Es ist nie zu spät – für Aufarbeitung

„Die Affaire um die deutsche Kolonie Dignidad wird von den chilenischen Behörden nur zaghaft untersucht“, titelte die Süddeutsche Zeitung auf Seite 3. Die Rede war darin von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Freiheitsentzug in der Deutschensiedlung Colonia Dignidad in Südchile. Erscheinungsdatum: 8. Juli 1966. Seit nunmehr 50 Jahren haben Berichte über schwerste Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad einen festen Platz in der Presseberichterstattung. Verbrechen deutscher Staatsbürger, begangen an Deutschen und Chilen_innen auf chilenischem Staatsgebiet.
Bereits in den 1960er Jahren sandten Koloniebewohner_innen Hilferufe an die deutsche Botschaft. Sie erzählten den Diplomaten von Schlägen, Arbeitszwang und Freiheitsberaubung. In den 1970er Jahren berichteten die UNO (1976) und amnesty international (1977) über Folter an politischen Gefangenen in der Siedlung. Doch Regierung und Justiz in Chile und Deutschland ergriffen jahrzehntelang keine ausreichenden Maßnahmen, um eine Fortsetzung der Verbrechen zu verhindern. Bis zur späten Festnahme des Anführers Paul Schäfer im Jahr 2005 herrschten innerhalb der Siedlung Unterdrückungsstrukturen. Gruppenmitglieder wurden ihrer Freiheit beraubt und mit Psychopharmaka sediert. Beide Staaten sind für diese Taten mitverantwortlich, durch Handlungen und durch Unterlassungen.
Warum in Chile jahrzehntelang weggeschaut wurde, ist offensichtlich: Die Colonia Dignidad war eine der wichtigsten Folter- und Vernichtungsstätten der chilenischen Militärdiktatur (1973-90). Bereits vor dem 11. September 1973 trainierten die Putschisten dort für den Sturz der Allende-Regierung. Danach wurde dort gefoltert und gemordet. Hochrangige Gäste aus Politik, Militär und Unternehmerschaft wurden fürstlich bewirtet, der Geheimdienstchef verbrachte dort seinen Sommerurlaub, selbst Pinochet kam zu Besuch.
Warum hat Deutschland so lange weggesehen? Weil Berichte über medizinische Experimente an hinter Stacheldraht festgehaltenen politischen Gefangenen höchst unschöne Erinnerungen weckten? Wegen deutscher Diplomaten, die gute Beziehungen zu Schäfer und seiner Führungsriege pflegten? Wegen der konservativen Politiker, die die Colonia besuchten und in Deutschland Lobbyarbeit für die „deutsche Vorzeigesiedlung“ betrieben, die von „marxistischen Kräften“ verleumdet werde? Wegen des deutschen Waffenhändlers und BND-Verbindungsmanns Gerhard Mertins, der mit der Siedlung Geschäfte machte? Gesicherte Erkenntnisse, ob seitens bundesdeutscher Behörden noch weitere „Leichen im Keller“ liegen, wird es erst geben, wenn der Bundesnachrichtendienst BND seine Akten zur Colonia Dignidad freigibt.
Nun hat der Oberste Gerichtshof Chiles Ende Januar ein Zeichen gesetzt und nach Jahrzehnten der Straflosigkeit erstmals – nach der Inhaftsetzung Paul Schäfers 2005 – weitere Führungsmitglieder der Colonia Dignidad hinter Gitter geschickt. Es bleibt zu hoffen, dass dies nur der Anfang eines umfangreichen Prozesses der strafrechtlichen und politisch-historischen Aufarbeitung der Colonia Dignidad darstellt. Dass dabei für beide Staaten noch viel Unbequemes ans Licht kommen könnte, liegt auf der Hand. Trotzdem und deswegen sind eine selbstkritische Reflektion dieser Vorgänge und eine Entschuldigung bei den Opfern notwendig und seit langem überfällig. In der Colonia Dignidad Gefolterte haben kurz nach dem Urteil einen offenen Brief in der Botschaft in Santiago abgegeben, in dem sie Unterstützung für den Bau einer Gedenkstätte und eine rasche Verurteilung von Hartmut Hopp fordern. Das ehemalige Führungsmitglied wurde in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er entzog sich jedoch der chilenischen Justiz durch Flucht nach Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland ermittelt seit 1988 gegen ihn. Ergebnislos.
„Ich bin müde von alledem.“ Mit diesem Zitat von Adriana Bórquez beginnt das LN-Sonderheft zur Colonia Dignidad von 1989. Bórquez wurde 1975 in der Colonia Dignidad gefoltert. Sie hat 1977 darüber im Prozess „Colonia Dignidad gegen amnesty international“ ausgesagt. Adriana, 77 Jahre alt und auf einen Rollstuhl angewiesen, gehörte zu denen, die vor einigen Tagen den offenen Brief an die Regierungen von Deutschland und Chile überreichten. Sie kämpft weiter.

Te recordamos, Víctor

„Te Recuerdo, Amanda“ („Ich erinnere mich an dich, Amanda“) ist vielleicht das bekannteste Lied des nur wenige Tage nach dem Militärputsch 1973 getöteten Sängers Víctor Jara (siehe Chile Nachrichten 12, Seite 10-15, Jahrgang 1 der LN). Im Januar 2013 stand Amanda Jara, seine Tochter, an dem Ort, an dem ihr Vater gefoltert und ermordet wurde und erinnerte sich an Víctor. Wie unzählige Male zuvor in den letzten Jahrzehnten, forderte sie Gerechtigkeit, eine Verurteilung der Mörder ihres Vaters. „Wir fordern vom Obersten Gerichtshof, die USA um Auslieferung von Pedro Barrientos zu ersuchen“, sprach sie in die Mikrophone der zahlreich erschienenen Journalist_innen.
Der Leutnant im Ruhestand Pedro Barrientos lebt seit Anfang der neunziger Jahre in den USA. Seinen Lebensunterhalt verdient er inzwischen mit dem An- und Verkauf von Fahrzeugen, die über die Freihandelszone von Iquique in Nordchile verschifft werden. Barrientos hat Víctor Jara, nach mehreren Tagen grausamer Folter, im Keller der Veranstaltungshalle Estadio Chile erschossen. Das zumindest hat José Paredes dem Journalisten Luis Narváez vor laufender Kamara erzählt. Paredes war als 18-jähriger Wehrpflichtiger im Estadio Chile eingesetzt und war nach eigenen Angaben dort als Leibwächter von Barrientos tätig. Narváez überraschte Barrientos daraufhin im vergangenen September mit einem Fernsehteam vor seinem Haus in Deltona, Florida und befragte ihn. „Ich war nie im Estadio Chile“, sagte Barrientos, „ich habe Víctor Jara nicht umgebracht“. An einen Leibwächter namens Paredes könne er sich nicht erinnern. Doch recht überzeugend wirkte sein Dementi nicht.
Sonderrichter Miguel Plaza, der dem Berufungsgericht von Santiago angehört, schloss sich jedenfalls der Darstellung von José Paredes an. Ende Dezember letzten Jahres hat Plaza die Ermittlungen im Mordfall Víctor Jara abgeschlossen und Anklage gegen acht ehemalige Militärs erhoben. Pedro Barrientos und der Oberst im Ruhestand Hugo Sánchez Marmonti wurden als Täter des Mordes an Víctor Jara angeklagt, sechs weitere Personen als Komplizen. Gegen alle acht wurde Haftbefehl erlassen.
Die Anklageschrift von Richter Plaza dokumentiert die letzten Tage des damals bereits weit über Chile hinaus bekannten Sängers und Mitgliedes der Kommunistischen Partei Chiles. Am Nachmittag des 11. September 1973 belagerten Einheiten verschiedener Militärregimenter die Technische Universität des Staates, die heutige Universidad de Santiago. Deren Mitarbeiter_innen und Studierendenschaft waren als Unterstützer_innen der Unidad Popular Regierung von Salvador Allende bekannt. 600 von ihnen hatten sich in der Universität verbarrikadiert und waren entschlossen, Widerstand zu leisten. Über Waffen verfügten sie jedoch kaum. Am darauffolgenden Morgen stürmten Militäreinheiten nach kurzem Beschuss der Universität den Campus und nahmen alle fest. Unter den Verhafteten befand sich auch Víctor Jara, der als Lehrbeauftragter an der Universität arbeitete. Mit Bussen wurden die Gefangenen in das nahegelegene Estadio Chile transportiert, wo im Laufe der nächsten Tage über 5000 Gefangene zusammengepfercht wurden. In den Kellerräumen des Stadions wurden die Gefangenen verhört und gefoltert. Als einer der prominenten Gefangenen wurde Víctor Jara vom Rest der Gefangenen getrennt und nach besonders brutaler Folter am 16. September mit Gewehrschüssen ermordet. Sein Leichnam wurde am Tag darauf auf einer Brache neben einem Friedhof aufgefunden. Er wies 44 Schusswunden auf.
Die Interviews mit dem Wehrpflichtigen José Paredes und dem Offizier Pedro Barrientos wurden im Mai 2012 im chilenischen Fernsehen ausgestrahlt und fanden nicht nur in Chile große Beachtung. Viele internationale Medien nahmen sich des Themas an, eine Tatsache die möglicherweise beschleunigend auf die Anklageerhebung durch die chilenische Justiz gewirkt haben könnte. Denn Víctor Jara war der wohl bedeutendste künstlerische Vertreter der Unidad Popular und wurde nach seinem Tod im In- und Ausland als Märtyrer verehrt. Seine Lieder wurden auf jeder Veranstaltung der Chile-Solidaritätsbewegung gesungen und von Größen des politischen Liedes wie Silvio Rodríguez, Mercedes Sosa oder Joan Manuel Serrat interpretiert.
Nicht allen Opfern der chilenischen Militärdiktatur wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie Víctor Jara. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Großteils der Morde staatlicher Repressionsorgane aus den Jahren 1973 bis 1990 ist bis heute nicht abgeschlossen. Letztes Jahr vom Observatorium für Menschenrechte der Universität Diego Portales veröffentlichte Zahlen belegen dies. Fast vier Jahrzehnte nach dem Putsch ist erst bezüglich 305 ermordeter Personen ein Urteilsspruch ergangen. Bei einer Zahl von 3.216 offiziell von der Regierung anerkannten Todesopfern bedeutet das eine Aufklärungsrate von weniger als zehn Prozent. In 65 Prozent der Fälle ist das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen. Bei einem Viertel der Opfer wurde nie ein Verfahren eröffnet.
Gleichzeitig gab es bei den wenigen bisher ergangenen Gerichtsurteilen eine Reihe von Freisprüchen, vor allem jedoch zur Bewährung ausgesetzte Strafen, so dass nur 62 Verurteilte zum Berichtszeitpunkt in Gefängnissen saßen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei nicht um gewöhnliche Gefängnisse, sondern um besondere Militärgefängnisse, bei denen Militärs von Militärs bewacht werden und die Gefangenen weitaus bessere Haftbedingungen genießen als gewöhnliche Häftlinge in Chile.
Fast 23 Jahre sind seit dem Amtsantritt von Patricio Aylwin vergangen. Der erste gewählte Präsident nach der Diktatur hatte am Ende seines ersten Regierungsjahres 1990 verkündet, er wolle „voranschreiten in der unausweichlichen Aufgabe, die Wahrheit zu finden und Gerechtigkeit zu schaffen“. Jedoch hatte er sogleich den einschränkenden Nebensatz angefügt: „en la medida de lo posible“, im Rahmen des Möglichen. Anstrengungen des chilenischen Staates im puncto Wahrheitsfindung sind seitdem auch weitgehend unumstritten: Der 1991 vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission (Comisión Rettig) über die von der Diktatur begangenen Morde und der 2004 veröffentlichte Bericht über die von staatlichen Stellen systematisch durchgeführten Folterhandlungen (Comisión Valech) fanden Anerkennung im In- und Ausland. Der Rahmen des Möglichen im Bereich der Benennung von Verantwortlichen für diese Verbrechen und ihrer Sanktionierung wurde jedoch seitdem stark von Ex-Diktator Pinochet und seinen Anhänger_innen in Politik, Militär und Justiz eingeengt.
Während die Festnahme von Augusto Pinochet im Jahr 1998 bei vielen Opfer- und Angehörigenorganisationen Hoffnung auf eine schnelle und umfassende Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur auslöste, ist diese inzwischen einer Verzweiflung und Resignation gewichen.
Nach der Festsetzung des Ex-Diktators in London hatten Angehörige hunderte von Strafanzeigen gegen Pinochet und Mitglieder seiner Repressionsorgane eingereicht. Sonderrichter wurden ernannt, die ihre Arbeitszeit ausschließlich diesen Menschenrechtsfällen widmeten. Die Anwendung des von der Diktatur geschaffenen Amnestiegesetzes wich in vielen Fällen einer Einstufung der Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die weder verjähren noch amnistiert werden können. Die anfängliche hoffnungsvolle Haltung wich jedoch bald wieder der Ernüchterung des faktischen „im Rahmen des Möglichen“. Die Arbeitslast hunderter komplexer Fälle war für einige wenige Sonderrichter nicht zu bewältigen. Viele von ihnen dürfen sich inzwischen auch nicht mehr ausschließlich mit Menschenrechtsfällen beschäftigen. In vielen wichtigen Verfahren wie beispielsweise dem Mord an Ex-Präsident Eduardo Frei Montalva, den Fällen Villa Grimaldi, Conferencia, dem Fall der 119 und in dem wichtigen Verfahren um die Deutschen-Siedlung Colonia Dignidad sind bis heute keine Gerichtsurteile ergangen.
In den letzten Jahren hat sich in der Strafkammer des Obersten Gerichts zudem teilweise die Rechtsauffassung der „halben oder graduellen Verjährung“ durchgesetzt. Diese erlaubt trotz Einstufung der jeweiligen Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Reduzierung der Strafe wegen des lange zurückliegenden Tatzeitpunkts. Dies bedeutet, dass immer mehr Verurteilte in den Genuss einer Bewährungsstrafe ohne Haftantritt kommen. Diese Tendenz wird sich wohl im letzten Jahr der Rechtsregierung von Sebastian Piñera durch einen besonderen Umstand noch verstärken. Da sechs der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts die Altersgrenze von 75 Jahren erreicht haben, darf die Regierung dem Parlament Vorschläge für die Neubesetzung der Vakanzen machen. Eine Besetzung mit konservativen Richter_innen, die gerne strafsenkende Argumente bemühen, ist wahrscheinlich bzw. teilweise schon geschehen.
Derweil hält der Schweigepakt in Militär und Polizei. Diese haben bei der Aufklärung der von Mitgliedern ihrer Institutionen begangenen Verbrechen bisher keinen nennenswerten Beitrag geleistet. Die wenigen Ermittlungsfortschritte der Justiz der letzten Jahre war Aussagen von ehemals einfachen Wehrpflichtigen wie José Paredes geschuldet. Dieser wurde nach seinen Presseäußerungen bis zu einer richterlichen Vernehmung inhaftiert. Diese aus juristischer Sicht nachvollziehbare Maßnahme wird dadurch ad absurdum geführt, dass höherrangige Offiziere, wenn überhaupt, meist nur wenige Tage in Untersuchungshaft verbringen, bis sie gegen Kaution wieder auf freien Fuß gelangen. Der eventuell vorhandene Aussagewille von einfachen Wehrpflichtigen gegenüber ihren ehemaligen Vorgesetzten wird durch solche Handlungen nicht befördert, eher wird der Schweigepakt gestärkt.
Derweil begünstigt der Zeitablauf die Straflosigkeit: Täter_innen versterben oder werden haftunfähig. Die Opferangehörigenorganisationen altern und verlieren an Einfluss. Viele Angehörige versterben mit einem Gefühl der Ohnmacht ohne die Todesumstände oder die Namen der Mörder_innen ihrer Familienmitglieder zu kennen. Neue institutionalisierte Akteure haben in den letzten Jahren an Protagonismus gewonnen, beispielsweise das Nationale Menschenrechtsinstitut, für das das Thema der Aufarbeitung der Diktatur nur noch eines unter mehreren ist.
Die Aufklärung und Ahndung des Mordes an Víctor Jara ist durch die Anklageerhebung einen Schritt vorangekommen: Sechs der acht Angeklagten wurden bislang – zumindest zeitweilig – in Untersuchungshaft genommen. Ein weiterer ist aus gesundheitlichen Gründen haftunfähig. Auch hat Richter Miguel Plaza die Auslieferung von Oberst Barrientos beantragt.
Die Umbenennung des Estadio Chile vor einigen Jahren in Estadio Víctor Jara zeigt, dass die Erinnerung an den Sänger und Aktivisten lebendig ist. Ob jedoch Oberst Barrientos oder einer seiner Mitangeklagten jemals für diesen brutalen Mord eine Haftstrafe antreten muss, darf als äußerst ungewiss gelten.

