Die offene Wunde

K., ein polnischer Jude, der in den 1930er Jahren nach São Paulo emigriert ist, begibt sich zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur auf die Suche nach seiner verschwundenen Tochter. Dies ist die Rahmenhandlung des Romans K. oder Die verschwundene Tochter, in dem der brasilianische Autor Bernardo Kucinski sich mit der eigenen tragischen Familiengeschichte auseinandersetzt. Die Schwester des Autors, Ana-Rosa, deren Name im Roman ungenannt bleibt, hatte sich einer linken Untergrundbewegung angeschlossen und „verschwand“ 1974. Bis heute sind ihr Verbleib und die Todesumstände unaufgeklärt. An ihrer Ermordung durch den staatlichen Sicherheitsapparat bestehen hingegen keine Zweifel. Dies macht der Autor bereits im Vorwort klar.
Die ursprüngliche Verwunderung des Vaters wird von Panik und schließlich von Verzweiflung abgelöst. Selbstvorwürfe gepaart mit Angst durchziehen die Handlung. Die Nachforschungen von K. führen in viele Sackgassen, nur nicht zu seiner Tochter. Die Hoffnung, dass seine Tochter noch leben könnte, ist zu verheißungsvoll, als dass der Vater mit der Vergangenheit abschließen könnte. Die verhinderte Trauer und die Hoffnung begleiten die Angehörigen der „Verschwundenen“ bis zur Gegenwart. Sie sind die offene Wunde, in die die Schergen des Systems ihr Salz streuen.
Der Roman ist in 29 Abschnitte unterteilt. Während der Hauptstrang aus der Suche des Protagonisten nach seiner Tochter besteht, behandeln Nebenstränge einerseits die zurückliegenden Entwicklungen, wie zum Beispiel das Leben der Tochter im Untergrund, andererseits das Innenleben des Repressionsapparats. Sie ergänzen somit den Hauptstrang und führen zu einer umfassenden Darstellung der Epoche. Durch diese Untergliederung der Handlung wird der Bogen zwischen den verschiedenen Figuren und dem totalitären Regime gespannt. Die Sicherheitsorgane, der bewaffnete Widerstand und die teils gleichgültige, teils verängstigte Zivilgesellschaft erhalten ihren Platz und ihre Stimme. Akribisch skizziert Kucinski den Repressionsapparat der brasilianischen Diktatur und holt die verschüttete Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Der Perspektivenwechsel ermöglicht vielfältige Einblicke, wobei sogar der berüchtigtste Folterer jener Zeit, Fleury, zu Wort kommt.
Diese Vielstimmigkeit, die sparsame Verwendung echter Quellen und der eigensinnige Sprachduktus tragen zu dem realistischen Charakter des Romans bei. Emotionalität und Eindringlichkeit, Genauigkeit und Sachlichkeit sind Variablen, die Kucinski treffend einzusetzen weiß. Er schreibt einfach, schnörkellos und dicht. Es ist aber der Verdienst der Übersetzerin Sarita Brandt, dass all diese Eigenheiten in der deutschen Fassung meisterhaft wiedergegeben sind. Brandt ist für Übersetzungen hochkarätiger Autor_innen wie Clarice Lispector und José Saramago bekannt.
Das intelligente Verketten der erwähnten Bruchstücke erzeugt die Spannung eines Kriminalromans, wenn auch das Ende der Geschichte kein Geheimnis mehr ist. Die Komplexität der politischen Verwicklungen, die seelischen Abgründe, die Schamlosigkeit und Brutalität des Machtapparats sowie der ausweglose Kampf der Hauptfigur machen die Leser_innen gewissermaßen selbst zu Beteiligten. Dies ist die große Stärke von Kucinskis Romandebüt, das zurecht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Bernardo Kucinski // K. oder Die verschwundene Tochter // Transit-Verlag // Berlin 2013 // 144 Seiten // 16,80 Euro // www.transit-verlag.de

„Welle an Zwangsräumungen“

Professor Vainer, Sie haben den Begriff der „Stadt im Ausnahmezustand“. entwickelt. Was meinen Sie damit?
Carlos Vainer: Die Stadt im Ausnahmezustand ist eine Tendenz der neoliberalen Stadt. Neoliberales Denken basiert auf der Annahme, dass der Markt immer die beste Form ist, um gesellschaftliche Ressourcen einzusetzen. Dies jedoch ohne jedwede Beeinträchtigung durch nicht-marktkonformes Handeln, da es sonst zu Marktverzerrungen, Ineffizienzen und Ungleichgewichten käme. In diesem Sinne soll der Staat nur den Rahmen schaffen, um das freie Agieren des Marktes nicht zu behindern. Die Stadt wird demnach betrachtet, als sei sie eine Firma, die mit anderen Städten in Konkurrenz steht. Und was kauft man in einem Markt der Städte? Die Lage. Als Stadt konkurriere ich mit anderen Städten, um meine Standorte an Kapitalisten, Touristen, an Mega-Events zu verkaufen. Um diesen Verkauf zu ermöglichen, muss die Stadt demnach flexibel sein – und in diesem Zusammenhang rede ich von Ausnahmezustand. Anstelle einer Stadt mit Normen und universellen Regeln, die für alle gelten, wird sie zu einer Stadt, in der jeder städtebauliche Vorgang oder Eingriff, jedes Firmenprojekt von Fall zu Fall entschieden wird. Die Ausnahme wird zur Regel. Und dieses Regime der Stadt dient der, wie ich es nenne, direkten Demokratie des Kapitals. Denn wer verhandelt? Konzerne mit städtebaulichen Projekten verhandeln direkt mit dem Staat.

Wie sehen Sie die Rolle der Mega-Events?
Die Großevents verschärfen, beschleunigen und verstärken die Dimensionen der Stadt im Ausnahmezustand und die direkte Demokratie des Kapitals. Durch die Olympischen Spiele und die WM wird dem Bürger ein mythisches Klima der erfolgreichen Weltstadt vermittelt. Man geht davon aus, dass die Bürger so eher bereit sein werden, den Ausnahmezustand und all dessen Folgen unter dem Verweis auf die nahenden Spiele zu akzeptieren. Hier findet eine Erpressung der Bürger statt: Sie nehmen Dinge hin, gegen die sie sich unter normalen Umständen zur Wehr setzen würden. Eine davon untrennbare Komponente ist der Autoritarismus. Dieses Aushandeln von Geschäften ist keine Demokratie. So werden die Entscheidungsstrukturen aus den demokratischen Strukturen – Parlament, politische Parteien – auf die Korridore der Paläste verlegt, wo die pure Macht der Konzerne alles aushandelt.

Was hatte das für Auswirkungen im Fall von Rio de Janeiro?
Die Olympischen Spiele und die WM machen das unternehmerfreundliche Projekt der Stadtumstrukturierung zu einem großen Geschäft und verstärken die diesem Modell innewohnenden Gegensätze: Verschärfung der Ungleichheit in der Stadt, Verschiebung der öffentlichen Macht hin zu einer Vertretung von Unternehmerinteressen, Verteilung öffentlicher Mittel im Sinne von Unternehmenslogiken, Ausrichtung der Stadt auf den Markt, Übertragung der Filetstücke der Stadt an Konzerne. In Rio wurde die Hafenzone, mit einer Fläche größer als der Stadtteil Copacabana, an Investoren abgegeben. Wir reden hier von der absoluten Privatisierung, von der verschärften Spaltung des öffentlichen Raumes. Das heißt dann auch, dass überall dort, wo es für einen Zentimeter Stadt ein Konzerninteresse gibt, alle Normen aufgehoben werden, nur damit sich dieses Interesse durchsetzt. Und all diejenigen, die das Pech haben, diesen Konzerninteressen im Wege zu stehen, müssen von dort vertrieben, ja, regelrecht verbannt werden. Und dies erklärt die Welle an Zwangsräumungen in der Stadt. Niemals in der Geschichte von Rio de Janeiro seit der Militärdiktatur kam es zu so vielen Vertreibungen. Rio befindet sich in einem Prozess der sozio-ethnischen Säuberung. Und die geht einher mit Formen der sozialen, polizeilichen und militärischen Kontrolle.

Sie sprechen auch von einer massiven Verschärfung der Repression…
Es gibt derzeit ein Gesetzesvorhaben, mit dem terroristische Verbrechen bekämpft werden sollen. Brasiliens Gesetzgebung kennt diese juristische Figur der Terrorbekämpfung nicht. Das ist insofern dramatisch, als es eines der Erbstücke der WM für uns sein wird. Im Justizministerium wurde ein Sondersekretariat zur Sicherheit der Mega-Events eingerichtet – aber öffentliche Sicherheit ist in Brasilien Ländersache, nicht Sache des Bundes. Was dahintersteckt ist der Versuch, eine autoritäre Gesetzesgrundlage für vereinfachte Militärinterventionen im Inneren zu schaffen. Auf dieser Grundlage bot der Justizminister den Gouverneuren und Bürgermeistern nach den ersten Massendemos vom Juni dieses Jahres im Fernsehen die Unterstützung des Heeres an.

Was wären denn weitere Konsequenzen der Mega-Events für Rio?
Zunächst eine enorme öffentliche Verschuldung von Stadt und Land. Die Schulden der Olympischen Spiele von 1976 hat Montreal erst 2011 abzahlen können – und Rio ist ein Bundesland, in dem 40 Prozent der Munizipien keine Abwasserversorgung haben. Bereits jetzt rechnet Rio für WM und Olympische Spiele mit Kosten von umgerechnet zehn bis zwölf Milliarden Euro. Aber das wird steigen. Die Panamerikanischen Spiele sollten 400 Millionen Reais kosten, am Ende zahlten wir viereinhalb Milliarden, das Zehnfache. Niemand hat derzeit den genauen Überblick darüber, was die Spiele kosten werden – und dabei reden wir noch nicht einmal von den gewährten Steuervergünstigungen für die FIFA beispielsweise, die ja auch Kosten darstellen.

Und jenseits der öffentlichen Finanzen?
Die zweite Hinterlassenschaft wird eine gespaltenere, eine ungleichere Stadt sein. Es wird ein Rio sein, in dem die Nachbarschaft einer Favela zu einer Mittelklassewohngegend seltener wird. Und wir werden eine fortschreitende Privatisierung des öffentlichen Raumes sehen. Dies geschieht schon seit Jahren, beispielsweise wenn die Behörden ihre Politik der Null-Toleranz durchsetzen. Diese Intoleranz ist aber nicht allgemein, sie richtet sich gegen die fliegenden Straßenhändler, gegen die Straßensambas, gegen diejenigen, die nach dem Wochenmarkt dort noch beim Biertrinken verweilen. Es ist eine Art der Urbanität, die nur kompatibel ist mit der Lebensrealität der neureichen Bourgeoisie. So wird die kulturelle, lebendige Vielheit, das Lebenselixier der pulsierenden Stadt zerstört und die öffentlichen Räume werden für Privat­zwecke enteignet. So wird die Stadt ungleicher, ärmer, weniger öffentlich und mehr privatisiert. Und die Stadt wird umgeformt in eine Anhäufung von Festungen: die Festungen der Reichen, die gated communities, die Shopping-Center, die Business-Center. Und auf der anderen Seite die Festungen der Armen, die urbanen Ghettos, umzingelt von der Polizei. Das sind Ghettos, die militärisch besetzt werden, da die arbeitende Bevölkerung gefährlich und deshalb die soziale, polizeiliche und militärische Kontrolle nötig sei.
Und als drittes Erbstück, so sagen die Politiker, wird es neue Mobilität geben. Aber wohin führen denn die neuen öffentlichen Verkehrslinien? Hin zu den Gebieten, die durch den Immobilienboom erschlossen werden, in Barra da Tijuca oder Recreio im Westen der Stadt zum Beispiel. Da wird das öffentliche Verkehrsnetz hin zu leeren Gebieten ausgebaut, während 80 Prozent der Nachfrage nach Transport in den Vororten der Baixada Fluminense und im Großraum Niterói besteht.
Die Stadt und die Regierenden brauchen einen Vorwand, um all das zu rechtfertigen. Als Vorwand geben sie die vermeintlichen Hinterlassenschaften der Events an. Aber: ist Mobilität eine Folge von Groß-Events? Muss die Stadt die Olympischen Spiele ausrichten, um den öffentlichen Transport zu verbessern? Wir brauchen nicht die Spiele, um den öffentlichen Transport und die Abwasserentsorgung zu verbessern!

Und das „Erbe“ beim Fußball selbst?
Schauen Sie sich das Maracanã an. Das wurde privatisiert, das Volk von Rio wurde enteignet, um dort VIP-Lounges zu installieren. Dort, wo zuvor 200.000 Zuschauer und davon 40.000 Stehplätze waren, wo alle Leute zu günstigen Preisen reinkonnten! Das Maracanã war der Ort der einfachen Leute von Rio de Janeiro. Heute wurde es auf 80.000 Plätze reduziert, von denen sind 40.000 VIPs. Man darf keine Fahnen mehr mitnehmen, Musik darf man auch nicht mehr spielen. Sie unterdrücken die Vielfalt, die Spontaneität, die Lebendigkeit und die Kultur. Das ist obendrein auch noch entsetzlich dummes Marketing. Warum zieht Rio de Janeiro jemanden an, was hat es Besonderes? Wenn unsere Stadien alle so aussehen, wie die in Europa, wenn unsere Städte, unsere Plätze so werden wie der Jardin du Luxembourg, warum sollte jemand nach Rio kommen? Der bleibt da!

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die jüngsten Proteste?
Zum Confederations Cup wollte Brasilien der Welt das Bild eines glücklichen und friedvollen Landes präsentieren. Deshalb wollten sie jegliche Demonstration verhindern. Und wie macht man das? Mittels brutaler Repression. Nur geschah genau das Gegenteil des Erwarteten: Die brutale Repression traf auf die Vielfältigkeit dynamischer Proteste, unterschiedlichster Ausdrucks- und Widerstandsformen sozialer Kämpfe. Statt den Funken zu löschen, heizten sie ihn an – und das ganze Haus brannte lichterloh. Ich pflege zu scherzen, dass selbst der genialste Stratege, der die Regierungspläne hätte durchkreuzen wollen, nicht auf einen solch schlauen Vorschlag hätte kommen können, die ersten Demonstrationen gleich derart brutal niederzuschlagen. Das alles traf auf den Kontext der Mega-Events, begleitet durch das gestiegene Gefühl der Bevölkerung, dass eine Unmenge an öffentlichen Mitteln für unnütze Bauvorhaben ausgegeben wird.

Was bedeuten die Proteste für die Fußballweltmeisterschaft nächstes Jahr?
Der Journalist Andrew Jennings fragte mich unlängst, ob die WM in Gefahr sei. Ich sage: Die WM wird stattfinden. Aber die brasilianische Bevölkerung erteilt den Regierenden gerade eine ganz außergewöhnliche Lehre, wenn sie sagt: „Ich will die WM, aber ich will nicht, dass die WM gegen mich benutzt wird. Ich mag Fußball und ich will ins Stadion gehen“. Also gehen die Leute ins Stadion – und pfeifen. Sie sind nicht gegen Fußball, sie sind gegen das, was da mit dem Fußball gemacht wird. Also pfeifen sie die Regierenden aus. Und zeigen, dass sie nicht gegen WM und die Olympischen Spiele sind, sondern gegen die Art und Weise, wie diese Events gegen sie benutzt werden. Und diese Lehre ist außergewöhnlich! Diese aber ist für die Herrschenden schwer zu begreifen: Während die Politiker den Sport nur als Machtinstrument, als großes Geschäft sehen, ist er für die Leute was ganz anderes. Eine Leidenschaft.

Sehen Sie denn irgendetwas Positives, das die Groß-Events bringen?
Die Demonstrationen der Bevölkerung. Denn die Spiele, die Groß-Events, zusammen mit dem Stadtprojekt der Regierenden, laufen auf den Versuch hinaus, den öffentlichen Raum und hierbei zuallererst den Raum der Stadt als polis, im griechischen Wortsinne, zu zerstören. Aber anders als von ihnen erwartet, erleben wir gegenwärtig genau das Gegenteil: die außergewöhnliche Politisierung der Stadt. Die Stadt selbst ist nun Gegenstand des politischen Disputs. Politik und Wirtschaft wollten das Politische aus dem öffentlichen Raum der Stadt verdrängen, und nun erhebt sich genau dieses Politische im öffentlichen Raum. Die Stadt erfindet sich neu als Ort der Politik, verstanden als öffentliche Sphäre, in der die Bürger in die Öffentlichkeit treten, politische Projekte diskutieren und sich fragen: „Was wollen wir mit unserer Stadt?“ Das ist die Stadt als polis. Die Herrschenden aber wollen die Stadt als city. Und sie wollen die polis der city unterordnen. Aber die polis erhebt sich und sagt: Nein! Wer hier das Wort führt, das ist das Politische, hier spricht der öffentliche Raum. Die Demonstrationen sind genau das: Die Stadt geht auf die Straße. Während die Logik der Stadt im Ausnahmezustand die direkte Demokratie des Kapitals, den Wettbewerb der Städte untereinander und die Privatisierung des urbanen Raums meint, ist die Logik der Demonstrationen die Wiedergewinnung des öffentlichen Raums. Während sie die bürgerliche Ordnung einer ihrer Lebendigkeit beraubten Urbanität wollen, explodiert nun die Lebendigkeit und Vielseitigkeit der Stadt auf der Straße. Und das ist eine so außergewöhnliche Erfahrung, dass ich sehr hoffe, dass sie weitergehen wird.

