich warten: Spezialisten und Techniker unterschiedlichster Provenienz mit Ausnahme der FREDEMO leiteten Fujimori ihre Vorschläge und Kritik zu. Fujimori traf sich mit allen politischen Richtungen inklusive der Izquierda Unida (IU). Es ging nicht mehr darum, für die Regierung irgendeiner politischen Partei aktiv zu werden, sondern um zum Wohl des Landes zu arbeiten. Das Land war von einer Atmosphäre der nationalen Übereinstimmung getragen. Fujimori verfügte über das Vertrauen der PeruanerInnen, ein Vertrauen, das auch unorthodoxe Entscheidungen zuließ, wie etwa die Einladung der Militärs zu folgen und in ihren schwer bewachten “Círculo Militar” umzuziehen, aus Sicherheitsgründen, wie verlautbart wurde. Der künftige Präsident Perus war der einzige Bewerber ohne eine Schar von Sicherheitsleuten, er verfügte weder über einen gepanzerten Wagen noch über kugelsichere Scheiben in seinem Wohnhaus. Nach der freundlichen Atmosphäre im Haus Fujimoris, wo sein jüngster Sohn Erfrischungen und Häppchen an Journalisten und Politiker verteilte, mußten diese sich nun den überzogenen Praktiken der militärischen Sicherheitsfanatiker unterziehen. Fujimori bot diesem heftig kritisierten Umstand Paroli, indem er bei verschiedenen Gelegenheiten das Protokoll durchbrach, um mit Journalisten oder Leuten zu reden und damit seine Leibgarde in nervöse Hektik versetzte. Eine kleine Reaktion von Fujimori genügte, um alle Kritik verstummen zu lassen. Diese kleine Begebenheit stellte keinen Einzelfall im Brechen von Konventionen dar. Zwei Wochen vor seiner Amtseinführung und nach einer detaillierten Analyse der apristischen “Erbmasse” entschied sich Alberto Fujimori für ein weit drastischeres Programm zur wirtschaftlichen Sanierung, als das von seinem persönlichen Berater und Vorsitzenden der Programmkommission von CAMBIO 90, Santiago Roca vorgeschlagene. Mit dieser Entscheidung holte er eine der Fahnen ein, die ihn zu seinem Triumph geleitet hatten, mit anderen Worten, die Alternative der graduellen Anpassung zu der von Vargas Llosa vorgeschlagenen Schockbehandlung.
Es folgten Tage vagen Hoffnung und der Rücktritte. Fujimori hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Hälfte seiner Kabinettsmitglieder beieinander. Die Linke konnte sich über ihr Verhalten gegenüber der künftigen Regierung nicht einigen. Fujimori hatte zwei Mitgliedern der Izquierda Socialista (IS) das Energie- und Bergwerksministerium sowie das Landwirtschaftsressort angetragen. Beide Vertreter nahmen das Angebot trotz der vagen Haltung ihres Wahlbündnisses an. Später sollte IS dann verlautbaren, daß die Regierungsbeteiligung seiner beiden Mitglieder auf rein persönlicher Basis stattfinde und das Bündnis in keiner Weise tangiert werde. Zugleich schlug Fujimori Gloria Helfer von Izquierda Unida (IU) als Erziehungsministerin vor. Auch hier dasselbe Spiel: Beteiligung nur auf eigene Verantwortung, obwohl IU nach der Veröffentlichung des Wirtschaftspakets lautstark ihren Rücktritt forderte. Dieses Vorgehen und die Zusicherung von weitestgehendem ministeriellen Handlungsspielraum stellt in der Geschichte der peruanischen Demokratie ein völliges Novum dar. Bislang gab es nur Koalitionen, Allianzen und Absprachen, mittels derer das Land verteilt und die öffentlichen Pfründe besetzt wurden. Fujimori bot nun Handlungsfreiheit ohne Kompromisse und Vorbedingungen an. Der Fall von Gloria Helfer ist in diesem Zusammenhang sehr illustrativ. Es gehörte viel Mut und Kraft dazu, aus der IU auszutreten und zu erklären, nun sei es an der Zeit, für das Land zu arbeiten und das Eintreten für die Wünsche der minderbemittelten PeruanerInnen als Regierungsmitglied in die Praxis umzusetzen; sich nicht länger in Opposition zu üben, sondern nun konkrete Verantwortung zu übernehmen. Die Führung der Linken ist in der Oppositionstradition deformiert worden. Die Linke befand sich in Opposition zur Militärdiktatur, zu den Regierungen Belaúndes und Alan Gracías und will diese Rolle auch unter Fujimori weiterspielen. Alternativen zu nationalen Problemen werden nur aus Anlaß von Wahlen formuliert.

Es ist leicht, mit einem dicken Parlamentariersalär die Oppositionsbank zu drücken.

