Ein Kämpfer für die Menschenrechte

Frenz kam 1965 als evangelischer Pfarrer nach Chile. Er erlebte die Polarisierungen der drei Jahre Allende-Regierung und den Putsch von 1973, den er zunächst begrüßte. Dann saßen sie vor ihm, die Folteropfer der chilenischen Militärdiktatur, die Regimegegner, die er versteckte, die Angehörigen der „verschwundenen“ politischen Gefangenen. Sie berichteten von nächtlichen Greiftrupps und geheimen Gefängnissen. Er verhalf ihnen unter waghalsigen Bedingungen zur Flucht, riskierte dabei sein eigenes Leben.
Lateinamerikanische Flüchtlinge, die in Chile unter dem Sozialisten Allende Zuflucht gefunden hatten, kamen hilfesuchend in seine Kirche. Er tarnte sie als Teilnehmer_innen eines Bibelseminars, bis die Sache aufflog, das Gebäude umstellt wurde und alle „Seminaristen“ verhaftet wurden. Sie wurden in einen Militärbus gezwungen. Frenz mischte sich unter sie. Durch rasche und gezielte Intervention von Freunden kamen fast alle frei. Der am stärksten Gefährdete war, als die Militärs kamen, in einem Einbauschrank des „Bibelseminars“ versteckt worden. Frenz erzählte den Soldaten, die das Gebäude systematisch durchsuchten, dafür gebe es keinen Schlüssel, es sei irgendwelches Zeug darin, und der Trupp gab sich damit zufrieden. Als die Militärs weg waren, brach der Mann den Schrank auf und konnte sich retten. Diese Beispiele nennt Frenz in seiner Autobiographie …und ich weiche nicht zurück: Chile zwischen Allende und Pinochet (siehe LN 439). Er hat einige solcher waghalsiger Rettungen vollbracht. In dem von ihm mitgegründeten „Friedenskomitee“ erledigte er die mühsame tagtägliche Organisationsarbeit, verhandelte mit Generälen und auch mit Pinochet selbst. Frenz besorgte Geld für den Widerstand und wurde Teil der damals entstehenden chilenischen Menschenrechtsbewegung, die die Diktatur herausforderte, als der übrige Widerstand schon gebrochen war.
„Man muss wohl schon bereit sein, seinen eigenen Standort zu verlassen, um den Platz des Leidenden einzunehmen“, sagt er seiner konservativen Kirche. Sein Engagement spaltete diese Kirche. Seine Gegner warfen ihm vor, an dieser Spaltung schuld und ein „falscher Bischof“ zu sein.
1975 verweigerten ihm die chilenischen Behörden nach einem Auslandsaufenthalt die Wiedereinreise nach Chile. Daraufhin gründete er in Deutschland die Organisation „Aktion zur Befreiung der politischen Gefangenen in Chile“. 1976 wurde er Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Jetzt betrieb er professionell, aber nicht konventionell, was er in Chile gelernt hatte. Er wurde Emissär der realen Welt, in der Folter und Mord herrschen, gegenüber den Behörden. Er drang wegen Verhafteter in Argentinien mit seinem Mitarbeiter Tino Thun in das Auswärtige Amt (AA) ein, diese Burg der Amtskolleg_innen und Aktenhüter_innen. Die Niederschrift des AA vom ersten Gespräch mit ihm spricht vom „sogenannten” Bischof Frenz, der „aggressiv” gewesen sei. Das AA musste erst noch lernen, dass dort nicht nur die Wirtschaftsverbände mit Forderungen vorsprachen. Wenn heute die Menschenrechte Parameter internationaler Politik sind, an dem sich alle Staaten messen lassen müssen, dann ist das auch Menschen wie Frenz und seinen Mitkämpfer_innen zu verdanken
Später wurde Frenz Flüchtlingsbeauftragter in Schleswig-Holstein. Er polemisierte gegen die routinemäßige und standardisierte Verwaltung von menschlichen Schicksalen. 2004 ging er erneut nach Chile. Er arbeitete in der „Stiftung Salvador Allende“, die die beschlagnahmten Schwarzgelder Pinochets an die Opfer der Diktatur auszahlte. Es war schwer, ihm etwas abzuschlagen. Deshalb wurde er vorgeschickt, wenn es etwas zu beantragen gab, und er ließ sich vorschicken. Die chilenischen Menschenrechtsgruppen drängten ihn nach Ende der Diktatur, ihr Sprecher zu werden. Das lehnte Frenz ab, denn dann hätte er sich mit dem Sektierertum der Linken abplagen müssen.
Sein Weg hatte ihn vom Dorfpfarrer einer Ostseeinsel auf eine Weltbühne der Konfrontationen mit Diktaturen, Verhandlungen mit hohen Politikern, der vollen Säle und Kirchen, Fernsehkameras und Mikrophonen geführt. Er schlug waghalsige Brücken, sprengte Festungen, die für uneinnehmbar galten. Er integrierte, wo andere resignierten, agitierte in Kirchen und predigte draußen. Die Gemeinde strenggläubiger Atheist_innen und gealterter Untergrundkämpfer_innen, die er zum Weinen brachte und die ihm bis zu seinem Tode treu blieb, dürfte einzigartig sein.
Eine Heimat hatte er nicht mehr. Von Chile, das ihn 2007 zu seinem Ehrenbürger gemacht hatte, war er enttäuscht, es gab zu viel Pinochetismus ohne Pinochet. Die Ehrenstaatsbürgerschaft bedeutete ihm eine verdiente Anerkennung, die Ehrendoktorwürde und den Professorentitel zweier chilenischer Universitäten nahm er eher ironisch. Aus dem „Bischof a.D.“ macht er nach und nach den bescheidenen „Pastor a.D.“ Die Identitätsgefühle, die ihm geblieben sein mochten, trieben ihm die Behörden aus. Als er chilenischer Ehrenbürger geworden war, entzog ihm die deutsche Botschaft in Santiago die deutsche Staatsbürgerschaft. Nun sandte er, der unter der Diktatur ausländische Pässe für Verfolgte organsiert hatte und auf nationale Identität pfiff, eine fast komische Mail an seine Freunde, in der er sein Deutschtum nachwies. Nach Hamburg, wo er sein Auge operieren lassen wollte, musste er als Tourist reisen. Schließlich bekam er seine deutsche Staatsangehörigkeit zurück. Wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit zog sich der Aufenthalt in Hamburg immer länger hin. Die geplante Rückkehr nach Chile wäre gesundheitlich riskant gewesen.
Frenz blieb, bis er dazu nicht mehr in der Lage war, Pfarrer und Seelsorger. Als er noch in Chile war, begleitete er einen Untergrundkämpfer aus der schlimmsten Zeit der Pinochet-Diktatur beim Sterben. Opfer fanden bei ihm immer Gehör. Seine Partei war, wie er einmal sagte, „die Partei der Menschenrechte“. Zu den politischen Parteien hielt er verständnisvolle Distanz. Diese Fixpunkte und diese Distanziertheit prägten sein Leben voller Grenzüberschreitungen und immer neuen Engagements. Sie erlaubten ihm eine undogmatische politische Spannbreite, mit der er seiner Zeit und seiner Umgebung weit voraus war.

(K)ein Zuhause in der Fremde

Um der Haft zu entgehen, war Schillers Flucht zugleich Rettung, aber auch Abschied für eine ungewisse Zeit, wenn nicht für immer. Der Beginn der Erzählung fängt auf eindringliche Weise diese Stimmung ein. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte sie bereits zwei Haftstrafen von insgesamt fast sieben Jahren hinter sich. Als 1985 eine dritte Inhaftierung droht, beschließt Schiller, die BRD und Europa über die DDR zu verlassen.
Sie erhält nach mehreren Wochen Warten politisches Asyl in Kuba und eine kleine finanzielle Unterstützung. Doch empfindet sie eine Fremdheit, zunächst noch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, später umso deutlicher aufgrund der eigenen vergangenen politischen Praxis und kulturellen Sozialisation. Das kubanische politische System ist vertikal durchstrukturiert, eine politische Betätigung außerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich. Arbeit erhält sie erst viel später.
Margrit Schiller beschreibt den Alltag und ihre Begegnungen mit verschiedenen Leuten und ihre Versuche, ein geregeltes Leben mit Arbeit und sozialem Umfeld zu schaffen. Anekdoten und aufmerksame Beobachtungen wechseln sich ab mit Exkursen über die politischen und historischen Ereignisse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dazwischen steht immer wieder die Reflexion über die eigene Biografie und gegenwärtige Selbstverortung, bei welcher der Freude über die Freiheit Selbstzweifel und Isolierung gegenüberstehen.
Schiller erfährt über die kubanischen Freund_innen und ihren späteren Ehemann Zusammenhalt und solidarische Unterstützung als wesentliches Merkmal der kubanischen Gesellschaft. Die Frauen sind hier das Fundament der sozialen und familiären Strukturen, doch gleichzeitig werden die Geschlechterrollen, die vorherrschenden Vorstellungen von Heterosexualität und der Machismo von kaum jemandem thematisiert und kritisiert. Mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen eckt die Autorin immer wieder an. Angesichts der Weisung der Behörden, über ihr politisches Asyl und ihre Vergangenheit als RAF-Mitglied zu schweigen, wiegen die wiederkehrenden Gefühle von Fremdheit und Einsamkeit umso schwerer. Das schließt auch jegliche offene politisch-intellektuelle Tätigkeit aus. Sie muss ihre Vergangenheit verschließen, das Gute und Schlechte ihrer eigenen Geschichte vergessen, um vorangehen zu können.
Das Schweigen wird zur Last und schließlich zur Sprachlosigkeit. Die Sehnsucht nach Verständnis, die alltäglichen Aufgaben sowie die Sorge um ihre inzwischen geborenen Zwillinge erdrücken Schiller. Die Zerrissenheit zwischen der Dankbarkeit über das gewährte politische Asyl und der Traumatisierung der Flucht, in der die Auswirkungen der Haftjahre noch nachklingen, steht zwischen den Zeilen. Die wirkliche Bedeutung und Dimension von Haft und Exil erhält unter den gelebten Umständen durch die Umwelt keinen Raum. Nur Exilierte können einander begreifen.
Und so erhält Schiller erst viele Jahre später die Bestätigung durch eine andere ehemalige Gefangene aus Uruguay: „Wenn wir, die im Exil waren, uns treffen, sind wir bis heute erstaunt darüber, wie verschieden wir die Fremde erlebt haben im Vergleich zu Reisenden, die aus anderen Gründen im Ausland waren und sich frei bewegen konnten. Diese Empfindlichkeit, die das Exil bewirkt, die Verletzlichkeit, dieses Gefühl, dass das Innere bloß liegt und man sich einigeln muss, um sich zu schützen, macht einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arten des Fremdseins aus. Ich kann es nicht besser erklären, aber man verliert die Basis der eigenen Stärke, wenn man gehen muss und nicht zurückkann.“
Als mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auch Kuba in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise gerät und das weitere Bestehen des politischen Systems gefährdet ist, beginnt eine harte Zeit für die kubanische Bevölkerung. Die tägliche Sorge um das Allernötigste kann nur mithilfe persönlicher Beziehungen und informeller Geschäfte etwas erleichtert werden. Für Margrit Schiller bedeutet es plötzlich auch einen ungesicherten politischen Status, weil ihre Papiere nicht verlängert werden. Aus Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschließt sie sich, nach Uruguay zu gehen und verlässt 1993 Kuba mit ihrer Familie.
Ein neues Exil unter anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. In Uruguay gibt es viele Menschen, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1985) Schillers Erfahrungen von Gefängnis und Exil teilen. Die deutsche Immigrantin sucht die Nähe und den Austausch vor allem mit den Frauen. Auch eine gesellschaftliche und politische Debatte scheint hier möglich. Doch Gefängnishaft, Folter und Exil werden lange tabuisiert. Die Zurückgebliebenen interessiert das Exil nicht, den Geflüchteten wird mit einem indirekten Vorwurf begegnet, sie hätten es im Ausland leichter gelebt und den Bezug zu den Hinterbliebenen verloren. Erst allmählich beginnt ein Austausch und eine Auseinandersetzung über das Trauma der Haft und des Exils. Auf der anderen Seite formiert sich eine öffentliche Bewegung der Angehörigen der Verschwundenen. Wieder sind es die Frauen, die den ersten Schritt tun.
Schillers Erinnerungen sind sehr persönlich. Dieser Intimität stehen die historischen und politischen Einschübe gegenüber. Auch die politischen Debatten auf Kuba oder die Repression gegen die Bevölkerung während der Militärdiktatur in Uruguay. Bisweilen hätten diese kurzen Exkurse länger und abgerundeter sein können. Zusammen jedoch ermöglichen sie ein komplexes Bild der sozialen und politischen Umstände, unter denen Schiller gelebt hat.
Am Ende steht das letzte und nicht minder schwierige Thema – die Rückkehr. Ist sie überhaupt möglich? Können alte Beziehungen wieder geknüpft werden und neue entstehen? Und vor allem: Enden nun endlich Fremdheit und Sprachlosigkeit?
Margrit Schiller ist vor acht Jahren den Weg in ein verändertes Deutschland zurückgegangen. Sie hat ihrer Vergangenheit nicht abgeschworen und hat fast zwei Jahrzehnte Exil mit sich gebracht. Das Schreiben hat ihr das Sprechen erhalten. Noch in Kuba begann sie mit den ersten Aufzeichnungen, die mehrere Jahre später in ihrem ersten Buch Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF von 1999 veröffentlicht wurden. Schillers neues Buch schließt an diese Erinnerungen an. Sie endet mit den Worten einer Freundin zu einer der wesentlichen Erfahrung ihrer Geschichte: „Exil hört nie auf.“

Margrit Schiller // So siehst du gar nicht aus! Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. Mit einem Vorwort von John Holloway // Assoziation A // Berlin Hamburg 2011 // 172 Seiten // 16 Euro

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

// Neue Verfassung jetzt!

Was ist nur los in Chile? Anfang Mai sorgten die Massenproteste gegen das Staudammprojekt HidroAysén für Furore; der massiven Repression durch Polizeigewalt wurde getrotzt. Ende Mai wurde diese Bewegung durch eine neue abgelöst, die dabei ist alle Mobilisierungsrekorde in Chile zu brechen. Die Studierenden und Schüler_innen haben mit ihren Demonstrationen für eine gerechte Bildung Menschenmassen auf die Straße gebracht, wie man sie seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr gesehen hatte. Mit 400.000 Teilnehmer_innen war die Demonstration am 30. Mai bereits die größte seit 1990. Am 21. August wurde dann die Schallmauer von einer Million Menschen gebrochen. Eine Million von siebzehn Millionen Chilen_innen, die sich auf der Straße ihrem Unmut über die ungerechte Bildungspolitik Luft gemacht haben!

Bei solchen Zahlen kommt selbst die Mainstream-Presse über dem Teich nicht umhin , die Proteste wahrzunehmen. Die telegene Studierendensprecherin Camila Vallejos, die zum Gesicht und zur Stimme des Protests gemacht wurde, schaffte es mit dem Zusatz „die Mächtige“ gar auf das Titelbild der Zeit. Von Puerto Ricos Musikgruppe Calle 13 bis zu getwitterten Grußbotschaften aus dem Kongo – vielerorts schaut man nach Chile. Der einst unfreiwillige Musterschüler autoritärer neoliberaler Politik wird gerade überall zitiert, wo ein Positivbeispiel für gesellschaftliche Reformen von unten gebraucht wird. Chile, da geht was. Der erste Generalstreik seit mehr als 40 Jahren war Ende August dann der vorläufige Höhepunkt dieser stetig wachsenden Protestwelle. Denn plötzlich tauchten neben den Spruchbändern der Studierenden auch Banner auf, die viele Chilen_innen bis dahin nur aus dem Geschichtsbuch kannten: Den Zahnrad-Ährenkranz der Arbeitereinheitszenrale (CUT), dem Gewerkschaftsdachverband. Der Protest hat sich somit auf andere Sektoren der Gesellschaft ausgeweitet.

