Würde statt Rendite

Die Pressefreiheit galt den argentinischen Massenmedien nicht immer als hehres Gut. Zu Folter, Vernichtungszentren oder den Raub von Kindern während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) schwiegen Presse, Radio und Fernsehen gezielt. Die damalige Gesellschaft wollte nicht sehen, was vor sich ging. Somit vernachlässigten die Medien ihr wesentliches Prinzip: zu informieren.
Nach langjährigen Aufschüben und Diskussionen hat der Oberste Gerichtshof im Oktober 2013 das im Jahr 2009 vom Parlament erlassene Gesetz über Dienstleistungen in der Audiovisuellen Kommunikation für verfassungsmäßig erklärt. Die alte Regelung stammte noch aus den Zeiten der Militärdiktatur. Das neue Mediengesetz soll zur Dezentralisierung und Regulierung der Medien beitragen, einem stark konzentrierten Markt, der eine große kulturelle, soziale und politische Wirkung hat. Das nach langen öffentlichen Sitzungen vom Parlament verabschiedete Gesetz wurde vier Jahre lang aufgrund verschiedener einstweiliger Verfügungen blockiert. Diese Maßnahmen gingen vor allem vom Unternehmen Clarín aus, dem größten Multimediakonzern des Landes. Unter anderem wird Clarín durch das neue Gesetz dazu gezwungen, sich von zahlreichen Radio- und Fernsehlizenzen zu trennen. Denn ein Unternehmer darf zukünftig statt 24 nur noch zehn Radio- und Fernsehkanäle betreiben und in einer Region nicht gleichzeitig über Kabel und Antenne senden. Die Frequenzen im Rundfunk- und Fernsehspektrum sollen prinzipiell zu einem Drittel auf private, staatliche oder gemeinnützige Akteure aufgeteilt werden. Nicht betroffen ist die gleichnamige Zeitung, die das Unternehmen Clarín herausgibt. Seit mehreren Jahren zählt Clarín zu einem der Hauptgegner der Kirchner-Regierungen.
Die Debatte wirft ein Schlaglicht auf die Rolle der Medien während der Diktatur und kann nicht von der Diskussion über die gegenwärtige Rolle der Medien getrennt werden. Während der Diktatur waren die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo die einzigen, die über die Verschwundenen, die Todesflüge und die dabei lebendig ins Meer geworfenen Opfer informiert haben. Die Medien bezeichneten sie dafür schlicht als „alte verrückte“ Frauen.
Das Mediengesetz ist das Ergebnis eines demokratischen Dialoges, an dem verschiedene soziale Sektoren teilgenommen haben und der von Organisationen für Menschenrechte unterstützt wird. Es soll dazu beitragen, dass die gesellschaftlichen Debatten mehr geöffnet und zuvor nicht gehörte Stimmen verstärkt wahrgenommen werden. Stimmen indigener Gruppen, mittelloser Frauen, junger Menschen, diskriminierter Sektoren. Also jene, die im Allgemeinen nicht zur Veranstaltungsindustrie dazugehören oder nicht den „Marktparametern“ entsprechen. Dahinter steht die Überlegung, öffentliche Kommunikation nicht mehr als einen „Markt“ für die Verteidigung von Interessen zu betrachten, sondern als Recht der Personen, ihre Meinung frei zu äußern. Letzteres ist von größerem gesellschaftlichen Interesse als die Rentabilität oder der Gewinn von Medienunternehmen.
Das argentinische Gesetz sollte allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Es ist Teil eines Prozesses politischer, sozialer und kultureller Integration, der sich in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entwickelt hat. Das Mediengesetz folgt ähnlichen Gesetzen in anderen Ländern wie beispielsweise dem in Ecuador, das unter anderem verhindern soll, dass Banken eigene Medien besitzen.
Die Situation in Argentinien stellt also keine Ausnahme dar. Die Medienkonzentration in Lateinamerika ist sehr hoch. Dies zeigen auch die Fälle von Televisa in Mexiko oder O Globo in Brasilien, deren einflussreiche Stellung auf die Diktaturen in diesen Ländern zurückzuführen ist. In der Debatte geht es darum, genau das erfahren und sehen zu können, was zuvor nicht sichtbar war. Es geht darum, den bedauerlicherweise berühmt geordenen Satz „Ich habe nichts gewusst“, der Argentinien während der Diktatur stark geprägt hat, durch den Satz „Ich weiß“ zu ersetzen. Das „Misch dich nicht ein“ der Diktatur soll sich in eine aktive Teilnahme in der Demokratie verwandeln.
Eine der großen Herausforderungen unserer Demokratie besteht darin, die Bedeutung und den Sinn dessen zu bestimmen, was wir unter Meinungsfreiheit verstehen. Das neue Mediengesetz betrachtet die Kommunikation als ein soziales Gut des öffentlichen Interesses. Die freie Meinungsäußerung ist wesentlich für die argentinische Demokratie, in der allmählich Identitäten anerkannt werden, die früher entweder nicht respektiert oder verfolgt wurden. Hier liegt der politische Kern der Debatte in Argentinien – im Unterschied zwischen der Verteidigung der Interessen und der Verteidigung der Rechte. Dem Unterschied zwischen der Rendite der Medienunternehmen, die Informationen verwalten und verkaufen und der Würde der Menschen, ihre Meinung frei äußern zu können.