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Carlos Vainer

ist Professor für Urbanistik des Ins­tituts für Stadt- und Regionalplanung Ippur der Bundesuniversität von Rio de Janeiro und Mitglied des lokalen Basiskomitees Rio de Janeiro zur Fußballweltmeisterschaft und den Olympischen Spielen.

Die Stadt als Beute des Kapitals

Ist die urbane Frage im Juni 2013 in den Städten explodiert?
Ich denke, dass die urbane Frage in dem besagten Szenarium aus verschiedenen Gründen eine sehr entscheidende Aufgabe hat. So ist die Stadtfrage seit Jahrzehnten links liegen gelassen worden. Die Stadt war ein bedeutender Raum im Kontext der Klassenfrage. Die Stadt war beispielsweise der Raum, der den Boden für Arbeiterstreiks Ende der 1970er Jahre lieferte. Es haben sich in der Zeit neue Parteien, wesentliche Gewerkschaften und soziale Bewegungen gegründet, währenddessen die internationale Bewegung Rücklauf nahm – Brasilien gewann in den 1980er Jahren dahingehend reichhaltig an Raum. Nachdem wir dann die Militärdiktatur besiegt hatten, da gab es dann diese neue Politik der und für die Stadt. Aber dieser bedeutende Zeitraum städtischer Politik flachte ab, und zwar an dem Punkt, wo die Städte vom Kapital überfallen worden sind. Was sich in Brasilien ab den 1980er Jahren entwickelte war ein riesen Agrargeschäft – die Globalisierung überrollte in Brasilien von da ab an ländliche Gebiete. Das Land wurde so zugerichtet, um die Rohstoffe und Agrargüter zu produzieren. Die Städte aber noch nicht, im Gegenteil, sie wurden erst ab den 1980er Jahren zur Beute des Kapitals.

Wird jetzt die Zeche bezahlt?
Die Probleme von früher sind auch jetzt noch da. Es gibt eine Diskussion in Brasilien, beispielsweise im gewerkschaftlichen Sektor, der es nicht gelingt, die Stadt wie einen Raum des Klassenkampfes zu erkennen. Klassenkampf für sie bedeutet ausschließlich: Kapital versus Arbeit, im Kontext der Fabrikarbeit. Aber der spanische Stadtsoziologe Manuel Castells wies darauf hin, dass die Stadt die Reproduktion von Arbeitskraft ist und deswegen der Raum par excellence für soziale Bewegungen ist. Jetzt sieht man deutlich: ein Tunnel, den der ehemalige Bürgermeister von São Paulo ausschreiben ließ und in dem nunmehr keine Busse, sondern allein Autos fahren dürfen, dieser Tunnel kostet drei Milliarden Reais. Das ist die Hälfte des Stadthaushalts für Gesundheit! Entweder der Tunnel oder die Gesundheit!
Aber man wird sagen: ‚Gut, aber das ist doch kein Kampf von Kapital und Arbeit‘. Aber das ist es doch. Denn der Lohnanstieg bringt nicht automatisch für jedermann kollektive Gesundheit, auch keine grundlegende Kanalisation mit sich. Denn die Infrastruktur einer Stadt, als auch deren öffentlichen Dienste, die stellen eine Art Lohnzusatzleistung dar. Die Reproduktion der Arbeitskraft wird dadurch auf weitere Füße gestellt. Wenn ich Einkommen und höhere Löhne verteilen kann, dann bedeutet das noch nicht, dass das Problem der öffentlichen Kanalisation, die jedermann benötigt, gelöst wurde, noch dass man das Wasser, das jederman trinken muss, auch trinken kann.

Und die Juniproteste haben diese Fragen auf die Agenda gebracht?
Seit Juni haben wir Dinge erreicht, die mich perplex machen. Ich hätte nie gedacht, dass so viel in so wenig Zeit möglich sein könnte. Allein beim öffentlichen Transport in São Paulo haben wir die Rücknahme der Tariferhöhung von 20 Centavos erreicht., Eine parlamentarische Untersuchungskommission wurde zum Transportwesen eingesetzt und öffentliche Ausschreibungen wie dieser kriminelle Tunnel für Autos, der nichts mit der städtischen Mobilität, sondern ausschließlich mit der Finanzierung von Wahlkampagnen zu tun hat, wurden gestoppt. Zudem wird es eine internatio­nale Evaluierung über die Bustarife geben. Und der Ausbau der Busspuren wird ausgebaut.
In Rio de Janeiro hatten wir zwei phantastische Erfolge: Wer hätte vor einigen Monaten geahnt, dass dies möglich sei? Die Privatisierung vom Maracanã bedeutet nicht nur die Privatisierung des Stadions, sondern auch den Abriss zweier Sportparks, die den Anwohnern der Umgebung mit mittlerem und niedrigerem Einkommen zur Verfügung standen. Diese sollten einfach abgerissen werden – aber die Regierenden mussten ihre Pläne ändern. Dies ist von enormer Bedeutung. Und zuletzt das Beispiel der „Vila Autódromo“: Da demaskierte sich die Regierung selbst als die wahren Vandalen – aber sie hat letztlich auf die Räumung der Anwohner verzichtet. Der Staat ist für den derzeitigen Prozess der Gentrifizierung verantwortlich: In Rio de Janeiro werden beispielsweise mehr als 100.000 Personen vom Zentrum in periphere Regionen verdrängt.

Wie sehen Sie diese jüngsten Entwicklungen?
Ich bin einfach nur beeindruckt von dem, was sich da gerade abspielt. Nachdem jahrelang der Ausverkauf der Stadt und deren Kontrolle sich verschärft hatten, sieht man jetzt auf einmal solch phantastische Erfolge. Da wurde der Kommandant der Befriedungspolizeieinheit (UPP) ausgetauscht. Aber: In welche Richtung sich alles weiterentwickeln wird, ich weiß es nicht. Es ist normal, dass es auch Rückschritte gibt, aber vorerst ist keiner zu erkennen, denn diese neuen Akteure werden nicht aufhören. Es ist eine ganz andere Jugend, als ich sie aus meiner Generation kenne. Meine Generation dachte komplett holistisch: große Reformen, die sozialistische Revolution, die Apokalypse. Diese Jugend ist anders: sie wählt sich punktuelle Dinge aus, die aber eben nicht punktuell sind – und die Auswirkungen dann sind einfach gigantisch.

In Bezug auf die Groß-Events hier in Brasilien: Am Ende des Ganzen werden allein Stadien und Militarisierung als Erbe bleiben?
So sieht es aus, aber nicht nur. Man hat Gentrifizierung in der Umgebung des Itaquerão, des neuen Stadions in São Paulo. Das ist fürchterlich, was dort derzeit geschieht. Denn immerhin handelt es sich um öffentliche Gelder, die in ein Projekt investiert werden, wo alle dachten, dass es sich um Privatinvestitionen handeln würde. Dort in der Gegend explodieren die Kosten für Wohnraum. Das führt dann zur Vertreibung der Leute von dort. Und da hängen sie alle mit drin: diejenigen, die die Großprojekte und Infrastruktur bauen, das Immobilienkapital, Zulieferer für die Bauprojekte, einfach alle.

In Ihrem Text in dem gerade erschienenen Buch Rebellische Städte (Cidades Rebeldes) beschreiben Sie die Rolle der Groß-Events als den des ins Feuer geworfenen Holzscheits.
Es gibt viele, die machen die WM für alles verantwortlich. In Wahrheit ist es so, dass der Patient bereits krank ist. Und diese Großevents treiben das Fieber weiter hoch.

Infokasten:

Ermínia Maricato

ist Professorin der Fakultät für Architektur und Urbanismus der Universität in SP und der Universität in Campinas. Sie ist Urbanistin und Expertin zum Thema urbaner Reformen in Brasilien. Zwischen 2003 und 2005 war sie stellvertretenden Ministerin für Stadtwesen, in den ersten Jahren der Regierung unter dem damaligen Präsident
Luiz Inácio Lula da Silva.

Blatter und die Strolche

Treffsicherheit war sein Markenzeichen: Romário, Brasiliens überragender Spieler und Toptorjäger beim WM-Triumph 1994. Nach eigener Rechnung hat er in seiner Laufbahn insgesamt 1.000 Tore geschossen. Der Weltfußballverband FIFA schreibt ihm offiziell „nur“ 902 zu. Treffsicher ist auch sein Humor: Als Reaktion auf seine Nichtnominierung für die WM 1998 ließ er in einem Café in Rio, dessen Mitbesitzer er war, an die WC-Tür eine Karikatur anbringen. Darauf abgebildet: Der damalige Nationaltrainer Mario Zagallo, der auf einer Toilette sitzt. Daneben die Fußballlegende Zico, Technischer Direktor des 98er Teams, dienstbar mit einer Klopapierrolle in der Hand. Beide waren not amused, Zagallo erwog gar eine Klage. Angesichts dieser Treffsicherheit muss sich Brasiliens Verbandspräsident José Maria Marín durchaus Gedanken machen, ob er nicht zum nächsten Opfer des 47-Jährigen wird. Denn Romário sitzt inzwischen für die Sozialistische Partei im Parlament und hat sich dort dem Kampf gegen Korruption verschrieben. Zudem ist Romário das Zugpferd der Kampagne „Weg mit Marín!“, die Anfang Mai auf Initiative des Fußballfanverbands Frente dos Torcedores (Fan-Front) in Rio de Janeiro gestartet wurde. Und das aus gutem Grund. Maríns Vita mit schillernd zu beschreiben, wäre beschönigend. Unbestritten ist, dass er seine politische Karriere während der Militärdiktatur (1964 –1985) gemacht hat. Unbestritten und durch 2012 ans Tageslicht gekommene Parlamentsprotokolle belegt, ist, dass er im Oktober 1975 als Abgeordneter der Arena-Partei, die gemeinsam mit den Militärs regierte, ein Vorgehen gegen die kritische Presse von São Paulo forderte. Diese Forderung blieb nicht folgenlos. Wenige Tage später wurde der TV-Journalist Vladimir Herzog im Zuge der Operation „Bandeirantes“ gefoltert und in der Haft ermordet – vom Militärregime als Selbstmord verkauft. Zumindest geistige Brandstifterschaft muss Marín sich vorwerfen lassen. „Ein Funktionär, der für Willkür, Folter und Mord zu Diktaturzeiten steht, darf nicht den brasilianischen Fußball repräsentieren“, erklärte Alessandro Moron, Bundesabgeordneter der regierenden Arbeiterpartei PT. Morons Meinung steht stellvertretend für die Unterstützer_innen der Kampagne, der auch Ivo Herzog, der Sohn des Ermordeten angehört. Ivo Herzog hat mit Unterstützung von Menschenrechtsgruppen bereits 55 000 Unterschriften zur Absetzung Maríns gesammelt. Die wurden samt der Petition „Weg mit Marín!“ von Romário und Ivo Herzog dem brasilianischen Fußballverband CBF überreicht. „Das Leben von José Maria Marín ist verbunden mit denjenigen, die die Diktatur in Brasilien gestützt haben. Wir können nicht zulassen, dass Marín den Ruhm erlebt, dem größten Event in unserer Geschichte (der Fußball-WM 2014, d. Red.) vorzustehen“, heißt es in der Petition. Sie wurde auch den 20 Erstliga-Clubs sowie den 27 Landesverbänden, die im kommenden Jahr den neuen CBF-Präsidenten wählen, überreicht. Auch die Wahrheitskommission, die vor einem Jahr zur Aufklärung der Diktaturverbrechen eingesetzt wurde, kündigte an, Marín zur Vernehmung vorzuladen.
Der 80-jährige Marín, der nicht nur Chef des brasilianischen Fußballverbandes ist, sondern auch des lokalen Organisationskomitees für die WM 2014, steht spürbar unter Druck. Im August kündigte er an, 2015 nicht mehr für die Verbandsspitze zu kandidieren. Dieses Zugeständnis dürfte seine immer zahlreicher werdenden Gegner_innen allerdings nicht besänftigen. Der schottische BBC-Journalist Andrew Jennings geht davon aus, dass Marín bald zurücktritt. „Die FIFA möchte ihn loswerden, weil sie nicht dauernd an seine dreckige Vergangenheit erinnert werden will. Für Sepp Blatter ist er nutzlos geworden, er wird ihm nicht mehr öffentlich die Hand reichen“, sagte der renommierte und der FIFA verhasste Enthüllungsjournalist in einem Interview gegenüber der Wiener Zeitung.
Wenn Marín zurücktritt, befände er sich in wohlbekannter, schlechter Gesellschaft. Blatters Intimus und Vorgänger an der Spitze der FIFA, João Havelange, musste Ende April als Ehrenvorsitzender der FIFA wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Das mag den 97-Jährigen finanziell nicht treffen und auch strafrechtlich wird er nicht mehr belangt werden, doch seine Reputation ist am Tiefpunkt. Von 1974 bis 1998 hatte der Brasilianer den Weltfußballverband geführt und aus Fußball ein extrem lukratives Geschäft gemacht, zur Seite stand ihm als Generalsekretär ab 1981 Joseph „Sepp“ Blatter. Ein Duo des Kommerzes par excellence, das auch die eigenen Taschen ins Kalkül einbezog. Havelange zählte zu den Hauptbegünstigten des größten bekannten Korruptionssystems der Sportgeschichte: Die mit der FIFA verbandelte Sportrechtefirma ISL, einst von Adidas Gründer Horst Dassler aus der Taufe gehoben, ging 2001 in Konkurs. Im anschließenden Strafverfahren wurde strafgerichtlich festgestellt, dass die ISL in der Zeit von 1989 bis 1999 insgesamt 160 Millionen Schweizer Franken Schmiergeld an zahlreiche Sportfunktionäre gezahlt hatte, darunter Havelange, jedoch nicht Blatter. Doch letzterer wusste Bescheid, wie die Korruptionsermittlungen der Staatsanwaltschaft Zug in der Schweiz gerichtsfest feststellten. Chef der ISL war Jean-Marie Weber, ein langjähriger Freund und Geschäftspartner Blatters. Bisher hat es der Schweizer Blatter noch immer geschafft, sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen, wenn beim Stochern im Korruptionssumpf sein Name auftauchte. Dafür opfert er auch langjährige Weggefährten wie Havelange.
Aus Brasilien zumindest muss Blatter keine Konkurrenz für künftige FIFA-Wahlen fürchten. Auch nicht mehr von Ricardo Teixeira, dem Vorgänger Maríns an der Spitze des CBF und ehemaligen Schwiegersohns Havelange, mit dem ihn auch lukrative Geschäftsbeziehungen verbanden. Havelange und Teixeira hatten die Taschen am weitesten offen, als es darum ging, von der ISL Schmiergelder zu kassieren. Die Staatsanwaltschaft in Zug hat Teixeira den Empfang von über 12 Millionen Franken nachgewiesen. Auch an Havelange flossen mindestens 1,5 Millionen Franken. Bei weiteren fünf Millionen Franken, die an eine Tarnfirma flossen, vermutet die Staatsanwaltschaft, dass Teixeira neben Havelange der zweite Empfänger war.
Teixeira, der 2007 zumindest aus seiner Sicht die Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien geholt hat, war angesichts immer neuer Korruptionsvorwürfe nicht mehr zu halten. Im März 2012 trat er zuerst aus „gesundheitlichen Gründen“ von seinem Amt als CBF-Präsident zurück und übergab an Marín. Wenige Tage später legte er auch sein Amt als Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees nieder, was gut in Blatters offizielle Anti-Korruptionskampagne passte: künftig nur noch Ehrenmänner und keine Strolche. In der FIFA-Ethik-Kommission wurden sowohl Havelange als auch Teixeira offi­ziell der Korruption bezichtigt.
Andrew Jennings ist aber davon überzeugt, dass Teixeira aus dem Exil in Miami weiter die Fäden in der Hand hält: „Er war und ist die bestimmende Figur, was die Korruption rund um die WM betrifft. Teixeira kassiert über Bauvergaben, politische Seilschaften und andere Sachen.“ Andere Sachen, wie der jüngst publik gewordene Deal in Bezug auf die Freundschaftsspiele der brasilianischen Nationalmannschaft, der Seleção. Laut der Zeitung Estado do São Paulo wurden und werden Teile der Einnahmen für die Auftritte der brasilianischen Auswahl seit 2006 nicht mehr an den Verband CBF, sondern an eine im US-amerikanischen New Jersey ansässige Privatfirma überwiesen. An eine Agentur namens Uptrend Development LLC, die dem Präsidenten des FC Barcelona, Sandro Rosell, gehört. Die Gelder fließen dem Bericht zufolge vom Rechtehalter an den Seleção-Spielen, einer Agentur namens International Sports Events (ISE), in die USA. Die ISE residiert auf den Cayman-Inseln. Wer also den fünfmaligen Weltmeister zum Testspiel bewegen will, muss das Finanzielle über die ISE regeln, nicht mit dem Verband CBF. Und das obwohl diese Spiele für den Verband die Haupteinnahmequelle sind. Doch Teixeira hatte im März 2013, bevor er alle Ämter abgab und sich auf sein Luxusanwesen nach Miami davonmachte, noch schnell im Alleingang die Testspiel-Rechte der Seleção bis 2022 verhökert: an die ISE. Dabei wird er sich in gewohnter Manier schadlos gehalten haben. Laut Estado do São Paulo liegt dem Vertrag ein Schema der Unterschlagung zugrunde. Demnach fließen pro Freundschaftsspiel knapp 1,6 Millionen US-Dollar Antrittsgage an die ISE. Davon werden nur 1,1 Millionen an den CBF weitergereicht, rund 450.000 Dollar aber wanderten auf die Konten der US-Firma, die in Rosells Besitz ist. Ein Jahr vor der WM versinkt Brasiliens Fußball so immer tiefer in der Korruption. Auch zum Verdruss der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, die sich selbst schon während des Confed-Cups im Beisein korrupter Fußballfunktionäre schrillen Pfeifkonzerten ausgesetzt sah. Mehrfach deutete Rousseff ihre Unzufriedenheit über die Leitung des Verbands an. Staatsunternehmen wurden angewiesen, keine Werbeverträge mit dem CBF abzuschließen.
Ein Hoffnungsschimmer ist eine Gesetzesini­tiative zur Demokratisierung des brasilianischen Fußballwesens. Darin wird Fußball als Kulturgut definiert und der Verwaltung durch eine Gruppe selbstherrlicher Funktionäre und einer privatrechtlichen Organisation wie dem CBF eine Absage erteilt. Gefordert wird eine öffentliche Kontrolle, Transparenz und die Einbeziehung der Fans. Eine Steilvorlage für den einstigen Torjäger Romário. Bei der Verwandlung ist er allerdings auf Rousseffs Unterstützung angewiesen.