Nicht legal, aber entkriminalisiert

Der ehemalige und möglicherweise auch zukünftige Präsident Tabaré Vázquez hatte beim letzten Anlauf Ende 2008 ein entsprechendes Gesetz zur reproduktiven Gesundheit, das vor allem in Bezug auf die Rechte der betroffenen Frauen deutlich über die jetzt verhandelte Regelung hinausging, noch mit seinem Veto blockiert. Dies obwohl schon vor fast vier Jahren eine knappe Mehrheit in beiden Kammern des uruguayischen Parlaments dem Gesetzentwurf, der unter anderem eine Lockerung des strengen Abtreibungsverbots vorsah, zugestimmt hatte. Eine Haltung des praktizierenden Katholiken Vázquez, die vor allem an der Basis viele Mitglieder des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Parteienbündnisses Frente Amplio empört hatte.
Nach einer erneut sehr polemisch geführten Diskussion hat nun aber der amtierende Präsident José „Pepe“ Mujica im Oktober 2012 das Gesetz zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabruchs innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen unterzeichnet, nachdem zuvor das uruguayische Abgeordnetenhaus am 25. September mit 50 zu 49 Stimmen und dann am 17. Oktober auch der Senat den Gesetzentwurf gebilligt hatten. Für das Gesetzesvorhaben stimmten 17 von 31 Senator_innen – alle Mitglieder der regierenden Frente Amplio sowie ein Senator der Blancos, einer der beiden Oppositionsparteien. Nach Guayana ist Uruguay somit das dritte lateinamerikanische Land nach Kuba und Guayana, in dem eine Abtreibung straffrei ist. Damit verliert ein Gesetz aus dem Jahre 1938, entworfen während der ersten Militärdiktatur unter Gabriel Terra, seine Gültigkeit, das jeglichen Abbruch strikt verboten hatte und Haftstrafen zwischen drei und neun Monaten für die betroffenen Frauen und zwischen sechs und 24 Monaten für die Ausführenden vorsah. Allerdings wurde in der Praxis nur ein Bruchteil der Schwangerschaftsabbrüche strafrechtlich verfolgt. Auch insofern war die jetzt erfolgte Entkriminalisierung längst überfällig.
Das neue Gesetz, mit dem die Frente Amplio eines ihrer Wahlversprechen einlöst, sieht vor, dass Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft ein Gespräch mit einem interdisziplinären Team aus Mediziner_innen, Psycholog_innen und Sozialarbeiter_innen führen müssen, in dem sowohl über die Risiken eines Abbruchs als auch über die Alternativen und die staatlichen Unterstützungsprogramme informiert wird. Erst nach diesem Gespräch und einer Bedenkzeit von fünf Tagen dürfen sie sich dem Eingriff unterziehen. Eine Regelung, die von den traditionell in Uruguay sehr starken Frauenorganisationen, die sich seit Jahrzehnten für einen legalen, sicheren und kostenfreien Schwangerschaftsabbruch einsetzen, kritisiert wird. Ihrer Ansicht nach werden die Frauen so einem unzumutbaren Druck ausgesetzt und es wird ihnen das Recht vorbehalten, selbst über ihren Körper zu entscheiden. Nicht das Recht auf Abtreibung wurde legalisiert, sondern die Abtreibung wird mit dem neuen Gesetz entkriminalisiert, so zusammengefasst ihre Kritik. Insgesamt überwiegt bei den sozialen Organisationen und fortschrittlichen Frauenverbänden aber die Erleichterung, dass der Kampf um die Selbstbestimmung zu einem Teilerfolg geführt hat. Das Land kehrt nun zu einer Praxis zurück, die so ähnlich schon von 1934 bis 1938 gegolten hatte. Sie war ein Resultat der zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden fortschrittlichen Sozial- und Familienpolitik in Uruguay, in dem seit 1916 eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat herrscht.
Allerdings streben Abtreibungsgegner_innen in Uruguay, die von der katholischen Kirche unterstützt werden, ein Referendum über das Gesetz an. Im seit 1964 offiziell laizistischen Uruguay bekennen sich zwar über 60 Prozent zum katholischen Glauben, aber der Einfluss der Amtskirche ist im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas deutlich geringer. Und von einer direkten Einmischung der katholischen Kirche in die Politik hält die übergroße Mehrheit der Uruguayer_innen schon gar nichts. Dementsprechend erregte eine Meldung, die am 19. Oktober dieses Jahres, nur zwei Tage nach der Zustimmung des uruguayischen Senats zur Gesetzesvorlage über die Ticker lief, mehr Aufmerksamkeit im Ausland als in Uruguay selbst. In einem Bericht der konservativen Tageszeitung El Observador wurden Erwägungen der katholischen Kirche erwähnt, die Parlamentarier_innen, die dem Gesetz zugestimmt hatten, zu exkommunizieren. Nur wenige Tage später ruderte der Generalsekretär der uruguayischen Bischofskonferenz allerdings zurück: „Kein Bischof wird irgendeinen Parlamentarier exkommunizieren“, so Bischof Heriberto Bodeant am 22. OKtober in der Tageszeitung El Pais.
Unterstützer_innen der Reform aus der Frente Amplio sehen das alles eher gelassen: Zuverlässige Statistiken gehen davon aus, dass die Straffreiheit von einer Mehrheit der Uruguayer_innen begrüßt wird. In einer jüngsten Umfrage von Mitte Oktober sprachen sich über 60 Prozent der Befragten, quer durch alle Parteizugehörigkeiten, dafür aus. Auch weil in der vorwiegend städtisch geprägten Bevölkerung die sozialen Folgen der über 33.000 illegalen Abtreibungen (tatsächlich wird die Zahl der Abbrüche auf über 60.000 geschätzt) bekannt sind. Unzumutbare hygienische und medizinische Bedingungen und viele Todesfälle in Folge der Abbrüche sind in der Öffentlichkeit des Landes schon seit Jahren ein Thema. Betroffen sind von den 800.000 Frauen im gebärfähigen Alter in dem 3,4 Millionen Einwohner_innen zählenden Land vor allem Frauen aus der Mittel- und der Unterschicht, die sich eine Abtreibung im Ausland nicht leisten können. Für eine Volksabstimmung über die Legalisierung der Abtreibung ist auch Mujica. Am 29. Oktober, nur wenige Tage nachdem er das Gesetz unterzeichnet hatte, sagte er, „dass die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in unserem Land durch das Votum des Volkes gelöst werden müsste“.

Den Überlebenden Gehör verschaffen

Etwa 1,5 Millionen Kinder wurden während der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg ermordet. Die Erinnerung an sie, wie etwa im Denkmal für die Kinder in Yad Vashem, ist ein wichtiger Teil des Gedenkens. Kinder hatten eine sehr geringe Überlebenschance, diejenigen die überlebten mussten sich verstecken und ihre Identität verleugnen. Dem Schicksal dieser Kinder widmet Diana Wang ihr Buch Die versteckten Kinder – Aus dem Holocaust nach Buenos Aires. Das Buch basiert auf Interviews mit dreißig Überlebenden der deutschen Judenvernichtung, teilweise auch auf deren Notizen oder früheren Veröffentlichungen. Die Autorin ist Vorsitzende der Gruppe „Generaciones de la Shoá en Argentina“, aus der heraus auch die Publikation entstanden ist. Es handelt sich also nicht um irgendein Oral History-Projekt, sondern um eine Veröffentlichung, die eine Gruppe von Überlebenden selbst organisierte.
Die dreißig Zeitzeugen waren Kinder oder Jugendliche, als der Massenmord begann. Sie kamen aus zehn europäischen Ländern und kamen nach dem Kriegsende nach Argentinien, in drei Fällen bereits davor. Die chronologisch geordneten Interviews beginnen mit dem Leben vor dem Krieg und enden mit den Erfahrungen der Befragten in Argentinien. Diese Vorgehensweise führt zu einem auch verwirrenden Hin und Her zwischen den verschiedenen Berichten, die ganz unterschiedliche Perspektiven haben. Während die älteren Mitglieder der Gruppe von Erlebnissen berichten, die sie als Jugendliche machten, haben die jüngsten keine oder kaum Erinnerungen. Die Erzählung der Auschwitz-Überlebenden Elsa, die mit 20 deportiert wurde, steht neben dem Bericht der zum gleichen Zeitpunkt fünf Jahre alten Claudia, die versteckt in Rom überlebte. Die Jüngsten berichten über etwas, dass sie nur aus den Erzählungen anderer kennen. Dieses Nebeneinander sehr unterschiedlicher Berichte ist eine der Stärken des Buches. Bei aller Redaktion und chronologischen Ordnung des Materials: die Eigenheit der Berichte, ihre Individualität, ist erhalten geblieben. Sie sind nicht glatt gebügelt, sondern erzählen offen und auch schockierend intim. Was haben dann diese Berichte miteinander zu tun? Es sind die Berichte von alten Argentinier_innen, die als Kinder ermordet werden sollten, weil sie Juden waren. Nicht nur das historische Geschehen steht im Vordergrund, sondern auch was die Verfolgung für das weitere Leben der Betroffenen bedeutete. Es ist Oral History im besten Sinne, die eben nicht vorgibt, die historische Wahrheit zu erzählen, sondern zeigt was die Geschichte mit Menschen macht. Wie wichtig diese Dimension für die Geschichtswissenschaft ist, die dazu neigt mit klaren Schnitten und Zäsuren zu arbeiten, zeigt das Kapitel „Befreiungen“. Die Befreiung von den deutschen Mördern, bedeutete ein Ende der unmittelbaren Lebensgefahr. Doch was bedeutete „Befreiung“ für die bei Kriegsende 20­‑jährige Micheline von deren Familie nur der Nachname geblieben war? Für jüngere Kinder brachte das Kriegsende oft neue Trennungen. So berichtet die bei Kriegsende 8-jährige Noëlly, sie sei ihren christlichen Adoptiveltern „wie ein Paket“ weggenommen worden, um jüdischen Adoptiveltern in Argentinien gegeben zu werden.
Viele Überlebende in Polen waren auch nach dem Krieg mit Antisemitismus konfrontiert und vermieden bis zu ihrer Ausreise als Juden aufzufallen. Bis zur Ausreise? Zu den verstörenden Wahrheiten über die jüdische Einwanderung nach Argentinien gehört, dass es sie offiziell nicht geben durfte. Juden konnten als Juden nicht einwandern, sie mussten sich als Katholiken tarnen. Dass Argentinien deshalb nicht das Wunschziel der Überlebenden war, versteht sich von selbst. Sie kamen, weil sie hier Verwandte hatten, aus Angst vor einem weiteren Krieg oder weil es keine anderen Optionen gab. Im Peronismus, aber auch danach waren Juden in Argentinien mit offenem Antisemitismus konfrontiert, während die Einreise von Naziverbrechern geduldet, teilweise sogar gefördert wurde. Dennoch ist Argentinien heute das lateinamerikanische Land mit der mit Abstand größten jüdischen Gemeinschaft. Da viele Einwanderer ihre jüdische Herkunft verschleierten, ist sie wahrscheinlich noch größer, als die etwa 180.000 die nach offiziellen Angaben im Land leben.
Eine Rechtfertigung für diesen vorsichtigen Umgang mit der eigenen jüdischen Identität sahen einige Mitglieder der Gruppe in der Militärdiktatur. Sie erinnerte sie nicht nur an die Naziverfolgung, unter den Opfern der Diktatur befanden sich auch überproportional viele Juden. Auch die Anschläge auf die israelische Botschaft, 1992, und das jüdische Kulturzentrum AMIA, 1994, trugen zur Verunsicherung bei. Gleichzeitig waren die Solidaritätsbekundungen in Reaktion auf die Anschläge ein Hoffnungsschimmer, ebenso wie die Interviewinitiative der Spielberg-Stiftung, die vielen ein Forum gab sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
So verdienstvoll die Übersetzung und Herausgabe dieses Buches ist – ein wissenschaftliches Lektorat hätte dem Text gut getan. Weite Teile der Einleitung sind inhaltlich fragwürdig, so etwa, wenn zu lesen ist, beim Zweiten Weltkrieg hätte es sich eigentlich um zwei Kriege gehandelt, der eine „traditionell“, der andere gegen die Juden. Einige Darstellungen sind schlicht falsch, so etwa die Beschreibung der nationalsozialistischen Rassenideologie oder die Behauptung, die Juden wären die einzige Gruppe gewesen, „die wirklich vollständig ausgelöscht werden sollte“. Dies ist angesichts des Porajmos, des Massenmordes an den Sinti und Roma, schlicht falsch. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ärgerlich ist hieran vor allem, dass auch das Anliegen des Buches beschädigt wird, das die Übersetzerin Sylvia Degen als die Absicht beschreibt, „den Überlebenden Gehör zu verschaffen und dafür zu sorgen, dass ihre Stimmen nicht verdrängt und zum Schweigen gebracht werden.“ Um es deutlich zu machen: An das Zeugnis eines Überlebenden kann nicht der Maßstab historischer Arbeiten und Korrektheit angelegt werden, an die Einleitung eines in einem Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte erscheinenden Buches sehr wohl. In dieser Form ist die Einleitung völlig indiskutabel.
Dennoch: der Kern des Buches, die Berichte der dreißig Zeugen, sind ein wichtiger Beitrag zur Geschichte und Nachgeschichte der Judenvernichtung. Sie rücken eine Gruppe ins Zentrum, die weniger als andere zeitgenössische Quellen hinterlassen konnte und die trotzdem ein Anrecht darauf hat, dass ihre Geschichte wahrgenommen und geschrieben wird. Sicherlich ist dieses Buch auch ein trauriges Zeugnis des argentinischen Umgangs mit dieser Einwanderergruppe. Die Flüchtlinge aus Europa konnten sich hier ein neues Leben aufbauen, willkommen waren sie nicht. Ganz im Gegensatz zu den alten Nazis. Erst im Jahre 2005 entschuldigte sich der damalige Präsident Ernesto Kirchner für diese Ungerechtigkeit.