Der erste konservative Präsident Chiles seit dem Ende der Militärdiktatur, Sebastian Piñera, ist angeknockt. Konnte er vor gut einem Jahr noch wegen der von ihm geschlagenen Propagandaschlacht um die 33 verschütteten Minenarbeiter Zustimmungswerte jenseits der 80 Prozent verzeichnen, siecht er nun bei mageren 26 Prozent. Und das Erstaunliche ist: Um das oppositionelle Parteienbündnis Concertación, das Chile vom Ende der Militärdiktatur bis zur Wahl Piñeras ununterbrochen regierte, steht es noch schlechter. Der Abgesang auf die beiden großen Parteienbündnisse bedeutet nichts weniger als den Abgesang auf das neoliberale chilenische Gesellschaftskonzept, das sowohl von der Concertación als auch von den rechten Parteien getragen wurde. Die Studierenden und Schüler_innen können hingegen bei ihrem Protest laut Umfragen auf die Unterstützung von 80 Prozent der Chilen_innen zählen. Und auf einen faulen Kompromiss, wie im Jahre 2006 nach dem Streik der Schüler_innen, werden sie sich nicht noch einmal einlassen.

Die Frage ist nun nicht mehr, ob sich etwas ändern wird, sondern wie weit die Veränderungen gehen werden sowie wann und wie sie eintreten. Schaffen es die Gewerkschaften von der von ihnen gewünschten exponierten Mittlerrolle zwischen Studierenden und Regierung Abstand zu nehmen und den basisdemokratisch organisierten Bildungsprotesten auf Augenhöhe zu begegnen, wäre noch mehr möglich als eine bloße Neustrukturierung des Bildungswesens. Noch nie war die Chance so groß, dass Pinochets Verfassung von 1980, auf der die chilenische Demokratie und mit ihr das neoliberale Konzept basiert, auf demokratische Weise abgeschafft wird. Denn nun hat auch die Regierung aufgehorcht und sich lieber auf Verhandlungen mit den Studierenden eingelassen. Geholfen hat es ihr nicht. Als klar war, dass sie auf zentrale Forderungen der Studierenden nicht eingehen wird, haben diese die Verhandlungen abgebrochen. Stattdessen wollen sie die Proteste und den Streik fortsetzten. Die Regierung wird sich bewegen müsen.

Diesmal mit Nachdruck

2011 – ein Jahr der Proteste: In Tunesien und Ägypten wurden die jeweiligen Präsidenten durch Demonstrationen aus dem Amt gejagt, in Spanien gehen die indignados (Empörten) zu Hunderttausenden auf die Straße, in Israel finden zum ersten Mal in der Geschichte des Landes dauerhafte Massenproteste statt. Und in Chile bringt eine Studierenden- und Schüler_innenbewegung eine Million Menschen auf die Straße.
Dennoch ist es falsch zu glauben, dass die aktuellen Proteste in Chile für das Land ein neues Phänomen darstellen. Das Unbehagen der meisten Jugendlichen mit dem Bildungssystem hat historische und strukturelle Ursachen. Seit der militärischen Besetzung der chilenischen Universitäten im Jahr 1973, der Bildungsreform von 1981 und zunehmend seit Anfang der 1990er Jahre kommt es regelmäßig zu heftigen Straßenprotesten und wochenlangen Streiks an den staatlichen Hochschulen.
Es geht dabei immer um ein und dasselbe: Ein Bildungssystem, das einen egalitären Zugang zu einer hochwertigen Bildung und das Ende der Kommerzialisierung des Bildungssektors garantiert. Die Problematik betrifft aber nicht nur Studierende, die chilenischen Schüler_innen teilen die Forderungen. Weltweit bekannt wurden deren Proteste im Jahr 2006 unter dem Namen Revolution der Pinguine (in Anlehnung an die schwarz-weiß Schuluniform), als sie einen selbst organisierten nationalen Streik ausriefen und somit die Ungerechtigkeit des Bildungssystems auf die politische Agenda setzten (siehe LN 385). Die Regierung nahm damals kleinste Änderungen an dem Bildungsgesetz vor, das noch am Tag vor der Entmachtung des Diktators Augusto Pinochet verabschiedet worden war. Die zentralen Forderungen wurden allerdings nicht angegangen.
Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, gegen die sich die Proteste heute richten, sind Phänomene, die nicht nur im Bildungssektor zum Ausdruck kommen. Sie sind Ergebnis der Einführung eines radikal marktorientierten Wirtschaftsmodells ab 1973 und betreffen große Teile der Bevölkerung. Nicht umsonst zählt Chile zu den 15 Ländern mit der größten Einkommensungleichheit weltweit. Die studentische Bewegung kann deshalb auf eine breite Zustimmung von rund 80 Prozent der Bevölkerung zählen, während nach Umfragen des chilenischen Statistikamtes CEP die Popularität des Staatschefs Sebastían Piñera im Juli auf 26 Prozent gesunken ist.
Ein wichtiger Faktor für die Kraft der Bewegung ist die politische Erfahrung ihrer Akteure. Ihre Basis hat die Mobilisierung im Studierendenbündnis der staatlichen Universitäten (CONFECH). Die jeweiligen Repräsentant_innen sind gewählt, Camila Vallejo, mittlerweile die bekannteste Vertreterin der Bewegung ist die Studierendensprecherin der Universidad de Chile. Wenngleich das Bündnis als Akteur unabhängig ist, sind die Vertreter_innen zum großen Teil aktive Mitglieder politischer Parteien und haben dort Erfahrungen in der politischen Arbeit gesammelt.
Politiker_innen der aktuellen Opposition, die das Land mit einer Mitte-Links Koalition zwischen 1990 und 2009 kontinuierlich regiert hatten und nun die Proteste für die eigene politische Werbung nutzen wollen, sind allerdings ausdrücklich nicht eingeladen daran teilzunehmen. Dafür haben sich der basisdemokratischen Bewegung vielfältige Organisationen der Zivilgesellschaft angeschlossen, unter anderen 80 verschiedene Gewerkschaftsgruppen, darunter die Gewerkschaftszentrale CUT, das landesweite Lehrer_innenbündnis und die streikenden Bergarbeiter des Kupfersektors. Tamara Ocampo, Studentin an der Universität Los Lagos im Süden des Landes, erklärt einen weiteren zentralen Grund für die Stärke der Bewegung: „Niemand in der Regierung will kapieren, dass die Schüler, die 2006 für ein besseres Bildungswesen auf die Straßen gingen, dieselben Leute sind, die jetzt protestieren. Wir sehen die kleinen Reformen am Bildungswesen, die wir damals 2006 unter Präsidentin Michelle Bachelet erreicht haben, als klaren politischen Betrug. Die Änderungen am verfassungsmäßigen Bildungsgesetz (aus der Diktaturzeit, Anm. der Red.) haben in keinster Weise unsere essentiellen Forderungen rechtlich abgesichert. Wir haben schon damals skeptisch beobachtet, wie das gesamte politische Spektrum Chiles zusammen die Verabschiedung der Bildungsreform feierte. Wir haben aus dieser Erfahrung gelernt und deshalb bleibt die studentische Bewegung standhaft in ihrer Position: Wir werden erst aufhören zu protestieren, wenn die Regierung verantwortungsvoll unseren Forderungen nachkommt. Dabei verlangen wir, dass die Regierung die […] entsprechenden Verfassungsänderungen vorantreibt“.
Die 2006 vorgenommenen Änderungen am Bildungsgesetz haben tatsächlich die Liberalisierung des Bildungssektors noch verschärft und Raum für freien Wettbewerb, mehr Autonomie und Planungsfreiheit geschaffen. In Chile versteht sich der Staat als eine Figur, die dafür sorgt, dass es ein reichhaltiges Angebot an Bildungsinstitutionen gibt, jedoch nicht als eine, der das Funktionieren des gesamten Bildungswesens obliegt. Die jungen Generationen sind in einem Land aufgewachsen, in dem der Bildungssektor seit 1981 als reines Geschäft und der chilenische Staat als ein nachrangiger Akteur betrachtet werden soll. „Bildung ist ein Konsumgut“, so hat Präsident Piñera bei einer öffentlichen Rede die Position treffend formuliert. Camilo Figueroa aus Viña del Mar berichtet dazu: „Wird sind es leid zu sehen, dass sich jeden März alles um den Bildungsmarkt dreht. Was kostet diese Uni, was kostet die andere. Aber diejenigen, die es wegen ihrer schlechteren Abschlussnote auf keine traditionelle Uni geschafft und zugleich keine Chance auf einen Kredit haben, um wenigstens an einer privaten Bildungsinstitution angenommen zu werden, haben einfach Pech. Die sind den Banken nichts wert. Um die kümmert sich also keiner.“
Die Zusicherung eines egalitären Bildungsniveaus für alle nach den Richtlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), bei der Chile nun seit 2009 Mitglied ist, ist für arme Familien, aber auch für die breite Mittelklasse des Landes ein leeres Versprechen. Nach Ende der Diktatur haben die Regierungen in 21 Jahren nichts getan, um den Bildungssektor vor den Privatisierungsmaßnahmen zu schützen, im Gegenteil. Eine qualitativ hochwertige Schule und eine anschließende Hochschulausbildung kann sich in Chile heute nur eine kleine elitäre Gruppe sorgenlos leisten. Will die Mittelklasse daran teilhaben, dann ist dies nur mit größten Mühen oder mit hohen Verschuldungen möglich. Die Armen bleiben in den meisten Fällen als Zaungäste des bösen Spiels außen vor. Die Studiengebühren stehen kaum im Verhältnis zu den Einkommen der Mehrheit der Bürger_innen. Während der Mindestlohn umgerechnet ca. 269 Euro im Monat beträgt, belaufen sich beispielsweise die Studiengebühren für ein Bachelorstudium in Geschichte an einer der renommiertesten staatlichen Universitäten auf 4.124 Euro pro Jahr.
Bereits mit dem Militärputsch von 1973 war das Bildungswesen radikal verändert und privatisiert worden: Von einer Universität als freiem Lernort war unter der Diktatur nicht mehr die Rede. Die Rektoren der damals einzigen acht Universitäten des Landes wurden durch Militärpersonal ersetzt. Fächer wie Soziologie, Politikwissenschaft und Anthropologie wurden abgeschafft. Die Veränderungen im Bildungswesen zielten unter Pinochet auf eine Reduzierung der Staatsausgaben sowie auf die Entstehung privater Universitäten. Während bis 1973 die Universitäten zu 80 Prozent staatlich finanziert waren, überschreitet dieser Anteil heute nicht einmal 25 Prozent. Zusätzlich erlaubte die Bildungsreform von 1981 das Entstehen von privaten Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen. Bestand das gesamte Hochschulsystem in Chile bis 1980 aus besagten acht Universitäten, so gibt es dreißig Jahre später 179 Hochschuleinrichtungen. Davon sind 24 autonome staatliche Universitäten, die dem Nationalen Rektorenrat unterstellt sind, 39 private Universitäten, 44 private berufsbildende Institute und 72 private technische Ausbildungszentren.
Gesetzlich ist es zwar prinzipiell nicht erlaubt, mit Universitäten Profite zu erwirtschaften – in Schulen aber durchaus. Trotzdem investieren im wirtschaftlich florierenden Chile sogar Immobilienfirmen in so genannte Non-Profit-Bildungseinrichtungen und schöpfen letztlich doch Gewinne ab. Die Auftragsvergabe etwa im Bau von Schulen gleicht einer institutionalisierten Korruption. Insofern ist ein Ziel der Bewegung zu verhindern, dass gewinnorientierte Institutionen in den Genuss staatlicher Zuschüsse kommen. Sie fordern, dass über die illegalen Profite des privaten Bildungssektors Klarheit geschaffen wird. In diesem Sinne muss ein im Juli 2011 vom Senat gebilligter Untersuchungsausschuss als vorläufiges Ergebnis der Proteste verstanden werden, der innerhalb von 120 Tagen ein Gutachten über Profite im Hochschulwesen erstellen soll. Er soll aber auch über existierende Interessenskonflikte dreier aktueller Minister aufklären, die in Geschäfte mit Bildungsinstitutionen verwickelt sind. So mussten bereits der ehemalige Bildungsminister Joaquín Lavín, der seinen Posten wegen der Proteste räumen musste und jetzt Planungsminister ist, und der Leiter des Präsidentenamtes Cristián Larroulet vor dem Ausschuss aussagen, da sie in Verbindung mit der privaten Universidad del Desarrollo stehen. Nach eigenen Angaben hat Lavín seinen Anteil rechtzeitig verkauft und Larroulet seinen treuhänderisch übereignet. Der jetzige Justizminister Teodoro Ribera Neumann, der Besitzer der Universidad Autónoma de Chile ist, wurde bisher nicht vor den Ausschuss zitiert. Die Studierendenbewegung will ihn zum Rücktritt zwingen, da seine Bildungsinstitution Gewinne erzielt.
Gleichzeitig geht die Polizei mit extremer Gewalt gegen die Demonstrant_innen vor. Das zeigen die Antworten, die der chilenische Staat für die Proteste hat: Ein 16-Jähriger wurde auf dem Weg zur Demonstration von der Polizei erschossen. 1394 Personen wurden bisher festgenommen. Camila Vallejo wird mittlerweile von der Polizei geschützt, nachdem eine, deswegen gefeuerte Mitarbeiterin des Kultusministeriums twitterte, „Bringt die läufige Hündin um, dann beruhigen sich die, die ihr hinterher laufen.“ Derartige Antworten auf die in Chile populären Forderungen nach einem gerechten Zugang zur Bildung, einem hochwertigen Bildungswesen und dem Ende der Kommerzialisierung des Bildungssektors stoßen auf nur noch unnachgiebigere Reaktionen: Der Generalstreik am 24. und 25. August hat eine Protestbewegung in einem Ausmaß gezeigt, wie es sie seit Ende der Militärdiktatur nicht gegeben hat. Nach dem faulen Ergebnis der Proteste 2006 wird sich die Bewegung der jungen Chilen_innen diesmal wohl nicht so rasch zerstreuen lassen.