// DOSSIER: CHILE – DAS ERBE DER DIKTATUR

Demonstration für das NEIN bei Pinochets Referendum, Santiago, 01. Oktober 1988 // Foto: José Giribás

(Download des gesamten Dossiers)

Chile spielt auf der politischen Weltkarte eine überwiegend zu vernachlässigende Rolle. Das 17 Millionen-Einwohner_innenland, das sich im äußersten Südwesten der Amerikas auf einer Länge von 4.300 Kilometern eingeengt zwischen den Anden und dem Pazifik befindet, taucht in den europäischen Medien nur selten auf.

Selbst der Besuch des chilenischen Präsidenten in Deutschland ist kaum eine Nachricht wert. Das war allerdings nicht immer so. In der Geschichte der Linken in Deutschland war Chile einer von vielen Bezugspunkten, an dem sich nach der Wahl von Salvador Allende 1970 Revolutionsträume von einem demokratischen Sozialismus orientierten. Doch die vielen unter der Regierung der Unidad Popular begonnenen Projekte fanden ein jähes Ende. Der Militärputsch am 11. September 1973 begrub den Traum eines gerechteren Chiles. Der Regierungspalast La Moneda wurde von Kampfflugzeugen der chilenischen Streitkräfte bombardiert, Salvador Allende kam ums Leben – ob durch Mord oder Selbstmord ist bis heute strittig. Tausende Chilen_innen wurden in den folgenden Tagen und Wochen inhaftiert, gefoltert und ermordet, am Ende der Militärdiktatur sollten es mehr als 3.000 Tote und Verschwundene sowie zehntausende Gefolterte sein. Während dieser 17 Jahre waren die Menschenrechtsverletzungen der Regierung, nicht zuletzt wegen der vielen Exilierten, auch in der deutschen Linken ein wichtiges Thema. Insgesamt 500.000 Chilen_innen verließen ihr Heimatland. Während Pinochet auf die freundliche Unterstützung von deutschen Politiker_innen wie Franz-Josef Strauß zählen konnte, wurde von Bewegungsseite die chilenische Militärregierung kritisiert und die Opposition unterstützt.

Die damalige Solidarität mit der vorangegangenen Unidad Popular-Regierung führte unter anderem zur Gründung der Lateinamerika Nachrichten. Am 28. Juni 1973 erschien unter dem Namen Chile-Nachrichten die erste Ausgabe. Etwa 15 bis 20 Personen, die in Chile zuvor Faszination und Probleme des sozialistisch-demokratischen Aufbruchs miterlebt hatten, hatten in Deutschland zunächst das Komitee Solidarität mit Chile ins Leben gerufen. Anfangs sollten für die Kommunikation innerhalb des Komitees alle zwei Wochen aktuelle Informationen über die sich zuspitzende politische Lage zusammengetragen werden, die erste Nummer bestand aus acht eng bedruckten Seiten. Insgesamt 50 Exemplare davon wurden von Matrizen gezogen und an einige Freund_innen geschickt. Nach dem Putsch stieg das zuvor geringe Interesse an Chile innerhalb der westdeutschen Linken sprunghaft an, die Solidaritätsbewegung erhielt enormen Zulauf. In vielen Städten der BRD gründeten sich Chile-Komitees, die unter anderem Demonstrationen, Proteste und Hilfsaktionen für exilierte Chilen_innen organisierten. Ende 1973 betrug die Auflage der Chile-Nachrichten bereits 6.000 Stück, später erreichte sie zeitweise bis zu 8.000 Exemplare. Der Umfang der einzelnen Ausgaben stieg rasch auf 60 Seiten, die Zeitschrift erschien fortan monatlich. Um die vielen angesammelten Dokumente zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde 1974 das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) gegründet, das mit den LN bis heute eng kooperiert.

Thematisch drehte sich zunächst fast alles um Chile. Mit der Zeit gerieten mehr und mehr Nachbarländer Chiles in den Fokus, in denen ebenfalls das Militär regierte und ganz ähnliche politische Bedingungen herrschten. Spätestens nach dem Putsch in Argentinien am 24. März 1976 wurde die Berichterstattung der Chile-Nachrichten zunehmend breiter und der Anteil an Chile-Artikeln kleiner. Als Konsequenz erschien die Zeitschrift ab der Nummer 51 im September 1977 unter dem bis heute bestehenden Namen Lateinamerika Nachrichten, zunächst mit dem Zusatz „5. Jahrgang der Chile-Nachrichten“. Elf Jahre später verschwand der alte Name auch aus dem Untertitel.

2013 jährt sich der Putsch zum 40. Mal, genauso wie das Bestehen der Lateinamerika Nachrichten. Grund genug, einen etwas genaueren Blick auf Chile zu werfen. 40 Jahre Putsch in Chile bedeuten auch 40 Jahre neoliberale Reformen. Während in Europa beim Stichwort Neoliberalismus die Namen Thatcher, Reagan und vielleicht auch Schröder und Blair fallen, war Chile unter Federführung der sogenannten Chicago Boys, in den USA ausgebildeten Wirtschaftwissenschaftler_innen, das Experimentierfeld für neoliberale Politiken.

Die in der Militärdiktatur umgesetzten Reformen, die die sozialen Errungenschaften ihrer Vorgängerregierungen zunichte machten, sind bis heute maßgeblich für das politische und wirtschaftliche Leben in Chile. Die Privatisierungen im Gesundheits- und Bildungssektor, die Rücknahme der Landreformen, die Arbeitsgesetze, die strafrechtlichen Mechanismen, das Wahlrecht, dies und vieles mehr sind auch heute, 23 Jahre nach dem Ende der Diktatur, Eckpfeiler chilenischer Institutionalität. Denn entgegen vieler Erwartungen hat das linke Parteienbündnis Concertación, dem auch Salvador Allendes Sozialistische Partei angehört, in 20 Jahren Regierungsverantwortung von 1990 bis 2010 das neoliberale Modell und die von der Pinochet-Administration 1980 verabschiedete Verfassung nicht angetastet. Ähnlich steht es um die Vergangenheitsbewältigung. Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen verläuft bruchstückhaft und nur wenige Mörder und Folterer mussten bisher in Haft.

Die Kontinuitäten zwischen Militärdiktatur und der aktuellen Politik wurden lange Zeit unwidersprochen hingenommen. Nicht zuletzt aus Angst vor dem übermächtigen Militär, dem auch heute noch zehn Prozent der Einnahmen des riesigen chilenischen Staatskonzerns Codelco zustehen. Gerade in der Anfangszeit der neuen Demokratie stellte die Armee ihre Macht zur Schau. In Erinnerung geblieben ist hierbei vor allem der Boinazo, bei dem Augusto Pinochet Ermittlungen wegen Korruption gegen sich und seinen Sohn dadurch verhinderte, dass er am 28. Mai 1993 bewaffnete Spezialeinheiten 200 Meter vom Regierungssitz auflaufen ließ. Aber auch nachdem die Bedrohung durch das Militär nicht mehr so virulent war, zeigten die gewählten Regierungen keine Bestrebungen, etwas an der Situation Chiles zu verändern, was auch lange ohne großen Widerstand der Bevölkerung funktionierte.

Neben den Mapuche, die sich immer in Konflikt mit dem chilenischen Staat befanden, waren es die Schüler_innen, die sich mit moderaten Forderungen gegen die neoliberale Bildungspolitk richteten. Sie waren die ersten, die, wenn auch erfolglos, auf die vielen Widersprüche im neoliberalen Musterland Chile hinwiesen.
Während Tomás Hirsch, Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2009 im Interview mit den LN zu den sozialen Bewegungen noch sagte, in Chile gäbe es „immer weniger solcher Organisationen und sie bluten aus“, hat sich die Lage vier Jahre später dramatisch verändert. Nachdem im April 2011 erstmals groß gegen HidroAysén, ein Megastaudammprojekt im Süden Chiles, demonstriert wurde, etablierte sich kaum einen Monat später die auch in den LN viel diskutierte Studierenden- und Schüler_innenbewegung, die sich zunächst auf Bildungsthemen beschränkte, mittlerweile aber eine gänzliche Abkehr vom neoliberalen System fordert.

Das Aufkommen dieser Bewegung weckte die chilenische Zivilgesellschaft aus der Jahre währenden Apathie. Mittlerweile regt sich an allen Ecken und Enden Widerstand gegen die Regierungspolitiken. Im nördlich gelegenen Freirina wurde so eine riesige Schweinemastfarm verhindert, die Bewohner_innen der abgelegenen Provinz Aysén erkämpften sich Zugeständnisse von der Regierung, und selbst wenn das Bildungssystem in Chile immer noch kaum verändert besteht, müssen sich die Herrschenden mit konstanter Mobilisierung arrangieren. Dieses Arrangieren geschieht allerdings weniger mit dem Versuch, die Forderungen zu integrieren und die Proteste zu befrieden. Vielmehr wird die Repression über die versuchte Verabschiedung neuer Gesetze verschärft. Allerdings zeichnet sich bis jetzt nicht ab, dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen sich von der Repression einschüchtern lassen.

Mit dem vorliegenden Dossier möchte die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten die Hintergründe der heutigen Situation beleuchten. Zunächst zeigt LN-Mitbegründer Urs Müller-Plantenberg die Kontinuitäten des unter der Militärdiktatur eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems auf. Markus Thulin beleuchtet in seinem Beitrag exemplarisch die konkreten Folgen des Neoliberalismus für das chilenische Gesundheitssystem.

Anschließend beschreibt Oliver Niedhöfer einige Absurditäten des ebenfalls noch aus Diktaturzeiten stammenden binominalen Wahlsystems. Über die schwache Position der Gewerkschaften schreibt Nicolás Véliz Rojas. Auch wenn sich die Menschenrechtslage im Vergleich zur Diktatur deutlich gebessert hat, reagiert der chilenische Staat auf Proteste mit Repression, wie David Rojas Kienzle in seinem Beitrag aufzeigt. Insbesondere trifft die Repression die Studierendenbewegung, die Steve Kenner vorstellt und die indigenen Mapuche im Süden des Landes. Über die Hintergründe des Mapuche-Konliktes berichtet Llanquiray Painemal.

Dass es die LN ohne die Solidarität mit Chile gar nicht gäbe, liegt auf der Hand. Was aber hat die internationale Solidaritätsbewegung mit Chile sonst gebracht? Das haben wir verschiedene Protagonist_innen der damaligen Zeit aus Chile und Deutschland gefragt. Bei einem Thema, zu dem Teile der Solibewegung in der BRD gearbeitet haben, gab es einen direkten Bezug zu Deutschland. Über die abstoßende Sektensiedlung Colonia Dignidad, die der deutsche Kinderschänder Paul Schäfer 1961 gegründet hatte, schreibt Friedrich Paul Heller. Dieter Maier geht anschließend der Frage nach, warum sich Pinochet so lange an der Macht halten konnte. Interviews mit einer Exilchilenin, die in die BRD kam und einem Exilchilenen, den es in die DDR verschlug, geben Einblicke in das Leben im Exil. Dass sich Chile mit der Aufarbeitung der Vergangenheit noch immer schwer tut, während das Nachbarland Argentinien bedeutende Fortschritte zu verzeichnen hat, beschreibt Maja Dimitroff. Schließlich wirft Leonor Abujatum einen Blick auf chilenische Literatur, in der die Vergangenheit deutlich besser aufgearbeitet wird als auf politischer ebene in Chile.

Bei der Fülle möglicher Themen kann kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen.Wir hoffen, inhaltliche Lücken durch eine kontinuierliche Berichterstattung zukünftig ausfüllen zu können. Mit diesem Dossier starten wir in den 41.Jahrgang der einstigen Chile-Nachrichten. Viele weitere der LN werden folgen.

Ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung

Das Ambiente im gefüllten Saal des Nationaltheaters ist angespannt. Als „geeigneten Tag, um über schwierige Themen zu sprechen“ bezeichnet Carlos Batzín, Minister für Kultur und Sport, die Eröffnung des Filmfestivals „Erinnerung. Wahrheit. Gerechtigkeit.“ am 18. April 2013. Doch an diesem Tag wollen die Worte nicht ganz zur Realität passen. Wenige Stunden zuvor hatte die Richterin Carol Patricia Flores geurteilt, der Prozess wegen Völkermords gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt sowie seinen Geheimdienstchef Mauricio Rodríguez Sánchez müsse auf den Stand des 23. Novembers 2011 zurückgesetzt werden (siehe LN 467). Ein spezieller Tag also für den Start eines Festivals „gegen das Vergessen“, wie es Initiator Uli Stelzner in seiner Eröffnungsrede benennt. Als sich Batzín schließlich als Repräsentant des aktuellen Präsidenten und Ex-Generals Otto Pérez Molina darstellt, kocht der Unmut des Tages über. „Genocida“ („Volksmörder“), schallt es ihm von den 2.000 Plätzen entgegen. Der Minister muss sein Grußwort unterbrechen.
Schon Tage zuvor waren die kostenlosen Eintrittskarten für die Eröffnung des Dokumentarfilmfestivals komplett vergriffen. Die internationale Premiere des US-amerikanischen Films Goldfever zog die Hauptstädter_innen an. Doch neben ihnen sitzen im Saal auch über 100 Einwohner_innen von San Miguel Ixtahuacán, Protagonist_innen des Films über die Folgen der offenen Tagebaumine „Mina Marli“ und den Protest der Gemeinde gegen den kanadischen Betreiber, die Goldcorp Inc. Die Produzent_innen von Goldfever hatten ihre Anreise organisiert. Unter diesen Umständen einen Film zu zeigen, der die Repression der Gemeinde durch die Minenbetreiber und die Komplizenschaft des guatemaltekischen Staates klar darstellt, wäre für sich schon ein bedeutendes Ereignis gewesen. Die Entscheidungen des Tages im Prozess gegen Ríos Montt gaben der Eröffnung aber noch eine ganz andere Dimension. „Mit Sicherheit die emotionalste Vorführung, die wir mit diesem Film je haben werden“, fasst JT Haines, einer der Produzenten, den Abend zusammen. Das Festival hat gerade erst angefangen.
Seit 2010 existiert die Veranstaltungsreihe, initiiert von dem deutschen Dokumentarfilmer Uli Stelzner. Immer schon waren die Filmvorführungen kontrovers – einen Ort für kritisches Kino in Guatemala zu schaffen, war anfangs nicht leicht. Mit Stelzners Film La Isla über das Archiv der Nationalpolizei und weiteren Dokumentationen über die Zeit der Militärdiktatur, inklusive Bildern Otto Pérez Molinas in Gefechtszonen, fand die erste Auflage des Festivals während der Wahlkampfzeit 2010 unter Sabotageakten und einer Bombendrohung statt (siehe LN 449, 456). „Für unsere Arbeit waren die Zeiten hier nie günstig“, erklärt Stelzner in einem Interview mit guatemaltekischen Videoaktivist_innen. Dennoch hat sich das Festival konsequent weiterentwickelt und vergrößert. Dieses Jahr stehen an zehn Tagen 28 Filme samt Diskussionsforen auf dem Programm – Eintritt frei.
Wieder ein gefüllter Saal: dieses Mal im alteingesessenen Cine Capitol im Zentrum der Stadt. Im Publikum sitzen Klassen verschiedener Schulen, öffentliche als auch private, auf der Leinwand Bilder aus der Zeit der Diktatur und des Archivs der Nationalpolizei. Im Rahmen der Kategorie „15+“, ausschließlich an Schüler_innen gerichtet, wird La Isla gezeigt. Während des gesamten Festivals sind wochentags die Vormittage den Schulen vorbehalten. „Die Jugendlichen wissen praktisch nichts über diese Zeit und in den Schulen wird ihnen darüber nichts beigebracht“, verdeutlicht Stelzner die Notwendigkeit der Kategorie. Das anschließende Diskussionsforum gibt ihm Recht. Ein Kommentar aus dem Publikum: „Ríos Montt wurde ja wegen Völkermords angeklagt – ich denke, das hätte man nicht tun sollen. Völkermord bedeutet ja die Auslöschung einer Rasse oder eines bestimmten Volkes, aber es existieren ja noch indigene Gemeinden, die immer noch leben…“ Viel Aufklärungsarbeit wartet an diesem Morgen auf die Moderator_innen des Forums. Dass die Schüler_innen an diesem Vormittag die Möglichkeit haben, sich näher mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, ist keinesfalls einfach zu erreichen. Den Vorstellungen geht eine intensive Überzeugungsarbeit voraus. „Die Verantwortlichen in den Schulen erschrecken sich, wenn sie die Themen der Filme sehen, zu denen wir einladen“, bemerkt Stelzner.
Mehr als 200.000 Opfer des internen Konfliktes von 1960 bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages 1996, der Genozid an der indigenen Bevölkerung der Ixil anfang der 1980er Jahre – in Guatemala über Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit zu sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Zwar herrscht seit 1996 offiziell „Frieden“, doch auch aktuell gibt es zahlreiche Konflikte im Land. Industrielle Megaprojekte, wie die „Mina Marli“ in San Miguel Ixtahuacán verursachen massive Umweltschäden und vertreiben die ansässigen Menschen von ihrem Land. Widerstand ist und bleibt gefährlich. Allein in der Zeit vom 28. Februar bis zum 17. März dieses Jahres, wurden laut dem Forum internationaler Nichtregierungsorganisationen in Guatemala (FONGI) insgesamt fünf Aktivist_innen ermordet, weitere entführt und gefoltert. Einer der Ermordeten ist der Regierungssekretär der indigenen Gemeinde Xinca, Exaltación Marcos Ucelo. Ihm war bei der Rückreise von der Befragung des Dorfes El Volcancito zu einem Minenprojekt in San Rafael de las Flores aufgelauert worden. Die Gemeinde hatte mit 99,2 Prozent gegen die Mine gestimmt.
„Was wollen wir? Gerechtigkeit! Wir alle sind? Ixil!“, tönt es am Nachmittag durch den Kinosaal des Cine Capitol. Gerade endete der ecuadorianische Film Con mi corazón en Yambo („Mit meinem Herz im Yambosee“) von María Fernanda Restrepo. Restrepo, deren zwei ältere Brüder 1988 von der Polizei entführt und ermordet wurden, dokumentiert in dem Film den Kampf ihrer Familie für Gerechtigkeit. Szenen zeigen das Aufeinandertreffen María Restrepos mit den mutmaßlichen Mördern ihrer Brüder, die ihre Taten bis heute abstreiten; andere ihren Vater, wie er jeden Mittwoch öffentlich protestiert. „Man weiß, wann der Kampf beginnt, aber nicht, wann er endet“, erzählt der heute fast 70jährige. Der Einblick in den unnachgiebigen Kampf der Familie bewegt das Publikum. Am Ende gibt es Standing Ovations für die anwesende Regisseurin, gefolgt von den Rufen nach Gerechtigkeit in Guatemala. Im anschließenden Gespräch mit Restrepo erzählt eine Frau unter Tränen von ihren Erfahrungen mit polizeilicher Repression in Guatemala. Der nächste Wortbeitrag ist der Aufruf zu einer Demonstration am nächsten Tag vor dem Verfassungsgericht für die Fortsetzung des Prozesses gegen Ríos Montt sowie in Erinnerung an Juan Gerardi. Der Bischof hatte den ersten Wahrheitsbericht „Guatemala: Nunca más“ koordiniert und war zwei Tage nach dessen Präsentation im April 1998 ermordet worden. María Restrepo begrüßt den Aufruf: „Wenn wir uns an die Angst gewöhnen, steht es sehr schlecht um unsere Gesellschaft.“
Con mi corazón en Yambo ist nicht der einzige Film, der emotionale Debatten im Kinosaal auslöst. Das Festival bietet neben den Eindrücken aus aller Welt die Möglichkeit, sich auszutauschen, gemeinsam zu protestieren, gemeinsam die Angst der guatemaltekischen Vergangenheit anzugreifen. Stets sind die Vorstellungen gut besucht, die Filme ziehen ein Publikum aller Altersklassen an. Neben der Kategorie „Visuelle Erinnerung Guatemala“ stehen Filme über „Krise und Migration“, „Erinnerung und Frau“, „Arabischer Frühling“ sowie „Weltpanorama“ auf dem Programm. Am Ende des Festivals haben mehr als 10.000 Zuschauer_innen die Filmvorstellungen besucht, der Andrang überstieg teils die Kapazitäten des Kinos. Für die Organisator_innen ein Zeichen der steigenden Wichtigkeit des Festivals und Ansporn, neue Herausforderungen anzugehen. So soll nächstes Jahr eventuell ein neuer Veranstaltungsort gesucht werden, um mehr Menschen das Kommen zu ermöglichen. Außerdem gibt es Pläne, die Filme auch außerhalb Guatemala-Stadts zu zeigen. Das Festival ins Inland Guatemalas zu bringen, bedeutet mehr als zuvor die Repression dort aufzuzeigen, wo sie sich am stärksten manifestiert. Bei der aktuellen Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Land ist dies keine leichte Aufgabe. Gleichzeitig ist diese Entwicklung aber auch Motivation: „Guatemala ist dabei sich wieder zu polarisieren. Grund dafür ist das Fehlen von Erinnerung, von Bewusstsein, im weiterem Sinne von Identität“, betont Uli Stelzner. Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit – immer wieder wird in den zehn Tagen des Festivals die Dimension dieser Begriffe deutlich. Nachdem ein Besucher den Anwesenden eines Diskussionsforums von der Entführung seines Vaters während seiner Kindheit erzählt hat, fügt er hinzu: „Die einzige Reparation dafür ist Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit kann es keine Versöhnung geben!“ In den letzten Tagen hat sich gezeigt, wie diese Frage in den höchsten Sphären des guatemaltekischen Staates behandelt wird: Zwar konnte das Verfahren fortgesetzt werden, doch nur neun Tage nach der Verurteilung Efraín Ríos Montts zu 80 Jahren Haft wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde das Verfahren am 20. Mai durch das Verfassungsgericht annulliert. Vor diesem Hintergrund ist die Konsolidierung eines kritischen Filmfestivals, das Räume für Debatten und gemeinsames Erinnern schafft, ein unermesslicher Erfolg.

Rinderfarmen im Pekari-Land

Sie nennen sie „Stahlmonster“: die großen Planierraupen, die sich immer häufiger im Norden des paraguayischen Chacogebietes zeigen. Für die indigenen Ayoreo-Totobiegosode bringen diese modernen Ungetüme die Zerstörung ihrer Lebenswelt. Die schweren Arbeitsgeräte pflügen durch den dichten Trockenbusch der Tiefebene im Nordwesten Paraguays und hinterlassen nur noch nackte Erde. Auf ihr sollen Gräser wachsen, damit Rinder weiden können.
Früher galt der Monte, der Buschwald im nördlichen Chaco, als undurchdringlich und gefährlich. Für moderne Maschinen ist aber diese Vegetation, die perfekt an das semi-aride und extrem heiße Klima im Chaco angepasst ist, keine wirkliche Herausforderung mehr. Das einzigartige Ökosystem ist für Viehzüchter_innen kaum mehr als etwas Unkraut, das sich leicht beseitigen lässt.
Wegen steigender Landpreise in den anderen Teilen Südamerikas und wegen der hohen Lebensmittelpreise wird nun der vormals vergessene Chaco für die Agrarindustrie interessant. Auf Satellitenbildern lässt sich die fortschreitende Zerstörung des typischen Buschwaldes im Chaco gut nachvollziehen. Immer mehr schachbrettartige Muster sind zu erkennen, mit dünnen, dunkleren Streifen zwischen den Feldern. Dies sind gerodete Flächen, auf denen Viehweiden entstehen. Die dunklen Streifen sind dann alles, was vom Buschwald übrig bleibt.
Für die Totobiegosode, eine Untergruppe der Ayoreo, bedeutet dies eine Katastrophe. Die Indigenen leben in Familienverbänden als Halbnomad_innen im dichten Buschwald des Chaco. Sie pflegen Gärten, sammeln Wurzeln und wilden Honig im Wald und jagen die Wildschweinen ähnlichen Chaco-Pekaris. Sie wissen, wie man in den langen Trockenperioden im Chaco Flüssigkeit finden kann. Ihre Selbstbezeichnung Totobiegosode bedeutet in ihrer Sprache „Leute von dort, wo die Pekaris leben“.
Doch wenn einmal der Wald gerodet wurde und Rinder darauf weiden, gibt es keine Pekaris mehr. Mit dem Wald verlieren auch die Totobiegosode ihre Lebensgrundlage. Sie müssen weiterziehen, in der Hoffnung, noch freie Waldflächen zu finden. Widerstand gegen die Fremden, die ihnen ihr Land wegnehmen, das haben die Totobiegosode gelernt, ist zwecklos. Den „Stahlmonstern“ machen ihre Speere wenig aus.
Einige Gruppen der Totobiegosode gehören zu den letzten Indigenen im Chaco, die noch in freiwilliger Isolation leben. Da die Ausbreitung der globalisierten Zivilisation ihnen nur Tod durch eingeschleppte Krankheiten und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage gebracht hat, vermeiden sie jeden Kontakt zu Außenstehenden.
Die meisten anderen Ayoreo, auch viele Totobiegosode, haben aber inzwischen Kontakt mit der Außenwelt. Doch in ihren Überlieferungen bezeichnen sie das Eindringen der Fremden in ihre Welt als Katastrophe. Der erste Kontakt zwischen Fremden und Ayoreo war praktisch immer gewaltsam und brutal. Die evangelikale Missionsgesellschaft New Tribes Mission aus den USA veranstaltete ab den 1950er Jahren Menschenjagden auf die Ayoreo. Mit Hubschraubern und Gewehren schüchterten sie die Ayoreo-Gruppen ein, um ihnen den vermeintlichen Segen des Evangeliums nahezubringen. Die „Bekehrung“ der Indigenen war den nordamerikanischen Missionar_innen dabei wichtiger als deren Überleben. Hunderte Ayoreo starben bei den gewaltsam herbeigeführten Erstkontakten, wie der Anthropologe José Perasso in einer Untersuchung 1987 belegte.
Die meisten Ayoreo erlagen Krankheiten, gegen die sie keine Abwehrkräfte hatten. Die Überlebenden müssen nun verarmt als Bettler oder Wanderarbeiter_innen auf den Viehfarmen leben, die sich über das Land erstrecken, das einstmals ihnen gehörte. Es fanden sich aber auch Anthropolog_innen, die die Ayoreo unterstützten. Verena Regehr, die als Nachfahrin mennonitischer Einwander_innen im Chaco aufwuchs, kämpft seit 1993 mit den Ayoreo gemeinsam für deren Rechte. Seitdem haben sie es geschafft, dass wenigstens einige Territorien der Ayoreo vom paraguayischen Staat als deren Besitz anerkannt wird.
Doch in Paraguay, wo die verfilzte Justiz im Zweifel für die Interessen mächtiger Großgrundbesitzer_innen entscheidet, ist dies eine schwierige Aufgabe. Während die Anerkennung indigener Territorien jahrelange Prozesse vor der Justiz verlangt, schreiten die „Stahlmonster“ weiter im Chaco voran und zerstören die letzten Trockenwälder.
Offiziell ist das Land im Chaco bereits seit 1883 verkauft. Damals veräußerte der bankrotte paraguayische Staat die einzige Ressource, die er noch hatte, das staatliche Land. Nur etwa 50 Personen und Firmen kauften dabei das Land im Chaco Boreal, einer Region, ungefähr so groß wie das heutige Polen.
Im Süden des Chaco wurden gerbstoffreiche Hölzer für die Lederindustrie gewonnen, riesige Viehfarmen entstanden und einige wenige Siedlungen europäischstämmiger Einwander_innen wurden aufgebaut. Doch der Chaco blieb ein sehr dünn besiedeltes Land. Dies galt insbesondere für den nördlichen Chaco, der von den damals Moros genannten Ayoreo bewohnt wurde, die als gefährliche Feind_innen der „Weißen“ galten.
Diese mythische Vorstellung des nördlichen Chaco als gefährliches und unrentables Land hat sich in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich gewandelt. Nun ist es eine der letzten vermeintlich „freien“ Regionen, in die sich die expandierende globale Landwirtschaft noch ausbreiten kann.
An diesem Boom möchte auch das wichtigste Unternehmen im Chaco Boreal teilhaben. Seit 1883 ist das vom spanischen Einwanderer Carlos Casado gegründete Unternehmen der größte Landbesitzer im Chaco. Das argentinisch-paraguayische Mischunternehmen Carlos Casado S.A. gehört inzwischen mehrheitlich der spanischen Unternehmensgruppe San José, im Besitz des Magnaten Jacinto Rey González.
Das Unternehmen möchte nun den nördlichen Teil seiner riesigen Besitzungen im Chaco in Wert setzen. In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierte der Konzern seine Aktivitäten auf den südlichen Teil des Chaco Boreals. Rinderfarmen sollen nun im Norden entstehen und auch der Anbau von Jatropha-Pflanzen für die Biodieselproduktion wird angedacht. Dafür beseitigt das Unternehmen den Buschwald im Chaco, in dem häufig noch unkontaktierte Totobiegosode leben. Gegen dieses Vorgehen haben diverse Nichtregierungsorganisationen Protest eingelegt. Die Totobiegosode-Organisation OPIT, die sich auch für die in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo einsetzt, hatte im vergangenen Jahr Klage gegen Carlos Casado S.A. eingereicht. Auch Survival International machte auf die Zerstörung der Lebensgrundlage der Ayoreo durch das Unternehmen aufmerksam.
Carlos Casado setzte dagegen seine Anwält_innen ein. Von der Umweltbehörde erlangten sie eine Bestätigung, dass ihre Rodungen im Chaco nicht die Umwelt zerstören würden. Eine wirkliche Untersuchung wurde dabei nicht durchgeführt. Schon immer hat der paraguayische Staat gegenüber dem mächtigen argentinischen Unternehmen gekuscht. Carlos Casado S.A. sieht sich im Recht. Auf seiner Homepage veröffentlicht das Unternehmen Erklärungen, dass keine Untersuchungen der Justiz gegen das Unternehmen in Arbeit seien. Das Land, das das Unternehmen bearbeite, gehöre ihm auch. Es lasse sich nichts zu schulden kommen.
Formaljuristisch scheint dies erstmal richtig zu sein. Carlos Casado S.A. ist nach paraguayischem Gesetz Besitzerin der Ländereien im Chaco. Doch dies liegt daran, dass diese Besitztitel im 19. und 20. Jahrhundert vergeben wurden, als niemand auf die Besitzansprüche der indigenen Ayoreo achtete.
Die Totobiegosode, die in freiwilliger Isolation leben, haben naturgemäß keine formalen Besitztitel über ihr Land. Doch die Ayoreo-Organisationen sehen sich dennoch als die Besitzer_innen des Landes. Mateo Sobode Chiquenoi, Präsident der Union der Ayoreos in Paraguay, erklärte es 2011 gegenüber dem US-amerikanischen Journalisten Fred Pearce so: „Wir haben keine Landtitel vorzuweisen, aber es gibt noch unsere Spuren aus der Vergangenheit und der Gegenwart, die beweisen, dass es unser Land ist. Es gibt unsere Hütten, unsere Pfade, die Feldfrüchte, die wir im Wald gezogen haben, und die Löcher in den Bäumen, aus denen wir Honig gesammelt haben. Das sind unsere Besitzurkunden.“
Aber selbst die Legalität der offiziellen Besitztitel von Carlos Casado S.A. kann angezweifelt werden. Wie die argentinische Historikerin Gabriela Dalla Corte 2009 in einer umfassenden Studie zu Carlos Casado S.A. nachwies, waren viele Land­erwerbungen von Carlos Casado 1883 illegal.
Als der paraguayische Staat sein Land damals verkaufte, wurden Regeln aufgestellt, die die Konzentration von riesigen Latifundien in den Händen weniger verhindern sollte. Mit Hilfe von Strohmännern und durch Korruption konnte Carlos Casado diese Gesetze umgehen und kaufte sich damals Land in der Größe von Belgien und Luxemburg zusammen.
Schon in den 1970er Jahren erklärte eine staatliche Untersuchungskommission Paraguays, dass die Aktivitäten des Unternehmens negative Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft erwarten lassen und man eine Teilenteignung erwägen sollte. Da das Unternehmen aber gute Verbindungen zur argentinischen Militärdiktatur hatte, durfte es weitermachen wie bisher, zu groß war die Angst vor einer argentinischen Einflussnahme. Schon lange pflegte die Familie Casado gute Verbindungen in die argentinische Politik und ist mit einigen Präsidenten verwandt gewesen. Auch den Chacokrieg gegen Bolivien kämpfte Paraguay von 1932 bis 1935 nicht zuletzt, um die Investitionen argentinischer Unternehmen im Chaco zu schützen. Der damalige Geschäftsführer José Casado war Schwager des damaligen argentinischen Präsidenten Agustín P. Justo. Auch wenn es heute kein Familienunternehmen mehr ist, kann sich Carlos Casado S.A. auf seine Verbindungen in die Politik verlassen.
So waren die Besitzungen von Carlos Casado S.A. im Chaco immer so etwas wie ein Staat im Staate. Die verstorbene Ethnologin Bratislava Susnik schrieb die Geschichte auf, wie 1925 alle Bewohner_innen eines Dorfs der indigenen Guaná von paraguayischen Militärs ermordet wurden, weil Carlos Casado S.A. die Indigenen des Viehdiebstahls bezichtigte. Das Unternehmen zerstörte den Quebrachowald des südlichen Chaco Boreals, um Gerbstoffe zu gewinnen.
Auf den Fabriken im Hafenort Puerto Casado galten im vergangenen Jahrhundert die Rechte der Arbeiter_innen nichts und das Wort des Geschäftsführers und Sohn des Firmengründers José Casado alles. „Im Himmel Gott, in Puerto Casado José Casado“, soll er gesagt haben.
Angesichts dieser Berichte erscheinen die heutigen Äußerungen von Carlos Casado S.A. zum Streit mit den Ayoreo wie blanker Hohn. Das Unternehmen hätte sich immer ein gutes Verhältnis zu Umwelt und Menschen bemüht, schreibt es im März 2013 in einem offenen Brief an Survival International. Die Indigenen des Chaco Boreal, die nicht erst in den letzten Jahren von Carlos Casado S.A. vertrieben wurden, dürften dies anders sehen.