Diana Wang // Die versteckten Kinder. Aus dem Holocaust nach Buenos Aires // Hentrich & Hentrich Verlag // Berlin 2012 // 348 Seiten // ISBN: 978-3-942271-72-1 // 24,90 € // 44,00 CHF // www.hentrichhentrich.de/buch-die-versteckten-kinder.html

Krieg bei Kerzenschein und aufgeschlitzte Hunde

Die persönlichen Schicksale der unterschiedlichen Protagonist_innen vermitteln ein Bild vom Peru und Lima des 20. Jahrhunderts und einer durch Militärdiktatur und Bürgerkrieg gezeichneten Gesellschaft bis hin zur Gegenwart. So begegnen wir einem jungen Mann mit Namen el Pintor (der Maler), der sein Kunststudium abgebrochen hat, um sein Leben einer kleinen Gruppe von Aufständischen zu widmen. In der Nacht des 28. Juli 1979 wird der Leser Zeuge des „ersten revolutionären Akts“, bei welchem Straßenhunde aufgeschlitzt werden, um sie, mit wütenden Slogans versehen, von Laternen baumeln zu lassen. Mit einfachen und präzisen Beschreibungen führt der Autor den rohen Fanatismus und die Wut vor Augen, lässt aber auch die Ängste des jungen Malers und seiner Mitstreiter_innen spüren. Vor dem Versagen, vor dem Fremdbestimmten, vor dem eigenen Land und Handeln. Klar blinkt in dieser Geschichte der Bezug zur Ära der linken Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) auf, die ab 1980 bürgerkriegsähnliche Zustände in Peru auslöste.
In der Erzählung Krieg bei Kerzenschein treffen wir auf den ehemaligen Guerillero Fernando, der trotz seines innigen Wunsches nach Normalität ständig von seiner politischen Vergangenheit heimgesucht wird. Gerade diese persönlichen Konflikte, die stets in gewissem Maße politisch geprägt sind, verleihen der Kurzprosa eine einnehmende Spannung. Dabei berühren vor allem die kleinen Momente, die den Kampf ums Leben und Überleben veranschaulichen. Zum Beispiel República und Grau erzählt vom zehnjährigen Maico, den sein Vater in Begleitung eines Blinden zum Betteln schickt und der den ganzen Tag an einer vielbefahrenen Kreuzung verbringen muss. Mit seiner anfänglich noch kindlichen Neugier und einem wachsamen Interesse erkennt er schnell die rauen Spielregeln, mit denen er auf seine ganz eigene Art und Weise umzugehen lernt.
In allen Erzählungen besteht ein Bezug zur Stadt Lima, die die Figur Óskar Uribe, der einen Artikel über die komischen Gestalten der Großstadt schreiben soll, in einem anderen Licht zu sehen beginnt: „Clowns. Nachdem ich begonnen hatte sie zu suchen, fand ich sie überall. Sie strukturierten für mich die Stadt (…). Sie kamen meiner Stimmung entgegen, verwandelten sie (…).” Und so sind alle Figuren der Erzählungen vielleicht selbst Clowns, die durch erzwungene Lügen ihr wahres Gesicht hinter einer Maske verbergen, zur Schau gestellt werden oder sich vor der ernüchternden Wirklichkeit verstecken.
Daniel Alarcón, der 1977 in Lima geboren wurde, verbrachte seine Kindheit ab dem dritten Lebensjahr in Birmingham (Alabama/USA). Mit 24 Jahren ging er nach Lima, um in einem Slum Fotografie zu unterrichten. Dort fand er die Inspirationen für seine Erzählungen. Er ist Mitherausgeber der in Lima erscheinenden Literaturzeitschrift Etiqueta Negra. Für seinen Debütroman Lost City Radio gewann er 2009 den internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.

Daniel Alarcón // Stadt der Clowns. Erzählungen // Aus dem Englischen von Friederike Meltendorf // Verlag Klaus Wagenbach // Berlin 2012 // 192 Seiten // 18,90 Euro // www.wagenbach.de

„Ich wollte es verstehen“

Ihr Buch wurde mehr als 30 Jahre nach Ihrer Inhaftierung in Argentinien veröffentlicht. Was war Ihre Motivation darüber zu schreiben?
Meine Motivation hat schon immer existiert, über Jahre hinweg war das beinahe mein Lebensziel. Als ich das Buch beendete, glaubte ich, dass es vom Schicksal vorherbestimmt war, eines Tages dieses Buch zu schreiben. Vorher konnte ich es nicht, denn wenn es das Ziel gewesen wäre, die Tatsachen und Anekdoten darzustellen, dann hätte ich es schreiben können, als ich das Gefängnis verließ. Aber mein Ziel war zu verstehen, was ich erlebt hatte. Und dazu brauchte ich Jahre. Der Titel auf Spanisch heißt Algo se quebró en mí („Etwas ist in mir zerbrochen“, d. Red.). Mehr als einmal sagte ich, dass in der Strafzelle etwas in mir zerbrochen sei. Doch nie konnte ich erklären, was da zerbrochen war. Als ich dann meine Doktorarbeit schrieb, fand ich philosophische und psychologische Konzepte, die mir das ermöglichten. Und das war es, was ich im Buch schreiben wollte. Nicht als eine absolute Erklärung. Vielleicht bemerke ich irgendwann, dass das nicht alles erklärt. Aber im gegebenen Moment schienen mir die Konzepte zu helfen, und seit ich das Buch geschrieben habe, habe ich nie wieder das Bedürfnis gespürt etwas hinzuzufügen.

Im Buch erwähnen Sie oft, es sei die „Suche nach den verlorenen Worten“. Es sei sehr schwierig, das eigentlich Unsagbare auszudrücken. Wie sind Sie schließlich zu dem Punkt gekommen, dass Sie das Buch schreiben konnten?
Wie gesagt, indem ich viel studierte. Auf eine gewisse Weise befindet man sich im Dialog mit diesen Büchern, nicht? Zu sehen, dass es so viele Menschen gab, die das erlebt hatten, was ich erlebt habe, hat mir sehr geholfen. Außerdem habe ich sehr viel nachgedacht und bin in mein tiefstes Inneres vorgedrungen.

Sie sprechen viel von der individuellen Identität und der Macht des Anderen. Es war sehr interessant für mich, über die Beziehungen zu den anderen politischen Gefangenen zu lesen…
Ja, das sind Sachen, die im Buch stehen, und wenn ich darüber spreche, fühle ich mich nicht besonders wohl. Ich habe es aufgeschrieben, ich habe sehr lange gebraucht, um mich dazu zu ermutigen. Der Leser soll es lesen.

Fahren wir fort mit Ihrer Ankunft im Exil in Paris. Was waren für Sie die wichtigsten Stationen in Ihrem Leben? Auch in Bezug auf das Erlebte
Das müsste ich in einem zweiten Buch erzählen [lacht]. Das Einzige, was ich dir sagen kann, ist, dass das Exil sehr hart war. Fast deute ich es im Buch an als eine zweite Etappe der De-Strukturierung einer Person. Als ich das Gefängnis verließ, begann für mich ein Prozess der Re-Strukturierung. Doch gleichzeitig zerstörte ich mich weiter. Weil ich keine Parameter hatte, war ich wirklich allein. Ganz allein. Ich schäme mich, das zu sagen, aber das Exil war sehr hart.

Sie leben weiterhin in der Schweiz. Wie sind Sie in die Schweiz gekommen?
Ich war im Exil in Paris, lebte drei Jahre in Mexiko, kehrte nach Paris zurück und danach ging ich in die Schweiz. Dorthin kam ich, weil meine Mutter die Schweizer Staatsbürgerschaft hatte. Als ich aus dem Gefängnis kam, hatte ich keine Schweizer Staatsbürgerschaft, bekam sie aber 1986 und ging nach Genf, um dort zu arbeiten. Und es gefiel mir. Irgendwie fühlte ich, dass ich meine Wurzeln fand. Es gab viele Dinge, die ich durch meine Erziehung während meiner Kindheit empfangen hatte. Und irgendwie glaube ich, dass die Schweiz mein Zuhause ist. Ich fühle mich geschützt in der Schweiz.

Haben Sie daran gedacht oder versucht, nach Argentinien zurückzugehen?
Ja, aber es hat sich nie konkretisiert. Ich fahre sehr oft zu Besuch dorthin.

Wie erleben Sie die Rezeption Ihres Buchs?
In Genf stelle ich es sehr häufig an Schulen vor, es ist ein Buch, das sich für viele Fächer eignet, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Literatur. Die 18-oder 19-jährigen Schüler schätzen es sehr, dem Autor gegenüber zu sitzen. Einige Professoren für spanische Literatur bearbeiten es sogar ein ganzes Semester lang, was für mich beeindruckend ist. Das hätte ich mir nie vorstellen können [lacht]. Ich glaube, seit das Buch zum ersten Mal, auf Französisch, veröffentlicht wurde, folgten etwa eineinhalb Jahre, in denen ich nicht viel von dem verstand, was ich erlebte. Es kam mir wie eine Lüge vor, dass die Leute meine Geschichte lesen sollten.

Damit zeigen Sie, dass das Thema universal ist.
Ja, mein Ziel war es, etwas hinter meiner eigenen Erfahrung zu durchdringen. Nie schien es mir wichtig, einfach meine Erfahrung zu erzählen. Ich bin nicht die Einzige, die so etwas erlebt hat, sondern es gibt viel dramatischere oder interessantere, wichtigere Biographien.

Hat der Kontakt mit dem Publikum etwas verändert?
Ja! Irgendwie habe ich den Eindruck, dass nicht ich diese Geschichte erlebt habe. Es vorzustellen, hat irgendwie zur Wiederherstellung meiner Identität beigetragen: „Das, was ihr hier habt, habe ich erlebt.“ Ich muss es nicht verstecken und nicht in Frage stellen, ich muss es nur sagen oder nicht. Also sage ich es und da ist es. Du hast studiert und einen Master gemacht und ich war drei Jahre im Gefängnis, „seht her, was mir passiert ist.“ Es hat mir sehr, sehr gut getan. Aber ich habe immer das Gefühl, dass ich es nicht erlebt habe.

Wie sehen Sie heute die Situation in Argentinien in Bezug auf die Erinnerung an die Militärdiktatur?
Ich glaube, dass Argentinien weiter stark in schwarz und weiß aufgeteilt ist. Es existiert keine reale Debatte. Ich kann keine Schattierungen sehen. Ich bin natürlich keine Expertin und lebe nicht dort, aber man kann sich etwas aus den Massenmedien ableiten: Es ist sehr schwierig, einen Raum für offene Diskussionen herzustellen, wo nicht das, was man sagt, vom einen gegen den anderen Sektor ausgenutzt wird. Dennoch glaube ich, dass es eine fundamentale Erinnerungsarbeit, ein Engagement zur Verteidigung der Menschenrechte gibt. Die Gerichtsverfahren – auch wenn sie verspätet kommen – sind sehr wichtig. Auch um eine Verantwortung unter den Menschen herzustellen. Das, was die Militärs gemacht haben, tut man nicht, und es gibt eine Gerechtigkeit und einen Rechtsstaat.