Unter den Parlamentariern der Linken, die dem Kongreß angehörten und es sind nicht wenige, lassen sich diejenigen, die brauchbare Vorschläge machten, an fünf Fingern abzählen. Das Parlament diente der Linken als Tribüne für die Anklage, ein Umstand, der zeitweise Gewicht hatte. Aber die Parteibasis, die die Linke von 1985 bis zur Wahl Fujimoris zur zweiten politischen Kraft im Land gemacht hatte, forderte mehr als nur parlamentarische Tiraden, sondern konkrete Konzepte zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung Gloria Helfers im doppelten Sinn positiv. Zum einen entspricht sie damit den Wünschen der Basis, zu anderen hat sie mit ihrer Haltung dazu beigetragen, daß sich viele der Linken nahestehende Intellektuelle und Spezialisten, Leute mit guten Ideen und dem Willen zur konkreten und verantwortlichen Arbeit nach Jahren folgenloser Predigten dazu entschlossen haben, mit der Regierung zusammenzuarbeiten.
Mit der Verpflichtung von Juan Carlos Hurtado Miller zum Kabinettschef und Wirtschaftsminister konnte Fujimori die Regierungsbildung abschließen. Der bewanderte Premier, Agraringenieur, Wirtschaftswissenschaftler und Spezialist für Öffentlichkeitsarbeit war bis dahin Mitglied der Acción Popular (AP) gewesen, einer Partei, an der rechten FREDEMO-Allianz beteiligt war. Hurtado Miller ist ein typischer Vertreter der politischen Mitte, ein exzellenter Fachmann, der jedoch in der AP und noch viel weniger innerhalb der FREDEMO hervorstach, wo ihn starke Auseinandersetzungen mit dem “Movimiento Libertad” isolierten, der Gruppierung, die von Vargas Llosa geführt wird, oder besser gesagt, geführt wurde. Vargas Llosa schenkte dem von ihm als Leiter einer 14 köpfigen Gruppe ausgearbeiteten Programm zur Agrarentwicklung keinerlei Beachtung. Anscheinend hat Hurtado Miller den Vorstellungen der FREDEMO niemals allzu nahe gestanden.
Fujimori und sein buntes Kabinett auf breiter Basis hatten nicht die Zeit, konsensfähige Alternativen für die wichtigsten anstehenden Probleme des Landes auszuarbeiten. Das gilt insbesondere für den ökonomischen Bereich, der mit den stärksten Erwartungen verbunden war. Am 28. Juli, dem Tag seiner Amtseinführung, gab Fujimori lediglich einige allgemein gehaltenen Erklärungen zu seiner künftigen Politik ab und vermied es, detaillierter zu werden. In einer anschließenden Pressekonferenz gab er bekannt, daß sein ökonomisches Sanierungsprogramm in den ersten Augusttagen vom Kabinettschef vorgestellt werden würde. Vielen wurden die Tage bis zur Fernsehbotschaft des Premiers lang. Alle wußten, daß die Maßnahmen drastisch ausfallen würden. Dennoch waren die PeruanerInnen weit davon entfernt, nun eine kritischere Haltung einzunehmen. In mehreren Meinungsumfragen stimmte ein wichtiger Teil der Bevölkerung der Feststellung zu, Fujimori bleibe kein anderer Ausweg, da Alan García das Land in den Ruin getrieben habe.
Die Reaktionen änderten sich jedoch schlagartig, als Hurtado Miller den Wirtschaftsplan verkündete. Nicht einmal pessimistische Prognosen kamen der Realität nahe. Zusammen mit den extrem harten Maßnahmen erklärte der Premier, das Land verfüge über keinerlei Haushaltsmittel und die Regierung sehe sich gezwungen, eine irreguläre Emission von Zahlungsmitteln vorzunehmen, um die Staatsangestellten bezahlen zu können. Die Wirtschaft bankrott, unbezahlbare Auslandsverschuldung, Embargodrohungen und zusätzlich keine Möglichkeit eines sofortigen Wiedereinstiegs in das Weltwirtschaftssystem; was also tun? Zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme belief sich die Devisenmasse der peruanischen Zentralbank auf ganze drei Millionen Dollar. Allein zur Finanzierung des vorgesehenen Agrarprogramms hätten innerhalb von zwölf Monaten 500 Millionen Dollar ausgegeben werden müssen. In diesem Zusammenhang war also die Bekämpfung der Hyperinflation und der Ausgleich des Haushalts der zentrale Punkt des Stabilisierungsprogramms. Eigens zu diesem Zweck konstituierte sich eine Kontrollbehörde, das täglich über die Staatskasse Bilanz hielt und sicherstellen soll, daß Ausgaben und Einnahmen ausgeglichen sind. Dieses Prinzip ist unter großen Opfern bislang durchgehalten worden. Gleichermaßen wurde erklärt, das Notprogramm für den sozialen Bereich (Programa de Emergencia Social, PES) bis Dezember über eine Finanzierungsbasis verfüge.
Zu diesem Notprogramm, das für 12 Millionen extrem arme PeruanerInnen gedacht ist, gibt es einen Punkt hervorzuheben. Zu ihrer Information bat die Regierung verschiedene repräsentative VertreterInnen der Gesellschaft, einen Koordinationsausschuß unter der Leitung eines Regierungsmitglieds zu bilden. Zu den eingeladenen Organisationen gehören unter anderem den UnternehmerInnenverband CONFIEP, die Koordination der Komitees des Milchverteilungsprogramms, die nationale Kommission der Volksküchen, nichtstaatliche Organisationen, Stadtverwaltungen und lokale Administrationen.
Vom Handlungsspielraum dieses Koordinationsausschusses her gesehen, bedeutet seine Konstituierung eine Anerkennung derjenigen Überlebensstrategien, die sich in den letzten zehn Jahren parallel zur öffentlichen Politik als Antwort auf die permanente Krise entwickelt haben. Der wesentliche Unterschied zur Praxis früherer Regierung ist, daß diese immer wieder versucht haben, mittels paternalistischer Hilfsprogramme die autonomen Organisationen der PeruanerInnen zu behindern und zu spalten. Die Bitte der Regierung, den Koordinationsausschuß zu bilden, stellt also die Anerkennung der verschiedensten von Frauen geführten Initiativen dar, die sich als die besseren Formen zum Kampf um die Demokratie erwiesen haben. Der sprichwörtliche Kampf um das tägliche Brot wird damit direkt von der Straße in die Regierung getragen.