Kasten:

Die Proteste

Die Studierendenproteste in Chile begannen Ende April 2011, zu Beginn jedoch recht klein. An Fahrt gewannen sie erst gegen Ende Mai, als 400.000 Menschen in ganz Chile für eine gerechte Bildung demonstrierten. Dies war zugleich die größte Demonstration in Chile seit dem Jahr 1990, eine Marke die bisher eine Demonstration gegen den Besuch des damaligen US-Präsidenten Bush im Jahr 2004 mit nur 70.000 Demonstrant_innen gehalten wurde. Übertroffen wurde diese neue Marke noch einmal am 21. August, als eine Million Chilen_innen sich im Parque O’Higgins in Santiago versammelten. Parallel sind im Moment in ganz Chile Schulen und Universitäten besetzt, was wegen der privaten Finanzierung dieser zu finanziellen Schwierigkeiten bei diesen führt.
Mittlerweile haben sich den Protesten auch die Gewerkschaften angeschlossen, die am 23. August gemeinsam mit den anderen Protestierenden beim ersten Generalstreik seit den 1960er Jahren erneut mehr als 400.000 Demonstrant_innen mobilisieren konnten.
Die Regierung war trotz des historischen Ausmaßes der Proteste lange zu keinerlei Kompromissen bereit und hat die konservative Presse, die die vielfältigen und kreativen Proteste auf die vereinzelt auftretende Gewalt reduziert, auf ihrer Seite. Zwischenzeitlich erklärte sich die Regierung zu Gesprächen bereit. Nachdem sie allerdings keine ernsthaften Zugeständnisse machen wollte (unter anderem bot sie eine Verringerung der Zinsen für die Studienkredite an), haben die Studierenden, die sich für eine grundlegende Abkehr vom neoliberalen Modell einsetzen, die Verhandlungen am 7. September wieder abgebrochen und protestieren weiter.
// David Rojas-Kienzle

Macris Vier-Jahres-Plan

„DANKE!“ – das war die knappe Statusmeldung, die Mauricio Macri am vergangenen 1. August kurz nach halb zehn über seinen Twitter-Account an seine gut 250.000 Follower verbreitete. Mit 64 Prozent der Stimmen in der Stichwahl konnte er sein Amt als Bürgermeister von Buenos Aires souverän verteidigen. Deutlich abgeschlagen landete der Kandidat der Linksperonisten, Daniel Filmus, auf dem zweiten Platz. Filmus, der unter der Regierung von Nestor Kirchner Justizminister war, gelang es nicht sich zu profilieren. Er verlor nun bereits zum zweiten Mal das Rennen um den Stadtvorsteher-Posten.
Macris konservatives Parteibündnis PRO bestritt den inhaltsleeren Personenwahlkampf mit einem ebenso sinnentleerten Slogan: „Vamos bien“ – es läuft gut. Dies weckte bei vielen Argentinier_innen Assoziationen an den Spruch „Menem war‘s“, der die neoliberalen Maßnahmen in der Ära unter Präsident Carlos Menem begleitete. Die Begeisterung für den Medienprofi Macri und vor allem dessen Politik, erinnert Kritiker_innen fatal an die Regierung von Menem in den 1990er Jahren, in der der Grundstein für die tiefe Wirtschaftskrise 2001/2002 gelegt wurde. Die Administration des Bürgermeisters zeichnete sich in erster Linie durch die Überantwortung der Sozialleistungen an private Träger, tiefgreifende Kürzungen des öffentlichen Haushalts und populistisch vermarktete Unterstützungsleistungen für die Armen aus. Zugleich steht Macri für eine Politik der harten Hand, im Rahmen derer polizeiliche Befugnisse ausgeweitet werden, öffentlicher Raum privatisiert wird und eine Verdrängung der Armen aus den innerstädtischen Bezirken auf der Tagesordnung steht. Die Basis des Erfolgs war ähnlich wie in den 1990er Jahren auch diesmal die Mittelschicht, die der farblose Filmus nicht zu begeistern vermochte, ganz im Gegensatz zu dem Amtsinhaber.
Mit dem Wahlergebnis hat eine Million der Wahlberechtigten dem millionenschweren Unternehmer Macri ein deutliches „Weiter so!“ ausgesprochen. Seine Popularität ist trotz der andauernden Skandale um seine Person und die Verwicklungen seines Umfelds in kriminelle und korrupte Machenschaften ungebrochen. Dass sich nicht einmal die Hausdurchsuchung bei einem mit Macri befreundeten Unternehmer wegen Wahlbeeinflussung auf das Abstimmungsverhalten auswirkte, zeugt davon, wie unpolitisch der Großteil der Gesellschaft in der Hauptstadt momentan ist.
Mit Macri an der Spitze konnten die Konservativen seit 2003 alle Wahlen in der Hauptstadt für sich entscheiden. Diese Tatsache prädestiniert den 52-jährigen, wenn man seinen Anhänger_innen Glauben schenkt, für höhere Ämter. Am Wahlabend skandierten sie lautstark „Se siente, se siente, Mauricio presidente“ (Man fühlt es, Mauricio Präsident) und richteten damit ihren Blick bereits auf die Präsidentschaftswahlen 2015. In vier Jahren will der Sohn italienischer Einwanderer nämlich seinen langjährigen Wunsch erfüllen und Präsident des südamerikanischen Landes werden. Sein ursprünglicher Plan war, sich schon in diesem Jahr als Präsidentschaftskandidat aufstellen zu lassen. Parteifreund_innen rieten ihm davon ab und er tat wohl gut daran, dem Rat zu folgen: Angesichts der deutlichen Ergebnisse der Präsidentschaft-Vorwahlen zugunsten von Cristina Fernández de Kirchner hätte dieses Unterfangen kaum Erfolgsaussichten gehabt.
Bei den Vorwahlen vom 14. August, die nach einer Wahlrechtsreform neu eingeführt wurden und für alle Bürger_innen des Landes verbindlich sind, holte die amtierende Präsidentin überraschend knapp über 50 Prozent der Stimmen und verwies damit die Konkurrenz deutlich auf die Plätze: Ihre aussichtsreichsten Konkurrenten, der rechtsperonistische Expräsident Eduardo Duhalde und Ricardo Alfonsín von der Radikalen Bürgerunion (UCR), erreichten jeweils nur gut 12 Prozent der Stimmanteile. Diese Eindeutigkeit verschleiert, dass der Kirchnerismus den anderen politischen Strömungen im Land nicht immer derart überlegen war.
De facto als Minderheitsregierung nach dem überraschenden Rückzug von Carlos Menem vor der Stichwahl 2003 an die Macht gekommen, hatte Fernández‘ Ehemann und Vorgänger als Staatsoberhaupt Nestór Kirchner keinen leichten Stand (siehe LN Nr. 438). Nach dem Ende seiner Amtszeit 2007 gewann CFK, so das vielfach benutzte Kürzel Cristina Fernández de Kirchners, die Wahlen und führte die Präsidentengeschäfte in enger Absprache mit ihrem Mann fort. Die erste Hälfte ihrer Regierungszeit war vor allem vom Agrarkonflikt geprägt, der durch die Erhöhung der Exportzölle ausgelöst wurde und der sie in der Konsequenz fast zum Rücktritt zwang. Durch diesen Schritt sollten die durch die Monokultivierung und Exportorientierung gestiegenen Lebensmittelpreise abgefedert werden. Ihre Rechnung hatte sie aber ohne die Oligarchie des Landes gemacht: Als Reaktion formierte sich eine althergebrachte Allianz aus Diktaturzeiten, die sich aus Großgrundbesitz, Kirche und Kapital zusammensetzte und die vom Medienimperium um die Tageszeitung Clarín unterstützt wurde. Dieser Zusammenschluss versuchte unter Federführung der Sociedad Rural, der Interessenvertretung von Großgrundbesitz und landwirtschaftlicher Produktion, sich durch Massendemonstrationen und einen Generalstreik des Kirchnerismus zu entledigen. Nur durch die Rücknahme der Pläne gelang es CFK die Situation zu beruhigen und ihre Präsidentschaft zu retten.
Nach dem Tod ihres Ehemanns im vergangenen Oktober war unklar, wie die politische Zukunft des Landes aussehen würde. Einerseits bedeutete Kirchners früher Tod das Ende seiner Nachfolgepläne, andererseits intensivierten die politischen Gegner_innen ihre Angriffe auf das Staatsoberhaupt. Doch die aktuellen hohen Zustimmungswerte zeugen davon, dass die 58-jährige nach dem plötzlichen und tragischen Tod die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Seit einem Jahr trägt sie ununterbrochen Trauer und stilisiert sich so zur tapferen Witwe, die die Politik in der Kontinuität des Verstorbenen weiterführt. Sie rückt sich dadurch in die Nähe der letzten Ehefrau des legendären Präsidenten Juan Perón, Isabela, die die Staatsgeschäfte nach dem Ableben des Generals übernahm. Gleichzeitig stellt sie sich mit einer Sozialpolitik zugunsten der armen Schichten in die Tradition des Wirkens von Eva „Evita“ Perón – nicht ohne dies entsprechend zu vermarkten, zum Beispiel durch die medienwirksame Enthüllung eines zehn Stockwerke hohen Stahlportraits der wohl populärsten Argentinierin. Die Popularität ihres gewandelten Images unterstreicht die Aussage einer dreifachen Mutter aus Buenos Aires gegenüber der argentinischen Tageszeitung Página/12. Auf die Frage, warum sie linksperonistisch wählen werde, gab die 36-jährige an: „Mir gefällt Cristina, weil sie eine Frau ist und weil ich sehe, dass sie trotz des Verlusts des Ehemanns weitermacht. Sie gibt nicht auf. Als er gestorben ist, hat sie nicht das Handtuch geworfen – trotz des Schmerzes und obwohl alle glaubten, sie könnten ihren Moment der Schwäche wie Aasgeier ausnutzen.“
Trotz aller Unwägbarkeiten und kurzfristigen Stimmungsumschwüngen, für die die argentinische Politik bekannt ist, scheint bereits jetzt ausgemacht, dass Fernández de Kirchner die Wahlen im Oktober für sich entscheiden und so eine zweite Amtszeit im Präsidentenpalast Casa Rosada verbringen wird. Zur Debatte steht momentan lediglich, ob CFK bereits im ersten Wahldurchgang die erforderliche absolute Mehrheit erreicht oder wer ihr Konkurrent in einer Stichwahl wäre, falls diese notwendig wird. Die einzige Chance gegen Fernández wäre ein geschlossenes Auftreten der Opposition, die bei einer Stichwahl einen gemeinsamen Wahlaufruf für den Zweitplatzierten formulieren müsste. Dies ist aber kaum absehbar.
Aussichtsreichster Kompromisskandidat wäre Duhalde, der bereits 2002 und 2003 Präsident war. Bei den Vorwahlen schaffte er es allerdings nur auf den dritten Platz. Als Vertreter des konservativen Peronismus, der den Linksperonismus um die Kirchners ablehnt, besitzt er einerseits die Fähigkeit, Massen zu mobilisieren. Andererseits verfügt Duhalde über die landläufig „Apparat“ genannten Kontakte zu gewerkschaftlichen Funktionären und den klientelistischen „Punteros“, die gerade bei Wahlen durch ihre Mittlerfunktion und Wahlempfehlung eine wichtige Rolle spielen. Weniger aussichtsreich sieht es für Ricardo Alfonsín, Spitzenkandidat der bürgerlichen UCR, aus. Zwar wurde der Sohn des ersten demokratischen Präsidenten nach der Militärdiktatur bei den Vorwahlen Zweiter, doch seinen „Radikalen“ gelang es zuletzt nur in historischen Ausnahmesituationen Mehrheiten zu erlangen. So ist es unwahrscheinlich, dass ein Nicht-Peronist im Land des Peronismus die Opposition hinter sich vereinen kann.
Die Ergebnisse der Vorwahlen wie auch die Schwäche der Opposition verleiteten selbst Macri, eigentlich ein erbitterter Gegner der Präsidentin und des Linksperonismus, die Wahl für verloren zu erklären. „Es ist fast unmöglich, die Verhältnisse im Oktober umzukehren,“ kommentierte er den Ausgang der Vorwahlen. Somit bleibt der Dualismus zwischen rechter Hauptstadt und linker Präsidentschaft weiterhin gewahrt. Mauricio Macri bleiben weitere vier Jahre, um sich auf seine Kandidatur für das höchste Staatsamt vorzubereiten. In dieser Zeit wird er ein Bündnis schmieden müssen, um bundesweite Bedeutung zu erlangen, denn sein Parteienbündnis PRO hat – das haben die letzten Provinzwahlen gezeigt – jenseits von Buenos Aires keine Bedeutung. Lediglich in einer der 23 Provinzen stellt PRO den Gouverneur. Im Hinblick auf die Wahlen 2015 muss sich Macri also fragen, wer ihm ein besserer Steigbügelhalter für den Griff nach der Macht sein kann: Die Bürgerlichen von der UCR oder der rechte Peronismus um Duhalde? Ein Gradmesser dafür ist sicherlich, welches Lager bei den Wahlen am 23. Oktober den zweiten Platz belegt.

Kinder ohne Eltern

Es ist drückend schwül in Buenos Aires. Marina, Sofia und Violeta leben allein in der riesigen Villa ihrer gerade erst verstorbenen Großmutter, bei der die Schwestern aufgewachsen sind. Matt und ziellos versucht jede der drei jungen Frauen auf ihre Weise die Leere zu füllen, welche der Tod hinterlassen hat. Die älteste Schwester Marina widmet sich ihrem Studium und kümmert sich um den Haushalt. Sofia ist vor allem mit ihrem Aussehen und Parties beschäftigt. Und Violeta, die jüngste der drei, wandelt die meiste Zeit des Tages gelangweilt durch das Haus oder räkelt sich auf einem alten Sofa. Keine spricht über das, was alle in Wirklichkeit bewegt: Wie soll es weitergehen? Die Zeit des Übergangs und der Ungewissheit scheint schwerelos und ohne Ende. Bis zu dem Herbsttag, an dem Violeta ohne Vorankündigung verschwindet.
Der Spielfilm Abrir Puertas y Ventanas der jungen Regisseurin Milagros Mumenthaler erzählt in scheinbar zeitlosen Bildern von der Beziehung unter Geschwistern und dem Abschied von der Jugend. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das weiße Haus in Buenos Aires, Sinnbild für die omnipräsente Großmutter. Ständig werden darin Fenster und Türen geöffnet, aber vor allem verschlossen – vor Blicken, vor Auseinandersetzungen, vor Gefühlen. Jede der drei Schwestern schafft schließlich auf ihre Weise den Umgang mit der Trauer und damit den Sprung in ein selbstbestimmtes Leben. Sie suchen ein neues Gleichgewicht in diesem stillen Haus, dessen Innenleben so stark von der Großmutter geprägt ist. Dabei weist ihre Abwesenheit eigentlich auf eine noch viel größere hin, jene der Eltern. Im Film spielen nur deren alte Sachen eine Rolle. Pappkartons, die in der Garage verstaut wurden. Verstaubte und längst vergessene Erinnerungen, in denen nur die mittlere Tochter Sofia versucht, eine Antwort zu finden. Sie ist die einzige, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, aber auch nur, weil sie den Verdacht hegt, dass ihre ältere Schwester Marina adoptiert sein müsse. Verschwundene Eltern und Adoption – zwei Themen, die im politischen Kontext Argentiniens zu sehen sind. Viele Kinder sind als Folge der Militärdiktatur von ihren Großeltern aufgezogen worden, weil ihre Eltern zu den 30.000 Verschwundenen dieser Zeit gehören. „Obwohl weder die Umstände noch das Alter der drei Schwestern in direktem Zusammenhang zur Militärdiktatur stehen, besteht eine unterschwellige Verknüpfung, weil die jüngere Geschichte im kollektiven Bewusstsein Argentiniens sehr präsent ist. Ich entschied mich aus diesem Grund, nicht näher auf das Schicksal der Eltern einzugehen. Ich will eine gewisse Unklarheit stehen lassen, einen Raum, den sich der Zuschauer selbst füllen kann“, erklärt Milagros Mumenthaler bei der Premiere des Films im Schweizerischen Locarno. Die 1977 in Argentinien geborene Regisseurin hat selbst zwei Schwestern. Ihr Debütfilm sei aus dem Bedürfnis entstanden, eine Geschichte mit einem Bezug zu ihrer eigenen Biografie zu erzählen: „Ich war drei Monate alt, als meine Eltern aus politischen Gründen nach Europa flüchten mussten. Wir hatten damals das Glück, fliehen zu können. Aber ich denke manchmal, es hätte auch anders kommen können und dann wäre unsere Situation heute jener der Figuren im Film sehr nahe.“ Aufgewachsen in der Schweiz, entschied sich Mumenthaler, nach ihrem Schulabschluss nach Argentinien zurückzukehren. Ein Land, das sie nur von Urlaubsbesuchen kannte. Sie studierte Film und lebte während dieser Zeit zunächst zwei Jahre bei ihrer Großmutter in Mar del Plata und dann in einer Wohngemeinschaft in Buenos Aires. „Viele Szenen im Film sind von dieser Zeit inspiriert“, erzählt sie. Abrir Puertas y Ventanas ist ihr erster langer Spielfilm und hatte beim Filmfestival in Locarno im August 2011 Premiere. Als einer der 20 Beiträge im prestigeträchtigen Wettbewerb um den goldenen Pardo konnte sich Mumenthaler gegen ihre Konkurrenz durchsetzen und gewann den mit 90.000 Franken dotierten Preis. „Ich konnte es zunächst gar nicht glauben, als man mich anrief“, sagt sie freudestrahlend. „Ich habe dann gleich zurückgerufen, um zu sehen, ob ich richtig verstanden hatte.“ Vor allem aber freue sie sich darüber, dass auch eine der Hauptdarstellerinnen, Maria Canale in der Rolle der ältesten Schwester Marina, die Auszeichnung als beste Schauspielerin erhalten hat: „Der Film lebt nicht von der Handlung, sondern vor allem von der realistischen Spielweise der Schauspielerinnen.“

Abrir puertas y ventanas // Spielfilm von Milagros Mumenthaler // Schweiz/Argentinien 2011 // 98 Min.