Gladys Ambort // Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts. Vom Ende meiner Jugend in einer Isolationszelle // LAIKA-Verlag // Hamburg 2011 // 19,90 Euro // www. laika-verlag.de

Widersprüchliche Bilanz

René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwicklungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungsmerkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptziele eine umverteilende Politik und den Umbau der Wirtschaft zu einem neuen Modell vor.
Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa, gediehen? Die Förderung und der Export von Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre. Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von diesem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleistungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt zu expandieren, eher in einer leichten Rezession. Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion für den Export oder für Supermarktketten, und benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen.
Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln, weitet die Regierung das alte Akkumulationsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist, in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf industriellen Tagebau als weitere Einkommensquelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsmedien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat eine größere Kontrolle über die Branche ausübe.
Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verantwortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika sprechen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Konzerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln nämlich innerhalb eines hochdynamischen und -spekulativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung für die entstandenen Schäden an der Umwelt und der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jahren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung. Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lange Sicht zweifelhaft.
Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortgeschritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung der Ölförderung auf den Südosten des ecuadorianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt, würde das statt der Umwandlung des extraktiven Akkumulationsmodells seine Intensivierung und flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem entsprechenden Verlust an Biodiversität und an Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung des Extraktivismus wird innerhalb der politisch recht heterogenen Regierung heute tatsächlich nur noch von einer Minderheitenströmung politisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur, die diese von links bis rechts reichenden Strömungen zusammenhalten kann, sagte in einer Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“: „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Akkumulationsmodells die Dinge einfach nur besser, denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden; aber wir haben die Absicht, eine gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef, dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und bezeichnet die Gegner des Extraktivismus als „infantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Steinzeitmenschen”.
Die in der Verfassung verankerten Rechte der Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit denen Ecuador seit Rafael Correa international bekannt geworden war, erfahren eine recht dürftige und höchst widersprüchliche Umsetzung. Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz aufgestockt worden, doch funktioniert das größte Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr konventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_innen Kompensationszahlungen gegen vermiedene Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapitalismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río +20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Yasuní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein REDD+-Projekt (siehe Kasten).
Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilenden Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Konditionen in der Ölförderung, aber auch durch die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten Einnahmen werden in einer Kombination neoliberaler und sozialdemokratischer Instrumente unter die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transferleistungen (der bono de desarrollo humano beträgt beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum anderen werden aber auch klassisch sozialdemokratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozialausgaben mit dem universalistischen Anspruch, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung für alle verfügbar zu machen.
Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Umgang der Regierung mit den teils heftigen Konflikten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadorianische Bevölkerung zuzulassen.
Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty International veröffentlichter Bericht wirft der Regierung Correa die systematische Kriminalisierung des Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert, dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpretierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sabotage” angewendet werden, die während der Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wurden. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurteilungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind abgetaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele dieser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch einschüchternd und verhindern durch den damit verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demokratisches Recht auf Protest wahrnehmen können. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen von der Regierung als undemokratische Destabilisierer und Putschisten diffamiert werden, wie es anlässlich einer großen Demonstration im März 2012 geschehen war (siehe LN 455).
Amnesty International konstatiert weiter: „Der Staat hat das Recht auf Vorabbefragung [der indigenen Gruppen] systematisch missachtet und den Gemeinden wenig andere Auswege als den Protest gelassen”. Analysiert werden vor allem die Verabschiedung des umstrittenen Bergbaugesetzes 2009 und die versuchte Verabschiedung des Wassergesetzes 2010, die beide zu indigenen Aufständen und Demonstrationen, Dutzenden schwer Verletzten und einem Toten führten.
In diesem Zusammenhang hat die indigene Bewegung vor kurzem einen international bedeutsamen Erfolg errungen: Nach zehn Jahren Widerstand verurteilte am 23. Juni der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof den ecuadorianischen Staat wegen einer Reihe von Rechtsverletzungen an der amazonischen Kichwa-Gemeinde Sarayaku. Dort hatte der argentinische Ölkonzern CGC in den 1990er Jahren Probebohrungen durchgeführt. Die entsprechende Lizenz wurde erteilt, ohne dass die Bevölkerung vorher befragt wurde. Der Konzern hatte die Bewohner_innen schikaniert und vertrieben, und schließlich bei seinem Rückzug erhebliche Mengen von Sprengstoff im Boden hinterlassen. Der ecuadorianische Staat wurde nun zu Reparationszahlungen und zur Entfernung des Sprengstoffs verurteilt.
Für die Zukunft wichtig ist, dass das Urteil die Verpflichtung zur Vorabbefragung indigener Völker betont und Ecuador auffordert, entsprechend gesetzgeberisch aktiv zu werden, was ihm eine Relevanz weit über Ecuador hinaus verleiht. Der Justiziar von Rafael Correa, Alexis Mera, verlautbarte nach dem Urteil, der ecuadorianische Staat werde die Entschädigung zwar zahlen, sich das Geld jedoch von Expräsident Lucio Gutiérrez zurückholen. Die Regelung der künftigen Durchführung von Vorab-Befragungen liegt seit vielen Monaten beim ecuadorianischen Parlament.

Kasten:

Visionäre Idee mit holpriger Umsetzung

Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Nationalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. International hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst wenige Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt stattdessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf geplante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden.
// Tobias Lambert

Kupferland in privater Hand

„Chile wird Kraft eines souveränen Aktes das Kupfer verstaatlichen. Ein souveräner Akt, der in den Resolutionen der Vereinten Nationen verankert ist, die festgelegt haben, dass Staaten das Recht haben, ihre grundlegenden Reichtümer zu verstaatlichen“. Das waren die Worte des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. Juli 1971, als der chilenische Kongress das Gesetz 17.450 beschloss, das die Verstaatlichung des gesamten, auf chilenischem Territorium vorhandenen Kupfers ermöglichte.
Das rötliche Metall ist schon seit dem Ende der Salpeterexporte in den frühen 1930er Jahre das wichtigste Exportgut des Landes und dessen Förderung einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Chiles. Doch gleichzeitig ging die Kupferproduktion seit jeher mit Konflikten zwischen dem chilenischen Staat und den privaten Kupferproduzent_innen einher. Denn das Kupfer wurde nach Aussagen der chilenischen Nationalbibliothek von Anfang des 20. Jahrhunderts an hauptsächlich von US-amerikanischen Firmen gefördert und exportiert. Das führte dazu, dass Anfang der 1970er Jahre 70 Prozent des chilenischen Aktienkapitals von US-amerikanischen Großkonzernen gehalten wurden. Gleichzeitig wurde im Zeitraum zwischen 1922 und 1970 bei Investitionen im Wert von 3,5 Millionen US-Dollar ein Reingewinn von 4,5 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. Diese immensen Einnahmen führten im Laufe der 1960er Jahre zu einer immer stärker werdenden Kritik an der Gewinnverteilung im Kupferbusiness.
Den ersten Schritt hin zu einer Verstaatlichung des chilenische Kupfers machte allerdings nicht der 1970 ins Amt gewählte Salvador Allende, sondern dessen Vorgänger Eduardo Frei Montalva von der Christdemokratischen Partei Chiles. Schon 1964 begann seine Regierung mit der sogenannten „Chilenisierung des Kupfers“. Diese Wirtschaftpolitik sah vor, dass der chilenische Staat über die Verbindung mit ausländischen Kupferproduzent_innen und Investitionen die Kupferproduktion vergrößern sollte, was auch gelang.
Die Erfolge dieser Maßnahme sowie die hohen Gewinne der Kupfer fördernden Unternehmen schufen genug gesellschaftlichen Rückhalt dafür, dass die Regierung Allende das Gesetz 17.450 verabschieden konnte. Doch diese und andere Reformen, die unter der Zielvorgabe, einen Sozialismus auf demokratischem Weg zu erreichen, getätigt wurden, führten neben hausgemachten wirtschaftlichen Problemen im Kontext des Kalten Krieges zu einer starken Einflussnahme der USA auf Chile. Ziel dieser Interventionen war eine Destabilisierung der Regierung. Der damalige US-Außenminister und heutige Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger sagte dazu: „Ich sehe nicht ein, dass wir zulassen sollten, dass ein Land marxistisch wird, nur weil die Bevölkerung unzurechnungsfähig ist.“ Neben einem Wirtschaftsembargo war eine der Maßnahmen eine „Unsichtbare Blockade“, die vor allem darin bestand, in Chile benötigte Ersatzteile für in den USA produzierte Autos, Busse oder eben Maschinen für den Kupferbergbau nicht mehr nach Chile zu exportieren.
Nach drei Jahren offizieller und auch verdeckter Operationen gegen die Regierung Allende putschte am 11. September 1973 das chilenische Militär unter Führung von General Augusto Pinochet gegen die gewählte Regierung. Salvador Allende kam bei der Bombardierung des Regierungspalasts um Leben, wobei um die genauen Todesumstände noch immer heftige Diskussionen geführt werden. Nach dem Putsch wurden mehr als 3.000 Menschen ermordet oder verschwanden, zehntausende wurden interniert und gefoltert und unterschiedlichen Schätzungen zu Folge gingen zwischen 200.000 und 500.000 Chilen_innen ins Exil.
Der Kupferbergbau ging indes seinen gewohnten Gang, die von der Regierung Allende vorgenommenen Verstaatlichungen blieben unangetastet, vor allem um das chilenische Militärbudget zu finanzieren. Bis heute sind zehn Prozent des Bruttokupferverkaufwerts der staatlichen Kupfergesellschaft CODELCO fest für das chilenische Militär vorgesehen. Dies erklärt, warum entgegen der sonst stramm neoliberalen Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur 1990 noch 85 Prozent des in Chile geförderten Kupfers vom Staatsunternehmen CODELCO gefördert wurden.
Was in den Jahren der Herrschaft von Diktator Pinochet nicht geschah, schafften dann die verschiedenen Regierungen des sozialdemokratischen Parteienbündnisses Concertación. Der Anteil des Kupfers, das von privat betriebenen Unternehmen gefördert wurde, stieg bis 2007 auf 72 Prozent, gleichzeitig verdreifachte sich die Menge des in Chile geförderten Kupfers von etwa 1,59 Millionen Tonnen im Jahr 1990 auf 5,56 Millionen Tonnen im Jahr 2007. Chile ist damit der Staat, in dem weltweit mit Abstand am meisten Kupfer gefördert wird und in dem auch ein Drittel der weltweiten Kupferreserven liegen, was Chile zu dem Kupferland schlechthin macht.
Und das Geschäft mit dem Kupfer scheint langfristig immer profitabler zu werden. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich der Preis für das Halb-edelmetall im Schnitt mehr als verdreifacht. Dem Vorstandsvorsitzenden des staatlichen Kupferkonzerns Diego Hernández zufolge ist der Hauptgrund dafür das rohstoffhungrige China, das 38 Prozent des jährlich produzierten Kupfers verbraucht. Und die chinesische Wirtschaft scheint trotz der Akkumulationskrise, die in den Staaten des Nordens um sich greift, deutlich weiter zu wachsen. Rosige Aussichten also für die Kupferproduzent_innen. Die Gewinne aus Steuern der privatwirtschaftlichen Unternehmen in Chile werden sich nach der Zeitung el ciudadano allein im Jahr 2011 auf 34,6 Milliarden US-Dollar belaufen – dies entspräche 79 Prozent des gesamten chilenischen Staatshaushaltes. Angesichts dieser Zahlen ist es verlockend, die Verstaatlichung der Kupferförderung zu fordern, ließe sich doch mit diesem Geld viel bewegen.
Mittlerweile gewinnt der Ruf nach einer Wiederverstaatlichung immer breitere Unterstützung. Unter anderem ist dies eine der Forderungen, die die chilenische Studierendenbewegung gestellt hat. „Die Bewegung hat nicht nur gefordert, dass einem marktwirtschaftlichen Verständnis von Bildung ein Ende bereitet werden muss, sondern sie spricht auch von einer Steuerreform und von der Wiederverstaatlichung des Kupfers“, so die ehemalige Sprecherin des Studierendenverbandes Confech Camila Vallejo im Interview mit den Lateinamerika Nachrichten (LN 453). Schon jetzt erwirtschaftet CODELCO einen enormen Anteil der Staatseinnahmen – 2008 waren es gut 25 Prozent.
Doch eine weitere Verstaatlichung ist komplizierter, als es sich viele Chilen_innen wünschen. Es scheint schon schwierig, geltendes Recht für die Privatunternehmen durchzusetzen und beispielsweise Steuerbetrug entgegenzuwirken. Hinzu kommt, dass es durch die engen Verquickungen von Personal aus privaten Unternehmen mit Codelco am Ende oft zu Nachteilen für das Staatsunternehmen kommt (siehe LN 451).
So steigen laut Recherchen der Zeitung el ciudadano die Kosten, die von den Minengesellschaften deklariert werden, erstaunlicherweise immer entsprechend der Entwicklung der Weltmarktpreise für Kupfer. Dementsprechend niedrig ist das Steueraufkommen der privaten Minenunternehmen, vor allem im Vergleich zu den Abgaben, die Codelco an den Fiskus abführt.
An sich wäre es aber ein leichtes Unterfangen, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Denn genauso wenig, wie die 1971 verstaatlichten Unternehmen während der Pinochet-Diktatur reprivatisiert wurden, wurde das von der Regierung Allende verabschiedete Gesetz 17.450 trotz neuer Verfassung 1980 abgeschafft. De jure sind alle Bodenschätze auf chilenischem Territorium Eigentum des chilenischen Staates und können „zur Gelegenheit, die der Präsident der Republik bestimmt“ verstaatlicht werden, ohne dass die Notwendigkeit bestünde ein neues Gesetz zu verabschieden.
Von einer Regierung der Concertación, geschweige von einer Regierung der chilenischen Rechten, wie sie im Moment an der Macht ist, ist dieser Schritt aber nicht zu erwarten. Zu fest ist in beiden Parteienbündnissen die neoliberale Ideologie verankert. Basisorganisationen hingegen machen sich die Forderung nach einer „Rückgewinnung des Kupfers“, wie sich eine der vielen Nichtregierungsorganisationen nennt, die zum Kupfer arbeiten, zu eigen. Am 11. Juli 2012, just 41 Jahre nachdem der chilenische Kongress das Gesetz 17.450 verabschiedete, lancierte die Gewerkschaft der Leiharbeiter_innen im Kupferbergbau SITECO eine Kampagne mit dem Namen „Das Kupfer ist chilenisch“. Im neoliberalen Chile ist das aber eher ein frommer Wunsch, denn Realität.