Zurück zu den Wurzeln

Wie hat es die Leiharbeiter_innengewerkschaft Konföderation der Kupferarbeiter (CTC) geschafft, derart viele Mitglieder zu gewinnen, wo doch die Situation der Gewerkschaften so prekär ist?
Die Grundvoraussetzung dafür war, dass die CTC und ihre Kämpfe seit 2007 sichtbarer geworden sind. Dadurch konnte sie verschiedene Arbeitsbereiche innerhalb der Bergbauindustrie vereinen, nicht nur die Minenarbeiter, sondern auch die Arbeiter im Dienstleistungssektor – unter anderem aus dem Transportwesen, der Verwaltung, dem Hotelgewerbe und der Industriemontage. Das wurde durch eine starke Präsenz von Anführern der Gewerkschaft erreicht, was diesen eine große Glaubwürdigkeit verschafft hat.

Und auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestoßen?
Natürlich bedeutet das nicht, dass es keine Spannungen gegeben hätte. Im Gegenteil, es gab viele Schwierigkeiten, weil die Arbeitgeber auch innerhalb der Gewerkschaften operieren. Unsere Organisation ist permanent der Bedrohung der Spaltung ausgesetzt.
Unsere Arbeit besteht darin, zu den Wurzeln des Syndikalismus zurückzukehren, der ein bildender Syndikalismus ist, der wie eine Schule sein soll. Wir versuchen das Bewusstsein der Arbeiter zu schärfen.
Wir dürfen unsere Organisation aber nicht idealisieren, denn wir sind eine Organisation im Aufbau. Und während sie konstruiert wird, dekonstruiert sie sich auch gleichzeitig. Es gibt Rückschläge und es gibt die Gefahr, dass uns die Industrie, deren Ziel es immer ist die Gewerkschaften zu zermalmen, mit ihren finanziellen Mittel vereinnahmt.
Es waren die konsequenten und glaubwürdigen Anführer und der neue Aufbau, die es möglich gemacht haben, dass diese Schwierigkeiten überstanden werden konnten.