Bildung statt Privatschulen

„¡Y va a caer, y va a caer, la educación de Pinochet!“ – „Pinochets Bildungspolitik muss weg! Und sie muss weg!“ Der rhythmische Abgesang auf das Bildungssystem der Militärdiktatur ist wohl die meistgehörte Parole bei der Demonstration im Rahmen der Bildungsproteste am 24. Juni in Santiago de Chile. Nach 2006, als sich dem sogenannten Pinguinaufstand der chilenischen SchülerInnen am Ende 800.000 SchülerInnen, Studierende und LehrerInnen anschlossen und streikten, gibt es nun fünf Jahre später eine neue Protestwelle, die durch Chile schwappt.
Schon am 16. Juni gab es Großdemonstrationen in Santiago und Valparaíso. Laut Angaben der VeranstalterInnen nahmen etwa 100.000 Menschen daran teil. Zum landesweiten Bildungsstreiktag am 30. Mai wurde die Mobilisation noch erheblich gesteigert: Allein in Santiago demonstrierten bis zu 200.000, im ganzen Land circa 400.000 Menschen.
Was die SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen auf die Straße treibt, ist das ungerechte Bildungssystem. Bildung, das ist in Chile nicht ein Recht oder eine Aufstiegsmöglichkeit, Bildung ist ein Geschäft. JedeR, der oder die will, darf eine Schule oder Universität eröffnen und für die Aufnahme von SchülerInnen oder Studierenden Gebühren verlangen. Die wohlhabenden ChilenInnen besuchen vor allem die Privatschulen. Denn die öffentliche Schulbildung in Chile ist katastrophal unterfinanziert, verantwortlich sind zu großen Teilen die Kommunen. Dies spiegelt sich auch in der Qualität der Bildung wider. Während gut 90 Prozent der SchülerInnen von Privatschulen die obligatorische Aufnahmeprüfung für die Universitäten (PSU) bestehen, schafft dies nur die Hälfte der SchülerInnen von öffentlichen Schulen. Nur zehn Prozent der chilenischen SchülerInnen haben aber überhaupt Eltern, die ihnen den Besuch einer Privatschule finanzieren können. Doch auch zwischen den Kommunen gibt es eklatante Unterschiede in Bezug auf die Finanzierung. Während reichere Kommunen ihre Schulen noch recht gut ausstatten können, ist es ärmeren Kommunen oft nicht einmal möglich den ohnehin schon niedrigen Mindestlohn für ihre LehrerInnen zu zahlen.
Wie im Jahr 2006 hat auch dieses Mal der Protest mit Besetzungen von Schulen angefangen, im Moment sind es mehr als 200. Und auch die Forderungen sind im Prinzip die gleichen wie vor fünf Jahren: „Wir wollen kostenlosen Zugang zum öffentlichen Nahverkehr für das ganze Jahr, eine laizistische, kostenlose und gute öffentliche Bildung, Verbesserung der Infrastruktur und sozialen Situation an den Fachhochschulen und dass die Schulen, die vom Erdbeben im letzten Jahr getroffen wurden, nicht privatisiert werden.“ So Laura Ortiz, Sprecherin der SchülerInnenorganisation Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios (ACES) im Interview mit der chilenischen Tageszeitung El Ciudadano.
Praktisch würde das eine Überführung der Schulen von der kommunalen auf die nationale Ebene bedeuten. Einige der Protestierenden wollen allerdings noch einen Schritt weiter gehen: „Wir wollen, dass das Bildungssystem verstaatlicht und den Profiten mit der Bildung ein Ende gemacht wird“, forderte Paloma Muñoz im Gespräch mit der Online-Ausgabe der konservativen Tageszeitung El Mercurio.
Die Bewegung an sich ist sehr heterogen, weswegen es viele unterschiedliche Forderungen und Meinungen gibt. Die Studierendenorganisationen haben andere Themen im Blick, als die SchülerInnenorganisationen oder LehrerInnen. Sie alle eint aber in diesem Moment die Ablehnung des neoliberalen, marktdominierten Bildungssystems Chiles.
Präsident Sebastián Piñera kündigte nach den massiven Protesten indes an, dass die Regierung einen Reformvorschlag erarbeiten will, der unter anderem eine Reformierung des Stipendien- und Studienkreditsystems vorsieht. Am 29. Mai, einen Tag vor dem zentralen Aktionstag, waren Gespräche zwischen Bildungsminster Joaquín Lavín und dem Rat der HochschulrektorInnen gescheitert, weil die Vorschläge Lavíns zentrale Forderungen außen vor lassen. Den Studierenden geht es aber um strukturelle Reformen.
Ob die konservative Regierung um Präsident Piñera und Innenminister Rodrigo Hinzpeter allerdings von einer Abkehr der mehr als 25 Jahre währenden neoliberalen Politiktradition überzeugt werden kann, ist fraglich. Selbst das Parteienbündnis Concertación, das 20 Jahre lang vom Ende der Militärdiktatur bis zur Wahl von Sebastián Piñera in der Regierungsverantwortung war, hat keine substanziellen Reformen gewagt.
Neben den Forderungen für strukturelle Reformen wird auch der Ruf nach einem Rücktritt des Bildungsministers Lavín immer lauter. Ihm wird vorgeworfen, über seine Beteiligung an der Universidad de Desarrollo (UDD), einer während der Militärdiktatur gegründeten Universität, die als Sammelbecken für Ex-Pinochet-FunktionärInnen und Rechtsextreme aller Art gilt, im Interessenkonflikt mit seinem Amt zu stehen. Ein Vorschlag von ihm als Bildungsminister sah vor, Stipendien für private Universitäten, zu der auch die UDD zählt, auf Kosten der Förderung für die staatlichen Universitäten zu erhöhen.
Genauso klar wie Lavíns Verquickungen mit dem Bildungsbusiness ist auch seine Linie gegenüber den Protesten. Einerseits wird auf der Homepage des Bildungsministeriums auf die enorm hohen Kosten und Schäden hingewiesen, die durch die Besetzung der Schulen entstanden seien. Auf der anderen Seite gibt sich der Minister aber kooperationsbereit, ohne wirklich auf die Forderungen der Protestierenden einzugehen. Die Studierendenvertreter erkennen Lavín ohnehin nicht als Verhandlungspartner an und betonen, dass der Konflikt nicht allein Sache des Bildungsminsteriums ist, sondern allgemein die Interessen der Bevölkerung berühre. Es gehe um strukturelle Reformen, von daher auch die Forderung nach einem Plebiszit.
Der Hardliner vom Dienst, Innenminister Hinzpeter, schlägt in dieselbe Bresche wie Lavín und beschränkt sich darauf, die Gewalt auf den Demonstrationen zu verurteilen und eine Verstaatlichung des Bildungswesen für eine Katastrophe zu erklären.
Die Erfahrungen in Chile lassen zwar keine grundlegenden Reformen erwarten. Zu tief ist der Glaube an das neoliberale Mantra von Marktfreiheit auf allen Ebenen in den Parteien verankert. Doch machen die Massenproteste und die sich verbreiternde Unterstützung deutlich, dass die Akzeptanz für Pinochets Bildungssystem abnimmt. Mittlerweile hat sich selbst die Vereinigung der Beamten im Bildungsministerium (Andime) solidarisch mit den Protesten erklärt.

Ewiges Antiterrorgesetz

„Gobierno Fascista!“ („Faschistische Regierung!“), schrie die Sprecherin der hungerstreikenden Mapuche, Natividad Llanquileo, am Abend des 8. Juni 2011 über den Kurznachrichtendienst Twitter in die virtuelle Welt. Normalerweise drückt sich die Schwester von einem der vier gefangenen Mapuche zwar bestimmt aus, bevorzugt dabei aber diplomatischere Töne. Diesmal jedoch war sie außer sich und verzweifelt. Die chilenische Gefängnisbehörde hatte die vier geschwächten Gefangenen kurz zuvor in einer Nacht- und Nebelaktion in vier verschiedene Krankenhäuser verlegen lassen. Die Kommunikation unter den Häftlingen und damit auch eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Hungerstreiks, hatte sie so unmöglich gemacht. Am darauf folgenden Tag brachen die vier ihre Protestaktion nach 88 Tagen ab. Eine längere Verweigerung der Nahrungsaufnahme hätte für die inhaftierten Aktivisten, die bereits letztes Jahr in Hungerstreik getreten waren, lebensbedrohliche Konsequenzen haben können (siehe LN 435/436 und 437 sowie Kasten).
Die vier Gefangenen Jonathan Huillical, José Huenuche, Ramón Llanquileo und Héctor Llaitul sind Mitglieder der Koordination der Gemeinden in Konflikt Arauco-Malleco (C.A.M.). Die C.A.M. ist eine der radikaleren Mapuche-Gruppen, die im Zuge von Landbesetzungen auch Sabotageakte gegen Sachwerte von Forstfirmen und GroßgrundbesitzerInnen für legitim halten. Sie waren angeklagt wegen „versuchten Mordes“ an Staatsanwalt Mario Elgueta und Körperverletzung von drei Beamten der chilenischen Kriminalpolizei im Jahr 2008. Der Staatsanwalt Elgueta war mit einer größeren Zahl Polizisten in eine Mapuche-Gemeinde gefahren, um eine Razzia durchzuführen. Dabei wurde sein Fahrzeug nach eigenen Angaben mit einer Schrotflinte beschossen, er selbst sei an einer Hand verletzt worden. Die Angeklagten bestritten jeglichen „Attentatsversuch“ und sprachen von einem politisch motivierten Konstrukt zur Kriminalisierung der C.A.M. und der gesamten Mapuche-Bewegung.
Der Prozess wegen dieses Vorfalls hatte am 8. November 2010 vor dem Strafgericht von Cañete begonnen und dauerte drei Monate. Insgesamt 17 politische Häftlinge der Mapuche saßen dabei auf der Anklagebank. Der Prozessbeginn erfolgte nur wenige Tage nach Ende eines anderen Hungerstreiks von Mapuche-Gefangenen (siehe Kasten). Die Regierung hatte damals als Teil der Abmachung zur Beendigung des Streiks versprochen, das Antiterrorgesetz aus der Pinochet-Zeit nicht gegen die Mapuche anzuwenden. Das Verfahren in Cañete war der „Testballon“, ob die Regierung sich an ihre Abmachungen halten würde.
Schnell wurde jedoch offensichtlich, dass die Zusage der Regierung nur unerhebliche Folgen für den Prozess haben würde: Zwar hielt sich der Anwalt des Innenministeriums formell an die Abmachung, die Staatsanwaltschaft nutzte jedoch Beweise, die sie durch Verfahren nach dem Antiterrorgesetz erlangt hatte. So dauerte die Untersuchungshaft länger, anonyme BelastungszeugInnen traten auf und nur Teile der Ermittlungsakten standen der Verteidigung zur Verfügung. Es war den AnwältInnen der Mapuche auch nicht möglich, die anonymen ZeugInnen ins Kreuzverhör zu nehmen. Am 22. Februar ging das Gerichtsverfahren mit dreizehn Freisprüchen und vier Verurteilungen zu Ende.
Noch vor Verkündung des Strafmaßes traten die vier Verurteilten in einen weiteren unbefristeten Hungerstreik. Sie bezeichneten den Schuldspruch als eine politisch motivierte Verurteilung der Führung der C.A.M. und forderten die Neuaufnahme eines fairen Gerichtsverfahrens ohne Anwendung des Antiterrorgesetzes. Außerdem kritisierten die vier Mapuche, dass sie für die gleichen Vorwürfe in einem parallelen Verfahren von der Militärjustiz in Valdivia vor Gericht standen – in diesem Verfahren waren sie zuvor im Dezember 2010 freigesprochen worden.
Die Anwendung der Militärjustiz gegen ZivilistInnen ist ebenfalls ein Relikt aus Zeiten der Militärdiktatur, das in den Jahren zuvor von verschiedenen internationalen Instanzen kritisiert worden war. Nach dem Hungerstreik vom vergangenen Jahr hatte das chilenische Parlament eine Reform des Gesetzes beschlossen, die Änderungen waren jedoch zum Zeitpunkt des Prozesses gegen die Mapuche noch nicht in Kraft getreten.
Am 22. März dieses Jahres, eine Woche nach Beginn des Hungerstreiks, verkündete das Gericht in Cañete das Strafmaß: Huillical, Huenuche und Llanquileo wurden zu 20, Llaitul zu 25 Jahren Haft verurteilt. Innenminister Rodrigo Hinzpeter versicherte, dass die Regierung sich an ihr Versprechen gehalten habe, jedoch keine Verantwortung für das Handeln der Staatsanwaltschaft übernehmen könne: „Wir sind jetzt abhängig von der Judikative“, sagte er am 26. April gegenüber der Presse. Die AnwältInnen der vier Gefangenen riefen umgehend den Obersten Gerichtshof an und forderten eine Annullierung des Prozesses wegen Verfahrensfehlern. Der Oberste Gerichtshof nahm die Beschwerde an und kündigte eine Entscheidung für Anfang Juni an – einem Zeitpunkt, an dem der Hungerstreik bereits über 80 Tage andauern würde.
Die Angehörigen und Unterstützergruppen der Gefangenen starteten eine breit angelegte Mobilisierungskampagne, um der Forderung nach einem neuen, fairen Prozess Nachdruck zu verleihen. Abgeordnete der Opposition brachten eine Begnadigung der Gefangenen zur Debatte. Jedoch schaffte es die Bewegung für die Freilassung der Mapuche-Gefangenen nicht, an die Mobilisierungserfolge des Vorjahres anzuknüpfen. Und auch die katholische Kirche, die sich 2010 als Vermittlerin zur Verfügung gestellt hatte, reagierte zaghaft. Dies hing unter anderem damit zusammen, dass die sozialen Bewegungen in Chile zeitgleich vehement gegen Privatisierungen im Bildungssektor und das HidroAysén-Staudammprojekt protestierten (siehe LN 444). Die Forderungen der Mapuche gingen in der Breite dieser Proteste unter – auch wenn sich die chilenische Linke immer stärker die Abschaffung des Antiterrorgesetzes auf die Fahnen schreibt. Dennoch haben es die Mapuche in der chilenischen Linken seit jeher schwer, sich als eigenständige Bevölkerungsgruppe und der Betonung ihrer Identität Gehör zu verschaffen.
Trotz der gesunkenen öffentlichen Aufmerksamkeit gab es im Mai dieses Jahres zunächst Hoffnung: Das Berufungsgericht in Concepción sprach die vier Angeklagten im von der Militärgerichtsbarkeit in Valdivia begonnenen Parallel-Verfahren endgültig frei. Doch der Spruch des Obersten Gerichtshofes am 3. Juni war ernüchternd: Zwar erkannten die RichterInnen einige Verfahrensfehler an. Statt jedoch ein neues Verfahren anzuordnen, befanden sie den Schuldspruch und damit auch das Antiterrorverfahren für rechtens. Sie senkten das Strafmaß für Llaitul auf vierzehn Jahre Haft und für die drei weiteren Gefangenen auf acht Jahre. Aus einer Verfahrensbeschwerde wurde so ein Urteil, das vor der chilenischen Gerichtsbarkeit nun nicht mehr anfechtbar ist.
Daraufhin beschlossen die bereits erheblich geschwächten Gefangenen eine Fortführung des Hungerstreiks „bis zur letzten Konsequenz“. Wenige Tage später, am 9.Juni, erklärten sie jedoch das Ende der Streikbewegung und kündigten die Gründung eines „Komitees für die Rechte der Mapuche-Bevölkerung“ an. Dieser Instanz sollen neben der katholischen Kirche auch das staatliche Menschenrechtsinstitut angehören – nicht jedoch VertreterInnen der Piñera-Regierung. Diese hat schließlich die schwache Anbindung der Mapuche-Organisationen an die linken Bewegungen ausgenutzt und den Dialog mit den Indigenen verweigert. Sie bekräftigte dadurch ihre kompromisslose Haltung in der Land- und Autonomiefrage und unterstrich gleichzeitig ihre bedingungslose Unterstützung für rechtskonservative GroßgrundbesitzerInnen sowie transnationale Forst- und Stromkonzerne, die im chilenischen Süden das Sagen haben. Jegliche Infragestellung des ökonomischen Entwicklungsmodells will sie somit im Keim ersticken.
Dass die Verhinderung von Protesten durch Kriminalisierung eine Illusion ist, wurde jedoch wenige Tage nach dem Hungerstreik deutlich: Am 24.Juni erhoben sich mehrere Mapuche-Gemeinden gegen ein neues dreistufiges Staudammprojekt des Unternehmens Pilmaiquén S.A. nahe Osorno. Die betroffenen Mapuche-Gemeinden wurden nicht konsultiert – geschweige denn in die Entscheidung für das Großprojekt miteinbezogen, wie es die Konvention 169 der ILO über indigene Rechte eigentlich vorschreibt. Chile hat diese Konvention 2008 ratifiziert.
Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, Human Rights Watch oder Amnesty International haben in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, dass die chilenischen Regierungen internationale Konventionen und Verträge über die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen nicht einhalten. Sie übergehen die Rechte der Mapuche als Bevölkerungsgruppe mit eigener Identität und Territorium und gehen gleichzeitig in juristischen Verfahren mit diskriminierender Härte und Sondergesetzen wie dem Antiterrorgesetz gegen die Mapuche vor, so die Kritik der Internationalen Organisationen. In den nächsten Monaten stehen eine Reihe weiterer Gerichtsverfahren gegen Mapuche-AktivistInnen an. Sollte sich nichts an der harten Linie der Piñera-Regierung ändern, sind weitere Hungerstreiks programmiert.
Natividad Llanquileo will vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof gegen die Regierung Piñera klagen. Dies sei die letzte juristische Möglichkeit, um sich gegen unfaire und diskriminatorische Behandlung seitens der chilenischen Justiz zur Wehr zu setzen.