Verloren in einer Straße ohne Namen…

Die unmittelbaren Reaktionen der PeruanerInnen nach der Verkündung der Wirtschaftsmaßnahmen illustriert den Gemütszustand der Bevölkerung gegenüber der neuen Regierung. Obwohl feststeht, daß der harte Schlag die PeruanerInnen in einen mehr als besorgten und desolaten Zustand versetzte, so muß doch auch gesagt werden, daß es leicht zu einem sozialen Beben astronomischen Ausmaßes hätte kommen können. Es gab einzelne gewaltsame Auseinandersetzungen und Ansätze zu Plünderungen, die aber die große Mehrheit der Bevölkerung nicht mitrissen. Während eines Besuchs bei den Volksküchen des Stadtteils Villa el Salvador von Lima, fragte ich einen Mann, der in einer langen Warteschlange für seine Portion anstand, was er von dem Zeitungskommentar halte, der die PeruanerInnen als passives und untätiges Volk angesichts solch drastischer Dekrete beschrieb. “Wir werden uns doch nicht dafür umbringen lassen, um Zucker oder Öl für einen Tag zu haben, wir wollen eine andere Lösung.” In der augenblicklichen Phase der täglichen politischen Gewalt ist es wichtig, zweimal nachzudenken, bevor gehandelt wird. Alles andere würde den Vorstellungen von Sendero Luminoso nur entgegenkommen. Die PeruanerInnen scheinen mit der neuen Situation ganz gut umzugehen, ganz im Gegensatz zu den Parteispitzen.
Die ParlamentarierInnen sorgten in derselben Woche für einen schalen Beigeschmack, die gemeinsam mit den Abgeordneten der APRA gegen die Wirtschaftsmaßnahmen auftraten und den schleunigen Rücktritt des Kabinetts forderten. Die PeruanerInnen fragten sich, mit welchem moralischen Recht die APRA mobilisierte, war sie doch die Hauptschuldige am Debakel des Landes. Aber wir fragten uns auch, was da die Linke Arm in Arm mit der APRA tat. Um das Faß voll zu machen, waren auf der Demonstration, zu der die Gewerkschaften der Linken (CGTP) und der APRA (CTP) aufgerufen hatten, mehr ParlamentarierInnen und Journalisten als andere Teilnehmer zu sehen. Den Gipfel politischer Tolpatschigkeit erklomm die Gewerkschaftsführung, als sie die mangelnde Beteiligung der ArbeiterInnen auf die hohen Kosten des Nahverkehrs zurückführen wollte. Diese Art von Aufrufen zum Kampf ohne größere Perspektive locken niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. In derselben Woche scheiterte ebenfalls ein von den Staatsangestellten ausgerufener Streik. Was allerdings Erfolg hatte, war ein durch die Stadtteilorganisationen der Frauen organisierter Marsch der “leeren Kochtöpfe”, bei dem die effiziente Umsetzung des sozialen Notprogramms gefordert wurde. Die Schlachten der Straße gewinnen nun die Organisationen der unmittelbar Betroffenen und nicht mehr die großen politischen Zentralen, die zur bloßen Konstruktion verkommen sind. Ein Beispiel: Die für die Organisation des Milchprogramms in Lima zuständige Stadträtin hatte erklärt, in Zukunft würden die Milchrationen nur noch an Kinder unter sechs Jahren verteilt. Am folgenden Tag waren zwölftausend Mütter auf der Straße. Sie erklärten kategorisch, Kind höre man nicht mit sechs Jahren auf zu sein, außerdem müßte das Programm auf stillende Mütter ausgedehnt werden. Zwei Stunden später war die Stadträtin ihren Posten los.

Das neue Parlament: “Offizielle” Sprache Quechua?

Eine Anekdote wurde zu dieser Zeit gerne in Lima zum besten gegeben: Ein bekannter Unternehmer hatte sich entschlossen, auf der Liste der rechten Bewegung “Somos Libres” für den Senat zu kandidieren. “Somos Libres” unterstützte Vargas Llosa, war jedoch nicht Teil der FREDEMO. Seine Frau versammelte die gesamte Dienerschaft des Hauses: Köchin, Chauffeur, Gärtner und Butler. Sie bat sie, doch bitteschön für ihren Mann zu stimmen. In ausgesucht höflicher Form widersprach der Gärtner; leider könne er ihr den Gefallen nicht tun, da er selbst auf der Abgeordnetenliste von CAMBIO 90 für Lima kandidiere. Natürlich hat die Geschichte einen glücklichen Ausgang. Der Gärtner sitzt nun im Parlament und der Unternehmer fiel durch.
Die soziale Zusammensetzung ist etwas neues am Parlament. Die Mehrheit der Neulinge von CAMBIO 90 kommen aus dem Volk, mit viel Energie und Nachdruck, aber ohne Erfahrung in parlamentarischer Polemik. Abgesehen von einigem anfänglichen Durcheinander, das durch die Annahme ausgelöst worden war, der Präsident werde die öffentlichen Positionen mit seinen Leuten besetzen, setzte sich schließlich Fujimoris alte Devise durch: “Öffentliche Ämter werden nicht verteilt oder verschachert, sondern neutrale und gleiche Kriterien müssen für alle gelten”. Die ersten hundert Tage deuten auf eine positive Bilanz hin. Die ParlamentarierInnen von CAMBIO 90 halten mit ihrer Kritik an der Regierung nicht hinter dem Berg und formulieren mit viel Klarheit ihre abweichenden Meinungen ohne jedoch den gemeinsamen Konsens abgesehen von den existierenden Beschränkungen zu verlassen. Diese organische Einheit gibt den Debatten in beiden Häusern des Kongresses eine ungewohnten Pep. Dies hat offensichtlich mit dazu beigetragen, daß das Präsidium beider Häuser von CAMBIO 90 trotz fehlender Mehrheit gestellt wird.
Die FREDEMO ist nach der Rückkehr Vargas Llosas nach Europa bis auf das “Movimiento Libertad” zusammengeschrumpft. Alle ehemaligen Mitgliedsparteien arbeiten unabhängig im Kongreß und die Unterschiede in der Haltung gehen von einem Extrem ins andere. Während die einen nichts mit der Regierung zu tun haben wollen, ohne ihrerseits Alternativen vorzustellen, billigen die anderen gnädig die Vorschläge von CAMBIO 90, mehr aber auch nicht. Die von ihnen erzeugte Polarisierung während des Wahlkampfs kehrt sich nun gegen sie selbst.
Was die Linke anbelangt, so scheint sie in die Dauerkrise geraten zu sein. Nach ihrer demütigenden Wahlniederlage versucht sie in der Rolle der radikalen Opposition verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Ein fataler Fehler, denn die PeruanerInnen und die Geschichte haben bereits seit längerer Zeit eine andere Richtung eingeschlagen. Vor allem Izquierda Unida spielt gefährlich mit dem Feuer zugunsten von Sendero. Die große Mehrheit der Parteien der peruanischen Linken hantieren immer noch in unterschiedlichen Abstufungen mit Prinzipien wie der Einheitspartei und dem Demokratischen Zentralismus; sie bezeichnen sich selbst als marxistisch-leninistisch und bei Bedarf auch noch maoistisch. Diejenigen, die das nicht tun, haben sich dieser Terminologie auf eine Weise entledigt, wie man/frau ein abgetragenes Kleidungsstück wegwirft. Ernsthafte Ansätze zum Wandel hat es nicht gegeben. Die Perestroika schmeckt ihnen nicht recht oder sie wird vielleicht nicht richtig verstanden. Sicher ist jedoch, daß die Linke wenig Möglichkeiten hat, einem Fallstrick zu entgehen, falls sie weiter auf Prinzipien und solch orthodoxen Positionen herumreitet. Trotzdem kann nicht behauptet werden, die Linke stelle innerhalb der nationalen Politik nicht dar. Die Beteiligung von drei Linken an der Regierung wird von vielen, vor allem den armen PeruanerInnen, als eine Art Garantie für sie empfunden.