Zeitschrift der Widerspenstigen

Der Hip-Hop-Laden ToxikA in der dritten Avenida auf der Höhe der 12. Straße offeriert im Vorderraum von Spraycans über Sticker, Poster und original-verzierten T-Shirts und Mützen alles, was das Herz des Graffiti-Fans begehrt. Dahinter wohnt Kunti, die den Laden vor ein paar Jahren eröffnet hat in einem mittelgroßen Zimmer. Eine Matratze, ein Sofa, ein Computer, aus dem Hiphop tönt, und eine Ecke, die als Lager für den Laden fungiert, das ist das Reich der Fünfundzwanzigjährigen, die als eine der Pionierinnen der weiblichen Streetartszene Guatemalas gilt.
„Ich habe angefangen zu taggen, meine Kunst war damals also noch sehr einfach, aber ich war von Anfang an auf der Straße, also im nicht legalen Ambiente, und das hat mir damals schon Respekt verschafft“, sagt Kunti, deren Künstlername Tuti ist. Seither hat der Austausch mit nationalen und internationalen Künstler_innen ihr Leben und ihre Kunst bereichert. Chuck aus Nicaragua war hier, Blu aus Italien, Stingfish aus Kolumbien, die Crew des Illegal Squat aus Mexiko-Stadt, und Grafiteras wie Aisha aus Kanada oder Rank aus Acapulco. Ich habe viel von diesem Austausch gelernt, meinen Tag geändert, zu sprayen begonnen, bin thematisch und stilistisch komplexer geworden.“
Guatemalas Grafiteros und Grafiteras schöpfen aus einer reichen Vielfalt von Themen und Kulturen, die zumindest in Zentralamerika ihresgleichen sucht. Die jüngere Geschichte Guatemalas, die 35-jährige Militärdiktatur werde nach wie vor von politisch Aktiven thematisiert, zum Beispiel durch die „Hijos“, eine Organisation der Kinder von Diktaturopfern, die regelmäßig mittels Parolen und Murales im öffentlichen Raum fordern, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und so die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der guatemaltekischen Geschichte wachhalten. Da gibt es die christliche „En Diós Confiamos“-Crew, die Tauben, Kreuze und Bibelsprüche an Vorstadtwänden anbringt. Da sind neuerdings auch die Jugendlichen unter dem Regenbogen, die der stetig wachsenden schwulen Bewegung mittels farbenfrohen Stencils Ausdruck verleihen. Und 180 Grad davon weg sind die Maras, die gefürchteten Jugendbanden Zentralamerikas, die mittels Graffitis ihre Territorien abstecken.
Gerade die Maras haben den ersten Grafiteros das Leben am Anfang schwer gemacht. Nicht sie selbst, sondern ihr Ruf und die Polizei, die noch vor wenigen Jahren in jedem sprayenden und taggenden Jugendlichen einen Staatsfeind sah. SOFT hat diese Erfahrung zu Beginn seiner Karriere vor acht Jahren zur Genüge gemacht. Die Zone Sechs, wo SOFT aufwuchs, gilt zwar nicht als Hotspot der Kriminalität, wie die Limonada in der Zone Fünf oder die Barrios weiter draußen. Aber die „Bullen“ hätten überall Jagd auf Jugendliche gemacht, die nicht so aussahen oder sich so benehmen wollten, wie es sich angeblich gehört. Nachts sprayen war nach den ersten heftigen Erfahrungen mit der Polizei, mit gezückten Waffen, derben Sprüchen und körperlichen Übergriffen nicht mehr das Wahre. „Bei Nacht hat man uns für Mara gehalten, am Tag für Anstreicher, das war dann doch entspannter“, grinst SOFT.
SOFT kommt im Gegensatz zu vielen Grafiteros nicht aus der Mittelschicht, sondern aus dem Barrio. Er arbeitet auf einem Parkplatz, in der Zone 1, das Büro ist gleichzeitig Treffpunkt der Crew. Der dunkle Nebenraum ist komplett bemalt und besprayt, eine Mischung aus Lagerraum für Graffitiutensilien, Atelier und Pennplatz. „Ich mag es, in der Nähe zu malen, wo ich wohne, damit ich meine Werke täglich sehen kann! Ich will den Leuten zeigen, dass das Leben vielfältig ist und dass man sich nur umschauen muss, um interessante Sachen zu sehen, zum Beispiel ein Graffiti, zum Beispiel Gesichter.“ Ein Werk, nur einen Steinwurf vom Parkplatz entfernt, drückt das aus: „Menschen haben mehrere Gesichter. Einige haben zwei Gesichter, wie ein großes Monster. Andere ändern ihren Ausdruck nach Stimmungslage und Uhrzeit. Ich zeige die Stadt mit ihren Gesichtern, die sonnendurchfluteten Straßen, die Berge, die die Stadt umgeben. Die Stadt inspiriert mich, sie erzeugt in mir Bilder und diese Bilder versuche ich, auf die Wände zu bringen.“
Eine Strategie, beim Stadtverschönern die Polizei in Schach zu Halten, sei das gezielte Mitnehmen von Frauen, berichtet Kunti, die sich darüber auch ihren Platz in den einstigen Männerclubs gesichert hätten. Vor allem nachts sind die Streifen meist nur mit Männern besetzt und die dürfen Frauen nicht durchsuchen. Kommt die Polizei, schnallen sich die Frauen im Team die Ausrüstung um. Überhaupt müsse man wissen, was die Polizei darf und was nicht. „Festnehmen dürfen sie dich schon mal gar nicht, Sprayen und Taggen ist eine Ordnungswidrigkeit und allenfalls eine Sachbeschädigung“, erklärt Kunti. Dennoch kann es unangenehm sein, von der Polizei zur Aufnahme von Personalien mitgenommen zu werden und war es auch für ARIS, als sie zum ersten Mal mit auf die Wache musste: „Ich wusste damals nicht, wie das abgeht und die Leute hier haben ja traditionell Angst, vom Staat mitgenommen zu werden. Mir war da auch ganz schön mulmig. Aber im Endeffekt passiert nichts, du kriegst nicht mal ne Anzeige, weil das der Polizei viel zu viel Arbeit ist!“
ARIS sprayt und malt, was sie persönlich bewegt. Meistens sind das Köpfe von Personen, die oder deren Tun ihr viel bedeuten. „Nicht alle wissen, wen ich da gerade darstelle, aber diejenigen, die es wissen, erkennen auch, warum“, sagt die 20jährige, die ein bisschen die nächste Generation von Frauen in der Szene repräsentiert. Eine der Persönlichkeiten, die sich dank ARIS oft auf Häuserwänden des Zentrums wiederfinden, ist die uruguayisch-argentinische Sängerin Alika, ursprünglich Teil des Hiphop-Duos Actitud María Marta. Was als recht einseitige Idol-Fan-Beziehung begann, ist heute eine Freundschaft, seit Alika auf Tour in Guatemala auf ihr Konterfei gestoßen ist. Heute hängt handsigniertes Alika-Material in ARIS‘ winzigem Zimmer im hinteren Bereich des Hiphopladens, während ARIS‘ Original-Stencil mittlerweile in Argentinien ist. ARIS ist sichtbar stolz, dass ihr Werk, ihr Ansatz, bekannte und unbekannte starke Frauen in die guatemaltekische Öffentlichkeit zu tragen, im Stande ist, etwas zu bewegen.
Kunti dagegen malt keine Idole. Politisch sei ihr Werk aber dennoch. Wann immer Frauenevents in Guatemala stattfinden, ist Kunti dabei und sprayt mit anderen Frauen zum gegebenen Anlass: „Wir kommen ja aus einer Kultur des Machismus und das wird bis heute auch in unserer Szene reproduziert“, meinen Kunti und ARIS. „Wir müssen uns auch heute noch oft unseren Platz erkämpfen, wenn eine Crew zum Sprayen losziehen will. Wir seien zu langsam, oder zu schwach, wenn die Bullen kommen.“ Die Ideologie, dass Frauen es nicht können, die gebe es immer noch. Als Antwort darauf gründeten Grafiteras ihre eigenen Crews, temporär zumeist auf Festivals, wie beim ersten „hiphop feminino“ 2011 in Guatemala-Stadt, für das die Stadtverwaltung sogar eine lange Mauer am Rande der Zone Eins zur Verfügung stellte. Das überrascht in einer bis heute sehr autoritären Gesellschaft, wo Mann es gewohnt ist „widerspenstige“ oder „auffällige“ Menschen, vor allem Jugendliche und Frauen, zu verfolgen, statt zu fördern.
Wieder fällt der Blick zurück auf die gewalttätige Geschichte Guatemalas. Kunti und SOFT sind noch in der Diktatur geboren, ihre Eltern haben die Schrecknisse hautnah miterlebt. Jährlich über 5.000 Mordopfer und die Antwort des Staates
auf soziale Proteste zeigen, dass die Vergangenheit noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft. Die politische Graffiti-Szene nimmt das auf, nutzt Bilder aus der Diktaturzeit für aktuellen Protest. Das Auge, das Ohr und das Schwein zum Beispiel: „Das ‚Auge‘ sah etwas, das ‚Ohr‘ hörte etwas und das wurde dann den Spitzeln der Militärpolizei weitergetragen, den ‚Schweinen‘, wie sie hier hießen. Genau diese drei Elemente finden sich in politischen Graffities wieder, zum Beispiel während brutaler Polizeieinsätze während der Proteste gegen das Freihandelsabkommen im Jahr 2005.
Das Ereignis hat Kunti zusätzlich politisiert und drei Jahre später erlebte die damals 21jährige auf dem Amerikanischen Sozialforum ihre vielleicht schönste Erfahrung. Das Forum, 2008 an der staatlichen Universität San Carlos (USAC) durchgeführt, brachte soziale Bewegungen und Künstler_innen aus ganz Amerika zusammen. Die USAC als intellektuelles Zentrum Guatemalas war dazu während der Diktatur ein Zentrum des Widerstandes: „Hier mit meiner Kunst präsent zu sein, neben Murales von so bedeutenden Künstlern und Diktaturgegnern wie Ramírez Amaya, das ist einfach großartig!“
Die Stadt mag zwar seit kurzem öffentlich Räume zur Verschönerung freigeben, unautorisiertes Sprayen wird aber nach wie vor verteufelt, vor allem von den Medien, die wie auch andernorts von Verschandelung sprechen und die Politik vor sich her treiben. Kuntis Antwort darauf fällt klar aus: „Natürlich ist die illegalisierte Kunst weniger ausgefeilt, als genehmigte Events. Soll die Stadt doch einfach mehr Räume zur Verfügung stellen. Aber die klopfen sich selbst auf die Schultern, wenn wir Grafiteros auf deren Events sprayen und verteufeln dieselben Leute, wenn wir illegal unterwegs sind.“ SOFT sieht das anders, er will keine genehmigten Flächen. Für den Mittzwanziger und mittlerweile alten Hasen der Streetartszene ist die Essenz des Graffitis das Pfeifen auf eine Autorisierung. „Wer autorisiert, bestimmt die Regeln, damit geht das verloren, was mir am Wichtigsten ist. Es ist meine Stadt, sie gehört nicht nur denen, die Besitz oder Macht haben!“
Auch wenn nicht alle Künstler_innen eine politische Botschaft hätten, meint ARIS, so „macht dich die Tatsache, dass dein Werk im öffentlich Raum steht, zu einem Kommunizierer.“ Gerade Kinder und Jugendliche nähmen Graffities mit großem Interesse wahr, wiesen Eltern und Freunde darauf hin, machten Handyfotos von Werken, tauschten diese über das Internet aus und multiplizierten so die Botschaften. Und so sehen ARIS und SOFT Graffitis nicht nur als Ausdruck einer neuen Jugendkultur, sondern in guter guatemaltekischer Tradition: „Die Wände zu bemalen war ja immer schon die Zeitschrift des Volkes, der Ausgeschlossenen und der Widerständigen.“ Und Kunti meint: „Wir haben uns als Grafiteros in den letzten Jahren Räume eröffnet und ich glaube, wir haben einen kleinen Anteil daran, dass unsere Gesellschaft langsam offener wird.“

Bei dem Text handelt es sich um einen gekürzten Vorabdruck aus dem Buch zur Ausstellung:
Goethe-Institut Mexiko // de mi barrio a tu barrio // Gudberg Verlag // Hamburg 2012 // 19,90 Euro, zur Ausstellungseröffnung ermäßigt 15 Euro // 240 Seiten

Kasten:

de mi barrio a tu barrio
Mit der Street-Art-Tournee knüpft das Goethe-Institut Mexiko als Veranstalter an den weltbekannten Muralismo und viele andere Spielarten der Wandgestaltung im öffentlichen Raum an.
Vom 27. Juli bis 18. August wird Jim Avignon das Projekt zusammen mit Holger Beier in der Berliner neurotitan Galerie als multimediale Ausstellung präsentieren. Fotos und Video-Arbeiten sowie Originale beteiligter Künstler_innen werden von den künstlerischen, politischen und zwischenmenschlichen Facetten der Tour, sowie von einer eindrucksvollen Reise erzählen.
Präsentiert wird außerdem das Buch zur Tournee, das die bereisten Orte sowie die beteiligten Künstler_innen und deren Arbeiten vorstellt. Begleitend wird das Central-Kino eine Filmreihe mit Beiträgen aus Zentralamerika und der Karibik zeigen. Und wie es die Tradition will, wird es eine rauschende Eröffnungsparty geben.

Ort : neurotitan shop & gallery im Haus Schwarzenberg, Rosenthalerstraße 39, 10178 Berlin
Weitere Infos : http://www.neurotitan.de/Galerie/Archiv/2012/120727_demibairro.html

Späte Gerechtigkeit?