„Er war ein schlechter Mensch“

Ein recht betagter Massenmörder stirbt während der Verbüßung einer Haftstrafe an Altersschwäche in einem Gefängnis in Buenos Aires. So what? – möchte man fragen. Der ehemalige Militärdiktator Jorge Rafael Videla verschied am 17. Mai 2013 im Alter von 87 Jahren in der Haftanstalt von Marcos Paz. Auch nach seinem Tod vermag diese Person außer höchster Verachtung kaum menschliche Gefühle bei mir zu wecken.
Das Ereignis seines Todes hingegen hat uns, die wir uns seit langem mit der diktatorischen Vergangenheit Argentiniens beschäftigen, bewegt. Er war nach dem Tod von Emilio Massera und Orlando Agosti das letzte lebende Mitglied der Militärjunta, die am 24. März 1976 die Macht ergriff und auf unvorstellbar brutale Weise ausübte. Doch nie war er als Person so bekannt und verhasst wie sein chilenischer Verbrecherkollege Augusto Pinochet, dessen hässliches Gesicht weltweit für die Epoche der Militärdiktaturen im Süden Amerikas stand. Pinochet stürzte den Präsidenten Salvador Allende, die Hoffnung der demokratischen Sozialisten auf der ganzen Welt; der erste Militärputsch in der Geschichte Chiles und die unmittelbar einsetzende Repression, die Verhaftung von Regimegegner_innen, die Bilder von den Straßen Santiagos und aus dem Nationalstadion fanden weltweite Aufmerksamkeit. Auch als es dann viele Jahre später möglich wurde, die Diktatoren vor Gericht zu stellen, wurde Pinochet das Symbol dafür – dieses Mal ein Symbol für den menschenrechtlichen Aufbruch – als er am 16. Oktober 1998 in London verhaftet wurde. Beim Tode Pinochets wurde dann allerdings kritisch von vielen Medien vermerkt, dass er nie für seine Verbrechen verurteilt worden war.
Das war entschieden anders bei Videla: Zwar waren die Verbrechen seiner Junta in der Welt weniger bekannt, doch relativ bald nach der 1983 erfolgten Wahl von Raúl Alfonsín zum Präsidenten veröffentlichte die CONADEP-Wahrheitskommission unter Leitung des Schriftsellers Ernesto Sabado ihren Bericht „Nie Wieder“ (Nunca Más). Die argentinischen Militärs hatten ein das ganze Land abdeckendes System geheimer Haft- und Folterlager installiert und ließen 30.000 Menschen verschwinden. Vor einem zivilen Bundesgericht in Buenos Aires fand ein Strafprozess gegen neun ehemalige Mitglieder der Militärjunta statt, unter ihnen Videla. Am 5. Dezember 1985 wurden Videla und Massera zu lebenslanger Haft verurteilt, das Oberste Gericht Argentiniens bestätigte diese Strafe am 30. Dezember 1986. Wenig später begann aufgrund des massiven Drucks der nach wie vor starken Militärs die Zeit der Straflosigkeit der Diktaturverbrechen mit den beiden Gesetzen zum „Schlusspunkt“ (24. Dezember 1986) und über den „erzwungenen Gehorsam“ (8. Juni 1987). 1990 begnadigte Präsident Carlos Menem Videla und die anderen verurteilten Militärs. Der Junta-Prozess und sein Nachspiel wurde zum Teil heftig kritisiert. So bezeichnete der Strafrechtsprofessor Marcelo Sancinetti ihn als „Vortäuschung einer effektiven Strafverfolgung“ und reklamierte, dass die Regierung Alfonsín keine allgemeine Verantwortung der Streitkräfte für die Menschenrechtsverletzungen feststellen, sondern lediglich einer Gruppe von Männern die gesamte Schuld zuschieben wollte.
Doch es blieb nicht bei diesem gescheiterten Versuch der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen Videlas und seiner Waffenbrüder. Die Madres de Plaza de Mayo und andere Angehörigen-Gruppen skandalisierten über zwei Jahrzehnte die fehlende Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und gingen auch juristisch gegen das Ausbleiben einer umfassenden Sanktionierung der Verbrechen der Militärs vor. So nutzten die Opfer und ihre Anwälte eine rechtliche Lücke in den Amnestiegesetzen und Videla wurde 1998 vorübergehend erneut inhaftiert und später unter Hausarrest gestellt – wegen des systematischen Raubes von Kindern von Oppositionellen während der Diktatur. Zur gleichen Zeit strengten Familienangehörige und Überlebende der Folterhaft zahlreiche Strafanzeigen in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland an, um von Europa aus die Straflosigkeit zu bekämpfen.
In Deutschland fand sich 1998 ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen, unter anderem das FDCL, unter dem Namen „Koalition gegen Straflosigkeit. Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen“ zusammen und betrieb – erstmalig im Bundesgebiet – Strafverfahren gegen knapp 90 ehemalige argentinische Militärs. In den beiden bekanntesten Fällen der ermordeten deutschen Staatsbürger Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank ergingen zunächst Haftbefehle des Amtsgericht Nürnberg wegen Mordes in mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft – einer juristischen Kategorie, die es ermöglichte das strafrechtliche Unrecht nicht nur den unmittelbaren Tätern, sondern den höchsten Verantwortlichen des Unrechtssystems zuzurechnen. Die Bundesregierung beantragte 2004 offiziell die Auslieferung Videlas und Masseras für die Morde. Auch wenn die Auslieferung in letzter Instanz von den Gerichten Argentiniens abgelehnt wurde, trug der von Europa erzeugte Druck neben den unaufhörlichen Bemühungen der argentinischen Menschenrechtsbewegung maßgeblich dazu bei, dass unter Präsident Nestor Kirchner die Straflosigkeitsgesetze aufgehoben wurden. Damit wurde ab 2005/2006 der Weg frei für eine Welle von hunderten Strafverfahren gegen die Hauptverantwortlichen der Militärdiktaturen.
Jorge Rafael Videla musste deswegen seine letzten Lebensjahre als Angeklagter vor Gericht, meistens unter Hausarrest und zuletzt in Haft verbringen. Das Großverfahren wegen systematischen Kindesraubes endete im Juli 2012 mit einer Verurteilung zu fünfzig Jahren Haft durch das Bundesgericht in Buenos Aires – sicherlich bei allen Verdiensten ein großes Manko der argentinischen Justiz, dass es so lange gedauert hat, bis das Urteil erging.
Zuletzt stand Videla in einem weiteren Großverfahren wegen der im Rahmen der Operation Condor verübten Straftaten vor Gericht. Nicht nur in diesem Prozess bedauerten es die Nebenkläger_innen und ihre Anwälte, dass der Angeklagte verstarb, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommen konnte. Auch die Familie Käsemann ist durch den Tod Videlas betroffen, hatte sie sich doch als Nebenklägerin in einem Prozess wegen der Ermordung von Elisabeth Käsemann gemeldet und war vom Gericht zugelassen worden. Doch kam es bis jetzt zu keiner mündlichen Verhandlung.
Videla selbst hatte sich bis zum Schluss als politischen Gefangenen gesehen und vollkommen uneinsichtig gezeigt. In mehreren Erklärungen vor Gericht und in Interviews rechtfertigte er die Verbrechen unter seiner Herrschaft. Der Kampf gegen die Subversion habe die Beseitigung auch einer großen Anzahl von Menschen notwendig gemacht. Wusste er sich in den ersten Monaten seiner Junta noch einig mit vielen westlichen Regierungen, denen die antikommunistische Ideologie des kalten Krieges und die Bekämpfung sozialrevolutionärer, aber auch demokratisch-sozialistischer Bewegungen über die Bewahrung von Demokratie und Menschenrechten ging, hatte er zuletzt keine Unterstützung mehr erfahren. Zu seinem Tode erschienen allenfalls persönliche Anzeigen, politische Rechtfertigungen der massiven Menschenrechtsverletzungen waren jedoch in einer breiteren Öffentlichkeit nicht zu vernehmen.
Dies ist auch ein kleiner Erfolg der zahlreichen juristischen Verfahren. Durch die Berichterstattung über die Prozesse wurde das Thema auf der Tagesordnung gehalten, natürlich auch weil die Regierungen Kirchner sich politischen Rückenwind davon versprachen. Wichtige Sektoren der argentinischen Gesellschaft wie Schriftsteller, Künstler und Filmemacher, Teile der Universitäten und Gewerkschaften griffen die in den Gerichten produzierten Fakten auf und verarbeiteten sie – ein bis heute andauernder Prozess. Schon seit Jahren diskutieren Autor_innen und Menschenrechtsorganisationen die Schuld aller beziehungsweise großer Teile der argentinischen Gesellschaft. Nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern von der zivil-militärischen Diktatur wird gesprochen, um die – auch strafrechtliche – Verantwortung von zivilen Akteuren wie Beamt_innen und Justizangehörigen und weiter Bereiche der Wirtschaft zu betonen. Wichtige Strafverfahren gegen Manager_innen des argentinischen Agro-Unternehmens Ledesma und die Eigner_innen der Minas Aguilar in der Nordprovinz Jujuy wurden eröffnet; im März 2013 mussten frühere Manager_innen von Ford vor Gericht erscheinen. Währenddessen hoffen die Angehörigen der 16 verschwundene Gewerkschafter_innen bei Mercedes Benz in der Provinz Buenos Aires auf einen positiven Ausgang ihrer Entschädigungsklagen vor einem kalifornischen Gericht. Videla und die Seinen haben der revolutionären wie der reformistischen Linken in Argentinien eine fürchterliche Niederlage zugefügt, das Leben tausender Menschen zerstört und die politische und soziale Basis für das lange herrschende neoliberale Modell geschaffen. Doch ihr Vorhaben, die Linke nicht nur physisch zu vernichten, sondern die Erinnerung an die Verschwundenen und ihre politischen Projekte wenn möglich für Generationen auszulöschen, ist nicht geglückt. Die groß angelegte Aufarbeitung der Vergangenheit in und außerhalb von Gerichten hat die argentinische Gesellschaft immunisiert gegen repressive Regimes – eine zivilisatorische Errungenschaft, um die in Guatemala, Honduras und Kolumbien bis heute meist erfolglos gerungen wird.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) – www.ecchr.eu

// Blutig erkaufter Fortschritt

Sie sollen dem Fortschritt nicht im Weg stehen. „Die Regierung kann und wird nicht irrealen, ideologischen Projekten von Minderheiten zustimmen“, erklärte Gleisi Hoffmann, Kabinettschefin der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, Anfang Mai. Die gemeinten Minderheiten sind Indigene, die „irreale, ideologische Forderung“ ist die Demarkierung ihrer Territorien. Statt der nationalen Stiftung für Indigene FUNAI soll nun die staatliche Forschungsbehörde für Landwirtschaft EMBRAPA die Demarkierung übernehmen. Ein besseres Beispiel für „den Bock zum Gärtner machen“ gibt es kaum. Die EMBRAPA ist die Behörde, welche die grüne Revolution nach Brasilien gebracht hat, mit der das Land zum landwirtschaftlichen Giganten wurde. Im Zweifel werden sie immer für die Landwirtschaft und gegen die Demarkation als indigenes Gebiet urteilen.
Die grüne Revolution in Brasilien gilt immer noch als Erfolgsgeschichte. Seit der Silvesternacht 1938, als der damalige Präsident Getúlio Vargas den „Marsch nach Westen“ ankündigte, wurden riesige Gebiete im brasilianischen Westen und Norden für die Landwirtschaft erschlossen. Heute ist Brasilien einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt und führend in der Entwicklung von neuen Agrartechnologien. Weltweit wollen andere Länder diese Entwicklung nachahmen.

Dass die grüne Revolution in Brasilien auch ihre Schattenseiten hatte, ist allgemein bekannt, doch welche Verbrechen genau begangen wurden, war kaum zu belegen. Dies hat sich nun geändert. Im April ist ein verloren geglaubter Bericht wieder aufgetaucht, der viele Verbrechen minuziös dokumentiert. Der Figueiredo-Report ist im Archiv des Indigenenmuseums in Rio de Janeiro wieder gefunden worden. Im Auftrag des Innenministers legte der Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia Ende der 1960er Jahre 16.000 km zurück und besuchte über 130 Stationen der damaligen „Indianerschutzbehörde“ SPI. Was er und seine Mitarbeiter_innen auf über 7.000 Seiten zusammentrugen, schockierte die Welt. Figueiredo sammelte Berichte von systematischer Folterung von Indigenen, durch Farmer oder Angestellte der SPI. Die Indigenen galten im brasilianischen wilden Westen und Norden nicht als vollwertige Menschen, sie wurden auf oft bestialische Art erniedrigt und versklavt.