Die heimliche Rechnung Fujimoris

Es ist ein offenes Geheimnis, daß ein Übereinkommen Fujimoris mit der Armee existiert. Dieser Umstand hat Anlaß zu den verschiedensten Kommentaren gegeben, angefangen mit den konservativsten, die eine solche Situation schon aus Prinzip nicht akzeptieren können bis zu den gewagtesten, die sich fragten, welcher der verfassungsgemäßen Präsidenten Perus denn kein Abkommen dieser Art gehabt hätte. Sicher ist, daß Fujimori diesen Pakt geschlossen hat, unklar und der Spekulation überlassen bleibt jedoch sein Ausmaß. So läßt sich auch nur das analysieren, was davon an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Es gab Probleme, die den Militärs Kopfschmerzen bereiteten, eines davon war die wachsende Besetzung der Polizeieinheiten mit APRA-Anhängern. Während der Regierungszeit Alan Garcías wurde die Polizei mit leichten und schweren Waffen massiv hochgerüstet und eine Unmenge an neuen Hauptabteilungen geschaffen, die selbstverständlich von Polizeigenerälen geleitet werden mußten. Das bewirkte eine extreme bürokratische Disproportion und die Struktur hörte auf, pyramidenförmig zu sein und ähnelt heute mehr einem Oktogon. Die Armee war nicht bereit, die zunehmende Verflechtung der Polizei mit paramilitärischen Einheiten, an denen die APRA ebenfalls beteiligt ist, weiter zu tolerieren. Angesichts der Schwäche der Regierung Fujimori schlug sie einen Tauschhandel vor: Unterstützung der Regierung für die Besetzung des Innenministeramts. Fujimori konnte an einer APRA-orientierten Polizei ebenfalls nicht gelegen sein und, schlimmer noch, mit der Kenntnis, daß die Regierung nicht in der Lage sein würde, etwas an dieser Situation zu ändern. Die Karten lagen offen auf dem Tisch. In gewisser Weise begünstigten sie Fujimori, da er ja entsprechend der Logik seiner Moralkampagne die Oberkommandierenden der Marine und der Luftwaffe sowie eine Reihe weiterer Generäle abgesetzt hatte, obwohl anscheinend nur einige korrupt waren. Im Rahmen der Reorganisation des Apparats entließ die Regierung beinahe 200 Offiziere der Polizei. Es gab Stimmen, die die Meinung vertraten, Fujimori sei zu weit gegangen und dies sei möglicherweise der Gegenstand des Kontraktes gewesen. Auf kurze Sicht gesehen hat die Regierung sicherlich davon profitiert, muß diese Beziehung aber mit Glacéhandschuhen anfassen, will sie nicht langfristig verlieren.

Krieg oder Frieden: Eine ungewisse Zukunft

Fujimori übernahm die Amtsgeschäfte in einer Situation des verstärkten Rückzugs von Sendero Luminoso. Ein Rückzug, der nicht nur durch das Scheitern der Strategie des erzwungenen Wahlboykotts bedingt war, sondern insbesondere durch das Wahlergebnis selbst: die Mehrheit der sogenannten Roten Zonen, Gebieten unter der anscheinenden Kontrolle von Sendero stimmten überwältigend für Fujimori. In der Mehrzahl der Departements der Zentralanden gewann Fujimori eine solide Mehrheit. Politisch bereits angeschlagen, mußte Sendero den Verlust von Kadern der mittleren und unteren Ebene hinnehmen, die von Armee und Polizei verhaftet wurden. Natürlich gibt es weiter Bombenattentate und Sabotageakte, wenngleich in geringerem Ausmaß als früher. Sie tragen allerdings eine neue Handschrift: die der Verzweiflung. Sendero will um jeden Preis seine Protagonistenrolle erhalten, dies treibt die Organisation zu unkoordinierten und ihre Kräfte übersteigenden Aktionen. Das war bislang nicht geschehen, die Basis ist verunsichert. Dieser Umstand wurde an einem Konflikt unter Senderisten im Gefängnis von Canto Grande deutlich, der mit dem Ausschluß von drei Genossen und ihrem “Umzug” in den Trakt der gewöhnlichen Gefangenen endete. Das heißt nun nicht, daß Sendero etwa geschlagen und seine Tage gezählt seien, es bedeutet lediglich, daß sich Sendero in seiner ersten ernsten Krise befindet und der Grund dafür ist in seiner politischen Niederlage zu suchen.
Der MRTA seinerseits hat nach einem spektakulären Gefängnisausbruch durch einen 320 Meter langen Tunnel, der in dreijähriger Bauzeit entstanden war und durch den 48 MRTA-Gefangene inklusive dem legendären Víctor Polay alias Comandante Rolando entkommen waren, per Video über einen Fernsehkanal den Dialog angeboten. Vorbedingung sei allerdings die vorherige Auflösung der “politisch-militärischen” Kommandos in den Gebieten des Ausnahmezustands. Am 22. September entführte ein MRTA-Kommando den parlamentarischen Geschäftsführer der CAMBIO 90-Fraktion, Gerardo López. Nach einer Woche wurde er freigelassen und einem Fernsehsender mitgeteilt, wo er aufzufinden sei. Von dort direkt in den Sender gefahren und vor Kameras befragt, informierte López über “die Bereitschaft des MRTA, in Verhandlungen mit der Regierung und Vertretern der Basisorganisationen ohne Waffenniederlegung zu treten mit dem Ziel, Übereinstimmung über konkrete Punkte zu erzielen, die zu einem Waffenstillstand in einem Bürgerkrieg führen könnten.” Außerdem bemerkte López, der MRTA sei nicht bereit, direkt mit Fujimori zu verhandeln da sie “der Ansicht sind, daß die politische Persönlichkeit des Präsidenten weder Garantien und Sicherheit noch Glaubwürdigkeit verkörpert. Sie betonen ihre Ablehnung mit dem Argument, daß der Präsident der Bevölkerung ein anderes Programm versprach, als er es jetzt anwendet, was ihn als Gesprächspartner disqualifiziert.” Ihr Hauptinteresse richtet sich unter anderem auf den Vizepräsidenten, Dr. Carlos García oder den Senatspräsidenten, Máximo San Román.
All diese Elemente sind Teil einer neuen politischen Szenerie. Aus diesem Grund steht zu hoffen, daß der neuen Regierung nicht derselbe Irrtum unterläuft wie all seinen Vorgängern, nämlich mit der Anschaffung von Feuerlöschern zu beginnen, wenn das Haus bereits in hellen Flammen steht.