Am Mittwoch, dem 23. Mai, demonstrieren vor dem Obersten Gerichtshof Guatemalas rund 300 Angehörige der indigenen Bevölkerungsmehrheit des kleinen, zentralamerikanischen Landes. Sie fordern Gerechtigkeit für die Gräueltaten, die während der Militärdiktatur von Soldaten und Milizen an Maya-Gemeinden begangen wurden. Auch Juana Sánchez Tom aus der kleinen Gemeinde San Juan Cotzál in der Hochlandprovinz Quiché ist heute hier. Sie schildert den Angriff des Militärs auf ihr Dorf vor fast genau dreißig Jahren: „Am 19. April 1982 sind Soldaten in unser Dorf eingefallen. Sie haben mich in die Kirche verschleppt und mich und viele Frauen mehr dort vergewaltigt.“ Viele Dorfbewohner_innen, Familienangehörige wie Nachbar_innen, seien an diesem Tag massakriert oder verschleppt worden. Die Soldaten hätten die gesamte Ernte und viele Häuser niedergebrannt. Juana muss auch nach dreißig Jahren noch mit den Tränen ringen: „Warum haben sie das getan? Wir hatten keine Waffen, wir waren arm, wie hatten gar nichts. Wir sind doch nur einfache Bauern.“
Anfang der 1980er Jahre überzogen die Militärs das Land mit einer Politik der verbrannten Erde. Die Armee löschte ganze Maya-Dörfer im Hochland Guatemalas aus, weil sie die Indigenen verdächtigten, die Guerilla zu unterstützen. Anhand von Juana Sánchez‘ Dorf San Juan Cotzál, zwei Nachbargemeinden im sogenannten Ixil-Dreieck im Departamento Quiché, sowie an einem weiteren Massaker in der Gemeinde Dos Erres, im nördlichen Departamento Petén, versucht die Staatsanwaltschaft, dem ehemaligen Staatschef Ríos Montt den Tatbestand des Völkermordes nachzuweisen.
Bereits Ende Januar hatte die Richterin Carol Patricia Flores die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen der Massaker in Quiché angeordnet und den Ex-General unter Hausarrest gestellt. Auch für das Massaker in Dos Erres sieht sich Ríos Montt nun mit einer Strafverfolgung konfrontiert, eine Untersuchungshaft bleibt ihm aber gegen Zahlung von weiteren 50.000 Euro Kaution erspart.
Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum CALDH, das die Hinterbliebenen als Nebenkläger vertritt, fasst die Begründung der Anklage zusammen. Ríos Montt habe als Präsident der Republik und oberster Armeechef die Verantwortung für die sogenannte „Aufstandsbekämpfungspolitik“ gehabt. Dokumente und Aussagen von ehemaligen Offizieren belegen, dass Ríos Montt über die Truppenbewegungen informiert war und die blutigen Offensiven „Victoria `82“ und „Firmeza `83“ mitentworfen habe. Ríos Montt sei somit einer der Erfinder dieser Politik, in deren Folge all jene Massaker begangen wurden.
Die juristische Aufbereitung des guatemaltekischen Völkermordes hat erst in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. 2011 sind mit den Generälen López Fuentes und Rodríguez Sánchez zwei hochrangige Vertreter der damaligen Militärjunta verhaftet worden und müssen sich vor Gericht verantworten, mit General Mendoza Garcia ist ein weiterer flüchtig. Fünf Angehörige der Streitkräfte und der Sondereinheit Kaibiles, die für das Massaker in Dos Erres verantwortlich waren, sind in der Vergangenheit zu je 6.000 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Diese astronomische Höhe der Strafe ist symbolisch, da das guatemaltekische Recht verbietet, einen Menschen für länger als 50 Jahre hinter Gitter zu setzen. Efraín Ríos Montt genoss dagegen als Abgeordneter und sogar Kongresspräsident über ein Jahrzehnt lang Immunität. Erst jetzt, nach dem Ende seiner politischen Laufbahn, ist eine Verfolgung des ehemaligen Regierungschefs möglich.
Doch bis zu rechtskräftigen Verurteilungen ist es noch ein weiter Weg. Die Verteidigung der Generäle Ríos Montt, López Fuentes und Rodríguez Sánchez sorgt mit Verfassungsbeschwerden und Befangenheitsanträge immer wieder für Verzögerungen des Prozessauftakts. Nur zwei Richter_innen befassen sich in Guatemala überhaupt mit Anklagen dieser Schwere. Die erste Richterin konnten die Verteidiger_innen bereits ausbooten, der aktuelle Richter, Miguel Ángel Gálvez, ist ebenfalls schon in das Visier der Verteidigung geraten. Bis zur Bestellung eines neuen Richters wäre der Prozessbeginn für unbestimmte Zeit vertagt worden. Doch der Befangenheitsantrag der Verteidigung wurde zurückgewiesen.
Bereits im Januar hatten Menschenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen die Verfahrenseröffnung gegen Ríos Montt gefeiert. Nery Rodenas, Direktor des erzbischöflichen Büros für Menschenrechte Guatemalas, lobte damals Richterin Flores für ihre „mutige Entscheidung“, die nun die Möglichkeit eröffne, Befehlsketten und Verantwortlichkeiten für die Verbrechen der Diktatur zu klären. Dies zeige, dass niemand über dem Gesetz stehe. Der Strafrechtler Oswaldo Samayoa vom Institut für Vergleichende Studien in der Kriminalwissenschaft (ICCPG) kritisierte hingegen die Entscheidung der Richterin, Ríos Montt nur unter Hausarrest zu stellen. Für eine Anklage dieser Schwere sehe das guatemaltekische Strafrecht ausschließlich Untersuchungshaft vor, zumal bei Ríos Montt Fluchtgefahr bestehe und er seine politischen Kontakte zur Strafvereitelung nutzen könnte.
Beobachter_innen gehen davon aus, dass die Verteidigung für den nun wahrscheinlichen Fall, dass es zu einem Prozess kommt, versuchen wird, dem Genozidvorwurf zu entgegnen, dass es gar keinen Völkermord in Guatemala gegeben habe. Ríos Montts Anwält_innen räumen zwar ein, dass es während der Militärdiktatur Massaker an Zivilist_innen gegeben hätte, argumentieren aber, dass Anzahl und Schwere dieser Verbrechen in der „Regierungszeit“ ihres Mandanten abgenommen hätten. Zudem wäre die militärisch-politische Linie, in deren Folge die Massaker in Guatemala begangen wurden, bereits im Jahr 1965 ins Leben gerufen worden. Deshalb sei es unzulässig, den Mandanten als Verantwortlichen dieser Doktrin zur Rechenschaft zu ziehen. Auch Ríos Montt selbst versucht seine 16-monatige, blutige Herrschaft in ein für ihn günstigeres Licht zu rücken. Sein Putsch gegen den damaligen Junta-Chef Fernando Romeo Lucas García sei unter anderem mit dem Ziel erfolgt, die Schreckensherrschaft abzumildern und eine Art „Nationbuilding“ in Guatemala zu initiieren – Ríos Montt als erster Friedensgeneral, diese Theorie müssen Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen als Verhöhnung empfinden.
Auch die Untersuchungsberichte über den bewaffneten Konflikt in Guatemala sprechen hinsichtlich Ríos Montt eine deutliche Sprache: Der Abschlussbericht der UNO-Kommission für geschichtliche Aufklärung (CEH) aus dem Jahr 1999 weist rund die Hälfte aller Menschenrechtsverbrechen der 36-jährigen Militärdiktatur der Regierungszeit Ríos Montt zu. Gemäß des UNO-Berichtes ist der guatemaltekische Staat durch Armee und Paramilitärs für über 80 Prozent aller während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich.
Dennoch ist die Strategie der Verteidigung, im Prozessfall den Völkermordvorwurf an sich auszuhebeln, nicht ohne mächtige Fürsprecher_innen. Guatemalas neuer Präsident, Otto Pérez Molina, erneuerte seine Behauptung, in Guatemala habe es keinen Völkermord gegeben, sondern (nur) einen bewaffneten internen Konflikt. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública erklärte Pérez Molina im vergangenen Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerilla-Armee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben.
Diese Einschätzungen stammen noch aus der Zeit des Wahlkampfes. Wie sich der Präsident Otto Pérez Molina im Prozessfalle verhalten wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Immerhin hatte der Staatschef angekündigt, die unter seinem Vorgänger Alvaro Colom eingesetzte und sehr engagierte Oberstaatsanwältin Claudia Paz y Paz im Amt zu belassen. Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum erwartet vom Präsidenten Neutralität, wie es die guatemaltekischen Verfassung gebiete: „Der Fall Ríos Montt ist wie jeder andere Strafrechtsfall Sache der Gerichte und wir erwarten, dass der Präsident die Gewaltenteilung und die Justiz in Guatemala respektiert.
Die internationale Gemeinschaft spielt in den Bemühungen, Ríos Montt den Prozess zu machen, ebenfalls eine Rolle. Auch wenn die UNO-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) keinen Einfluss auf die Ermittlungen und den Prozess hat, so trage die von der Kommission betriebene Stärkung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft und Justiz doch Früchte. Die Schaffung der Position von Sonderrichter_innen, die sich speziell mit Verfahren dieser Schwere beschäftigen, gehe beispielsweise auf die CICIG zurück. Für Ríos Montts Verteidigung hingegen würden vor allem „die internationalen Gemeinschaft und jene, die von der Armut Guatemalas leben würden, ihn (Ríos Montt, Anm. d. Autors) im Gefängnis sehen“ wollen.
Ein Schuldspruch wäre laut Francisco Soto ein wichtiges Signal. Zum einen würde den Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren. Zum anderen bedeute eine Verurteilung eine deutliche Stärkung der guatemaltekischen Justiz und einen wichtigen Erfolg gegen die notorische Straflosigkeit in Guatemala. Nur wenn die Justiz in der Lage sei, solche Verbrechen zu verfolgen, könne es eine Garantie geben, dass sich Derartiges niemals wiederhole. Ein Schuldspruch wäre darüber hinaus eine Warnung an die junge Generation von Offizieren, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, sollten sie jemals solche Verbrechen begehen. Und nicht zuletzt würde ein Prozess gegen Efraín Ríos Montt eine Botschaft an alle Guatemaltek_innen in hohen Positionen sein, dass sie nicht mehr damit rechnen können, bei von ihnen begangenen oder in Auftrag gegebenen Delikten und Verbrechen in Zukunft straffrei zu bleiben.

Schlusslicht Brasilien

Seit über 30 Jahren schreibt er Gedichte und veröffentlicht Bücher, darunter einen Lyrikband und zwei Humoresken. So begeht er in Belém, im amazonischen Bundesstaat Pará, seinen Ruhestand, beschäftigt sich mit Schöngeistigem und wartet laut eigenem Bekunden darauf, Gott seine Seele zu übergeben. Ein geruhsames Ausklingen eines langen Lebens sollte es werden – doch die Ruhe wurde gestört: Am 26. März dieses Jahres tauchten 80 überwiegend junge Leute vor seinem Haus auf und hielten Transparente hoch, die den ‚Dichter‘ Adriano Bessa Ferreira öffentlich als Denunziant im Dienste der Militärdiktatur outeten.
Wie ihm geschah es in den symbolträchtigen Iden des diesjährigen März in ganz Brasilien weiteren Gehilfen, Folterern und Mördern der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985). Hunderte von Jugendlichen organisierten nach argentinischem Vorbild einen sogenannten escracho: Ehemalige Folterer und Mörder der Militärdiktatur werden in ihren Wohnhäusern oder Büros aufgesucht und ihre Verbrechen öffentlich gemacht. Von Porto Alegre bis Belém, von São Paulo bis Belo Horizonte protestierten Jugendliche gegen die juristisch verbriefte Straflosigkeit der Mörder aus den anos de chumbos, der „bleiernen Zeit“. In Brasilien wurde bislang noch kein ehemaliges Mitglied des Militärs, des Geheimdienstes oder der Polizei wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur strafrechtlich verurteilt – dank des Amnestiegesetzes von 1979.
Weder die Regierung Lula (2003 bis 2010) noch die seit Anfang 2011 amtierende Präsidentin Dilma Rousseff haben bislang daran etwas geändert. Dabei waren die Erwartungen an Rousseff in dieser Frage groß: War Rousseff während der Militärdiktatur doch selbst politische Gefangene, insgesamt zwei Jahre lang inhaftiert und überdies 22 Tage lang gefoltert worden.

Doch was die Vergangenheitsbewältigung betrifft, ist Brasilien nach wie vor das Schlusslicht Lateinamerikas. Erst im September 2011 passierte das Gesetz zur Einrichtung einer Wahrheitskommission nach langen Verhandlungen den Kongress – 28 Jahre nach der Einberufung der Wahrheitskommission in Argentinien und 21 Jahre nach der in Chile. Im November wurde das Gesetz von der Präsidentin in Kraft gesetzt – seither passierte aber nichts. Nicht einmal die Mitglieder der Kommission hat Rousseff bislang benannt. Sollte sich das „Einknicken“ einer PT-Regierung vor den Militärs wiederholen? Denn bereits 2009 wollte Präsident Lula das Dritte Nationale Menschenrechtsprogramms PNDH-3 unterzeichnen, dessen Kernstück damals die Wahrheitskommission bildete. Die simple Rücktrittsdrohung des damaligen Verteidigungsministers Nelson Jobim und der Militärführer der drei Teilstreitkräfte reichten damals aus, um die Kommission vorerst zu verhindern.
Doch im März – zum 48. Jahrestag des Militärputsches von 1964 am 31. März – öffneten sich die Gräben zwischen Regierung und Militär wieder. Präsidentin Rousseff verbot jegliche Festakte an dem Tag durch die Militärs, worauf diese die Feiern aber schlichtweg auf den 29. März vorverlegten.

Auch in Chile waren bis zur Verhaftung Pinochets 1998 in London noch alljährliche öffentliche „Putsch-Gedenkfeiern“ möglich. „Die Erinnerung trägt dazu bei, das Erlebte und seine traumatischen Folgen zu überwinden und Perspektiven für die Zukunft aufzubauen“, so hoffnungsvoll schließt der Artikel über „Los Cabitos und seine Opfer“ in Peru in dieser Ausgabe, in dem es um Folter und Morde in einem Militärstützpunkt geht. Letztlich ist das Kräfteverhältnis der Akteur_innen entscheidend. Brasilien ist trotz der persönlichen Erfahrung Rousseffs von der für die Gesellschaft so bedeutsamen Aufarbeitung der Vergangenheit noch entfernt. Dennoch: Es tut sich was. Mehr und mehr werden Militärs von Bundesstaatsanwälten mit strafrechtlicher Finesse angeklagt, welche die Bestimmungen des Amnestiegesetzes zu umgehen wissen. Seit dem alten Rom wird vor den Iden des März gewarnt – in Zukunft könnte es die Folterer und Mörder aus der Zeit der Militärdiktatur also doch noch treffen.

Straflosigkeit juristisch austricksen?