Worauf beruht diese Glaubwürdigkeit? Generell sind doch die „Gewerkschaftsbosse“ nicht so gut angesehen.
Der große Erfolg der Militärdiktatur war, dass die Arbeiter nicht mehr daran glaubten, sich organisieren zu können. Ausgehend von dieser Situation und der ideologischen Unterwanderung, aber auch aufgrund schlechter Handlungen von den Gewerkschaften – das muss man zugeben – wurden die Gewerkschaften abgelehnt.
In unserem Fall hatten wir ein besondere Situation. 2007 konnten wir tausende Arbeiter mobilisieren und auf die Situation im sogenannten „Jaguar Lateinamerikas“ (einer chilenischen Bezeichnung des wirtschaftlichen Fortschritts, Anm. d. Red.) aufmerksam machen, wo tausende Arbeiter unter den Bedingungen der Leiharbeit, Ausbeutung und Diskriminierung leben mussten. Die CTC wurde zu einem Akteur, der es schaffte eine Realität zu interpretieren, die bis dahin niemand in Chile erkannte. Das hat dazu geführt, dass die Anführer der CTC zu verschiedensten Arbeiterschaften, Streiks et cetera in ganz Chile eingeladen wurden, um über unsere Erfahrungen zu berichten und dabei zu helfen, die Kämpfe von Anderen zu organisieren.
Und das war unser großer Erfolg, in Verbindung damit, dass wir eine neue Generation sind. Ich bin schon älter, aber meine Genossen sind 30, 25 oder 28 Jahre alt. Wir haben gezeigt, dass es möglich ist einen Klassensyndikalismus zu schaffen, haben Teile des neoliberalen Systems aufgedeckt und damit die Lebensrealität der Leiharbeiter sichtbar gemacht.

Wie sieht diese Realität der Leiharbeiter_innen aus? Was sind die Probleme mit denen sie zu kämpfen haben?
Es gibt einen Grundsatz, der nicht von uns kommt, sondern von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festgelegt wurde: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Das grundlegende Drama ist, dass es eine große Diskriminierung von Leiharbeitern gibt. Ein Leiharbeiter verdient ein Fünftel oder ein Viertel von dem, was ein direkt bei der jeweiligen Firma angestellter Arbeiter verdient. Zusätzlich dazu kommt die Instabilität des Arbeitsplatzes und auch in den Camps an sich gibt es eine Ungleichbehandlung. Während die festangestellten Arbeiter unter Fünf-Sterne-Bedingungen lebten, wurden wir in Baracken untergebracht.
Diese Situation hat 2006, 2007 und 2008 zum Aufstand der Arbeiter geführt. 2007 führte es zu einem Abkommen, das diese Ungleichheiten ausgleichen sollte. Solche Abkommen sind natürlich immer schwierig, weil die Arbeitgeber so ein Abkommen natürlich in erster Linie unterschreiben, um den Arbeitskampf zu beenden. Uns zu organisieren war die einzige Möglichkeit, sie zur Umsetzung des Abkommens zu zwingen.

Gibt es keine rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Arbeitgeber_innen dazu zwingen?
Im chilenischen Arbeitsgesetzbuch, das ein Erbe der Diktatur ist, ist die Vorherrschaft der Arbeitgeber massiv. In Chile kann man jemandem betriebsbedingt kündigen, aber zur selben Zeit neue Leute einstellen. Es gibt also eine faktische Macht der Arbeitgeber gegenüber Arbeitern, die sich gewerkschaftlich organisieren oder ihre Rechte einfordern.
Die Diktatur ist schon seit mehr als 20 Jahren vorbei, aber die Macht der Arbeitgeber ist immer noch unglaublich groß. Die Arbeitgeber sind zum Beispiel nicht dazu verpflichtet mit streikenden Arbeitern zu verhandeln. Sie können einfach die Streikenden ersetzen. Zum Beispiel gab es einen 60-tägigen Streik von 500 Arbeitern in einem Supermarkt. Und der Arbeitgeber konnte sich einfach zurücklehnen. Das führt dazu, dass die Gewerkschaften viel zu oft Niederlagen erleben.

Mit welchen Problemen haben die Gewerkschafter_innen zu kämpfen?
2010 haben die Arbeiter bei BHP Billingon (australisch-britischer Rohstoffkonzern, Anm. d. Red.) in Collahuasi gestreikt. Dann wurden Sicherheitskräfte und Spezialeinheiten entsandt, weil sie dem Streik anders nicht beikommen konnten und haben die Bewegung zerstört. Am Ende wurden dann 2.000 Arbeiter entlassen.
Das Problem dabei war, dass diese Aktionen nicht geplant waren und als wir ankamen um zu helfen, war die Sache schon gelaufen. Das passiert der CTC eigentlich nicht, wir planen unsere Aktionen und bauen Syndikalismus auf.
Es gibt dann auch noch das Problem der Schwarzen Listen. Das bedeutet, wenn jemand eine Führungsrolle bei einem Streik oder in der Gewerkschaft hat, bekommt er in der ganzen Industrie keinen Job mehr. Ich zum Beispiel verhandle mit den großen Arbeitgebern, aber eine Anstellung bekomme ich nicht. Das ist auch allen anderen Führungspersönlichkeiten der CTC passiert. Das trennt uns letztendlich von der Arbeiterschaft.