KASTEN:
Streik der Verzweiflung

2010 waren erstmals 34 Mapuche verschiedener Gruppierungen und Gemeinden in einen gemeinsamen Streik getreten, der mit der symbolträchtigen 200-Jahre-Unahängigkeitsfeier der chilenischen Republik – dem Bicentenario – zusammenfiel. Huillical, Huenuche, Llanquileo und Llaitul hatten auch damals die Nahrungsaufnahme verweigert. Die Protestaktion fand in internationalen Medien viel Beachtung (siehe auch LN 435/36 und 437). Nach 88 Tagen versprach die Regierung, das Antiterrorgesetz zu modifizieren und die Klagen wegen Terrorismus gegen die Mapuche-Gefangenen aufzuheben. Das Gesetz besteht jedoch weiter. Die Gefangenen erreichten immerhin eine Reform des Militärgesetzes: Militärgerichte dürfen nun keine ZivilistInnen mehr richten.

Verflogene Euphorie

Mit dem Slogan „Cambio“ war der damalige Bischof Fernando Lugo Anfang 2008 an der Spitze der heterogenen Patriotischen Allianz für den Wechsel (APC) in den Wahlkampf gezogen. Übersetzt man cambio mit „Wechsel“, ist ihm das durchaus gelungen. Zum ersten Mal nach 61 Jahren Herrschaft – darunter 33 Jahre Militärdiktatur – musste die rechtskonservative Colorado-Partei das Zepter abgeben. Brasilianische GroßgrundbesitzerInnen in Paraguay fürchteten ebenso wie viele andere Profiteure des alten Regimes Enteignungen. In der Hauptstadt Asunción und in vielen anderen Orten hingegen tanzten die Menschen auf der Straße, sie hofften auf einen Neuanfang des Landes.
Aber die Sorgen und Hoffnungen stellten sich bald als voreilig heraus. Ein „Wandel“, was das Wort cambio auch bedeutet, stellte sich nicht ein. Die Colorado-Partei hält weiterhin die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments und blockiert die Regierung Lugo nach Belieben. Zudem wurde schnell klar, dass die Allianz, die Lugo ins Amt gehievt hatte, außer dem gemeinsamen Kandidaten keine Berührungspunkte hat: Rechtsliberale hatten und haben kein Interesse, die progressiven Ideen der Landlosen- und Kleinbauernbewegungen mitzutragen. Kommunistische Plattformen ebenso wie Indigenen-Verbändeversagten alsbald die Unterstützung.
Die Wahl des Befreiungstheologen Lugo, die international zunächst für viel Aufsehen gesorgt hatte, wurde bald mit Spott bedacht. Lugo tiene corazón („Lugo hat Herz“) war Titel und Refrain des bekanntesten Wahlkampfliedes. Bald wurde es nur noch im Zusammenhang mit früheren Affären des Bischofs gebraucht. Der Präsident musste Putschversuche überstehen ebenso wie Intrigen im Parlament, wegen eines Krebs-Leidens war er lange außer Gefecht gesetzt. Die Unerfahrenheit seiner Regierung genauso wie der Staatsapparat, der seit Jahrzehnten von den Colorados dominiert wird, taten ihr Übriges.
„Ich dachte, wir könnten Paraguay heilen“, sagt Cristina Álvarez aus Asunción. Die Mutter von vier Kindern hat wie viele andere Lugo gewählt. Nicht, weil sie links wäre, wie sie beteuert, sondern weil sie ein Leben ohne Korruption und Vetternwirtschaft wollte. „Meine Kinder sollen eine faire Chance haben“, wünscht sie sich. Doch Heute ist sie enttäuscht, in ihren Augen hat sich nichts verändert: „Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schulen nicht besser, an eine Landreform glaube ich nicht und Korruption und Klientelwirtschaft gibt es wie früher“, ärgert sich die 52-Jährige.
Auch Indigenen-VertreterInnen sind mit dem Präsidenten unzufrieden. 2005 und 2006 wurde Paraguay vom Interamerikanischen Gerichtshof dazu verurteilt, enteignetes Land der Kelyenmagategma zurückzugeben. Passiert ist bis heute nichts. Auf eine Nachfrage von Amnesty International bei seinem Besuch in Deutschland meinte Lugo lapidar, dass „bis Ende des Jahres eine Lösung gefunden werden soll“. Ebenso wenig kam die Regierung mit dem Versuch voran, bisher von der Zivilisation unberührte Ayoreo-Stämme in der Chaco-Region samt der sie umgebenden Ländereien unter Schutz zu stellen. Weiterhin leben zahlreiche Stämme wie die Nivaclé in bitterer Armut in geschlossenen Reservaten, Zugang zu sauberem Wasser ist dort selten. Die Aufwertung der indigenen Sprache Guaraní zur Amtssprache ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Das wichtigste Anliegen der neuen Regierung aber war die Landreform. Durch ungeklärte Besitzverhältnisse, Korruption und Klientelwirtschaft ist in fast keinem Land der Welt Bodenbesitz so ungerecht verteilt wie in Paraguay. Rund 80 Prozent des Landes sind in den Händen von 2,5 Prozent der Bevölkerung. Während die meisten UnterstützerInnen Lugos eine Agrarreform als ihr Hauptanliegen nennen, sperren sich die politisch mächtigsten Verbündeten des Präsidenten, die Liberalen, vehement gegen eine Reform. So war der erste Agrarminister, Cándido Vera Bajarano, Großgrundbesitzer und Gentechnik-Befürworter. Mobilisierungen der GroßgrundbesitzerInnen finden daher sowohl in der Regierung als auch der Opposition bereitwillig Gehör.
„Wir arbeiten daran, ein Kataster zu erstellen, in dem jeder Landbesitz verzeichnet ist, damit wir eine Reform angehen können“, sagte Präsident Lugo dazu vor wenigen Wochen in Berlin. „Erst dann können wir mit einer Umverteilung beginnen“, fügte er hinzu. Nach fast drei Jahren Regierung ist das jedoch zu wenig, finden selbst seine wichtigsten UnterstützerInnen. „Der Wandel stagniert. Trotz unserer Wünsche und unseres Willens haben wir objektiv kaum etwas erreicht“, gibt Camilo Soares im Interview mit den LN zu (siehe LN 439). Soares ist Minister im Kabinett Lugo und wichtigster Repräsentant der Bewegung zum Sozialismus (PMAS).
Auch Sixto Pereira, Vizepräsident des Senats, führendes Mitglied der Campesino-Bewegung Tekojojá und derzeit einziger linker Senator, sieht keine Fortschritte bei der Landreform: „Der große Fehler war, den Rechten das Ministerium zu überlassen“. Beide Politiker sind enttäuscht vom Präsidenten. Mit größerem politischen Mut hätte Lugo mehr bewegen können, sind sie sicher, denn die Bevölkerung hatte er lange auf seiner Seite.
Nicht so den klientelistischen Staatsapparat. Zwar konnte Lugo durch Umbesetzungen in der Spitze des Militärs rechte Kräfte zurückdrängen und Initiativen gegen Korruption umsetzen. Spürbar werden diese Reformen bisher jedoch kaum. VertreterInnen von sozialen Bewegungen klagen weiter über Repression. Auch hat der Präsident zwischenzeitig den Ausnahmezustand ausgerufen, um mit aller Härte gegen Protestierende vorzugehen. Geschuldet sei diese Aktion dem Kampf gegen den Terrorismus gewesen, immer wieder gab es Berichte über eine paraguayische Guerilla, die EPP.
Ähnlich sieht es bei der Bekämpfung der Korruption aus. Zwar gibt es inzwischen verbesserte Mechanismen für öffentliche Ausschreibungen und Entlassungen für Staatsbeamte, die nicht zur Arbeit erscheinen, doch verfolgt die Justiz Vergehen kaum. Posten im Justizwesen sind traditionell Metier der Colorados, daran hat sich bisher nichts geändert.
Auch die erhofften Fortschritte in der Steuerpolitik sind bislang ausgeblieben. Es gibt weiterhin keine Einkommensteuer, die Abgaben auf Soja-Exporte liegen bei derzeit 3,5 Prozent. Zum Vergleich: Im benachbarten Argentinien sind es 35 Prozent.
Um die Staatskassen zu füllen, bleibt nur der Rückgriff auf die Gelder aus dem Itaipú-Staudammprojekt. Hier konnte die Regierung Lugo einen ihrer wichtigsten Erfolge verbuchen. Der noch unter Strössner unterzeichnete Vertrag mit dem Nachbarn Brasilien wurde nachverhandelt. Dadurch erhält Paraguay mehr Stimmrechte im gemeinsamen Ausschuss und mehr Einnahmen. Zudem wurde ein Streit aus der Welt geschafft, der seit Jahren die Beziehungen zu dem einflussreichen Nachbarn belastete.
In den letzten Wochen kam heraus, dass ein Mitarbeiter des Riesenstaudamms Itaipú Millionenbeträge veruntreut hat. Als Berater für die Rentenkasse des binationalen Unternehmens hatte er die Möglichkeit dazu – es passiert ihm jedoch nichts, da der zuständige Minister sein Onkel und der Staatsanwalt mit ihm befreundet ist. Dennoch gelang es Lugo, mit der Neuverhandlung des Itaipú-Vertrages, Paraguay international etwas aus der Isolation zu führen und stärker an seine lateinamerikanischen Nachbarn zu binden. Bleibt zu hoffen, dass damit in Zukunft die viel zu enge Bindung an die USA gelockert werden kann.
Ein weiterer Punktsieg gelang der Regierung bei den Sozialausgaben. Musste die Regierung zunächst mit ansehen, wie die von Colorados dominierten Parlamente die Ausgaben zusammenstrichen, zeichnet sich jetzt eine stückweise Besserung ab. Zu Befürchten steht allerdings, dass viele Gelder ebenso wie der kürzlich erhöhte Mindestlohn in der Praxis niemals ihre EmpfängerInnen erreichen.
Kaum mehr zu nehmen ist der Regierung die Errungenschaft eines kostenlosen Bildungssystems und dessen stückweiter Ausbau, allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Paraguay hat immer noch eine hohe Analphabetenrate, gerade unter der indigenen Bevölkerung. Viele Kinder in ländlichen Gebieten sind Stunden unterwegs, um eine Schule zu erreichen, LehrerInnen werden schlecht bezahlt, und Zugang zu Universitäten hat nur die Oberschicht.
Ähnliches gilt für das Gesundheitssystem, das inzwischen für alle ParaguayerInnen kostenlos ist. Behandlungen und Medikamente werden vom Staat bezahlt. Allerdings sind die meisten öffentlichen Krankenhäuser in einem erbärmlichen Zustand, MedizinerInnen haben an niedrigen Löhnen zu knabbern. Eines der Hauptprobleme bleibt, dass viele auf dem Land geborene Kinder niemals registriert werden. Somit haben sie keine Papiere und dadurch keinen Zugang zu Sozialleistungen.
Und in den Augen der meisten VertreterInnen von sozialen Bewegungen, der wichtigsten Stütze des Präsidenten, können diese kleinen Schritte nach vorn das Versagen etwa bei der Agrarreform nicht aufwiegen. „Deswegen haben wir in der Bewegung diskutiert und uns entschlossen, die Machtfrage zu stellen und eine eigene politische Kraft mit den unzufriedenen Sektoren aufzubauen. Das Ergebnis ist die Partido Popular (Volkspartei, Anm. d. Red), deren Vorsitz ich habe“, sagt Sixto Pereira und bringt sich damit als neuen Präsidentschaftskandidaten der Linken für die Wahl 2013 ins Spiel.
Die Unzufriedenheit mit Lugo ist unter den Linken und AktivistInnen mit Händen zu greifen. Den meisten stoßen die Kompromisse und die Zurückhaltung gegenüber den alten Machteliten sauer auf. Politische AnalystInnen sehen das Problem vor allem in der geringen politischen Erfahrung des Präsidenten: „Lugo ist ein Mensch, der keine Konditionen bietet, um ein Land zu regieren und viel weniger noch um Reformen und Wechselstimmung anzuführen. Dieses Land benötigt tiefe, einschneidende Veränderungen und dies geht nur mit einem unverwechselbaren Führungsstil und mit vertrauenswürdigen Menschen an seiner Seite“, sagte etwa der liberale politische Analyst Gonzalo Quintana der rechten Zeitung ABC Color.
Es sieht im Moment nicht danach aus, dass Lugo in den verbleibenden Jahren noch einmal die Massen bewegt und GroßgrundbesitzerInnen und Colorados zu Zugeständnissen und Reformen zwingt. Dazu hat er inzwischen zu wenig Rückhalt. Ihm Versagen auf der ganzen Linie vorzuwerfen, greift allerdings auch zu kurz. Unter schwierigen Vorraussetzungen sind bereits einige Projekte verwirklicht worden. Mit mehr Mut und Erfahrung könnte jedoch noch vieles mehr erreicht werden. Die Zögerlichkeit des ehemaligen Bischofs ist aber auch auf seinen Respekt vor den politischen Institutionen zurückzuführen. Wohl kein Präsident vor ihm hat die Verfassung und die politischen MitspielerInnen mit dem gleichen gebotenen demokratischen Respekt behandelt.
Auch wenn der Wandel, den Lugo und seine Verbündeten versprochen hatten, bis heute ausgeblieben ist, so hat es doch einen Wechsel gegeben. Zum ersten Mal seit 60 Jahren konnte Paraguay erleben, dass Wahlen zumindest ein bisschen etwas ändern. Jetzt liegt es wieder an den Basisbewegungen, aus dem Wechsel einen tiefgreifenden Wandel zu machen.