Demokratie auf dem Vormarsch

Eine segmentierte Gesellschaft.

Chile diente als bestes Beispiel einer Politik der “Sanierung” und Durchsetzung neuer konservativer kapitalistischer Strategien. Den Staat von seinen hohen Aus­gaben, seiner kranken Wirtschaft, hohen Inflationsrate und seinen “viel zu ho­hen Lohnkosten” zu be­freien war oberstes Ziel, eine neue Form von Akkumulation im Rahmen des freien Marktes zu ermöglichen. Das Land diente als Ex­perimentierfeld. Die Diktatur strebte die Einführung eines rei­nen, ungebundenen Marktes an, frei von Protektionismus, Inter­ventionismus, Etatismus und vor allem von jeglicher Behinderung durch po­litische Organisatio­nen und Kompromisse, Privatisierung und Entpolitisierung der Ge­sellschaft wurden zu den Grundlagen dieser neoiliberalen Strategie. Auf diese Weise wird versucht, das Monopol von Macht und Politik für das Bürgertum zurückzugewinnen. Vereinzelung und Entpolitisierung bezwecken, das hi­storisch gewachsene Kräftepotential der Arbeiterbewegung und der ärmsten Schichten der Gesellschaft zu zerstören. Durch Propaganda, Einschüchterungs­maßnahmen, neue Erziehungsmethoden, veränderte Ar­beitsbedingungen und -verhältnisse wird ein extremer individuali­sierter Egoismus gefördert. Er wird zu einem neuen Grundwert die­ser Gesellschaft, da nur seine Mechanismen letz­tendlich die Effek­tivität des notwendigen Konkurrenzverhaltens garantieren. Der Kampf ums Überleben wird zum Mittel jener Strategie, deren Ziel schließlich der absolute Sieg der Marktgesellschaft ist.

Die strukturellen Veränderungen sind heute spürbar in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die materielle Basis für die Arbeits- u. Lebensbedingungen der Ar­beitnehmer änderte sich radikal. Die Be­schäftigungsstruktur hat sich grundle­gend gewandelt: Das Schrumpfen des Industriesektors und die Zunahme der Be­schäftigung im Dienstleistungsbereich oder informellen Sektor ist hier von be­sonderer Bedeutung. Diese Neustruktu­rierung der Beschäftigunsverhältnisse hat auf die gesamte Gewerk­schaftsbewegung negative Auswirkungen. Das neu praktizierte Wirt­schaftskonzept fügte dem Industriesektor erheblichen Schaden zu, jenem Sektor, aus dem sich die Arbeiterschaft historisch entwic­kelt hatte. Hier konzentrierten sich gewerkschaftliche Kräfte, üb­ten linke Parteien starken Einfluß aus. Mehr als 250.000 Ar­beitsplätze gingen in diesem Bereich verloren, schätzungsweise 3.500 Betriebe mußten bis Ende 1984 Konkurs anmelden. Dies bedeutete empfindliche Verluste für die organi­sierte Arbeiterschaft. Folglich ver­ringerte sich ihre Zahl erheb­lich. Somit verlor das strategische Gewicht der chile­nischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung.

Doch 1984 setzt eine Neuentwicklung auf Grund einer Korrektur des Wirt­schaftsmodells ein. Beschäftigungsstruktur und Mitglieds­zahlen der Gewerk­schaften verschieben sich: 1988 sind 46,4% aller Beschäftigten im produktiven Sektor tätig, davon allein 16,2% im Bereich der Industrieproduktion. Hier ist eine deutliche Erholung gegenüber den Vorjahren spürbar. Parallel dazu erhöhen sich die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften.

Die Fragmentierung der chilenischen Arbeiterklasse besteht je­doch weiterhin. So sind z.B. Zeit -und Saisonarbeit (subcontratados, temporeros) mittlerweile auf dem chilenischen Arbeitsmarkt weit verbreitet. Ihr Anteil beträgt in bestimmten In­dustrien 50%, in der Landwirtschaft sogar 70%. Die Differenzen be­stehen nicht nur in unterschiedlichen Arbeitsverträgen, sondern auch im Hinblick auf allge­meine Arbeitsbedingungen, Gesundheits­versorgung, Lohn -und Sozialversiche­rung sowie gewerkschaftliche Organisationsformen. “Trabajo precario” (Zeitarbeit) ist für einen Großteil der chilenischen Arbeitnehmer zu einem Dau­erzustand ge­worden. Die damit einhergehende soziale Unsicherheit hat Auswir­kungen für tausende chilenischer Familien.

Demokratie für eine Ein-Drittel-Gesellschaft?

Wie kann sich nun ein Demokratisierunsprozeß für Millionen von der Gesell­schaft ausgeschlossene Chilenen gestalten? Die Armen machen sich besonders große Hoffnungen auf positive Änderungen. Nach den jüngsten Veröffentli­chungen des Nationalen Statistischen Instituts (INE) gibt es in Chile nicht nur fünf Millionen Arme – wie immer behauptet wurde – sondern sieben Millionen. Das bedeu­tet, daß 60 % aller Chilenen unter bzw. am Rande des Existenzmini­mums leben. Vor allem in den letzten 10 Jahren entwickelte sich eine Umvertei­lung des Nationaleinkommens zugunsten der Reichen. 20% aller chileni­schen Haushalte konsumieren heute mehr als die Hälfte des gesamten Na­tionaleinkommens. Der “moderne” Kapitalismus erreicht nur ein Drittel der Ge­sellschaft. Die ärmsten Haushalte können bspw. nur 3.000 Pesos monatlich für Brot ausgeben (1 US-$ = 300 Pesos), wäh­rend die reichsten 7.000 Pesos monatlich zur Verfügung haben. Diese 3.000 Pesos bedeuten für die Ärmsten allein 18% ihres Ge­samteinkommens, für die Reichsten lediglich 3%. Für Erziehung und Unterhalt haben die Ärmsten 300 Pesos monatlich zur Vefügung, die Wohlha­benden im Durchschnitt 21.000. Da in Chile viele Bereiche der Gesellschaft pri­vatisiert wurden, kann ermessen werden, welche verheerenden Folgen die Um­verteilungspolitik der Diktatur für breite Bevölkerungsschichten hatte und wie weitrei­chend dementsprechend die Aufgaben der neuen Regierung sind.