Gibt es Konflikte zwischen den Leiharbeiter_innen und den Arbeiter_innen, die fest angestellt sind?
Die gibt es. Im Grunde werden die festangestellten Arbeiter als eine privilegierte Klasse betrachtet. Im Prozess der Vertiefung des neoliberalen Modells werden sie dazu aufgefordert, in Rente zu gehen. 2014 werden in Chuquicamata (größte Kupfermine der Welt im Norden Chiles, Anm. d. Red.) 2.000 Arbeiter in den Ruhestand gehen. Das ist ein Abkommen zur Kostensenkung. Die Mine wird die selbe Anzahl an Arbeitern einstellen, allerdings zu wesentlich schlechteren Konditionen. Das hat die Gewerkschaft erlaubt und da gibt es nun Konflikte. Aber wir können da nicht intervenieren, unser Ziel ist es zu erreichen, dass diejenigen die keine Rechte haben, die selben Rechte bekommen, wie diejenigen, die fest angestellt sind.

Minen sind klassische Orte der Arbeiterbewegung, viele Menschen sind dauerhaft in einem bestimmten Raum. Wie ist die Situation in anderen Bereichen, wo die Mobilisierung und Organisation der Arbeiter_innen schwieriger ist?
Ein Beispiel: Im öffentlichen Nahverkehr bei Transantiago (ÖPNV-Gesellschaft in Santiago, Anm. d. Red.) gibt es über 450 Gewerkschaften, die es aber nicht schaffen sich zusammenzuschließen. Deswegen ist es nie gelungen den gesamten Nahverkehr gleichzeitig zu bestreiken, sondern immer nur einzelne Linien. Das liegt daran, dass ein großer Teil der Gewerkschaften kooptiert ist und bei den kämpferischsten Gewerkschaften die Anführer außer Gefecht gesetzt wurden.
Es gibt den Vorschlag eine automatische Gewerkschaftszugehörigkeit zu schaffen, aber wir sehen das eher als Bedrohung. Was ist, wenn man in einen Betrieb geht, es nur eine Gewerkschaft gibt, diese aber eine gelbe Gewerkschaft (von der Unternehmensführung gegründet, Anm. d. Red.) ist?
Einige aus dem neoliberalen Sektor innerhalb der Gewerkschaften – sie sind überall vertreten – wollen diese europäische Form von Gewerkschaft. Wir wollen das nicht, wir wollen Gewerkschaften, die die Arbeiter schützen, aber die wir selber aufbauen.

Haben Sie Hoffnungen in die Regierung Michelle Bachelets?
Ich denke nicht, dass Hoffnung das richtige Wort ist. Ich glaube eher, dass es Versprechen in Bezug auf den weiteren gewerkschaftlichen Zusammenschluß und das Recht auf Streik gegeben hat. Und diese Versprechen müssen eingehalten werden. Wenn das nicht passiert, dann werden wir auf die Straße gehen.
Ich habe für Michelle Bachelet gestimmt, aber das bedeutet kein Zugeständnis, sondern eine Taktik gegen die rechte Politik. Die Rechte war jetzt vier Jahre an der Macht und es gab viele Widersprüche und viele Möglichkeiten zu kämpfen, aber es gab keine Fortschritte. Die wenigen Errungenschaften, die die Arbeiter hatten, wurden weiter abgebaut und es gab wenig Kapazitäten um darauf zu reagieren.
Ich denke, dass mit der neuen Regierung die Arbeitgeber nicht mehr nur das machen können, was sie wollen und es die Möglichkeit gibt, dass wir die Rechte bekommen, die wir einfordern. Aber die einzige Möglichkeit Veränderungen zu erreichen ist, wenn wir Arbeiter mehr Arbeiter und noch mehr Arbeiter organisieren und Einigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren erreichen.