Sebastião Rodrigues Curió, Oberst der Reserve, könnte der erste Militärangehörige in Brasilien werden, der sich wegen seiner Taten aus der Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) strafrechtlich verantworten muss. Dies beabsichtigen zumindest fünf Bundesstaatsanwält_innen, die gegen ihn Klage erhoben haben. Begleitet von großem Medieninteresse reichten sie die Klageschrift gegen Oberst Curió ein, dem sie die Entführung von fünf Mitgliedern der Guerrilha do Araguaia im Jahre 1974 vorwerfen. Da die sterblichen Überreste der Betroffenen nie gefunden wurden, sei die juristische Schlussfolgerung eindeutig. „Das Verbrechen der Entführung wird weiterhin begangen“, so der Bundesstaatsanwalt Sérgio Gardenghi Suiama Mitte März bei der Einreichung der Klageschrift. Wäre zweifelsfrei bewiesen, dass eine mutmaßliche Ermordung der Guerrilha-Kämpfer_innen bereits damals erfolgte, dann würde die Tat unter das Amnestiegesetz von 1979 fallen. Aber da es diesen Beweis nicht gebe, dauere das Verbrechen der Entführung an – deshalb müsse der Richter die Klage gegen Curió vor dem für den Fall zuständigen Gericht in Marabá im Süden des Bundesstaates Pará zulassen.
„Dies ist eine historische Entscheidung“, beglückwünschte Criméia Almeida die Klage der Staatsanwaltschaft. Almeida war Anfang der 1970er Jahre Mitglied der Guerrilha do Araguaia, ihr Mann ist seither verschwunden. „Das straflose Verschwinden von Personen bedeutet ein fortwährendes Verbrechen an uns Angehörigen“, erläutert Criméia Almeida. Sie hatte 2008 zusammen mit ihrer Familie in einem Aufsehen erregenden Fall die erste Zivilklage gegen einen Folterer in Brasilien gewonnen: Seither darf sie von Gerichts wegen ihren Folterer Folterer nennen (siehe LN 405).
Im nun von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafprozess geht es um das Verschwinden von Maria Célia Corrêa, Hélio Luiz Navarro Magalhões, Daniel Ribeiro Callado, Antônio de Pádua Costa und Telma Regina Cordeira Corrêa, die im Jahr 1974 im Bundesstaat Pará, in der Region des Rio Araguaia. Teil der gleichnamigen Guerrilha waren. Diese war Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien (PcdoB) gegründet worden und operierte bis Ende 1974 im Süden Parás. Die geschätzt siebzig bis achtzig Mitglieder der Guerrilha do Araguaia sowie eine unbekannte Zahl von Bewohner_innen der Region, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seither verschwunden. 2010 wurden die sterblichen Überreste von zehn der bis heute „Verschwundenen“ im Araguaia-Gebiet gefunden, nachdem Militärangehörige gegenüber der Presse Aussagen über mögliche Fundstellen der verscharrten Opfer gemacht hatten (siehe LN 445/446).
Die fünf Mitglieder der Guerrilheira do Araguaia, auf deren Verschwinden sich die jetzige Anklage der Bundesstaatsanwaltschaft bezieht, zählen zu denen, deren Schicksal nie geklärt wurde. Sie wurden zwischen Januar und September 1974 von Militärs gefangen genommen und in eine Kaserne verbracht, die unter Aufsicht von Oberst Curió stand. Dort wurden sie gefoltert – und danach nie wieder gesehen. Deshalb sei es „fundamental, dass die Justiz die Fälle analysiert, die Beweislage ermöglicht und die Geschichte der Opfer ans Tageslicht bringt“, so die Staatsanwaltschaft. Ein juristisch geschickter Schachzug, der die Bestimmungen des Amnestiegesetzes umgehen soll.
Der für den Fall zuständige Bundesrichter, João César Otoni de Matos, sah das bei der ersten Anhörung des Falls in Marabá anders. Die Staatsanwaltschaft habe Belege vorgelegt, die darauf hindeuten könnten, dass „die Verschwundenen bis zum heutigen Tage entführt werden“, so Otoni de Matos. Es sei zu bezweifeln, so der Bundesrichter, dass die Verschwundenen „dreißig und soundsoviel Jahre später noch immer in Gefangenschaft durch den Beschuldigten gehalten würden“. Die Logik widerspreche dieser in der Klageschrift dargelegten Beweisführung. Und selbst wenn man eine Entführung als gegeben annehme, so müsse angesichts der bekannten „Fakten der extremen Wahrscheinlichkeit des Todes der Verschwundenen“ davon ausgegangen werden, dass die Betroffenen bereits damals ermordet wurden. Die Tat sei somit verjährt und falle unter das Amnestiegesetz, sagte der Richter. Erst vor knapp zwei Jahren hatte der Oberste Gerichtshof des Landes die Gültigkeit des seit 1979 bestehenden Amnestiegesetzes erneut bestätigt.
Der Anwalt der Verteidigung, Adelino Tucunduva, erklärte seine Genugtuung. „Wenn es auf der einen Seite übereifrige Staatsanwälte gibt, so gibt es auf der anderen Seite Richter, die mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen“. Nichts anderes als diese Entscheidung des Richters habe er erwartet, erklärte der Anwalt von Oberst Curió.Die Staatsanwaltschaft kündigte demgegenüber umgehend Revision an.
Zusätzliche Aufmerksamkeit erlangte der Fall, da ein Sprecher des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen nach Bekanntwerden der gegen Curió eingereichten Klage öffentlich forderte, dass Brasilien den Fall juristisch aufzuklären habe. Ähnlichen internationalen Druck hatte es seitens des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (CoIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten bereits vor über einem Jahr gegeben. Dieser hatte den brasilianischen Staat wegen der Verschleppung und Ermordung der verschwundenen Mitglieder der Guerrilha do Araguaia verurteilt. Die Richter_innen verlangten von Brasilien, endlich alle Verbrechen gegen die Menschheit aufzuarbeiten.
Auch der Präsident der Brasilianischen Anwaltskammer OAB aus Rio de Janeiro, Wadih Damous, kritisierte den Umgang Brasiliens mit seiner Vergangenheit der Militärdiktatur. „In keinem zivilisierten Land dieser Welt“, so Damous, „wurden die von Staatsangehörigen begangenen Verbrechen gegen die Menschheit amnestiert oder deren Verbrechen als verjährt deklariert“. Nur in Brasilien sei dies so.
Der oberste Chefankläger der Republik, der Oberstaatsanwalt des Bundes, Roberto Gurgel, äußerte sich aus Brasília zu dem Fall der Anklage gegen den Oberst Sebastião Rodrigues Curió. Zwar teile er mehrheitlich die Ansicht des Richters Otoni de Matos, dass die Verbrechen verjährt und durch das Amnestiegesetz rechtssicher gegen Strafverfolgung immun seien, aber seiner Einschätzung nach könne der offenkundig juristisch äußerst komplexe Fall letztlich nur vom Obersten Gerichtshof Brasiliens entschieden werden.

Zeugnisse eines entmenschlichten Regimes

Frau Meza, gilt Honduras nach dem Putsch im Jahr 2009 auf dem internationalen Parkett mittlerweile als rehabilitiert?

Nein, auf keinen Fall. Die den Putsch durchgeführt haben, präsentieren sich heute mit weiß gewaschener Weste. Mit dem Abkommen von Cartagena konnte der 2009 aus dem Amt geputschte Ex-Präsident Manuel „Mel“ Zelaya im Sommer letzten Jahres nach Honduras zurückkehren und das Land wurde wieder in die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) aufgenommen. Auch eine Staatsanwaltschaft für Menschenrechte wurde eingerichtet. Aber dies ist Teil einer Strategie, sich nach außen hin geläutert zu geben und die internationale Gemeinschaft glauben zu machen, sie hätte es mit einem demokratischen System zu tun. Bis heute wurde niemand für den Putsch verurteilt; die Ausführenden sitzen noch immer in den höchsten Positionen. Die Menschenrechtslage ist desaströs. Es gibt eine wahre Strategie des Todes gegen Oppositionelle. Menschen werden gefoltert, sterben und verschwinden. Gleichzeitig werden Gesetze entworfen, die die individuellen Rechte krass einschränken. So wird Unrecht legalisiert.

Um welche Gesetze handelt es sich dabei?

Es wurden ein Antiterrorismusgesetz und ein Abhörgesetz in Kraft gesetzt. Nach einer Polizeireform kann das Militär Polizeiaufgaben übernehmen und ist bei Hausdurchsuchungen und Festnahmen präsent. Damit wird das Land endgültig remilitarisiert. Sämtliche Errungenschaften werden zurückgenommen, die seit dem Ende der Militärdiktatur Anfang der 1980er Jahre erkämpft worden sind. Die Polizei selbst wird mit einem größeren Haushalt ausgestattet. Tatsächlich ist sie es, die Dissidenten verfolgt, bedroht, foltert und ermordet. Die Aggressoren können sich dabei einer absoluten Straflosigkeit sicher sein. Gerechtfertigt wird die Mittelvergabe mit der hohen Kriminalitätsrate in Honduras. Doch dieser wäre vielmehr durch Armutsbekämpfung beizukommen.

Sehen Sie denn die Staatsanwaltschaft oder das neue Menschenrechtsministerium als Verbündete bei Ihrer Arbeit?

Alle Institutionen, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte, das Menschenrechtsministerium sind Teil einer Politik der Straflosigkeit. Es ist letztendlich egal, wer auf welchem Posten sitzt, denn alle sind den Weisungen von oben untergeben. Die wichtigste Weisung lautet, dass Aggressoren gegen die Menschenrechte unbehelligt bleiben. Wenn wir auf der Untersuchung eines Falles beharren, heißt es, es gebe keine personellen Kapazitäten, keine Autos, kein Benzin. Doch diejenigen, die für ihre eigenen und die Rechte anderer einstehen, werden unterdessen in Schnellverfahren abgeurteilt. Bei der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen funktioniert der Staatsapparat auf einmal wie geschmiert.

Das sogenannte PASS-Projekt zur Reform des Polizei- und Justizapparats in Honduras wird von der EU mit insgesamt 43 Millionen Euro finanziert. Wie kann kontrolliert werden, dass dieses Geld nicht in die Kriminalisierung der Opposition fließt?

Dafür gibt es schlichtweg keine Garantien. Es ist davon auszugehen, dass von EU-Geldern eine Logistik aufgebaut wird, mit denen die Menschen in Honduras unterdrückt werden. Solange das Regime finanzielle Hilfe aus dem Ausland bekommt, kann es aus dem Inneren heraus schwer friedlich gestürzt werden. Das PASS-Projekt muss unbedingt gestoppt werden. Denn es unterstützt ein Regime der Straflosigkeit, der Repression und des Todes. Dies haben wir auf einem Treffen mit EU-Vertretern auch klar zur Sprache gebracht. Die EU stellt all ihren Verträgen mit anderen Ländern eine Menschenrechtsklausel voran. Diese sollte nicht zur Farce verkommen.

In Honduras werden Menschenrechtsverteidiger_innen seit dem Putsch zunehmend verfolgt und ermordet. Hat sich diese Situation mit dem Abkommen von Cartagena gebessert?

Nein, und das ist dramatisch. Denn wir Anwälte und Anwältinnen zeigen die horrende Zahl der Menschenrechtsverletzungen an und bringen sie vor Gericht. Der Staat ist angehalten, uns zu schützen und unserer Arbeit nicht im Wege zu stehen. Nach dem Putsch wurden wir oft beleidigt und bedroht, wenn wir Anzeigen stellten, doch erst unter Porfirio Lobo ist es alltäglich geworden, dass Menschenrechtsverteidiger umgebracht werden. Ihre Fahrzeuge werden manipuliert und sie kommen in scheinbaren Autounfällen ums Leben. Oder sie werden direkt von Paramilitärs und Auftragsmördern verfolgt. Dies sind Zustände, wie wir sie vorher nur aus dem militarisierten Kolumbien kannten.

Mitte Februar kamen beim Gefängnisbrand von Comayagua 361 Menschen ums Leben. Wie ist diese Tragödie in das Szenario einzuordnen, das Sie uns beschreiben?

Der Brand war ein geplanter Akt, ein Genozid gegen Gefangene. Soziale Säuberungen haben sich ähnlich auch schon im Jahr 2003 und 2004 in diesem Land ereignet. Doch die Empfehlungen, die die Interamerikanische Menschenrechtskommission damals ausgesprochen hat, wurden schlicht ignoriert. Honduras wurde deswegen vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Wer in Honduras ins Gefängnis kommt, hat seine Rechte verwirkt, auch wenn eine tatsächliche Verurteilung meist über Jahre ausbleibt. Diese Bevölkerungsgruppe hat keinerlei Lobby und war auch schon in Freiheit vollkommen von der Gesellschaft ausgeschlossen. Im Innern der Gefängnisse gibt es kein menschenwürdiges Essen und kein ausreichendes Trinkwasser. Die Gesundheitsversorgung ist katastrophal. Wir gehen davon aus, dass von zehn Gefangenen sieben gefoltert werden. Der Gipfel dieser Praxis ist, Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen zu lassen, ihnen nicht die Zellen aufzuschließen und dann auf Fliehende zu schießen. Das Massaker von Comayagua zeugt von der vollkommenen Entmenschlichung eines Regimes.

Neben dem Gefängnisbrand gab es allerdings noch weitere Brände im ganzen Land. Was steckt dahinter?

Es ist eine Generierung des Terrors. Sie halten uns beschäftigt mit all diesen Anschlägen. Es ist die Schocktherapie, die die Ultrarechte des Landes anwendet; so wie die Globalisierungskritikerin Naomi Klein sie beschrieben hat. Die Bevölkerung wird abgelenkt von dringenden Bedürfnissen, die der Staat nicht erfüllt. Irgendwann sind wir zu erschöpft, all die ungeklärten Vorfälle zu verfolgen, und verfallen in Apathie.

Infokasten:

Die honduranische Rechtsanwältin Dina Meza erhielt im Dezember 2011 einen Preis von der Deutschen Botschaft für ihren Einsatz für die Menschenrechte. Sie leitet das Internetnachrichtenforum defensoresenlinea und das Radioprogramm „Voces contra el Olvido“ (Stimmen gegen das Vergessen) des renommierten Menschenrechtszentrums COFADEH.

Unersetzlicher Kämpfer

Bertolt Brecht muss Ernesto Kroch gemeint haben, als er schrieb: „Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. Aber es gibt Menschen, die kämpfen ein Leben lang. Das sind die Unersetzlichen.“ Es ist keine blumige Floskel, kein leichtfertig geschriebener Ausruf: Ernesto, als Ernst Julius Kroch am 11. Februar 1917 in Breslau geboren, ist ohne Zweifel unersetzlich. Am 11. März 2012 ist er in Frankfurt am Main im Alter von 95 Jahren nach monatelanger schwerer Krankheit verstorben.
Mit ihm geht einer der letzten Zeugen des 20. Jahrhunderts und es verlässt uns ein Mensch, der so viel war: Ernesto war Metallarbeiter, Gewerkschafter, Widerstandskämpfer, Schriftsteller, Basisaktivist. Ernesto war solidarisch, gerecht, bescheiden, kämpferisch, authentisch, humorvoll, tolerant. Und es geht ein Mensch, der so viel erleben musste: Mit 17 Jahren wurde er von den Nazis verhaftet, drei Jahre verbrachte er im Gefängnis und im Konzentrationslager. Mit 21 Jahren kam er – eher zufällig wegen ungültiger Papiere für Paraguay – im Exil in Uruguay an und musste dort ohne Familie, ohne Sprachkenntnisse, ohne alles sein Leben neu aufbauen. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, wie er erst viele Jahre nach dem Krieg erfuhr. In Montevideo wurde er Mitglied der kommunistischen Partei, engagierte sich in der uruguayischen Metallarbeitergewerkschaft, war an der Gründung des Kulturinstituts Casa Bertolt Brecht beteiligt, beteiligte sich unermüdlich an Basisprojekten in verschiedenen Vierteln von Montevideo.
Während der Militärdiktatur in Uruguay wurde sein Sohn jahrelang inhaftiert und er wurde mit 62 Jahren wiederum ins Exil gezwungen, dieses Mal nach Frankfurt am Main. „Heimat im Exil – Exil in der Heimat“ lautet denn auch der Titel seiner Autobiographie, die 2004 im Verlag Assoziation A erschien. 1985 konnte er nach Uruguay zurückkehren. Und nahtlos knüpfte er an sein Engagement an: Er gründete Basiskomitees, wurde Mitglied des Linksbündnisses Frente Amplio, sammelte Geld für Projekte in Uruguay, wirkte unermüdlich in der Casa Bertolt Brecht, organisierte dort erfolgreich Kampagnen gegen den Privatisierungswahn der 1990er und 2000er Jahre und kämpfte gegen die Straflosigkeit für die Verbrechen während der Militärdiktatur. Zugleich widmete er sich intensiv dem Schreiben. Neben Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln verfasste er mehrere Bände mit Erzählungen sowie Sachbücher (die teilweise auch in Deutschland erschienen sind).
Als Ende 2004 die Frente Amplio in Uruguay die Präsidentschaftswahlen gewann und die konservativen Traditionsparteien erstmals in der Geschichte des Landes die Macht abgeben mussten, begriff Ernesto das als Ansporn und Verantwortung, noch intensiver an der Basis für eine wirkliche Veränderung mitzuwirken. Er gründete eine Stadtteilzeitung, war Delegierter seines Viertels und unterstützte kritisch die neue Regierung, hatte dabei aber immer – dank seiner politischen Erfahrung von zu diesem Zeitpunkt 87 Jahren – das große Ganze im Blick. Geduldig diskutierte er immer und immer wieder mit den Jüngeren, also fast allen, denen vieles nicht schnell genug gehen konnte und nicht radikal genug war (zu Recht oder zu Unrecht, das sei hier nicht die Frage), seine Positionen. Das machte er sich auch in Deutschland, wohin er und seine Frau Eva Weil seit den 1990er Jahren im europäischen Sommer kamen, zur Aufgabe. Unermüdlich war auch hier sein Engagement: Übervoll war sein Terminkalender zwischen Mai und Oktober, Vorträge vor Schulklassen, Lesungen, Diskussionen mit GewerkschafterInnen oder alljährlich die Attac-Sommerakademie standen auf seinem Programm. Ernesto war immer unterwegs, auch noch mit über 90 Jahren. Er kämpfte ein Leben lang.