Erste Schritte der demokratischen Regierung

Seit nunmehr drei Monaten existiert in Chile wieder eine demo­kratische Regie­rung. Doch das Erbe der beinahe 17jährigen Militär­diktatur lastet schwer auf der neuen Regierung Aylwin. -Und dies in jeder Hinsicht, denn Macht und Spiel­raum dieser jungen Demokra­tie sind stark eingeschränkt. So dürfen beispielweise alte, pino­chettreue Funktionäre nicht entlassen werden. Neueinstellungen sind nur geringfügig möglich. Pinochet bleibt verfassungsgemäß weiterhin Oberbe­fehlshaber der Streitkräfte, und auch die Kommu­nalverwaltung wird personell und organisatorisch nicht verändert. Bis Ende März hatte die Diktatur bereits den größten Teil des für 1990 geplanten Haushalts ausgegeben. Allein ein Viertel aller Sitze im Senat wurde durch das Militärregime im voraus vergeben. Auf diese Weise ist es für eine demokratische Regierung nur schwer möglich, notwendige Mehrheiten zu erlangen. Verhandlungen mit dem konservativen Lager, das oh­nehin mit 43 % im Parlament vertreten ist, sind somit vorprogrammiert. Hinzu kommt, daß eine Vielzahl von Konflikten zwischen der neugewählten Regierung und den Streit­kräften existieren.

Trotz all dieser Schwierigkeiten versucht die Regierung Ayl­win, politisch zu handeln. Ein wichtiger Punkt ist die Gründung der “Comisión Nacional de Ver­dad y Reconciliación” (Nationale Kommission der Wahrheit und Versöhnung), die zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur ins Leben ge­rufen wurde; denn der öffentliche Druck zur Aufklärung dieser Ver­brechen wächst ständig. Die Kommission besteht aus acht pro­minenten Mitglie­dern, unter anderem Jaime Castillo Velasco, Vosit­zender der Menschenrechts­kommission, sowie José Zalaquet, ehemali­ger Präsident von Amnesty Internatio­nal in London. Die Resonanz innerhalb der Bevölkerung Chiles ist groß. In den Reihen der Mili­tärs und der neuen Opposition trifft die Arbeit dieser Kommis­sion jedoch auf wenig Gegenliebe. Pinochet versuchte, die Gründung mit allen Mitteln zu verhindern. Offiziell, einen Tag vor der Grün­dung, bat Pinochet Ayl­win um einen Gesprächstermin, um ihm in sei­ner Funktion als Oberbefehlshaber der Armee abzuraten. Aylwin ver­schob diesen Termin auf einen späteren Zeit­punkt. Daraufhin ver­suchte Pinochet, den Nationalen Sicherheitsrat – mit über­wiegend militärischer Präsenz – aufzurufen, doch auch innerhalb der Streitkräfte stieß er auf Ablehnung. Zuletzt versuchte Pinochet, auch über eine öffentliche Erklärung des Heeres die genannten Maß­nahmen zu kritisieren. Aus diesem Grund bestellte Aylwin in seiner Funktion als Präsident der Republik Pinochet zu sich, um eine Er­klärung zu verlangen. Auf diese Erklärung des Heeres hin ließ die Regierung verlauten, es handele sich hier um eine politische Stel­lungnahme, wobei das Heer eindeutig seinen Kompetenzbereich über­treten habe. Letztend­lich sei es allein Angelegenheit der Regie­rung, eine entsprechende Kommission zu gründen. Von den Militärs erwarte man vielmehr eine aktive Unterstützung der Regierungspoli­tik. Gleichzeitig forderte Aylwin Pinochet auf, einen genauen Be­richt darüber abzugeben, wieweit die vor längerer Zeit angekün­digte Auflö­sung des CNI bereits vorangeschritten sei; denn es exi­stierten berechtigte Hin­weise auf weitere Aktivitäten des ehemali­gen Geheimdienstes. Drittens verlangte Aylwin konkrete Aufklärung über die Funktion eines Beratungsstabes um Pino­chet, der nach Mei­nung der Regierung eine Art “Schattenkabinett” darstellt. Die Be­ziehungen zwischen Regierung und Heer bleiben weiterhin gespannt. Ziel der Regierung ist zunächst die Isolierung Pinochets, weiterhin auch, die gesamte Armee der Regierung zu unterstellen und die “alten Diktatoren” von den übri­gen Streitkräften zu tren­nen. Ihr politischer Handlungsspielraum würde sich da­durch ein­schränken.

Bei der Umstrukturierung der Gesellschaft haben die Militärs eine ganz entschei­dende Rolle gespielt. Viele von ihnen sind sogar auf dieses “historische Werk” stolz. Sie fühlen sich als die ei­gentlichen Herren des Landes. Ihre Präsenz inner­halb der Gesell­schaft macht sich weiterhin bemerkbar. Ihre Reaktion angesichts des Fundes von Massengräbern in Pisagua zeigt dies deutlich. (Siehe Artikel in diesem Heft)

Wiederherstellung der politischen Spielregeln. Soziale Forderungen und Erwartungen.