Infokasten:

Cristián Cuevas Zambrano
Cristián Cuevas Zambrano (44) war von der Gründung 2007 bis 2013 Präsident der Leiharbeiter_innengewerkschaft Konföderation der Kupferarbeiter_innen (CTC). Er trat zurück, um einerseits neuen Genoss_innen Platz zu machen, andererseits da er für die Kommunistische Partei bei den Wahlen als Abgeordneter kandidierte.
Den Sprung ins Parlament schaffte er allerdings nicht. Im Moment ist er verantwortlich für die internationalen Verbindungen der Gewerkschaft.

Roadmovie mit Naturkundeunterricht

Ein Mädchen reitet durch eine karge Berglandschaft. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Schule, einer Landschule in der Nähe von Los Condores, einem isolierten Städtchen am Rande der Sierra de Córdoba, im tiefsten Hinterland Argentiniens. Die wundervolle Aussicht entschädigt für die Kälte und den Wind in den Bergen.
In der Schule bleibt Lila die ganze Woche. Die Schulwege nach Hause sind zu lang für die Kinder in dieser dünn besiedelten Region, um sie jeden Tag zu gehen. So schlafen die Kinder in Gemeinschaftsräumen unter der Obhut zweier Lehrerinnen.
Insbesondere zu der Naturkundelehrerin Jimena hat Lila ein gutes Verhältnis, sie ist ihre wichtigste Bezugsperson. Doch in deren Biologieunterricht kann sich das Mädchen nicht konzentrieren. Ihre Gedanken schweifen ab. In der Nacht unternimmt das pubertierende Mädchen einen Ausbruchsversuch mit ihrem Pferd. Doch Jimena kann sie gerade noch davon abhalten, mitten im Sturm loszuziehen.
Lila will weg von der Schule, um ihren Vater zu suchen. Alles, was sie von ihm weiß ist, dass er vor zwölf Jahren in Los Condores Antennen installiert hat. Sie will ihn kennenlernen. Ihre Mutter kann diesen Wunsch nicht verstehen. Sie ist verbittert über den Mann, der ihr ein Kind gemacht und sie dann im Stich gelassen hat. Sie möchte die Episode einfach nur vergessen.
Doch für Lila ist es ein existenzielles Bedürfnis, zu erfahren, wer ihr Vater ist. Sie ist bereit, dafür einiges zu riskieren und gerät so in Schwierigkeiten. Nach einem weiteren Ausbruchsversuch wird sie von der Schule suspendiert.
Die Naturkundelehrerin Jimena soll Lila eigentlich nur nach Hause fahren. Doch die Zwölfjährige mit ihrem starken Willen überzeugt Jimena, ihr bei der Suche nach dem Vater zu helfen. Bald ist auch Jimena in großen Schwierigkeiten, doch sie bleibt bei ihrem Schützling. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach dem namenlosen Antenneninstallateur, irgendwo im Hinterland der argentinischen Provinz Córdoba. Nebenbei erhält Lila dabei im Auto einige Privatstunden in Naturkunde.
Der Debütfilm Ciencias Naturales (Naturkunde) von Matias Lucchesi ist vor allem eine Hommage an die wilde Landschaft der Sierra de Córdoba. In einem Interview erklärte er, dass er unbedingt einen Film über diese abgelegene Region machen wollte, die er in seiner Kindheit bei Ausflügen mit seiner Großmutter kennengelernt hatte. Er selbst wuchs in der Großstadt Córdoba auf. Dass wenige hundert Kilometer entfernt noch so scheinbar archaische Regionen existierten, in denen die Kinder mit dem Pferd zur Schule ritten, faszinierte ihn.
Die Landschaftsbilder, die Aufnahmen von verlassenen Straßen, die Portraits kleiner Dörfchen, in denen sich Pampahase und Mähnenwolf gute Nacht sagen, spielen die Hauptrolle im Film. Die Suche Jimenas und Lilas dient vor allem als Vorwand, die verschiedenen Dörfer abzuklappern und abgelegene Straßen abzufahren.
Doch die Geschichte wirkt nicht konstruiert. Sie ist recht einfach, doch auch sie hat ihre Irrungen und Windungen und vermag das Interesse der Zuschauer_innen aufrecht zu erhalten. Man schaut sich den Film nicht nur wegen der Landschaftsbilder an. Paula Galinelli Hertzog spielt die bockig-pubertierende Lila sehr überzeugend und trägt damit maßgeblich zu diesem gelungenen Film bei.
Das Thema selbst – Kinder, die erfahren wollen, wer ihre Eltern sind – ist in Argentinien politisch sehr bedeutsam: Schließlich suchen zahlreiche Menschen ihre Eltern, die die Militärdiktatur hat verschwinden lassen. Hier wird dieses Thema von der unpolitischen Seite aufgegriffen. Der Film erzählt einfach, was es für ein Kind bedeutet, aufzuwachsen, ohne zu wissen, wer der Vater ist. Dieses Thema bildet sicher für viele Zuschauer_innen einen impliziten Kontext, der aber nicht explizit gemacht wird. Im Zentrum der Geschichte steht ein Roadmovie durch argentinisches Hinterland.
Die Sierra de Córdoba liegt mitten im südamerikanischen Kontinent, weit weg von der Küste. Dennoch kann einem bei manchen Einstellungen von Ciencias Naturales seekrank werden. Man merkt eben doch, dass kein riesiges Budget für den Film zur Verfügung stand und alles einfach mit einer Steadycam abgedreht wurde. Dadurch rütteln auch einige Totalaufnahmen ohne Kamerabewegung doch erheblich, insbesondere, wenn der Wind in der Sierra stark weht. Doch trotz der offensichtlich geringen Mittel für den Film ist die Kameraarbeit gelungen und bietet wunderschöne Naturaufnahmen. Abgesehen von einigen kleineren technischen Verfehlungen bietet der Film ein schönes und nicht zu langes Kinoerlebnis, das einen in die entlegenen Teile Argentiniens, weit weg von Buenos Aires, entführt.