Die Gewalt gegen Indigene war aber nicht nur Willkür, sondern auch zielgerichtet. Angestellte der SPI verkauften mit Strychnin vergifteten Zucker an Indigene und verteilten mit Pocken verseuchte Kleidung. Die Indigenen sollten nur schnell verschwinden, egal wie, egal wohin. Es sollte freies Land entstehen für die Landwirtschaft. Dass dabei ganze indigene Ethnien komplett verschwanden, wurde billigend in Kauf genommen.
Als der Report 1968 bekannt wurde, erregte er weltweit Aufsehen. Die SPI wurde aufgelöst und durch die FUNAI ersetzt. Doch bevor wirkliche Konsequenzen gezogen werden konnten, verschwand der Bericht. Angeblich fiel er einem Feuer zum Opfer; ein offenes Geheimnis, dass die damalige Militärdiktatur das Dokument verschwinden ließ. Die Expansion der Landwirtschaft ging ungestört weiter und auch die neue FUNAI legte den Farmern kaum Steine in den Weg.

Nun ist der Figueiredo-Report wieder da und gibt beredtes Zeugnis von dem Genozid, den das „grüne Wirtschaftswunder“ in Brasilien auch bedeutete. Notwendig ist, dass daraus juristische Konsequenzen gezogen werden. Dass Indigenen, die gewaltsam vertrieben wurden, ihr Land zurückgegeben wird. Dass die Verantwortlichen für den Genozid vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden, wie es in Guatemala – trotz aller aktuellen Rückschläge – mit dem Ex-Diktator Ríos Montt geschieht. Noch wichtiger wäre es, den Report zum Anlass zu nehmen, um in der Agrarpolitik umzudenken, und die Interessen von Menschen und Umwelt ins Zentrum zu stellen und nicht die Profite der Industrie. Von alledem passiert nichts in Brasilien. Doch die Erinnerung bleibt und der Figueiredo-Report zeigt, dass die Ordnung und der Fortschritt in der brasilianischen Flagge mit Blut erkauft wurden.

„Belo Monte ist ein Angriff auf die Verfassung“

Kürzlich wurden bei Belo Monte und in anderen Regionen Militäreinheiten in Stellung gebracht. Was war der Anlass?
Verena Glass: Tausende Bauarbeiter protestierten dagegen, dass sie nicht entsprechend der gesetzlich vorgesehenen Mindestlöhne entlohnt werden, dass sie nicht ausreichend Essen bekommen und wenn sie Essen bekommen, dann ist es von Ungeziefer befallen. Sie werden dauerbewacht von der Polizei. Zu Beginn dieses Monats wurden 1.500 Arbeiter entlassen, weil sie ihre Rechte eingefordert haben. Die Situation ist inzwischen so dramatisch, dass sich Streiks und Aufstände auf der Baustelle häufen, auf die die Regierung wiederum mit plumper Repression reagiert: Sie schickt Spezialeinheiten des Militärs zur Aufstandsbekämpfung und setzt diese gegen die Bevölkerung und die Arbeiter ein. Zuvor hatten wir einen Spitzel entdeckt, der für den brasilianischen Geheimdienst ABIN unser Netzwerk und den Widerstand ausspioniert hatte. Die Regierung versucht, jeglichen Protest durch Polizeigewalt und Bespitzelungen durch den Geheimdienst zu bekämpfen.

Frau Palmquist, die Bundesstaatsanwaltschaft in Pará, hat durch ihre Klagen gegen Belo Monte in den vergangenen Jahren immer wieder viel internationale Aufmerksamkeit erhalten. Wie viele Klagen hat Ihre Institution bislang gegen Belo Monte eingereicht und warum?
Helena Palmquist: Insgesamt haben wir 17 Klagen gegen Belo Monte eingereicht. Im August vergangenen Jahres reichten wir Klage ein, da die betroffenen Indigenen nicht konsultiert wurden. Dies stoppte den Bau komplett für den Zeitraum von zehn Tagen. Eine vorläufige richterliche Genehmigung hob den Baustopp wieder auf. Zunächst, denn jetzt liegt der Fall auf dem Tisch des Obersten Gerichtshofs Brasiliens (STF) – und wir sind zuversichtlich, dass der Fall noch in diesem Jahr verhandelt wird. In einer unserer Rechtsbeschwerden, die wir 2006 eingereicht haben, gibt es einen Satz, der Wesen und Gehalt dieses Staudamms auf den Punkt bringt: Belo Monte ist ein Angriff auf die brasilianische Verfassung. Trotz aller bekannten Langsamkeit der brasilianischen Justiz, gehe ich davon aus, dass es zu einer Entscheidung vor dem STF in diesem Jahr kommt, bevor die Situation der indigenen Völker und der Bewohner der Region noch schlechter wird.

Wie ist die aktuelle Situation der Betroffenen vor Ort?
VG: Im Herzen Amazoniens wird das Bauvorhaben 100 Kilometer des Xingu-Flusses trockenlegen. In dem Xingu-Becken leben 24 Ethnien der brasilianischen Urbevölkerung, die 30 indigene Schutzgebiete bewohnen. Alle sind von den Auswirkungen des Megaprojekts betroffen. Belo Monte wirkt sich auf elf Gemeinden in der Region aus, die rund 300.000 Einwohner hat. 40.000 Flussanwohner, kleinbäuerliche Familien, Fischer und Bewohner der Stadt Altamira, die zukünftig teilweise überschwemmt sein wird, werden um ihre Lebensgrundlage gebracht.

Wie viele Menschen wurden bereits vertrieben?
VG: Bis heute hat das Unternehmerkonsortium von Belo Monte 850 ländliche Grundstücke in Familienbesitz enteignet. Diese Zahl wird sich voraussichtlich noch verdoppeln. Die Mehrzahl der Familien, deren Bio-Kakaobäume und ähnliche Pflanzungen zerstört wurden, haben mehr als 700 Klagen gegen das Betreiberkonsortium eingereicht, weil sie kein Ersatzland bekamen. Oder weil sie keine oder nur eine so geringe Entschädigung erhielten, dass sie davon nicht umsiedeln und wieder ein würdevolles Leben aufbauen können.

Wie verändert der Bau von Belo Monte die Stadt Altamira?
VG: In der Stadt Altamira sind ein Anwachsen der Favelas und eine exorbitante Preissteigerung für Lebensmittel Folgen des Bauprojekts. Laut Polizeiangaben haben Drogenbesitz und der Konsum der Droge Crack in Altamira im letzten Jahr um 900 Prozent zugenommen. Studien der staatlichen Universität von Pará zeigen, dass die Zahl der Vergewaltigungen in einer nie dagewesenen Form in den letzten drei Jahren angestiegen ist. In diesem Zeitraum kamen Tausende von Bauarbeitern für den Belo Monte Staudamm nach Altamira. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Bordelle stark zugenommen. Bei einer Polizeiaktion wurden jüngst Zwangsprostituierte in einem Bordell, das sich auf dem Konzessionsgelände des Betreiberkonsortiums befand, vorgefunden. Darunter war auch eine Minderjährige.
HP: Zu diesem schrecklichen Fall hat die Bundesstaatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen.

Wie ist die Situation in den indigenen Gemeinden?
VG: In den zwei direkt an Belo Monte angrenzenden indigenen Dörfern können Hunderte Familien weder Fischen noch Jagen und auch keinen Feldbau mehr betreiben. Durch die Baumaßnahmen ist das Wasser des Flusses so verunreinigt, dass es als Trinkwasser ungeeignet ist.
HP: Die Verschmutzung des Wassers im Staubecken von Belo Monte ist dem Mangel an grundlegendster Abwasserentsorgung in der Stadt Altamira geschuldet. Die Abwässer der Stadt werden ungeklärt in den Fluss geleitet, obwohl eine der Umweltauflagen für den Bau des Staudamms die vollständige Klärung der Abwässer verlangt. Nur, bislang wurde Belo Monte bereits zu 30 Prozent fertig gestellt, und die Stadt Altamira hat heute schon 50.000 Bewohner mehr als vor knapp zwei Jahren – aber kein Kilometer Abwasserkanal wurde gebaut. Die Auflagen zur Minderung der Umweltschäden des Baus werden nicht eingehalten, die Umweltbehörde kontrolliert nicht und verhängt erst recht keine Strafen gegen die verantwortlichen Konzerne.

Welche Rolle spielt die Bundesumweltbehörde IBAMA im Fall Belo Monte?
HP: Der gesamte Vorgang um Belo Monte ist gesetzeswidrig. Dies gestehen sogar beteiligte Regierungsbeamte ein. Allein beim Umweltbundesamt IBAMA haben ein Präsident und zwei Direktoren um Entlassung gebeten, weil sie mit dem Vorgehen nicht einverstanden waren. Der auf IBAMA ausgeübte Druck führte dazu, dass sie eine Teilgenehmigung erteilten, die es nach brasilianischem Gesetz gar nicht gibt. Dies zwang uns, eine weitere Klage gegen Belo Monte einzureichen.

Wogegen richten sich die anderen Klagen?
HP: 2001 reichten wir unsere erste Klage gegen den Bau von Belo Monte ein, gegen die damalige Regierung von Fernando Henrique Cardoso. Und diese Klage war in allen Instanzen der Justiz erfolgreich. Im Jahre 2006, damals noch unter der Regierung Lula (Luis Inácio Lula da Silva, Anm. d. Red), haben wir unsere zweite Klage eingereicht. In dieser Klageschrift legten wir dar, dass die betroffenen indigenen Völker nie konsultiert wurden, wie es die Verfassung vorschreibt und wie es auch die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verlangt. Brasilien hat die ILO-Konvention 169 im Jahre 2002 unterzeichnet.

Warum wurden die Indigenen nicht konsultiert?
HP: Seit dem Moment, als der damalige Präsident Lula entschied, Belo Monte zu bauen, waren die Zeitpläne des Baus immer wichtiger als die betroffenen Menschen. Das Dekret des brasilianischen Nationalkongresses zur Autorisierung des Baus von Belo Monte brauchte vom ersten Entwurf bis zur Verabschiedung nur 15 Tage; in 15 Tagen ist es unmöglich, alle Betroffenen zu befragen und das ihnen zustehende Recht der Konsultation einzuhalten. Die Umweltfolgenstudien wurden ebenfalls unter Zeitdruck und ohne jede Transparenz durchgeführt.

Aber es wurden Umweltstudien durchgeführt?
HP: Die in den Studien gewonnenen Daten und Erkenntnisse wurden unter Verschluss gehalten. Dagegen haben wir unsere dritte Klage eingereicht. Der Zeitdruck trug auch dazu bei, dass die Umweltfolgenstudien unvollständig bei der Umweltbehörde abgegeben wurden. Dies war dann der Grund für unsere vierte Klage. Selbst danach gab es weiterhin Druck und Zeitdruck. Die öffentlichen Anhörungen zur Aussprache über die Umweltstudien wurden in nur drei der elf betroffenen Gemeinden und in der Landeshauptstadt Belém durchgeführt – und dies unter massiver Polizeipräsenz und mit Schwierigkeiten für die Betroffenen, Zugang zur Anhörung zu bekommen. Dies zwang uns zu einer weiteren Klage.

Polizeipräsenz bei den Anhörungen, nun auch Militär zur Duchsetzung des Großbauprojekts, Bespitzelung durch den Inlandsgeheimdienst: Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
HP: Um diese Vorgänge in Amazonien zu begreifen, muss man in die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985 zurückblicken. Das war die Zeit, als brasilianische Baukonzerne, Ingenieure, Geologen und Militärs die Pläne schmiedeten, fast alle Zuflüsse des Amazonas mit Talsperren zu versehen, um Energie zu produzieren. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie gab es Versuche, in Amazonien weitere Staudammprojekte in Angriff zu nehmen. Aber der Widerstand der indigenen Völker, der Flussanwohner und sozialen Bewegungen aus den Städten Amazoniens war damals zu groß, zu stark, zu entschlossen. Wie kann ein Projekt aus der Zeit der Militärdiktatur in Zeiten der Demokratie umgesetzt werden? Nur, indem die Gesetze gebrochen werden!
VG: 2003 nahm die Regierung das Projekt wieder auf mit der Begründung, dass das Land mehr Strom zum Wachsen bräuchte. Der Kampf gegen dieses Kraftwerk dauert bereits mehr als zwei Jahrzehnte an. Und Brasilien erlebt jetzt einen Rückgriff auf Praktiken der Militärdiktatur. Im Namen einer vermeintlichen „Entwicklung“ hat die brasilianische Regierung 2012 die Umweltgesetzgebung geopfert. Auf Druck der Agrarindustrie wurden der Waldschutz geschwächt und die Schutzgebiete verkleinert. Der Kongress hat ein neues Waldgesetz verabschiedet, das Abholzern einen Freibrief erteilt und mehr Entwaldung zulässt, und damit auch die Schutzanforderungen an Bauvorhaben wie Belo Monte verringert. Um solche Megaprojekte in Amazonien zu schützen, setzt die Regierung Repressionsmethoden aus der Zeit der Diktatur ein, gegen die traditionelle Bevölkerung, gegen Demonstrationen und gegen alle Proteste.

Helena Palmquist
ist seit 2004 Pressereferentin der Bundesstaatsanwaltschaft in Pará. Seither hat sie alle 17 Klagen der Staatsanwaltschaft gegen Belo Monte begleitet. Derzeit führt die Staatsanwaltschaft auch Ermittlungen und Klagen gegen fünf neue Staudämme am Fluss Tapajós im brasilianischen Amazonasgebiet durch.

Verena Glass
ist Journalistin bei der Nichtregierungorganisation Repórter Brasil. Zudem betreut sie die internationale Kampagnenarbeit des Widerstandsbündnisses Xingu Vivo para Sempre aus Altamira.
Sie stammt aus São Paulo und verfolgt die Vorgänge um den Staudammbau Belo Monte seit dem Jahre 2003.

Infokasten:

Proteste gegen Münchener Rück wegen Belo Monte

Am 25. April protestierten Vertreter_innen des brasilianischen Widerstandsbündnisses Xingu Vivo para Sempre und ein europäisches Kampagnennetzwerk in München auf der Aktionärsversammlung der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft. Die Münchener Rück, der weltgrößte Rückversicherer, hat 25 Prozent der Rückversicherungssumme für den Bau des umstrittenen Staudamms Belo Monte in Brasilien übernommen und erhält dafür umgerechnet 15,5 Millionen Euro an Prämien über einen Zeitraum von vier Jahren. Die gesamte Rückversicherung von Belo Monte betrifft die Bauphase von geschätzt neun Jahren und deckt die bislang anvisierte Gesamt-Bausumme von umgerechnet 7,6 Milliarden Euro ab.
Die Gruppen warfen der Munich Re, wie diese sich seit ein paar Jahren nennt, vor, den seit Jahren in der Presse gegen das Staudammprojekt Belo Monte erhobenen Vorwürfen nicht nachzugehen. „25 Prozent der Rückversicherungssumme ist ein signifikanter Anteil an dem gesamten Projekt Belo Monte. Damit zeichnet der Vorstand der Münchener Rück mitverantwortlich für die im Zusammenhang mit Belo Monte stehenden Vorgänge und kann damit nicht entlastet werden“, so das Netzwerk in dem von den Gruppen auf der Aktionärsversammlung eingereichten Antrag auf Nichtentlastung des Vorstandes.
Auf der Aktionärsversammlung ergriffen Verena Glass vom Bündnis Xingu Vivo para Sempre und Helena Palmquist, Pressesprecherin der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft in Pará (siehe Interview), sowie Barbara Happe von der deutschen Umwelt- und Menschenrechtsorganisation Urgewald vor den anwesenden 3.500 Aktionär_innen das Wort. Sie konfrontierten den Konzern mit den Missständen in Belo Monte. Der Vorstand der Münchener Rück wies in seiner Antwort alle Vorwürfe zurück – nur an einer Stelle entglitt dem Vorstandsvorsitzenden in Bezug auf Belo Monte das Wort „Monsterstaudamm“. „Da hat er sich verraten“, attestierte ihm Verena Glass.
// Christian Russau

// Unbegründete Hoffnungen

Unvergessen ist die Schlagzeile „Wir sind Papst“, als Papst Benedikt XVI gewählt wurde. Auch in Lateinamerika wurde die Wahl des ersten Lateinamerikaners zum Papst überschwänglich aufgenommen. Und die ersten Amtshandlungen von Papst Franziskus wecken bei vielen Katholik_innen große Hoffnungen auf Erneuerung und Wandel der zuletzt immer stärker in Ritualen erstarrten Amtskirche. Auch Befreiungstheologen äußerten sich enthusiastisch zur Wahl des argentinischen Kardinals Jorge Bergoglio. „Franziskus ist kein Name, sondern das Projekt einer einfachen, armen Kirche, bar jeder Macht,“ schrieb der bekannte brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff. Wie sein Namenspatron, der heilige Franziskus von Assisi, werde sich dieser Papst für die Armen einsetzen.