Die langen Schatten der bleiernen Zeit

Die „bleiernen Jahre“ Brasiliens sind noch lange nicht aufgearbeitet. Regelmäßig sorgen diese sogenannten anos de chumbo für Auseinandersetzungen darüber, wie heute mit ihnen umgegangen wird. Die brasilianische Militärdiktatur, die das Land von 1964 bis 1985 hart im Griff hatte, hatte Ende 1968 mit dem Erlass des sogenannten „AI-5“ die Repression massiv verschärft – in Anlehnung an den Spielfilm Die bleierne Zeit (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta werden diese Jahre in Brasilien die „Bleiernen“ genannt.
So ging auch der seit Jahren schwelende Streit um die Öffnung der noch geheimen Regierungs- und Militärakten (siehe LN 407) im Juni in eine neue Runde. Die seit Januar dieses Jahres amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hatte angekündigt, die Öffnung der Archive endlich mit Nachdruck voranzutreiben. Zurzeit gilt laut brasilianischer Rechtsprechung für als höchst sensibel eingestufte Dokumente eine maximale Sperrfrist von 30 Jahren – nach Ablauf der Frist kann diese jedoch beliebig oft um weitere 30 Jahre verlängert werden. Seit 2005 fungiert das damals neu geschaffene Nationalarchiv als zentrale Sammelstelle für alle Dokumente aus der Zeit der Militärdiktatur. Es steht unter der Aufsicht des Präsidialamts Casa Civil und führt, laut Auskunft des Generaldirektors Jaime Antunes, einen Bestand von 13.850.000 Seiten.
Doch nicht nur die in Brasilien gültigen Klassifizierungsgesetze verhindern die Einsicht in als geheim eingestufte Dokumente. Auch das Militär wehrt sich nach wie vor gegen die Veröffentlichung geheimer Akten und Dokumente aus der Zeit der bleiernen Jahre. Und auch die Kritik aus der Politik an Dilmas Rousseffs angekündigtem Kurs ließ nicht lange auf sich warten. So sprach sich Ex-Präsident José Sarney, der Brasilien von 1985 bis 1990 regierte, gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Agência Brasil mit Nachdruck gegen die uneingeschränkte Veröffentlichung aller brasilianischen Geheimakten aus. Für ihn berge die Öffnung der Archive die Gefahr, dass die „Wunden der Vergangenheit wieder aufreißen“ könnten. Neben der harschen Kritik von Sarney übten auch ein weiterer Ex-Präsident des Landes, Fernando Collor (1990 bis 1992), sowie das Militär Druck auf Dilma Rousseff aus, ihren Kurs zu ändern.
Diese änderte daraufhin laut Medienberichten beinahe wöchentlich ihre Meinung: Erst hieß es, sie wolle die Öffnung der Archive durchsetzen, aber eine maximale Sperrzeit von 50 Jahren für als geheim klassifizierte Dokumente einrichten. Auch laut der Tageszeitung Estado de São Paulo sei Dilma bereit, die im Senat anhängige Entscheidung über die Öffnung der Geheimarchive im Sinne der beiden Ex-Präsidenten umzuändern, indem sie die Möglichkeit einer verlängerbaren Sperrfrist einräume. Wenig später wurde in der Tageszeitung O Globo Dilmas angebliche Meinungsänderung wieder dementiert. Zum Redaktionsschluss zeichnete sich im Senat, wie eine von der Tageszeitung Folha de São Paulo erhobene Befragung der SenatorInnen ergab, eine Mehrheit für die maximale Sperrfrist von 50 Jahren ab.
Familienangehörige von verschwundenen und ermordeten GegnerInnen der Militärdiktatur kämpfen hingegen seit Jahren unermüdlich um die Offenlegung aller geheimen Informationen, die Licht in das Dunkel um das Schicksal der Verschwundenen bringen könnten. Angehörige der seit 1974 verschwundenen Mitglieder der Guerilla im Gebiet der Araguaia führen seit 26 Jahren einen Rechtsstreit gegen den brasilianischen Staat, damit dieser sich endlich der eigenen Verantwortung stellt. Die Guerillagruppe wurde Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei (PCdoB) gegründet und operierte bis Ende 1974 im Grenzgebiet der damaligen brasilianischen Bundesstaaten Pará, Maranhão und Goiás, das Gebiet des heutigen Tocantins. Die geschätzten siebzig bis achtzig Mitglieder sowie eine unbekannte Zahl von BewohnerInnen der Region, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seitdem verschwunden. Das brasilianische Justizministerium hatte im Jahr 2004 einen als „abschließend“ deklarierten Bericht veröffentlicht, in dem 71 Personen offiziell als verschwunden und die Fälle als abgeschlossen deklariert wurden. Im vergangenen Jahr jedoch konnten erstmals sterbliche Überreste von Verschwundenen exhumiert und identifiziert werden, nachdem Militärangehörige in der Presse Hinweise zu mögliche Fundstellen gemacht hatten.
Nachdem das Anliegen der Angehörigen in Brasilien von den Behörden immer wieder auf Eis gelegt worden war, reichten sie ihre Klage beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten ein. Dieser verurteilte den brasilianischen Staat Ende letzten Jahres wegen der Verschleppung und Ermordung von 62 der verschwundenen Mitglieder der Araguaia-Guerilla. Die RichterInnen des CIDH verlangten von Brasilien, alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen. Im 126 Seiten umfassenden Urteilsspruch wurde den Behörden vorgeworfen, die Verantwortlichen für die Morde nicht ermittelt zu haben. Darüber hinaus wurden Entschädigungszahlen für die Angehörigen festgesetzt und der Staat dazu verpflichtet, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Leichen der Ermordeten ausfindig zu machen.
Um diesem Ziel endlich näher zu kommen, setzen die Angehörigen der Verschwundenen auf die Deklassifizierung der Geheimakten. Doch nicht nur PolitikerInnen und das Militär selbst weigern sich, die Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften. Auch die Politik des brasilianischen Außenministeriums versuchte bisher, die Veröffentlichung von geheimen Akten zu verhindern. 2005 hatte der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein Dekret erlassen, nach dem alle Dokumente, die „die Souveränität, die territoriale Integrität oder die Außenbeziehungen“ Brasiliens beeinträchtigen könnten, weiterhin unter Verschluss gehalten werden müssen.
So gibt es beispielsweise noch immer als streng-geheim klassifizierte Dokumente aus der Zeit des brasilianisch-argentinischen-uruguayischen Kriegs gegen Paraguay (1864 bis 1870), die die im Anschluss an den Krieg getroffenen Grenzziehungen betreffen. In diesem Krieg starben über zwei Millionen Menschen, und Paraguay musste in Folge der Niederlage 144.000 Quadratkilometer Land an Brasilien und Argentinien abtreten. Die brasilianische Regierung, allen voran das Außenministerium, verweigerte stets die Herausgabe dieser Dokumente, mit dem Hinweis, eine Veröffentlichung könne „das gute Verhältnis und die Kooperation im MERCOSUR“ gefährden. Paraguays Regierung verurteilte diese Argumentation als „absolut unangemessen“.
Angesichts Rousseffs Engagement zur Offenlegung der Geheimakten ruderte im Juni dieses Jahres das Außenministerium zurück und verkündete, es gebe nach Durchsicht der Aktenlage „keine weiteren Bedenken“ mehr gegen eine Veröffentlichung der Dokumente. Nicht nur HistorikerInnen warten nun gespannt auf die Möglichkeit, die Archive des Außenministeriums einsehen zu dürfen.
Neben der Archivöffnung steht zurzeit ein weiteres Gesetz in der Diskussion, das die Aufarbeitung der repressiven Vergangenheit betrifft. Das Gesetz Nr. 7.376 sieht die Einrichtung einer Wahrheitskommission vor, welche die Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur untersuchen soll. Ende April hatten Kongressabgeordnete der Regierungsallianz gemeinsam mit ParlamentarierInnen der oppositionellen Parteien im brasilianischen Abgeordnetenhaus die zügige Verabschiedung des Gesetzes gefordert. Für Maria do Rosário, Ministerin des Sondersekretariats für Menschenrechte, wäre die Einrichtung einer solchen Kommission „ein Zeichen für das Recht auf Erinnerung“. Auch Justizminister José Eduardo Cardozo sprach sich vehement für die Wahrheitskommission aus: „Die Wahrheitskommission, die zurzeit im Nationalkongress diskutiert wird, ist eine Pflicht des brasilianischen Staates. Dieser ist historisch und demokratisch dazu verpflichtet, die Verbrechen der Diktatur aufzuklären“, erklärte der Minister. „Wer sich der Suche nach Wahrheit widersetzen möchte, kann dies im Rahmen demokratischer Meinungsäußerung, die wir heute haben, tun. Doch ich bin sicher, dass das, was die brasilianische Gesellschaft heute will, die Wahrheit ist.“
Die Gesetzesvorlage wurde letztes Jahr noch unter der Regierung Lula in den Kongress eingebracht. Sogleich rief es KritikerInnen auf den Plan, die lieber einen Schlusspunkt hinter der Vergangenheit sehen wollen. Etliche Abgeordnete rechter Parteien und das Militär lehnen das Gesetz rundheraus ab. So wandte sich Nelson Jobim, unter Lula Verteidigungsminister, Anfang dieses Jahres gegen die Einrichtung einer Wahrheitskommission. Später ruderte er zurück und erklärte sich mit ihr einverstanden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Wahrheitskommission nicht mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet werde, sondern die Fälle nur untersuchen dürfe.
Führende Militärangehörige hatten zuvor in einem Brief an das Verteidigungsministerium damit gedroht, dass die Wahrheitskommission „Spannungen und ernsten Zwist“ hervorrufen könnte. Die zunehmende Unruhe unter den Militärs über die aktuellen Entwicklungen offenbarte sich abermals, als im April der Sender SBT die Telenovela „Amor e Revolução“ (Liebe und Revolution) gezeigt hatte, die sich kritisch mit der Zeit der Militärdiktatur auseinandersetzt. Zunächst protestierten die Militärs in einer offenen Petition gegen die Telenovela; der Versuch juristisch gegen die Ausstrahlung der Fernsehserie vorzugehen, scheiterte jedoch.
Noch mehr besorgt ist das Militär aber um die Zukunft des bis heute geltenden Amnestiegesetzes von 1979. Dieses verhindert strafrechtliche Anklagen gegen Angehörige des Militärs wegen Verbrechen, die während der Diktatur begangen wurden. 2008 gelang es Opfern der Militärdiktatur jedoch erstmals, einen Folterer vor Gericht zu bringen (siehe LN 405): Im Prozess gegen den ehemaligen Chef vom in den 1970er Jahren berüchtigten Folterzentrum DOI-CODI in São Paulo ging es um das Recht, den Folterer als Folterer bezeichnen zu dürfen. Eine Bestrafung von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra oder eine Entschädigung der Familie war in der Klage nie vorgesehen. Die KlägerInnen gewannen den Prozess: Sie dürfen Ustra heute einen Folterer nennen.
Das Urteil hatte Signalwirkung. Die Staatsanwaltschaft erhob in Folge dessen weitere zivilrechtliche Klagen gegen Ustra sowie andere Täter der Diktatur. Strafrechtliche Klagen werden jedoch durch das Amnestiegesetz verhindert. Dessen Gültigkeit wurde erst 2010 vom Obersten Gerichtshof Brasiliens erneut bestätigt, nachdem der brasilianische Anwaltsverband OAB auf Aufhebung des Amnestiegesetzes geklagt hatte. So bleiben die Folterer der bleiernen Jahre in Brasilien weiter straffrei. Doch das unedle Gebrauchsmetall Blei zeichnet sich neben seiner Schwere vor allem durch seine Formbarkeit aus – es muss nur jemand ernsthaft in Angriff nehmen.