Der Autoritarismus prägte nicht nur die Politische, son­dern auch viele andere Bereiche sozialen Lebens in Chile. Er ist heute gesellschaft­lich tief verwurzelt. Seine Demontage muß grundlegende Vorausset­zung für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen sein. Frühere historische Erfah­rungen zeigen jedoch, daß ein solcher Prozeß stets schwierig ist.
Sozialwissenschaftler gehen davon aus, daß bestimmte institu­tionelle Reformen (bspw. die Reform der Arbeitsgesetzgebung) im weiteren Verlauf bestimmte Umstrukturierungen und neue Handlungs­spielräume der Arbeitnehmer und Gewerkschaften ermöglichen. Zwei­felsohne werden politische Reformen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der sozialen Akteure än­dern, aller­dings mit unterschiedlichen Auswirkungen, je nach konkreter Situa­tion der verschiedenen Sektoren innerhalb ihres sozialen Umfeldes.
Betrachtet man die politischen Absichten und sozialen Pro­gramme der neuen demokratischen Regierung, besteht die Gefahr ei­ner neuen, anderen gesellschaft­lichen Polarisierung zwischen den­jenigen sozialen Sektoren, die durch die De­mokratisierungprozesse begünstigt sind (Mittelschichten; Teile der Arbeitneh­merschaft und bestimmte Segmente aller Marginalisierten) und dem auch wei­terhin großen Teil der Bevölkerung, der immer noch ausgeschlossen sein wird. Hier werden sich möglicherweise recht unterschiedliche Grup­peninteressen bil­den. Gerade an diesem Punkt wird die gegenwärtige extrem schwierige Heraus­forderung an die junge Demokratie Chiles deutlich.
Vertreter der Regierungsparteien (Concertación) behaupten, Priorität müsse die Wiederherstellung der demokratischen Spielre­geln haben, um auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte auf eine “zivilisierte” Art lösen zu helfen: Dies macht eine Politik des Konsenses notwendig, die jedoch ihrerseits auch wieder Opfer ab­verlangt, was jedoch nicht gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird.
Die Arbeiter – wie auch andere unterpriviligierte soziale Schichten – stellen hohe Erwartungen an die neue Regierung. Ent­sprechende Forderungen werden daher nicht auf sich warten lassen und mit Sicherheit auch Auswirkungen auf gesell­schaftliche Organi­sationsformen und politisches Handeln haben. Integrationsbestre­bungen innerhalb bestimmter gewerkschaftlicher Sektoren werden deutlich werden, einhergehend mit Forderungen nach besserer Ar­beitsplatzstabilität, höheren Löhnen, Mitbestimmungsrechten, berufli­cher Qaulifikation und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Andere werden hingegen ganz allgemein Arbeitsplätze, bessere Löhne, mehr soziale Gerechtigkeit und tie­fere politische Reformen verlangen. Bei der Entwicklung der einen oder anderen Tendenz wird die Haltung von Unternehmenschaft und Regierung daher stets von großer Bedeutung sein.
Zum ersten Male, nach 16 Jahren Autoritarismus, gab es nun eine kleine Annäh­rung zwischen der Arbeitnehmerorganisation CUT, den Arbeitgeberverband CPC und der Regierung. Bereits Ende Januar unterzeichneten die CUT und der Arbeitgeberverband eine Absichts­erklärung hinsichtlich der Bildung von Kom­missionen zur Frage von Tarifverhandlungen, Arbeitsverträgen etc. Anfang Mai wurde von der Regierung angekündigt die Mindestlöhne von 18.000 auf 26.000 Pesos und das Kindergeld von 550 auf 1.100 Pesos monatlich zu erhöhen. Dies waren erste kleine Ansätze auf dem langen Weg zu sozialen Re­formen. Doch schon Ende Juni gab es keine Verständigung mehr zwi­schen CUT und Regierung im Bezug auf notwendige Reformen der ar­beitgeberfreundlichen Arbeitsgesetz­gebung. Die Unternehmerschaft ist nicht bereit, größere Konzessionen zu ma­chen, die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Gewerk­schaften ver­stärken würden. Die Regierung dagegen ist sehr daran interessiert gute Beziehungen zur Unternehmerschaft aufzubauen. Man betrachtet eine sol­che Verbindung als fundamentale Grundlage notwendiger wirtschaftlicher Sta­bilität. Um Konflikte zu vermeiden, versucht die Regierung zwar, ihre Arbeits­politik sowie konkrete Reformen der Arbeitsgesetzgebung in Verhandlungen mit den konservativen Parteien voranzutreiben, um auf diese Weise einen politischen Kon­sens im Parlament zu schaffen. Die CUT sieht in dieser Politik je­doch eine Gefahr: solche Reformen sind in ihrer Wirkung eher unbe­deutend. Bei den jüng­sten Unterredungen mit Vertretern der Regie­rung gab es diesmal keine Annäh­rung. Arturo Martínez, Vize-Präsi­dent der CUT äußert mit tiefer Besorgnis nach langen gescheiterten Verhandlungen mit der Regierung: “Wir befinden uns am Null­punkt, weil es so aussieht, als sei die Regierung – vor allem das Ministerium für Arbeit – nicht an einer starken und soliden Ge­werkschaftsbewegung interes­siert.” Mit großer Enttäuschung wenden sich die CUT-Vertreter nun an die Par­teien, um ihre Forderungen durchzusetzen. Doch auch hier herrscht eine Ten­denz zur Konsens­politik. Deshalb scheint es so, als reiche der momentan über­haupt machbare Minimalkonsens mit der Regierung doch nicht aus, um lang­fristig tiefere Konflikte zu verhindern. Dadurch wiederum vertie­fen sich die Autonomiebestrebungen der chilenischen Gewerkschafts­bewegung. Diese Be­strebung werden vor allem durch zwei Faktoren beeinflußt: Spannungen zwi­schen Forderungen und Angeboten, sowie die Konsolidierung der sozialen Or­ganisationen und die Schaffung einer neuen kulturellen Identität und eines neuen Bewußtseins.

Beteiligung und Selbstbestimmung.