Vom „Bischof der Armen“ berichteten auch alle internationalen Medien, vom Kardinal, der auf die ihm zustehende Limousine verzichtete, die Füße von Strafgefangenen wusch und auch sonst sehr bescheiden sei. Weit weniger häufig wurden seine Äußerungen zur argentinischen Innenpolitik zitiert. Als Cristina Fernandez de Kirchner für die Präsidentschaft Argentiniens kandidierte, äußerte sich Bergoglio mit den Worten: „Frauen sind von Natur aus unfähig, politische Ämter zu bekleiden.“ Die heiligen Schriften würden belegen, dass die Frau „immer nur die Stütze des denkenden und schaffenden Mannes sei.“ Als die Präsidentin 2010 einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Ehe zwischen Homosexuellen auf den Weg brachte, ließ Bergoglio verlautbaren, „die Hand des Teufels“ stecke hinter diesen Plänen.

Ungeklärt ist auch seine Rolle während der argentinischen Militärdiktatur. Der renommierte argentinische Journalist Horacio Verbitsky, der mehrere Bücher zur Rolle der katholischen Kirche in Argentinien geschrieben hat, präsentierte brisante Dokumente des argentinischen Außenministeriums. Nach diesen hat der damalige Oberste des Jesuitenordens zwei junge Priester denunziert, die in den Elendsvierteln arbeiteten und wohnten. Die beiden Anhänger der Befreiungstheologie wurden 1976 mehrere Monate eingesperrt und gefoltert. Einer von ihnen, Francisco Jalics, sagt aber heute, sein damaliger Vorgesetzter habe nichts mit dem Vorfall zu tun gehabt; der zweite, Orlando Yorio, ist bereits verstorben.

Papst Franziskus erhielt bezüglich dieser Vorwürfe Unterstützung des chilenischen Befreiungstheologen Pablo Richard. Bergoglio dürfe für die Nähe der katholischen Kirche zur Militärdiktatur nicht an den Pranger gestellt werden, sagte er. Der wahre Skandal sei die offene Kollaboration des damaligen päpstlichen Botschafters und des Kardinals Raúl Primatesta mit dem Diktatorenregime gewesen. Man könne Bergoglio höchstens vorwerfen, nicht sein Leben riskiert zu haben. Auch Boff befand, es interessiere letztlich doch „weniger Bergoglio und seine Vergangenheit, sondern Franziskus und seine Zukunft.“ Ähnlich pragmatisch argumentiert auch Roberto Malvezzi von der katholischen Landpastorale CPT: „Einige Medien betonen seine konservative Position in Bezug auf Sexualität. Aber das ist überhaupt keine Überraschung. Konzentrieren wir uns auf das, was in diesem Moment das Positivste ist: Er kommt nicht aus Europa, er kocht sein Essen selbst, fährt Omnibus und nennt sich Franziskus. Und Franziskus steht für Einfachheit, Zärtlichkeit, Brüderlichkeit, Solidarität mit den Armen und Verbrüderung mit der Natur.“

Ein zutiefst konservatives Weltbild in Bezug auf Sexualität und die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft ist bei einem Papst sicher nicht überraschend. Der Papst Franziskus entgegengebrachte Enthusiasmus gerade von Seiten der progressivsten Teile der katholischen Kirche bleibt aber unverständlich. Die Sehnsucht nach Erneuerung des Katholizismus scheint inzwischen so groß zu sein, dass allein ein Bruch mit erstarrten Ritualen für Euphorie sorgt.

Es ist nie zu spät – für Aufarbeitung

„Die Affaire um die deutsche Kolonie Dignidad wird von den chilenischen Behörden nur zaghaft untersucht“, titelte die Süddeutsche Zeitung auf Seite 3. Die Rede war darin von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Freiheitsentzug in der Deutschensiedlung Colonia Dignidad in Südchile. Erscheinungsdatum: 8. Juli 1966. Seit nunmehr 50 Jahren haben Berichte über schwerste Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad einen festen Platz in der Presseberichterstattung. Verbrechen deutscher Staatsbürger, begangen an Deutschen und Chilen_innen auf chilenischem Staatsgebiet.
Bereits in den 1960er Jahren sandten Koloniebewohner_innen Hilferufe an die deutsche Botschaft. Sie erzählten den Diplomaten von Schlägen, Arbeitszwang und Freiheitsberaubung. In den 1970er Jahren berichteten die UNO (1976) und amnesty international (1977) über Folter an politischen Gefangenen in der Siedlung. Doch Regierung und Justiz in Chile und Deutschland ergriffen jahrzehntelang keine ausreichenden Maßnahmen, um eine Fortsetzung der Verbrechen zu verhindern. Bis zur späten Festnahme des Anführers Paul Schäfer im Jahr 2005 herrschten innerhalb der Siedlung Unterdrückungsstrukturen. Gruppenmitglieder wurden ihrer Freiheit beraubt und mit Psychopharmaka sediert. Beide Staaten sind für diese Taten mitverantwortlich, durch Handlungen und durch Unterlassungen.
Warum in Chile jahrzehntelang weggeschaut wurde, ist offensichtlich: Die Colonia Dignidad war eine der wichtigsten Folter- und Vernichtungsstätten der chilenischen Militärdiktatur (1973-90). Bereits vor dem 11. September 1973 trainierten die Putschisten dort für den Sturz der Allende-Regierung. Danach wurde dort gefoltert und gemordet. Hochrangige Gäste aus Politik, Militär und Unternehmerschaft wurden fürstlich bewirtet, der Geheimdienstchef verbrachte dort seinen Sommerurlaub, selbst Pinochet kam zu Besuch.
Warum hat Deutschland so lange weggesehen? Weil Berichte über medizinische Experimente an hinter Stacheldraht festgehaltenen politischen Gefangenen höchst unschöne Erinnerungen weckten? Wegen deutscher Diplomaten, die gute Beziehungen zu Schäfer und seiner Führungsriege pflegten? Wegen der konservativen Politiker, die die Colonia besuchten und in Deutschland Lobbyarbeit für die „deutsche Vorzeigesiedlung“ betrieben, die von „marxistischen Kräften“ verleumdet werde? Wegen des deutschen Waffenhändlers und BND-Verbindungsmanns Gerhard Mertins, der mit der Siedlung Geschäfte machte? Gesicherte Erkenntnisse, ob seitens bundesdeutscher Behörden noch weitere „Leichen im Keller“ liegen, wird es erst geben, wenn der Bundesnachrichtendienst BND seine Akten zur Colonia Dignidad freigibt.
Nun hat der Oberste Gerichtshof Chiles Ende Januar ein Zeichen gesetzt und nach Jahrzehnten der Straflosigkeit erstmals – nach der Inhaftsetzung Paul Schäfers 2005 – weitere Führungsmitglieder der Colonia Dignidad hinter Gitter geschickt. Es bleibt zu hoffen, dass dies nur der Anfang eines umfangreichen Prozesses der strafrechtlichen und politisch-historischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad darstellt. Dass dabei für beide Staaten noch viel Unbequemes ans Licht kommen könnte, liegt auf der Hand. Trotzdem und deswegen sind eine selbstkritische Reflektion dieser Vorgänge und eine Entschuldigung bei den Opfern notwendig und seit langem überfällig. In der Colonia Dignidad Gefolterte haben kurz nach dem Urteil einen offenen Brief in der Botschaft in Santiago abgegeben, in dem sie Unterstützung für den Bau einer Gedenkstätte und eine rasche Verurteilung von Hartmut Hopp fordern. Das ehemalige Führungsmitglied wurde in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er entzog sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland ermittelt seit 1988 gegen ihn. Ergebnislos.
„Ich bin müde von alledem.“ Mit diesem Zitat von Adriana Bórquez beginnt das LN-Sonderheft zur Colonia Dignidad von 1989. Bórquez wurde 1975 in der Colonia Dignidad gefoltert. Sie hat 1977 darüber im Prozess „Colonia Dignidad gegen amnesty international“ ausgesagt. Adriana, 77 Jahre alt und auf einen Rollstuhl angewiesen, gehörte zu denen, die vor einigen Tagen den offenen Brief an die Regierungen von Deutschland und Chile überreichten. Sie kämpft weiter.

Ja zum „Nein“

Am 5. Oktober 1988 stand das chilenische Volk vor der Wahl: „Ja“ oder „Nein“ zu weiteren acht Jahren Augusto Pinochet. Doch kaum jemand glaubte damals daran, dass das Referendum tatsächlich etwas an der Realität der Militärdiktatur ändern könnte. Dennoch gewann der gängigen Meinung zum Trotz das „Nein“.
Wer sich den Film No ansehen will, der weiß also mit der historischen Distanz von knapp 25 Jahren, wie die Abstimmung ausgehen wird. Deshalb zieht der Film des Regisseurs Pablo Larraín seine Spannung auch nicht aus dem Ausgang, sondern aus dem Wettstreit der Werber_innen. Was Barack Obama für seinen Wahlkampf 2008 in den USA mit seinem „Yes, we can“ genutzt hat, das haben Ende der achtziger Jahren auch schon die Befürworter_innen des „No“ in Chile gekonnt: Die Hoffnung eines ganzen Volkes auf einen politischen Wandel zu aktivieren. Doch in Chile musste dazu erst einmal die Angst bezwungen werden, so die Botschaft des Films.
René Saavedra, gespielt von Gael García Bernal, produziert eigentlich Werbefilme für Konsumgüter wie Erfrischungsgetränke und Mikrowellenherde. Doch dann wird er von den „Nein“-Unterstützer_innen gebeten, die Werbekampagne für sie zu übernehmen. Er soll das Volk nicht nur dazu bewegen, gegen Pinochet zu stimmen, sondern überhaupt erst zur Wahlurne zu gehen. Der im Exil aufgewachsene Sohn eines chilenischen Sozialisten hat aber mit Politik nicht viel am Hut. Das kleine Glück hat er in Karriere und Familie gefunden. Sie sind ihm wichtiger als das Schicksal des Landes. So wie er haben sich viele Chilen_innen durch die Flucht ins Private mit der Diktatur arrangiert.
Und dennoch: Trotz aller Drohungen und realen Gefahren für sich und seine Angehörigen nimmt Saavedra schließlich doch die Herausforderung an, mit den Waffen der PR-Branche gegen den Machtapparat anzutreten. Kaum jemand glaubt an seinen Erfolg. Am wenigsten die „No“-Aktivist_innen selbst, die in der Abstimmung – nicht ganz unbegründet – eine Farce zur Machtlegitimation des Systems Pinochet sehen. Doch Saavedra lässt sich nicht beirren. Einen Monat lang hat er täglich 15 Minuten im nationalen Fernsehen zur Verfügung, um das Volk vom „Nein“ zu überzeugen.
Während die politischen Oppositionellen dabei vor allem die Gräueltaten Pinochets thematisieren wollen, stellt sich Saavedra gegen sie. „Wenn wir das tun, verbreiten wir nur noch mehr Angst. Und dann gewinnen sie.“ Kurzerhand krempelt er seinen Fernsehspot für „Free-Cola“ zu einer Befreiungshymne für Chile um. Aller Skepsis zum Trotz trifft er damit den Nerv der Bevölkerung. Sein Jingle, „Chile, la alegría ya viene“, („Chile, die Freude kommt bald“) schafft das Undenkbare. Mit einer simplen Melodie wird Pinochet abgesetzt.
„Das Thema ist zwar sehr kontextbezogen, aber dennoch universell. Es geht um Menschen und ihre Beziehung zu Politik, um Demokratieverständnis und die Rolle des Fernsehens“, erzählte Hauptdarsteller Gael García Bernal während des Filmfestivals im Schweizerischen Locarno, bei dem vor allem der mitunter schräge Humor des Spielfilms große Begeisterung im Publikum ausgelöst hat – auch wenn die buchstäblich schlechte Qualität für einige Diskussion gesorgt hat. Denn Regisseur Pablo Larraín hat in seinem Film nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch ein interessantes Experiment gewagt: Um Originalaufnahmen aus den achtziger Jahren ohne sichtbare Unterschiede in seinen Film einbauen zu können, wählte er das Videoformat U-Matik, das damals im Fernsehen verwendet wurde. Was am Anfang irritiert, bewirkt schon nach wenigen Minuten, dass man sich in die damalige Zeit zurückversetzt fühlt. Die bewusste Entscheidung gegen digital perfektionierte Bilder lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentarfilm verschwimmen.
„Vor diesem Film wusste ich nicht, welche Rolle das Fernsehen bei der Abwahl Pinochets gespielt hat“, so Bernal bei einem Pressegespräch in Locarno. „Pinochet hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass er mal mit den Waffen des Neoliberalismus geschlagen wird, den er selbst installiert hat.“ Die Abstimmung, bei der sich Pinochet eigentlich von vornherein als Sieger gesehen hatte, war dann der Anfang vom Ende seiner Diktatur. 1990 kehrte die Demokratie nach Chile zurück.
Doch ganz so simpel, wie es der Film erzählt, ist die Geschichte in Wirklichkeit nicht. Es war mehr nötig, als eine ohrwurmtaugliche Melodie, um Pinochet abzusetzen. So meldeten sich recht bald die ersten kritischen Stimmen: „Zu glauben Pinochet habe das Plebiszit wegen eines TV-Werbestreifens verloren, zeigt, dass nichts von dem verstanden wurde, was wirklich geschehen ist“, kritisierte Francisco Vidal, der Minister der Regierungen Ricardo Lagos (2000-2006) und Michelle Bachelet (2006-2010) war.
Menschenrechtsgruppen formulierten diese Kritik noch weitaus akzentuierter: Der Film No verkürze alles auf die vermeintliche Bedeutung eines PR-Slogans und unterschlage den langjährigen Kampf gegen die Diktatur, empörte sich Félix Madariaga von der renommierten Menschenrechtsorganisation Codepu. „Meint Herr Larraín, wir waren alle blöd und wussten nicht, was in Chile geschah?“ Der Film zeige „ein paar Typen, die sich zusammenfinden und Werbung machen – und die sozialen Bewegungen werden mit keinem Wort erwähnt“. Der Erfolg des „Nein“ sei vielmehr die jahrelange Schlacht einer Bevölkerung gewesen, „die Nein zur Diktatur, Nein zu Pinochet gesagt hat“, so Madariaga. „Zu meinen, der Erfolg des NEIN sei einer Gruppe von Politikern und Werbeleuten zuzuschreiben, das ist eine Lüge“.
Madariaga wies auch darauf hin, dass dem Regisseur persönlich eine klarere Positionierung gut gestanden hätte. Denn der Name Larraín ist in Chile durchaus nicht unbekannt. Die Familie Larraín zählt zu den reichsten und einflussreichsten Familien des Landes. Pablo Larraíns Vater, Hernán Larraín, ist stramm rechter Senator, seine Mutter, Magdalena Matthe, war Ministerin und musste wegen einer 17-Millionen-Dollar-Zahlung an eine Firma zurücktreten. „Obwohl wir niemanden wegen seiner Herkunft verurteilen sollten, so gibt es doch eine zu tragende Last, derer man sich nur durch Taten entledigen kann. Und da liegt [für Pablo Larraín] noch ein Stück Weg vor ihm“, so der Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Codepu.
Dennoch, der Film zeigt, dass manchmal auch Weniges ausreichen kann, um eine Revolution von innen anzustoßen. Nicht mit Waffengewalt, sondern mit dem Mut der Bevölkerung, für den Wandel abzustimmen, wurde der Lauf der Geschichte verändert.