Terroristen sollt ihr sein

„Lebenslänglich!“ – Diese härteste aller Freiheitsstrafen forderte Ex-Staatsanwalt Alejandro Peña für Pablo Morales und Rodolfo Retamales, denen er vorwirft, Anführer einer terroristischen Vereinigung zu sein. Er betrachtet sie als die Hauptverantwortlichen für über 100 Bombenanschläge, die seit 2005 in Chiles Hauptstadt Santiago gegen Bankautomaten und Regierungsgebäude verübt wurden. Sie und zwölf weitere Angeklagte, zehn Männer und zwei Frauen, sollen TerroristInnen sein, AnarchistInnen noch dazu.
Die TäterInnenfrage im sogenannten Caso Bombas schien für die Staatsanwaltschaft klar zu sein: Denn bei den zwei Hauptangeklagten handelt es sich um zwei ehemalige Mitglieder des Mapu Lautaro, einer aus der Undidad Popular hervorgegangen militanten Organisation, die die Militärdiktatur in Chile (1973 bis 1990) bekämpfte, dazu Häuser besetzte und anarchistische Literatur herausgab.
Doch von der anfänglich scheinbar so klaren Sachlage ist nicht mehr viel übrig. Nach einem mehr als 60 Tage andauernden Hungerstreik sind seit dem 5. Mai 2011 sämtliche Beschuldigte aus der Untersuchungshaft in Hausarrest entlassen worden und warten nun dort auf die Eröffnung des Prozesses. Doch die Ermittlungen in diesem Fall dauern schon lange an, ein Ende ist nicht absehbar.
2005 wurde der Staatsanwalt Xavier Armendáriz mit dem Fall beauftragt. Fünf Jahre ermittelte er mit seinem Team, ließ besetzte Häuser überwachen, Telefongespräche abhören, verdeckte ErmittlerInnen einsetzen, ZeugInnen verhören – kurz: er zog alle ermittlungstechnischen Register, konnte aber trotzdem keine Ergebnisse präsentieren. Im Juni 2010 wurde Armendáriz dann durch den mittlerweile ins Innenministerium abgewanderten Alejandro Peña ersetzt, der sich in der Bekämpfung von Drogenbanden einen Namen gemacht hatte. Dieser schaffte in zwei Monaten das, was sein Vorgänger in fünf Jahren nicht erreicht hatte. Er präsentierte 14 Beschuldigte, die er bei zeitgleichen Razzien am 14. August 2010 in Santiago und Valparaíso aus ihren Wohnungen oder Wohnprojekten heraus festnehmen ließ. Acht von ihnen wurden in Hochsicherheitsgefängnisse verfrachtet.
Die Medien stürzten sich sofort auf den Fall und schon bald darauf wurde im Fernsehkanal TVN eine Sondersendung über die Verhafteten ausgestrahlt, die im Wesentlichen auf Bildmaterial der Ermittlungspolizei (PDI) basierte. Gezeigt wurden Aufnahmen versteckter Kameras vor und in besetzten Häusern sowie aufgezeichnete Telefongespräche, die außer der Tatsache, dass einige der Angeklagten in den Häusern wohnten, keinerlei Aussagekraft haben. Dennoch war in dieser Sondersendung sowie in den großen Printmedien El Mundo, La Tercera und La Segunda schnell klar, was Sache ist. Der Angeklagte Oscar Hermosillo sagte im Interview mit der Zeitung El Ciudadano: „Einige Medien verurteilten uns bereits öffentlich. Damit haben sie zu einer perfekten Atmosphäre für unsere Festnahmen beigetragen.“
Für Teile der chilenischen Medienlandschaft ist es offenbar schon höchst verdächtig, in einem besetzten Haus zu wohnen. So verweist La Tercera in einer Nachricht über eine Festnahme darauf, dass der Festgenommene neben dem Vorwurf Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben, „außerdem in einem besetzten Haus wohnt“.
Tatsächlich sind die bisher präsentierten Beweise dürftig. Lediglich leere Plastikflaschen, anarchistische Literatur, Videos, die zeigen, dass sich die Angeklagten in besetzten Häusern aufhalten und Fahrräder – die BombenlegerInnen waren meistens mit Fahrrädern unterwegs – sind die Grundlage, auf der die Angeklagten in Haft gehalten wurden.
Dass dies überhaupt möglich war, verdanken die chilenischen Ermittlungsbehörden einem Antiterrorgesetz aus dem Jahr 1984. Dieses ermöglicht neben weitreichenden Ermittlungsbefugnissen und der extrem langen Untersuchungshaft auch die Benennung von anonymen ZeugInnen, von denen im Caso Bombas mehr als 30 berufen wurden. Neben diesem Fall wird das Antiterrorgesetz bei den sich ebenfalls im Hungerstreik befindenden gefangenen Mapuche angewendet (LN 435).
Die Hungerstreiks der mittlerweile freigelassenen AnarchistInnen und der Mapuche haben nun auch ein juristisches Nachspiel. Und wieder kommt die zweifelhafte Rolle der Medien in diesem Fall zum Vorschein. Der nationale Fernsehrat Chiles (CNTV) hat eine Klage gegen die Fernsehsender TVN, Chilevisión, Canal 13, Mega und UCV-TV angenommen. Sergio Millamán von der Online -Zeitung Mapuexpress und Luis Cuello von dem Blog Otra Prensa! werfen besagten Fernsehsendern vor, mit ihrer mangelnden Berichterstattung über die Hungerstreiks gegen das Presserecht verstoßen zu haben. Die Erfolgsaussichten der Klage stehen nicht schlecht: Mega wurde in einem anderen Verfahren wegen der unausgewogenen Berichterstattung über den Caso Bombas im Zeitraum zwischen dem 14. und 18. August 2010 schon zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt.
Neben dem medialen Dauerfeuer gegen die Angeklagten geraten auch die Beweggründe der Staatsanwaltschaft in die Kritik. Linke Medien wie El Ciudadano bezweifeln die Unabhängigkeit des früheren Staatsanwalts Peña, dem enge persönliche Kontakte zu Innenminister Rodrigo Hinzpeter nachgesagt werden. Auch der Vorwurf, das ganze Verfahren sei inszeniert, ist immer häufiger zu hören. „Der Einschätzung einiger sehr respektabler Anwälte nach, sieht es so aus, als ob es sich hier um eine Inszenierung des berühmten Staatsanwalts Peña und des Innenministeriums handelt“, äußerte der Priester Alfonso Baeza, mit dessen Hilfe der Hungerstreik der Gefangenen beendet werden konnte, im Interview mit dem Radiosender ADN.
Kritische Stimmen wie José Miguel Guzmán vom Menschenrechtszentrum CINTRAS gehen mittlerweile davon aus, dass es weniger um die Aufklärung des Falls an sich als um die Kriminalisierung von Oppositionellen geht: „Heute sind es diese jungen Leute, morgen kann es andere Bereiche der Gesellschaft treffen, wie Gewerkschaftsführer, Studenten, und all diejenigen, die sich gegen das politische, ökonomische und soziale System auflehnen. In diesem Fall geht es darum, diejenigen zu stigmatisieren, die aufbegehren und gegen das rebellieren, was in unserem Land schlecht ist“.
Aktuell sieht es aus, als ob eine Prozesseröffnung in naher Zukunft nicht zu erwarten ist. Und auch die Staatsanwaltschaft scheint kalte Füße zu bekommen. Nachdem schon Teile der gesammelten „Beweise“ gegen die Angeklagten für ungültig erklärt wurden, hat die Ermittlungspolizei PDI dem Angeklagten Francisco Solar einen Deal versprochen, wie dieser im Interview mit der Zeitschrift the clinic sagte. Wenn er sich für schuldig erklären würde, müsse er nicht mehr ins Gefängnis. Anscheinend werden sich auch die Behörden bewusst, dass ihre Anklage auf Sand gebaut ist. Und immerhin: El Mercurio berichtete über den Deal.

Paradies der Straflosigkeit vor dem Aus

Seit 26 Jahren ziehen an jedem 20. Mai tausende Menschen schweigend durch die Innenstadt von Montevideo. Sie erinnern an die während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 Ermordeten und „Verschwundenen“. Bisher schützte ein Amnestiegesetz die TäterInnen weitestgehend. 2011 soll jedoch an diesem für viele UruguayerInnen symbolträchtigen Tag das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ seine Gültigkeit verlieren. So haben es die ParlamentarierInnen der regierenden Mitte-Links-Koalition Frente Amplio in Uruguay entschieden.
Zunächst hatte das Repräsentantenhaus am 20. Oktober 2010 mit seiner linken Mehrheit das 1986 von der damaligen konservativen Regierung unter Julio María Sanguinetti verabschiedete so genannte „Ley de Caducidad“ („Hinfälligkeits-Gesetz“) in seinen wesentlichen Artikeln für ungültig erklärt. Am 12. April 2011 wurde es auch im Senat, der zweiten Parlamentskammer, mit einer Stimme Mehrheit aufgehoben. Wegen formaler Änderungen müssen jetzt noch einmal abschließend die Abgeordneten abstimmen, dann ist der Weg frei für die Unterzeichnung durch den Staatspräsidenten José Mujica. Obwohl sich der ehemalige Tupamaro-Guerrillero immer noch nicht zweifelsfrei dazu geäußert hat, wird jedoch davon ausgegangen, dass der Präsident den Beschluss unterzeichnet und das Amnestiegesetz damit seine Gültigkeit verlieren wird. Damit wäre auch Uruguay, das Land in Lateinamerika, in dem während der Militärdiktatur in Bezug auf seine Einwohnerzahl die meisten Menschen inhaftiert wurden, kein Paradies der Straflosigkeit mehr.
Während im Abgeordnetenhaus die Frente Amplio-Mehrheit geschlossen abstimmte, führte das Votum im Senat zu einer Zerreißprobe für das 1971 gegründete älteste Linksbündnis Lateinamerikas. Nach einer mehr als zwölf Stunden andauernden hitzigen Debatte stimmte der uruguayische Senat mit 16 Stimmen der Linkskoalition gegen das Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur von Angehörigen des Militärs und der Polizei begangen wurden, untersagt hatte. 15 SenatorInnen der geschlossen auftretenden konservativen Opposition stimmten für die Beibehaltung des Amnestiegesetzes.
Für heftige Diskussionen hatten im Vorfeld der Abstimmung die Positionen von drei Senatoren der Frente Amplio gesorgt, die sich – entgegen allen Beschlüssen der obersten Gremien des Parteien- und Bewegungsbündnisses und gegen den expliziten Willen der Basiskomitees – entschieden hatten, gegen die Aufhebung des Gesetzes zu stimmen. Gefunden wurde letztlich ein „fauler“ Kompromiss, der von den Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Familienangehörigen der Verschwundenen und Ermordeten trotz aller Freude über das abzusehende Ende der straffreien Zeit heftig kritisiert wurde.
Am meisten Aufmerksamkeit erregte dabei die Haltung des Senators Eleuterio Fernández Huidobro. Huidobro, genannt „El Ñato“, war einer der GründerInnen der Tupamaros und ebenso wie José „Pepe“ Mujica dreizehn Jahre lang unter extremsten Bedingungen während der Militärdiktatur inhaftiert. Seit 2004 ist er Senator für die Frente Amplio. Er stimmte letztlich aus Parteidisziplin der Aufhebung des Gesetzes zu, trat aber am folgenden Tag von seinem Senatsposten zurück. Der Senator Jorge Saravia hingegen blieb bei seinem Nein – und wurde direkt im Anschluss an die Abstimmung aus der Partei verstoßen. Senator Rodolfo Nin Novoa, unter Tabaré Vázquez Vizepräsident, ließ sich beurlauben und überließ das Stimmrecht seinem Stellvertreter.
Saravia und Novoa argumentierten vor allem damit, dass der Wille des Volkes zu respektieren sei. Sie bezogen sich hierbei auf die beiden Volksabstimmungen zur Abschaffung des Gesetzes über die Straflosigkeit von 1989 und 2009. Sowohl im April 1989, noch unter dem Eindruck des Schreckens der vier Jahre vorher abgetretenen Militärregierung, als auch im Oktober 2009 wurde die notwendige Mehrheit von 50 Prozent plus eine Stimme, die zur Annullierung des Gesetzes notwendig gewesen wäre, nicht erreicht. Am 25. Oktober 2009, dem Tag als die ehemalige Geisel des Staates „Pepe“ Mujica den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen deutlich gewann, fehlten dafür nur gut knapp zwei Prozent der Stimmen.
Sowohl innerhalb der Frente Amplio als auch von den Menschenrechtsorganisationen wurde diese formale Position, die sich die Opposition bei ihrer Kampagne gegen die Abstimmung im Parlament als Hauptargument zu Eigen machte, scharf kritisiert. „Das Ley de Caducidad war für uns immer null und nichtig, und es hat immer allen internationalen Abkommen über die Achtung und den Schutz der Menschenrechte, die Uruguay seit Mitte der 1980er Jahre unterschrieben hat, widersprochen“, so Luisa Cuesta, Sprecherin der Mütter und Familienangehörigen der „Verschwundenen“. Aus diesen Gründen hatten auch schon beide Kammern des Parlamentes im Februar 2009 das Amnestiegesetz im Falle der Ermordung der 24jährigen Nibia Sabalsagaray für verfassungswidrig erklärt. In der Folge wurden mehrere Militärangehörige, die für die Ermordung der jungen Kommunistin verantwortlich gemacht werden, zu Haftstrafen verurteilt. Eine Entscheidung, die kurz darauf vom obersten Gerichtshof Uruguays nicht nur bestätigt, sondern noch erweitert wurde.
Das Gericht wertete damals das Gesetz insgesamt als verfassungswidrig, vor allem mit der Begründung, dass die Legislative es 1986 gar nicht hätte beschließen dürfen. Zuvor hatten die Obersten Richter mehrere weitere Fälle für verfassungswidrig erklärt und so während der Regierungszeit des ersten Linkspräsidenten Tabaré Vázquez von März 2005 bis März 2010 den Weg für Nachforschungen und Gerichtsverfahren in insgesamt 57 Fällen geebnet. Vázquez, der einerseits das Amnestiegesetz immer als „nationale Schande“ bezeichnet hatte, während seiner Amtszeit aber keine Initiativen zur Abschaffung unterstützte, stellte sich dieses Mal klar hinter die Haltung der Mehrheit seiner Partei. Dies auch aus wahltaktischem Kalkül. Der immer noch sehr beliebte Ex-Staatspräsident plant schon seine erneute Kandidatur für die Legislaturperiode von 2015 bis 2020.
Für Huidobro hingegen ist die Annullierung des Amnestiegesetzes auch aus anderen Gründen falsch. „Die Frente Amplio begeht einen schweren Fehler”, so sein letztes Wort als Senator. Für ihn waren die Militärs ebenso wie die Tupamaros „Kämpfer“. Beide Gruppen, so Huidobro, haben Fehler begangen, für die sie heute nicht mehr verantwortlich gemacht werden können. Eine aus den 1960er Jahren stammende Logik des 69jährigen, die selbst die meisten seiner ehemaligen Mitkämpfer, geschweige denn die übergroße Mehrheit der Mitglieder der heutigen Frente Amplio nicht nachvollziehen kann: Die Linke im Jahre 2011 müsse grundsätzlich ein anderes Verständnis von Menschenrechten haben als in den 1960er und 1970er Jahren, lautet die Kritik an Huidobros Haltung. Zudem würde durch die Gleichsetzung von Militärs und Stadtguerilla auch verkannt, dass der Staatsterrorismus das Ziel hatte, ein neoliberales ökonomisches Modell zum Wohl weniger auf Kosten vieler durchzusetzen, es also keine militärische Auseinandersetzung war, sondern es vor allem um wirtschaftliche Interessen ging.