„Der kulturelle Wandel ist unumkehrbar“

Im Jahr 2011 gab es große Mobilisierungen in Chile. Auch wenn die Regierung kaum auf die Forderungen reagiert hat, welche Erfolge hat die Bewegung erzielt?
Camila Vallejo: Trotz ihrer Stärke und Vielfalt und der mehr als 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, die die Bewegung 2011 für ihre Forderungen bekommen hat, ist es innerhalb der Grenzen unseres politischen Systems, das ja aus der Militärdiktatur gewachsen ist, schwierig, die strukturellen und grundlegenden Forderungen umzusetzen. Die Bewegung hat nicht nur gefordert, dass der Bildung als Markt ein Ende bereitet werden muss, sondern sie spricht auch von einer Steuerreform und von der Wiederverstaatlichung des Kupfers. Bei keiner der Forderungen geht es nur um eine Korrektur des derzeitigen Systems. Einer der großen Erfolge der Bewegung ist, dass sich das Bewusstsein der Chilenen verändert hat. 2009, 2010 war das anders. Die chilenische Bevölkerung lebte individualistisch, konsumorientiert, apathisch. Heute glauben die Chilenen wieder an kollektive Aktionen, haben neue Hoffnung; viele haben die noch aus der Militärdiktatur stammende Angst verloren. Dieser kulturelle Wandel ist unumkehrbar.

Welche Strategien gibt es für das Jahr 2012? ?
Jorge Murúa: Wir sind bereits dabei, für den achten März zu mobilisieren, um das Jahr mit einer Demonstration am Internationalen Frauentag einzuläuten. Aber auch die Bürgerversammlungen werden eine Rolle spielen. Hier werden die Studierenden, die Arbeiter, die Indigenen, die Umweltbewegung und sogar die Kleinunternehmer koordiniert. Zudem ist 2012 ein Wahljahr und es gibt Kandidaten der Bewegung, um die Rechten von der kommunalen Ebene zu vertreiben.
Karol Cariola: Ich glaube, dass im Jahr 2012 nicht die gleiche Stärke an Mobilisierungen auf der Straße erreicht werden wird. Wir sind an einem Punkt, an dem vieles neu gedacht werden muss. Es ist eine Etappe der Reflexion, der Debatte und der Neuaufstellung, um die aus der Bewegung gewachsenen Organisationen zu stärken. Dazu gehören beispielsweise die Bürgerversammlungen. Aber auch der Verband der Studierenden Chiles, CONFECH, befindet sich in einem Diskussionsprozess und prüft, ob auch die privaten Universitäten in die Prozesse eingebunden werden können.

Wie wird die Regierung auf weitere Proteste reagieren? Im Moment soll ja mit einem nach dem Innenminister Hinzpeter benannten Gesetz die Repression verschärft werden.
Karol: Die Regierung hat immer sehr gewaltsam reagiert. Nicht nur mit physischer Gewalt bei den Demonstrationen, sondern auch mit politischer Gewalt. Ein Teil dieser Strategie ist das Hinzpeter-Gesetz, das unsere Mobilisierungen und die Anführer der Bewegung kriminalisieren soll. Damit sollen nicht nur Personen inhaftiert werden können, die an Besetzungen öffentlicher Gebäude teilnehmen, sondern alle, die zu dieser Art von Protesten aufrufen. Das gilt auch für nicht angemeldete Demonstrationen. Viele der Demonstrationen 2011 waren nicht angemeldet.
Camila, du hast dich dazu entschieden, nicht mehr mit der Tageszeitung La Tercera zu sprechen. Welche Rolle spielen die traditionellen Medien für die Bewegung?
Camila: Die großen Medien in Chile werden von zwei Konzernen dominiert, die nicht bloß ökonomische, sondern auch politische Interessen vertreten. Die Forderungen der Bewegung werden verfälscht und verkürzt; sie selbst wird kriminalisiert. Außerdem berichten sie über angebliche Streitigkeiten, die Bewegung sei gespalten, es gebe interne Konflikte und sie sei von der Kommunistischen Partei kontrolliert . Deswegen ist eine unserer Forderungen die Demokratisierung der Gesellschaft. Nicht bloß in Bezug auf die natürlichen und ökonomischen Ressourcen, die gerechte Verteilung dieser und der politischen Macht, sondern auch in Bezug auf die extreme Medienkonzentration.

Camila, du wirst immer als Anführerin dargestellt, was einerseits sicher von Vorteil ist, weil die Medien leider so funktionieren. Andererseits ist die Personalisierung auch eine Gefahr für die Bewegung . Wie siehst du deine derzeitige Rolle?
Camila: Oft ist es notwendig, dass es eine Führungsperson gibt, oder jemanden, der die Ideen einer Bewegung in die Öffentlichkeit trägt. Nichtsdestotrotz führt die Personalisierung dazu, dass Informationen stark manipuliert werden. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ursache für die Proteste des letzten Jahres in der Verfestigung des neoliberalen Modells liegt. Darüber wird aber nicht berichtet, im Mittelpunkt stehen persönliche Fragen. Ich werde sogar gefragt, wann das zu Ende sein werde, wann ich zufrieden sein werde! Wir lehnen diese Vorstellung ab, weil die Leute, die nicht so sehr mit der Bewegung verbunden sind, glauben, dass das Aufkommen dieser Ideen von den Anführern kommt. Die Bewegung und der zu Grunde liegende gesellschaftliche Prozess hängen nicht von einer Person ab. Die Bewegung ist nicht wegen mir entstanden und geht auch nicht mit mir zu Ende.
Karol: Das ist die einfachste Taktik, um soziale Bewegungen zu zerstören. Deswegen wird Camila auch so häufig kritisiert. Wir haben die Delegation daher auch so besetzt, wie sie ist. Wir haben hier allen Medien gesagt, dass wir nur zusammen Interviews geben. Wenn man sich die verschiedenen Artikel ansieht, fällt auf, dass in fast allen die Rolle der Delegation weggelassen wird und sich alles nur auf Camila konzentriert. Wir wussten, dass das so sein würde und haben uns trotzdem den Medien ausgesetzt. Wir lassen nicht zu, dass die Bewegung dadurch zerstört wird, dass man eine Anführerin kaputt macht. Besonders weil Camila dieser Idee immer treu gewesen ist. Sie hat sich immer hinter das Kollektiv gestellt.

Ihr habt die Kommunalwahlen im Oktober erwähnt. Wie werdet ihr euch in die Parteienpolitik einbringen, obwohl die Bewegung doch eine soziale Bewegung ist?
Karol: Ich glaube, hier muss genauer differenziert werden. Diese Bewegung ist eine breite, soziale und vielfältige Bewegung, der viele politische Strömungen angehören. Wir sind Repräsentanten einer politischen Strömung, einer Vision. Genauso gibt es andere politische Organisationen der Linken, des Zentrums, unabhängige, die allesamt einverstanden mit den Forderungen der Bewegung sind. Deswegen gibt es nicht nur eine Vision, wohin sich die Rolle der Bewegung im Bezug auf die Kommunal- und Präsidentschaftswahlen hin entwickeln soll. Jede Organisation des Prozesses hat ihre eigenen Ideen. Wir als Aktivisten der kommunistischen Partei sind Teil der Bewegung, nicht deren Besitzer.

Es gibt ebenfalls eine starke Repression gegen die Mapuche in Chile. Gibt es eine Position der CONFECH oder der Juventudes Comunistas zu diesem Thema?
Camila: Im Vergleich zu der studentischen Bewegung und allen anderen sozialen Bewegungen ist die Repression gegenüber den Mapuche sehr viel systematischer. Die Mapuche-Gemeinden werden militärisch unterdrückt, ständig gibt es Übergriffe, bei denen es zu Aggression und Gewalt gegen Kinder und Frauen kommt. Durch die Geschehnisse vom letzten Jahr haben sich unsere Verbindungen mit den Mapuche verstärkt. Es gab sie bereits vorher, aber seit 2011 ist die Föderation der studierenden Mapuche (FEMAE) aktiver Teil der CONFECH. So werden die Probleme der Mapuche sichtbarer und ihre Forderungen stärker in die Öffentlichkeit getragen. Die heutige Situation der Mapuche, die Kriminalisierung, Militarisierung, die verübten Morde, wird sonst verschwiegen.
Karol: Bereits 2010 gab es große Proteste für die Befreiung der politisch inhaftierten Mapuche. Eine ihrer Anführerinnen, Natividad Llanquileo, hat gerade Europa besucht, um auf die Situation der Mapuche aufmerksam zu machen. Zum Beispiel wurden einige ihrer politischen Anführer zu Gefängnisstrafen von bis zu 120 Jahren verurteilt. Das ist ein Ergebnis des Antiterrorgesetzes, das extrem kriminalisierend ist und das fragwürdige Beweismittel zulässt. Dazu gehören sogenannte anonyme Zeugen. In den Prozessen tauchten mehr als hundert solcher Zeugen auf, von denen niemand weiß, woher sie kommen oder wer sie sind, die aber die angeklagten Mapuche direkt beschuldigt haben. Außerdem waren einige bis zu zwei Jahre in Untersuchungshaft, bevor überhaupt irgendwelche Beweise gegen sie vorlagen. Diese Strafen werden den Mapuche auferlegt, nur weil sie Indigene sind, die ihr Land und ihre Rechte einfordern.

Im Januar gab es einen Skandal, als der Bürgermeister von Ñuñoa, Pedro Sabat, die Schülerinnen des Nationalen Mädcheninternats als Huren bezeichnete. Ist die chilenische Gesellschaft sexistisch?
Karol: Ja, insgesamt kann man das so sagen. Sabats Entgleisung zeigt aber auch, dass die Rechte jede Möglichkeit nutzt, um die Bewegung zu diffamieren. Das ist der gleiche Mechanimus der Demobilisierung wie der Versuch der Kriminalisierung durch das Hinzpeter-Gesetz oder wenn behauptet wird, dass sich in einigen besetzten Schulen Drogenhandel entwickelt hätte. Weil die Regierung sich nicht mit Argumenten verteidigen kann, bedient sie sich nun schmutziger Tricks. Sabats Verhalten zeigt, dass er verzweifelt ist.

In Lateinamerika existieren viele linke Bewegungen und Regierungen. Gibt es eine, die als Inspiration für Chile dienen kann?
Jorge Murúa: Der Prozess, den wir gerade in Chile erleben, ist durch und durch chilenisch. Was wir zunächst wollen, ist ein sozialer, ein demokratischer und ein solidarischer Staat. Ob wir dem Ganzen den Namen A, B oder C geben ist unerheblich, aber der Prozess muss für uns in eine Richtung gehen, die den Neoliberalismus überwindet. Diese Art von Staat können wir nicht auf einem Weg erreichen, wie ihn zum Beispiel Chávez in Venezuela gegangen ist. Wir hatten in Chile 17 Jahre eine Militärdiktatur, die das neoliberale Modell eingeführt und gefestigt hat. Deswegen müssen wir unsere Verfassung erneuern, die noch aus der Militärdiktatur stammt. Davon ausgehend werden wir unseren eigenen Prozess aufbauen, und wenn am Ende die verschiedenen Prozesse Lateinamerikas zusammenfinden, dann ist das gut.

Wie denkt ihr, hat sich das Bild von Chile in Europa durch die Proteste verändert?
Karol: In Chile wurde für lange Zeit versucht, ein Bild vom Land zu zeichnen, das sich von dem, was wirklich im Land passiert, sehr unterscheidet. Chile wurde als Bastion des Neoliberalismus in Lateinamerika gezeigt, von konstantem ökonomischem Aufschwung, mit dem die Armut verringert wird und so weiter. Chile ist außerdem Mitglied der OECD geworden, was sehr gelobt wurde. Das hat dazu geführt, dass das Bild von Chile in Europa sehr positiv war. Dementsprechend sind viele Menschen überrascht von der Realität, die die Bewegung ans Licht bebracht hat: die Diskriminierung, die fehlenden Möglichkeiten, das konstante Anwachsen der Ungleichheit.

Was sind Eure Eindrücke nach der Reise?
Karol: Ich glaube, unsere Schlussfolgerung nach der Reise ist, dass sich die Krise des Kapitalismus in allen Ecken der Welt auf die gleiche entmenschlichende Art ausdrückt. Selbstverständlich immer in Relation zum derzeitigen Modell; die Armut hier in Europa ist nicht dieselbe wie in Lateinamerika. Die Schwierigkeiten und Ungleichheiten treten auf unterschiedliche Weise zu Tage, aber der Mechanismus ist im Endeffekt der Gleiche. Wir möchten unsere Erfahrungen teilen und zeigen, wie das chilenische Modell ist, damit ihr in Europa nicht zulasst, dass hier das gleiche passiert. Damit ihr nicht zulasst, dass die sozialen Garantien und der Wohlfahrtsstaat aufgegeben werden.

Kasten:

Die Aktivist_innen (von links): Camila Vallejo (23) ist stellvertretende Vorsitzende der Studierendenvereinigung der Universität von Chile (FECH). Sie studiert seit 2006 Geographie. Von November 2010 bis Dezember 2011 war sie Vorsitzende der FECH und Sprecherin des Verbands der Studierenden Chiles CONFECH, in dem die Studierenden der traditionellen staatlichen Universitäten organisiert sind. // Karol Cariola (24) studiert seit 2005 Geburtshilfe an der Universität Concepción. In den Jahren 2009 und 2010 war sie Vorsitzende der dortigen Studierendenvereinigung. Seit November 2011 ist Karol Cariola Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Chiles. // Jorge Murúa (35) ist Mitglied der Leitung der Metallarbeitergewerkschaft CONSTRAMET sowie des Gewerkschaftsdachverbandes CUT. // Die drei Aktivist_innen bereisten Anfang Februar auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der GEW Deutschland, um über die soziale Bewegung in Chile zu berichten und sich mit deutschen Aktivist_innen auszutauschen.

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