No // Pablo Larraín (Regie) // Chile 2012 // 118 Min. // ab 7. März in den Kinos

// DOSSIER: MEDIEN UND MACHT IN LATEINAMERIKA

 

(Download des gesamten Dossiers)

Cristina Fernández de Kirchner „begann die privaten Medien zu bekämpfen“, kritisierte die FAZ am 19. Februar 2013 in einem Porträt der argentinischen Präsidentin. Am selben Tag konnte die bekannte Bloggerin Yoani Sánchez aus Kuba nach Brasilien reisen und sorgte damit nicht nur für internationale Berichterstattung, sondern bei ihrer Ankunft auch für Demonstrationen in Recife. Nur einen Tag zuvor hatte die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen per Pressemitteilung den wiedergewählten ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa aufgefordert, „kritische Journalisten nicht länger zu diffamieren und restriktive Mediengesetze zurückzunehmen“. Das Verhältnis zwischen Medienkonzernen, Medienmacher*innen und staatlicher Macht in Lateinamerika scheint aktueller und brisanter denn je. Doch warum?

 

                   Streetart aus San José, Costa Rica  (Foto: Benjamin Keuffel)

 

Medien und Macht – in den meisten lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis zwischen der „Vierten Gewalt“ und dem Staat seit Jahrzehnten von großer Nähe zwischen den Medienkonzernen, von denen sich viele seit mehreren Generationen in der Hand einiger weniger Familien befinden, und den Mächtigen geprägt. Im medialen Alltag Lateinamerikas produzieren die großen Mediengesellschaften in unterschiedlichen Formaten immer dieselben Inhalte. Crossmedial werden beispielsweise die Themen und Protagonist*innen der Feierabendserien in eigenen Zeitschriften und Internetseiten, bei Talkshows und Veranstaltungen immer neu aufbereitet und an die Frau, den Mann oder das Kind gebracht. Und in fast allen Ländern wird die privatwirtschaftlich organisierte Berichterstattung nicht durch ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem ergänzt oder „ausgewogen“ gestaltet.

Ökonomisch und juristisch liegen die Wurzeln dieser Medienkonzentration meist in der Zeit der Militärdiktaturen. Roberto Marinho, Gründer des brasilianischen Medienimperiums Globo, sendete sein erstes TV-Programm zu Beginn der Diktatur. Am Ende der Militärherrschaft war seine Macht größer als die der Generäle. Von Tancredo Neves, dem ersten wieder demokratisch gewählten Präsidenten, ist die Aussage überliefert: „Ich lege mich mit dem Papst an, ich streite mich mit der katholischen Kirche, mit meiner Partei PMDB, mit aller Welt, aber ich streite mich nicht mit dem Doktor Roberto Marinho!“. Auch in Chile beruht das faktische Duopol in den Printmedien auf der guten Zusammenarbeit der beiden größten Medienkonzerne mit den Machthabern der Militärdiktatur. Und innerhalb des mexikanischen TV-Duopols ist die Marktmacht von Televisa untrennbar mit der 71-jährigen Herrschaft der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, verbunden.

Heute treffen mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor die politischen Entscheidungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was auch die Medienpolitik einschließt. Sie stoßen dabei auf ein Mediensystem, das nicht der ausgewogenen Berichterstattung und der Beachtung journalistischer Standards verpflichtet ist, sondern die politischen Interessen ihrer Eigentümer*innen vertritt. Auch Reporter ohne Grenzen kritisiert Brasilien in einem Bericht als „das Land der 30 Berlusconis“. Politische Reformen der Mediengesetzgebung im Sinne einer Demokratisierung von Frequenzen und Inhalten oder einer Einführung von öffentlich-rechtlichen Medien erzeugen aber erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne. Venezuela, Argentinien und Brasilien sind nur drei aktuelle Beispiele, in denen neue Mediengesetze von großen politischen Auseinandersetzungen begleitet wurden und werden.

Dabei sind die traditionellen Medienkonzerne eigenständige politische Akteure, die aktiv in innenpolitische Auseinandersetzungen eingreifen oder „ihre“ politischen Kandidat*innen lancieren. Hier sind die Wahlwerbung des mexikanischen Senders Televisa im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oder die Unterstützung des Putsches in Honduras durch Fernsehsender und Zeitungen im Jahr 2009 gute Beispiele.

In Deutschland wiederum ist – unter anderem durch die Zeitungskrise – die Zahl der Auslandskorrespondent*innen seit Jahren rückläufig und Beiträge lateinamerikanischer Medien werden oft unkritisch übernommen. Dieses Medien-Dossier der LN will deshalb über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen.
Denn so stark die geballte Medienmacht auch ist, so vielfältig sind auch die Versuche, die immer gleichen Botschaften der Medienkonzerne durch eigene zu ersetzen. Die „Empfänger*innen“ haben längst begonnen, das Menschenrecht auf Kommunikation einzufordern und kritische Fragen zu stellen: Warum spielen in meiner Lieblingsfernsehsendung eigentlich so wenige Menschen eine Rolle, die so aussehen wie ich? Und wenn, warum dann nur als Täter*innen oder Opfer von Gewalt? Warum kommt das, was in meinem Stadtteil mit tausenden von Bewohner*innen passiert, eigentlich nie in den Nachrichten vor? Warum erfahre ich so viel über das Leben der reichen und schönen Weißen, aber nichts, was mir im Alltag weiterhilft? Wieso haben wir als Indigene keine eigenen Medien in unserer Sprache, die uns die ILO-Konvention 169 garantiert?

Das Menschenrecht auf Kommunikation, das allen nicht nur das theoretische Recht auf Meinungsäußerung, sondern tatsächlichen Zugang zu Medien garantiert, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen sozialen Bewegungen gefordert. In Venezuela garantiert es die neue Verfassung von 1999, die eine Fülle von Neugründungen alternativer Medien auslöste. Viele Bewegungen befürworten auch den Aufbau öffentlich-rechtlicher Medien, auch wenn diese allein keine „Ausgewogenheit“ der Berichterstattung garantieren.

Ob in den Favelas der Maré in Rio de Janeiro, in ländlichen indigenen Gemeinden oder auf den Wänden des jamaikanischen Kingston – überall versuchen Menschen ihre eigene Sicht auf ihre Wirklichkeit auszudrücken und zu verbreiten. Die Ernsthaftigkeit und der Spaß, den sie dabei empfinden, vermitteln sich live on air, über Fotoausstellungen, Texte oder über coole Sprüche an rauen Wänden. Hilfreich ist dabei die zunehmende Verbreitung des Internets: Blogs und Internet- radios, selbst Internet-TV, sind kostengünstig zu produzieren und haben ein immer größeres Publikum – auch wenn in vielen Gegenden Radio-wellen oder bedrucktes Papier noch die meisten Menschen erreichen.

Dass kritischer Journalismus auch gefährlich ist, zeigt sich aktuell besonders in Mexiko und in Honduras. Im vergangenen Jahr wurden sechs mexikanische Journalist*innen ermordet, seit dem Jahr 2000 waren es mindestens 66, weitere zwölf werden vermisst. Und nach den Recherchen der Journalist*innen-Organisation Artikel 19 sind es nur in jedem zweiten Fall die Drogenkartelle, die mexikanische Journalist*innen bedrohen. In allen anderen Fällen sind es staatliche Stellen. Auch in Honduras wurden 2012 zwei Journalisten Opfer einer Ermordung, die in direktem Zusammenhang mit ihren Recherchen stand. In den vergangenen drei Jahren sind dort mindestens 29 Journalist*innen ermordet worden.

Aus der Fülle dieser Themen haben wir für dieses Dossier eine Auswahl von sechs Ländern getroffen: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile. Zu fünf der Länder thematisiert ein Beitrag das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Ergänzt wird dies durch ein Interview oder ein Feature über ein Projekt kritischer Gegenöffentlichkeit. Dabei war uns wichtig, dass die Beiträge möglichst unterschiedliche Medienformate vorstellen: Eine alternative Nachrichtenagentur in Mexiko, kommunales indigenes Radio in Honduras, Streetart in Jamaica, einen alternativen Fernsehsender in Venezuela, verschiedene Favela-Medien in Brasilien und ein Radioprojekt in Chile sollen ein möglichst vielfältiges Bild von lateinamerikanischer Gegenöffentlichkeit skizzieren.

Begleitet werden die Texte von Streetart-Fotos aus der Länderauswahl sowie aus Argentinien, Guatemala und Costa Rica. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fotograf*innen sowie das Goethe-Institut in Mexiko, das uns viele Fotos zur Verfügung stellte.

 

Fernbedienung allein reicht nicht

Die Landlosenbewegung MST und die brasilianische Frauenbewegung fordern das „Menschenrecht auf Kommunikation“ ein. Warum hat dieses Thema in Brasilien so eine Bedeutung?
Das Rundfunkgesetz in Brasilien stammt aus dem Jahr 1962, seitdem wurde es nicht mehr grundlegend geändert. In den 1970er und 1980er Jahren fanden sehr starke Konzentrationsprozesse in den Medien statt, in denen diese ihre Verbindungen zur Politik stärken konnten. Ein wichtiger Wendepunkt war die Debatte über die neue Verfassung, aber auch diese mündete 1988 nicht in konkrete Gesetze. Die Verfassung formuliert Grundsätze zu Monopolen und Oligopolen im Medienbereich. Sie spricht von den Prinzipen der sozialen Kommunikation bei elektronischen Medien und legt die gegenseitige Ergänzung des privaten und des öffentlichen Kommunikationssektors fest. Aber zu allen diesen Punkten wurde nie ein Gesetz formuliert. In der Praxis wurde also im Kommunikationssektor nicht einmal die Verfassung in Kraft gesetzt. Die Regierung weiß ganz genau, dass hier Gesetzgebungsbedarf besteht. Aber es bewegt sich nichts, weil die Massenmedien daran interessiert sind, dass diese Diskussion nicht vorankommt.

Intervozes hat ein Video namens „Levante sua voz“ (Erhebe Deine Stimme) gedreht. Darin heißt es, in Brasilien kontrollierten elf Familien die Medien. Wie viel Prozent der Zuschauer_innen erreichen diese elf Familien?
99 Prozent. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat vielleicht ein Prozent der Einschaltquoten. Und wenn wir von elf Familien gesprochen haben, dann waren wir sogar großzügig. Denn wir haben auch die hinzugezählt, die große Medienunternehmen besitzen, aber keine Anteile an Fernsehsendern. Das brasilianische Rundfunksystem funktioniert so, dass fünf Familien die gesamte Programmgestaltung kontrollieren und die lokalen Sender diese nur übernehmen. TV Globo sagt: „Wir besitzen nur Sender in São Paulo, Rio, Belo Horizonte, Recife und Brasília.“ Aber die Verträge, die TV Globo mit den Lokalen abgeschlossen hat, verpflichten diese, 95 Prozent des Programms zu übernehmen. Im Süden ist das System ein bisschen komplizierter, aber im Prinzip funktioniert es in ganz Brasilien so. In der Praxis verkauft Globo sogar die Werbung in den lokalen Sendern. Über dieses Netzwerk reproduziert sich die Konzentration. In der Theorie ist das Mediensystem in Brasilien dezentralisiert, aber in der Praxis ist es komplett zentralisiert.

In eurem Video heißt es auch, dass 25 Prozent der Senator_innen und zehn Prozent der Abgeordneten eigene Radio- oder TV-Sendelizenzen besitzen. Sind es in Wirklichkeit nicht noch viel mehr?
Diese Zahlen können wir klar und einfach belegen, denn die Parlamentarier sind bei der staatlichen Behörde ANATEL registriert, die Einkünfte aus den Sendern tauchen in ihren Einkommenserklärungen auf oder Familienangehörige ersten Grades sind als Lizenzträger eingetragen. Wir vermuten, dass die Zahl sehr viel höher ist, insbesondere, wenn man die Strohmänner noch mit einbezieht. Aber das ist schwierig zu belegen.

Warum erlebte die Bewegung für das „Menschenrecht auf Kommunikation“ Anfang der 2000er Jahre so einen Aufschwung?
Anfang 2000 erschienen neue politische Akteure wie Intervozes oder das Weltsozialforum und zum ersten Mal seit dem MacBride-Report der UNESCO 1980 diskutierte man mit mehr Nachdruck das Menschenrecht auf Kommunikation. Als dann 2002 Lula da Silva zum Präsidenten gewählt wurde, weckte dies Erwartungen auf konkrete bundespolitische Maßnahmen. Aber die PT-Regierung hat sich in der Kommunikationspolitik immer sehr ängstlich verhalten und verhält sich weiterhin so. Das verhindert, dass die Debatte in konkrete Gesetze mündet. Und auch die Regierung Dilma Rousseff ist auf diesem Politikfeld eine Enttäuschung. Bisher gibt es keine einzige konkrete Gesetzesinitiative. Auf der positiven Seite der Regierungsbilanz von Lula muss man allerdings die Gründung von TV Brasil erwähnen, eines öffentlich-rechtlichen Senders, den es vorher in Brasilien nicht gab. Aber: TV Brasil sollte landesweit zu empfangen sein. Das wurde bis heute nicht umgesetzt. Nur in zehn Städten und Landkreisen kann man TV Brasil über Antenne empfangen und das Kabelfernsehen hat nur einen Marktanteil von 20 Prozent.

Gab es denn von 2003 bis heute Erfolge in der Medienpolitik?
Oh ja, es gab Erfolge. Zum einen hat sich die Bewegung sehr verbreitert. Die Nationale Konferenz zu Kommunikation hat 2009 die Debatte intensiviert: Fast 30.000 Menschen haben auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene an diesem Prozess teilgenommen. Die Initiative dazu ging von der Bundesregierung selbst aus, um Grundsätze in der Kommunikationspolitik zu formulieren. Aber nach dieser Konferenz hat Brasilien die Gelegenheit verpasst, die Vorschläge der Konferenz in die Praxis umzusetzen. Es gab über 600 angenommene Vorschläge – viele davon übrigens im Konsens mit einem Teil der Medienwirtschaft verabschiedet, die verstanden hatte, dass man der Konzentration Grenzen setzen muss. 2010 hat die Regierung einen Gesetzesentwurf vorbereitet, aber er wurde nicht verabschiedet. Das ist sehr schwerwiegend, weil Brasilien es so versäumt, einen Teil des Erbes aus der Militärdiktatur aufzuarbeiten und dadurch ohne demokratische Regulierung seines Mediensektors verharrt. Und ohne Demokratisierung der Medien gibt es keine Garantie für den Erhalt der Demokratie.

Ist die Bewegung für das „Menschenrecht auf Kommunikation“ noch aktiv?
Ja, auf jeden Fall. Im vergangenen August wurde die Kampagne „Para Expressar a Liberdade“ lanciert, in der es genau darum geht, dass das Recht, die eigene Meinung auszudrücken, für alle und jeden gelten muss. Aber solange die Regierung nicht signalisiert, dass sie das Thema auf die Agenda setzen wird, ist es sehr schwierig, darüber eine öffentliche Debatte zu führen.

Ist von Präsidentin Dilma Rousseff noch etwas in Bezug auf die Medienpolitik zu erwarten?
Präsidentin Dilma hat eine sehr konservative Haltung in diesem Politikfeld. Unsere Perspektive ist da pessimistisch, zumindest was ihre jetzige Amtszeit betrifft. Sie bleibt in der Auffassung stecken, dass die Fernbedienung als Instrument ausreicht, um Pluralismus und Diversität zu garantieren. Und wir vertreten die Ansicht, dass die Fernbedienung nur die Auswahl dessen erlaubt, was verfügbar ist. Um wirklich Pluralität und Diversität zu garantieren, bedarf es einer ganzen Reihe von politischen Maßnahmen und staatlichen Regulierungen, wie es auch in den europäischen Ländern der Fall ist.

Und außerhalb der Regierungspolitik: Was ist die Perspektive von Intervozes?
Die Kampagne „Para expressar a liberdade“ schließt eine Gesetzesinitiative „von unten“ für ein Mediengesetz mit ein. Wir sind es leid, auf die Regierung zu warten, auch wenn wir es besser fänden, wenn die Regierung einen Gesetzesentwurf vorbereiten würde. Wir brauchen dafür ungefähr 500.000 Unterschriften, die wir in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sammeln müssen. Wir hoffen, dass über dieses Instrument die Demokratisierung der Kommunikation endlich vorankommt.

Infokasten:

João Brant

ist Mitglied von Intervozes – Brasilianisches Kollektiv für Soziale Kommunikation und der Geschäftsführung des Nationalen Forums für die Demokratisierung der Kommunikation (FNDC). Nach einem Abschluss in Publizistik, machte er seinen Master in Kommunikationspolitik an der London School of Economics and Political Science (LSE) und anschließend eine Promotion in Politikwissenschaften an der Universität von São Paulo. Er arbeitete als Redakteur in Tageszeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen und schrieb zwei Bücher zum Thema Kommunikationspolitik.

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