Die Entwicklung gewerkschaftlicher Basisorganisationen sowie die Entstehung zahlreicher Selbsthilfeorganisationen sind Ausdruck eines starkes Bedürfnisses nach Beteiligung und Selbstbestimmung. Neben Stadtteilorganisationen handelt es sich auch um produktive Werkstätten, Gemeinschaftsküchen, Volksbäckerein, Einkaufsgenos­senschaften, Gemüsengärten -und Hausbaukomitees, Gesundheitsgrup­pen usw. Ihre Zahl nimmt seit Beginn der 80er Jahre ständig zu. Im Jahr 1982 gab es im Raum Groß- Santiago 459 wirtschaftliche Basis­organisationen, 1988 schon 2.306. Etwa 200.000 Personen sind von diesen Selbs­hilfeorganisationen begün­stigt, was ungefähr 15% aller Bewohner der Arbeiter- und Elend­sviertel Santiagos entspricht. Bei ihrer Entstehung und Weiterent­wicklung erhalten sie Unterstützung (Betreuung, Bildungsmaßnah­men, usw.) durch sogenannte nicht-staatliche Organisationen (ONGs), die ebensfalls wäh­rend dieser Zeit entstanden. Die Selbsthilfeor­ganisationen bestehen heute in vielen Stadtteile (poblaciones), sind demokratisch organisiert und verfügen über kleine Handlungs­spielräume auf lokaler Ebene, manchmal besitzen sie auch eine re­gionale Koordinierung. Ihr soziales und politisches Handeln könnte sich im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses der Kommunen durchaus verstärken.
Alle diese sozialen Sektoren sind verständlicherweise viel stärker an der Mitge­staltung einer sozialen Demokratie mit Selbst­beteiligung interessiert als an der bloßen Änderung politischer Spielre­geln. Dies wird in den Beschlüssen der Ge­werkschaftsbewegung bei der Gründung des neuen Dachverbandes CUT und den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der demokratischen Regierung deutlich. Auch Frauenorganisationen sowie Indianerorganisationen fordern dies.
Am 5. Oktober 1988, als die Menschen in Chile den Sieg der Op­position kaum fassen konnten, gewann das Volk auch wieder stär­keres Selbstvertrauen. Im De­zember 1989 wurde dieses Selbstver­trauen noch verstärkt durch den Wahlsieg von Aylwin. Hier könnte sich eine neue Qualität kollektiven Selbstbewußtseins entwickeln. Schon während der Protestaktionen der Jahre 1983 bis 1986 artiku­lierte sich allmählich eine neue Form sozialen Bewußtseins, ein­hergehend mit neuen Formen einer oppositionellen Kultur sowie al­ternativen und autonomen gesellschaftlichen Formen. Es ist ein langer Weg, auf welchem auch der kleinste Freiraum wichtig ist. Diese kleinsten Freiräume müssen täglich neu geschaffen werden. Ihre Verschiedenartigkeit muß dabei respektiert werden. Die neue poli­tische Stimmung, die heute unter dem Vormarsch der Demokratie herrscht, wirkt sich auch positiv auf diese Entwicklung aus.
Auf dem Weg zu neuer Stabilität?
Die Stimmung innerhalb des Regierungslagers – trotz erwähnter Schwierigkeiten – ist gekennzeichnet durch Optimismus. Nach den jüngsten Meinungsumfragen bestätigt sich diese Ten­denz: die Popularität der Regierung stieg inzwischen von 55,2% auf 62,8%, während die Aylwins bereits die 70% – Marke überschritt. Ent­gegen allen Prognosen hat sich die Regierungskoalition bewährt. Es fand eine interne Umgruppierung statt, wonach sich unter an­derem die sozialistischen Parteien mit der MAPU zur Partido Socia­lista zusammenschlossen. Parallel dazu hat sich die Erkenntnis ge­festigt, das nur durch breite Mehrheiten eine stabile Politik mög­lich ist. In der Vergangenheit war Chile stets von Minderheiten re­giert worden. Instabilität war die Folge. Man hat aus der Ver­gangenheit gelernt. Die ehemals strenge klassen- und schichtenspe­zifische Zuordnung der Parteien ist durchlässiger geworden. In der Folge bedeutet dies eine höhere Konsensbe­reitschaft, stärkere Kom­promißfähigkeit, was allerdings nicht zwangsläufig im­mer den In­teressen der sozial Benachteiligten entspricht. Andere, nicht an der Regierung beteiligten linken Parteien wie die Kommunisten, der MIR und die Christliche Linke, sind nach ihrer Wahlniederlage vom Dezember 1989 nicht fä­hig, eine alternative linke Politik anzubie­ten. Die Kommunisten führen vielmehr innerparteiliche Auseinander­setzungen um Fehlentscheidungen über ihre Politik der “Rebelión Popular” unter der Militärdiktatur. Außerdem sind sie allgemein durch die Krise des Sozialismus in Osteuropa stark betroffen. Überlegungen zur Neugruppierungen beschäftigen die anderen linken Parteien, die damals zu der instrumentellen Partei “PAIS” gehör­ten.
Die wirtschaftliche Entwicklung gestaltet sich bis heute posi­tiv. 1989 war das BSP um 10% gestiegen. Künstliche Überhitzung trieb diese Rate in die Höhe. Inzwi­schen ist ein Normalisierungs­prozeß eingetreten. Die Steigerung des BSP beläuft sich zur Zeit auf etwa 5%. Nach der tiefen Krise von 1982/83 erholte sich die chilenische Wirtschaft von Jahr zu Jahr. Es wird sogar behauptet, daß parallel dazu ein Rein­dustrialisierungsprozeß stattgefunden hat. Durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze im produktiven Bereich ist die Zahl die Indu­striearbeiter ge­stiegen. Nach INE ist die Arbeitslosigkeit insge­samt zurückgegangen. Diese An­gaben dürfen allerding nicht vorbe­haltlos übernomen werden; denn bereits eine Person, die nur zwei Stunden pro Woche beschäftigt ist, gilt als nicht mehr ar­beitslos. Ein entscheidender Schritt nach vorne muß jedoch darüber hinaus im sozialen Bereich liegen. Ohne tiefgreifende Reformen werden sich sozialen Mißstände nicht von allein verändern. Für die Regierung Aylwin ist das Festhalten an jener makroökonomischen Stabilität von lebenswichtiger Bedeutung. Die Re­gierung plant, die bestehende exportorientierte Wirtschaft in eine zweite Phase zu führen, indem hier verstärkt Investitionen getätigt werden sollen. Chile expor­tiert bis heute in der Regel nicht verarbeitete Produkte. Hier soll im Bereich der Verarbeitungsbranche ein Industrialisierungs­prozeß in Gang gesetzt werden. Die gerade be­willigten 13 Milliarden US-Dollar ausländischer Investoren sollen hier gezielt eingesetzt werden. Leider wird dabei zu wenig berück­sichtigt, da die na­türlichen Ressourcen nicht grenzenlos ausgebeu­tet werden dürfen. Es mangelt noch immer an dem notwendigen Be­wußtsein.

Der derzeitige Optimismus der Regierung Alywin ist durchaus berechtigt. Die Militärdiktatur hat ein schweres Erbe hinterlas­sen. Aylwin muß nun das Kunst­stück vollbringen, den bestehenden wirtschaftlichen Aufschwung voranzutrei­ben und gleichzeitig spür­bare Verbesserungen im sozialen, politischen und öko­logischen Be­reich in Gang zu setzen. Nur so wird auf die Dauer das momentan vorherrschende positive Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung weiterhin be­stehen bleiben können.

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