Neue Bündnisse gegen Kirchner

Der ursprüngliche Plan ist seit Oktober letzten Jahres passé. Nach dem Tod des Ex-Präsidenten Néstor Kirchner ist das „Projekt K” mit einem Präsidenten Néstor ab 2011 und seiner Ehefrau Cristina Fernández ab 2015 nicht mehr durchführbar. Doch statt einer hilflosen Präsidentin ohne starken Mann im Hintergrund präsentiert sich hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen am 23.Oktober zurzeit eher die Opposition orientierungslos. „Der Tod von Kirchner war ein harter Schlag für die Opposition“, urteilt Doris Capurro, Analystin des Meinungsforschungsinstituts Ibarómetro. Da ihre Politik lediglich auf einem Anti-Kirchnerismo basiert habe, „der vor allem auf die Person von Néstor Kirchner zentriert war“, habe die Opposition nun in vielen Fällen ihre Existenzberechtigung verloren.
Mittlerweile beginnen sich die Parteien jedoch neu zu formieren. Vor allem über die internen Vorwahlen lässt sich nach und nach ein klareres Bild der ernst zu nehmenden GegenkandidatInnen erkennen. Zunächst ist da die parteiinterne Opposition in der peronistischen Partei Partido Justicialista (PJ). Die PJ geht auf General Juan Domingo Perón zurück und zeichnete sich in den letzten Jahrzehnten immer durch eine gewisse politische „Flexibilität“ aus. Die neoliberale Politik der 1990er Jahre unter dem peronistischen Präsidenten Carlos Saúl Menem führte dabei geradewegs in die wirtschaftliche und soziale Krise von 2001. Der Kandidat mit den besten Aussichten, für die PJ ins Rennen um das Präsidentenamt zu gehen, ist Eduardo Duhalde. Dieser ist seid Ende der 1980er Jahre eine prägende Figur innerhalb der PJ. Er war unter anderem Vizepräsident unter Menem und übernahm das Präsidentenamt während der Krise 2001 bis zur Übergabe an Néstor Kirchner im Mai 2003.
Seine PJ, die mit der Politik Menems assoziiert wird, wird von seinen GegenerInnen auch „PJ disidente” (Abtrünnige PJ) genannt. Damit wollen sie den Unterschied zur Front für den Sieg (FpV) der Kirchners deutlich machen, die sich als „einzig wahre“ peronistische Partei im Sinne der Ideale Juan und Evita Perons stilisiert. Zu den Wahlen werden die PJ und die FpV als getrennte Parteien antreten, als Organisationen gehören sie jedoch beide unter das Dach der PJ.
Der Journalist Luis Bruschtein fasst das Verhältnis dieser beiden sich als peronistisch begreifenden Lager im Januar 2011 in einem Kommentar für die regierungsnahe Tageszeitung Página 12 als „Menemismus gegen den Peronismus, der sich mit den armen Bevölkerungsschichten verbündet” zusammen.
Die zweite traditionelle Kraft innerhalb der argentinischen Parteienlandschaft ist die sozialdemokratische Radikale Bürgerunion (UCR). Auch hier ist der aussichtsreichste Kandidat nicht ganz unbekannt: Ricardo Alfonsín, der Sohn des 2009 verstorbenen Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín. Der große Name erweist sich jedoch eher als Bürde. So ist der Name Raúl Alfonsín zwar untrennbar mit dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach dem Ende der letzten Militärdiktatur 1983 verbunden. Gleichzeitig waren gerade seine Regierungsjahre durch einen ökonomischen Schlingerkurs gekennzeichnet, der letztlich in der Hyperinflation von 1989 endete. Kein leichtes Erbe also, zumal Ricardo Alfonsín selbst bislang weder ein wichtiges Parteiamt noch ein bedeutendes politisches Mandat innegehabt hatte.
Mit der Ansage, das argentinische Zwei-Parteien-System von PJ und UCR angreifen zu wollen, formierte sich die Partei Proyecto Sur (Projekt des Südens) um den international bekannten argentinischen Regisseur Fernando „Pino“ Solanas. Proyecto Sur bezeichnet sich selbst als linke Mitte und zieht mit populären Forderungen wie der Verstaatlichung der Erdöl- oder Minenindustrie in den Wahlkampf. Sowohl Teile des eher konservativen Bauernverbandes FAA als auch Teile des linken Spektrums wie die Bewegung zum Sozialismus (MAS), die Sozialistische Arbeiterbewegung (MST) und die Revolutionäre Kommunistische Partei (PCR) sind ein Wahlbündnis mit Pino Solanas eingegangen.
Die Parteien, die im politischen Spektrum links vom Proyecto Sur stehen, haben sich ebenfalls zusammengetan. Die Arbeiterpartei PO, die sozialistische Linke IS, die Neue Bewegung zum Sozialismus (Nuevo MAS) und die Sozialistische Arbeiterpartei (PTS) treten nach erfolgreichen Verhandlungen als Wahlbündnis an. Grund für ihren Zusammenschluss ist ein Wahlgesetz aus dem Jahr 2009, das die bislang recht geordnete Struktur der Parteienlandschaft Argentiniens im Wahljahr 2011 ziemlich durcheinander bringt. Im Dezember 2009 vom Parlament mit Stimmen der FpV und UCR verabschiedet, sieht es unter anderem obligatorische, offene, interne Vorwahlen vor. Alle gesetzlich anerkannten Parteien, die im Oktober bei den Wahlen antreten wollen, müssen an den offenen Vorwahlen am 14. August teilnehmen. Dabei wird über alle im Oktober dieses Jahres zu besetzenden politischen Ämter abgestimmt werden. Die Parteien können entweder mit nur einem oder mehreren KanditatInnen pro Amt antreten. So wird über die parteiinterne Debatte hinaus zugleich eine offene Konkurrenzsituation geschaffen.
Eine weitere wichtige Neuerung der Wahlgesetzgebung ist, dass die Anerkennung von politischen Parteien deutlich erschwert worden ist. Nach dem neuen Gesetz müssen mindestens 0,4 Prozent der Wahlberechtigten einer Provinz Mitglied der Partei sein, in Provinzen mit mehr als einer Million Wahlberechtigten müssen es mindestens 4.000 Personen sein. Dies trifft unter anderem auf die Provinz Buenos Aires und die Hauptstadt zu. Gerade für die kleineren Provinzen ist diese neue Anforderung eine echte Hürde. So werden zum Beispiel in der patagonischen Provinz Santa Cruz noch 771 Mitglieder benötigt, um eine Partei zu gründen. Im quasi menschenleeren Feuerland sind es noch stolze 387.
Außerdem muss eine Partei nun in mindestens fünf Regionen als solche anerkannt werden, für die Anerkennung also eine gewisse Überregionalität nachweisen. Darüber hinaus erschwert das neue Wahlgesetz die Bewerbungen für Senatssitze, das nationale Parlament und das Parlament der südamerikanischen Staatengemeinschaft Mercosur. Alle KandidatInnen müssen nun nachweisen, dass sie von mindestens zwei Prozent der Parteimitglieder unterstützt werden. Für die Bewerbung um das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt ist hingegen lediglich ein Prozent UnterstützerInnen notwendig. Die Parteilisten als Ganzes müssen bei der Vorwahl mindestens 1,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen, um zur Wahl am 23. Oktober zugelassen zu werden.
Die dritte entscheidende Neuerung ist die Bildung von sogenannten zusammenführenden Listen. Hier können einzelne Parteien ihre eigenen KandidatInnen aufstellen, aber zum Beispiel als Präsidentschaftskandidatin Cristina Fernández de Kirchner einsetzen. In diesem Fall könnte Cristina Fernández von den Stimmen aus anderen politischen Parteien profitieren.
Die Interessen der amtierenden Präsidentin, die das neue Gesetz mithilfe der UCR auf den Weg gebracht hat, sind eindeutig. Zum einen erschweren die 1,5-Prozent-Klausel und die Mindestmitgliederzahl das Antreten kleinerer Parteien erheblich. Laut deutschem Parteiengesetz ist zum Beispiel lediglich ein aus mindestens drei Personen bestehender, ordentlich gewählter Vorstand für eine Parteigründung nötig. Die neuen Restriktionen sollen auch die spontane Gründung von Parteien, die eher durch eine charismatische Führungsperson als mit einem ausgearbeiteten politischen Programm überzeugen, erschweren.
Fernando „Pino“ Solanas mit seinem Proyecto Sur konnte 2009 bei den Oberbürgermeisterwahlen von Buenos Aires auf Anhieb 24,21 Prozent der Stimmen auf sich vereinen – an den neuen Kriterien des überarbeiteten Wahlgesetzes wäre er schon im Vorfeld gescheitert. Es ist somit offensichtlich, dass vor allem kleinere linke Parteien wie die Arbeiterpartei PO, die sozialistische Linke IS oder die MAS sowie sich noch im Aufbau befindende Parteien am Antreten gehindert werden sollen. Cristina Fernández rechnet wahrscheinlich zu Recht damit, dass die AnhängerInnen dieser Parteien bei der Wahl letztlich ihr als kleinerem Übel ihre Stimmen geben werden.
Auch die zusammenführenden Listen sind gerade für die Kirchner-Regierung in zweifacher Hinsicht ein sehr interessantes Instrument. Zum einen ermöglicht es den sich strategisch nahestehenden Parteien, einander Koalitionsangebote zu machen, ohne die eigenen Zielsetzungen vorschnell aufgeben zu müssen. Gleichzeitig kann Fernández auf eine breite Basis verweisen, ohne selbst definitive Aussagen machen zu müssen. Und hier liegt für die Präsidentin womöglich der größte Vorteil, den ihr die umständlich anmutenden Vorwahlen bieten könnten: Durch sie wird sich schnell zeigen, wer an ihrer Seite für das Amt des Vizepräsidenten kandidieren wird. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten treten auf unterschiedlichen Listen an und konkurrieren um das Gouverneursamt in der Provinz Buenos Aires miteinander. Da ist zum einen Daniel Scioli, der zwar für die FpV antritt, allerdings nicht bedingungslos hinter dem Ehepaar Kirchner stand und immer wieder mit eigenen Ambitionen auf das Präsidentschaftsamt kokettierte. Zum anderen der relativ unbekannte Martín Sabbatella der mitte-links Partei Nuevo Encuentro, dem Cristina Kirchner offenkundig großes Vertrauen entgegenbringt.
Der Gewinner des Rennens zwischen Scioli und Sabbatella wird ihr Vizekandidat werden, sollte nicht noch einE andereR ÜberfliegerIn aus den Vorwahlen hervorgehen. Gleichzeitig entledigt sich Kirchner so den Argumenten derjenigen, die sich einen Vizepräsidenten aus den Reihen des peronistischen Gewerkschaftsdachverbands CGT wünschen. Hier fällt häufig den Name des CGT-Anwalts Héctor Recalde. Das Verhältnis zwischen Fernández‘ Frente para la Victoria und der CGT gilt schon seid längerem als angespannt. Es gibt zahlreiche Gerüchte, dass Néstor Kirchner noch in der Nacht vor seinem Tode einen heftigen Streit mit dem einflussreichen CGT-Chef Hugo Moyano hatte. Die offene Missachtung, mit der Cristina Kirchner Hugo Moyano bei der Beerdigung ihres Mannes strafte, bestätigte für viele diese Gerüchte.
Zudem hat die CGT mit zwei Skandalen zu kämpfen: Gegen Hugo Moyano selbst wird wegen Veruntreuung und Bereicherung ermittelt. Bei einer Auseinandersetzung zwischen fest angestellten ArbeiterInnen und ZeitarbeiterInnen der Eisenbahn im Oktober letzten Jahres hat außerdem ein CGT-Anhänger den linken Aktivisten Mariano Ferreyra erschossen.
Ohne ihren Zusammenhalt hätten die kleinen linken Parteien gegen Christina Kirchner keine Chance. Die Abgeordnete Liliana Olivero der IS bringt die Strategie der linken Splitterparteien poetisch, aber klar auf den Punkt: „Wir haben uns zusammengetan und brechen damit unsere zwischenparteilichen Grenzen auf, wir sind ein Leuchtturm, ein Licht sowohl für diejenigen, die schon verschiedene Mitte-Links-Alternativen ausprobiert haben, als auch gegen die pseudo-progressive Politik von Cristina Kirchner.“

Ein Meilenstein der argentinischen Literatur

Rodolfo Walsh könnte heute noch leben. Er wäre mit seinem Jahrgang 1927 fast genauso alt wie Gabriel García Márquez oder Carlos Fuentes, die unter uns sind, und 16 Jahre jünger als Ernesto Sabato, der soeben, am 30. April, im Alter von fast 100 Jahren gestorben ist. Walsh wurde nur fünfzig – am 25. März 1977 lauerte ihm mitten in Buenos Aires ein bewaffnetes Kommando der Militärdiktatur auf. Zeugen haben ausgesagt, sie hätten seine von Gewehrkugeln durchsiebte Leiche gesehen. Die lange Zeit behauptete Version vom Selbstmord im Angesicht der Militärs dürfte damit hinfällig sein.
Das Buch “Operación Masacre”, mit dem ihm 1957 der Durchbruch als Schriftsteller gelang, hat mit seiner Ermordung zumindest indirekt viel zu tun. Denn hier kam ein Autor zu seinem Stoff, hier konnte er seine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen. Fähigkeiten, die er bereits vorher zu erkennen gegeben hatte: als Verfasser knapper, poetischer Kriminalerzählungen (siehe die Besprechung eines kürzlich erschienenen Auswahlbandes in LN 435/36), aber auch investigativer Zeitungsbeiträge. Im “Massaker von San Martín”, wie es in der nun vorliegenden Neuübersetzung im Rotpunktverlag heißt, findet Walsh für seine penible Recherche über einen politischen Mordfall eine vollendete sprachliche Form: klar, rhythmisch, kraftvoll. Eine Sprache, die er in den zwanzig Jahren, die ihm verbleiben sollten, immer wieder gebraucht hat und mit der er dann die Militärjunta frontal angriff.
Der Fall im “Massaker von San Martín” ist heute eine kleinere Episode in der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und wäre nur noch SpezialistInnen bekannt, hätte Walsh nicht darüber geschrieben. Er gehört in die Zeit, nachdem Juan Domingo Perón 1955 unter Gewaltandrohungen der Armee ins Exil gegangen war. Die sogenannte “Befreiungsrevolution” unter Präsident Aramburu wurde zunächst von vielen positiv aufgenommen, gerade von vielen Intellektuellen, unter ihnen Rodolfo Walsh, die Gegner Peróns gewesen waren.
Eine peronistische Verschwörergruppe unter den Generälen Tanco und Valle rief allerdings für die Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1956 zum Umsturz auf. Der Putsch scheiterte. Polizei- und Militäreinheiten griffen überall rabiat durch, unter anderem auf einem Grundstück, auf dem General Tanco vermutet wurde. Ihn fand man nicht, nahm aber die Anwesenden, ein Dutzend Personen, kurzerhand fest. Sie wurden auf eine Polizeistation verbracht und in den frühen Morgenstunden des 10. Juni auf einem offenen Gelände außerhalb von Buenos Aires erschossen.
Im Vorwort zum “Massaker von San Martín” erzählt Walsh von seiner Beziehung zu diesen Ereignissen. Auch in La Plata hatte es gegen Mitternacht Schießereien gegeben, die ihn am Kaffeehaustisch überraschten, an dem er Schach zu spielen pflegte. Als alles vorbei war, schien sich für ihn nichts verändert zu haben, bis er ein halbes Jahr später an eben diesem Tisch erfuhr, dass ein Mann, Juan Carlos Livraga, die Erschießung überlebt habe. Was nun folgt, ist die Wandlung eines Autors im Prozess der Recherche und der Niederschrift. Er beginnt Livraga nachzuforschen, erfährt, dass es noch weitere Überlebende gegeben hat – am Ende werden es von den Zwölfen sogar sieben sein, die entkommen konnten -, und erkennt vor allem, dass der gesamte Vorgang geltendes Recht missachtet hatte. Zwar war in jener Nacht das Standrecht verkündet worden, wonach Erschießungen ohne Prozess möglich gewesen wären. Die Verhafteten waren jedoch vor Inkrafttreten des Standrechts aufgegriffen worden. Und die meisten von ihnen hatten mit dem Aufstand nicht das geringste zu tun. Ein Massaker an Zivilisten also.
Zunächst in einer Folge von Zeitungsartikeln, im Dezember 1957 dann als Buch, hat Walsh die Vorgänge akribisch an die Öffentlichkeit gebracht, einen Prozess gegen die Verantwortlichen begleitet und schließlich erschüttert feststellen müssen, dass nicht einmal nachträglich dem Recht zur Geltung verholfen wurde. Während das juristische Resultat gleich Null war, war das politische für die Person Walsh und das literarische immens groß. Walsh wurde schon 1959 Gründungsmitglied der revolutionären kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina – sogar die Entschlüsselung der CIA-Geheimcodes für den Angriff auf die Schweinebucht 1961 ging auf ihn zurück -, und Anfang der siebziger Jahre nahm er an der Montonero-Guerilla in Argentinien teil.
Literarisch besteht die Leistung von Walsh darin, ein neues Genre entwickelt zu haben: den Tatsachenbericht. Angesiedelt zwischen Sachbuch, Reportage und historischem Roman, “verzichtet er … auf die Fiktion als Mittel künstlerischer Wahrheitssuche”, wie der Übersetzer und Herausgeber Erich Hackl es im Nachwort definiert: “Der Fiktionalist haftet nicht für seine Fabel, er begreift die von ihm erfundene Welt als Versuchsanordnung, er spielt mit den Versatzstücken der Realität und bleibt mit seinem Spiel im Rahmen des Zulässigen. Der politische Dokumentarist hingegen lässt, was ernst ist, ernst sein. Er denunziert, er attackiert, er bringt was an den Tag. Aber er ist in den Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung stärker eingeschränkt – durch die Verantwortung gegenüber seinen Personen, die keine Figuren sind, und durch die Notwendigkeit, den überlieferten Tatsachen treu zu bleiben.”
Die Schwierigkeiten dieses Genres liegen auf der Hand. Die Geringschätzung von allen, nach deren Überzeugung Literatur fiktional sein muss, ist schon mal garantiert. Aber auch wer dokumentarisch schreiben will, braucht eben beides, das literarische Können und den analytischen Blick für den Gegenstand.
Gerade deswegen ist die Neuübersetzung dieses Buches von so herausragender Bedeutung. Das liegt vor allem an Erich Hackl, der Idealbesetzung für die Vermittlerrolle. Hackl ist davon überzeugt, dass ein übersetzter Text nur dann gut ist, wenn er so flüssig und stimmig gelesen werden kann, als sei er in dieser Sprache geschrieben. Diesen Anspruch löst er auf mitreißende Weise ein, schwer übersetzbare Gerichtsdokumente und Zeitungsauszüge inklusive. Denn nicht nur Walsh ist ein guter Schriftsteller, Hackl ist es auch, dazu noch einer, der sich selbst ebenfalls als Dokumentarist versteht und sich in Romanen wie “Abschied von Sidonie”, “Sara und Simón” oder “Als ob ein Engel” der Aufgabe gestellt hat, “Verantwortung gegenüber seinen Personen” zu übernehmen, “die keine Figuren sind”.
Schließlich ist es die sorgfältige Zusammenstellung einiger aufschlussreicher Vorworte und Anhänge, die Walsh für die diversen Ausgaben von “Operación Masacre” verfasst hat, sowie das pointierte Glossar, das dieses bedeutende Buch auch zu einem Meilenstein der argentinischen Literatur in deutscher Übersetzung werden lässt.

Rodolfo Walsh // Das Massaker von San Martín // Aus dem Spanischen von Erich Hackl // Rotpunktverlag // Zürich 2010 // 253 Seiten // 19,50 Euro // www.rotpunktverlag.ch

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