Ciencias Naturales // Matías Lucchesi // Argentinien 2014 // 77 min // Berlinale Generation // empfohlen ab zehn Jahren

// Vorfahrt für Konzerne

Freie Fahrt für Daimler: In den USA muss der deutsche Automobilkonzern keine Strafe wegen seiner Verwicklung in die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur mehr befürchten. Der Oberste Gerichtshof der USA lehnte Mitte Januar in letzter Instanz eine Klage ab. Nicht weil die Richter_innen an der Verstrickung von Daimler über seine Tochter Mercedes-Benz Argentina zweifelten – sie ignorierten sie –, sondern weil sie sich wegen des Territorialprinzips für nicht zuständig erklärten. Verbrechen sollten gefälligst dort juristisch geahndet werden, wo sie stattfinden.

Was prima vista nachvollziehbar klingt, ist juristisch keinesfalls unumstritten. Im selben Land, den USA, auf der Grundlage desselben Rechtssystems, hatte das Berufungsgericht in Kalifornien in derselben Sache 2011 entgegengesetzt geurteilt: Die US-Justiz sei sehr wohl zuständig. Richter Stephen Reinhardt hatte argumentiert: Wer in den USA Geschäfte mache, müsse sich weltweit an die US-Gesetze halten. Folter und Entführungen in Argentinien seien demnach inakzeptabel. Die USA hatten unbestritten auch während der argentinischen Militärdiktatur jede Menge Fahrzeuge von Mercedes-Benz Argentina importiert – Fahrzeuge, an denen Blut kritischer Gewerkschafter klebte. Mindestens 14 Betriebsräte sind laut den 22 argentinischen Kläger_innen in den Jahren 1976 und 1977 in der Niederlassung von Daimler verschwunden – bis heute. Aussagen eines überlebenden Folteropfers, Héctor Ratto, und detaillierte Recherchen der Journalistin Gaby Weber belegen die Komplizenschaft von hochrangigen Daimler-Angestellten mehr als nachdrücklich.

Richter Reinhardt hatte sich im Gegensatz zum Obersten Gericht auf das Weltrechtsprinzip berufen. Das besagt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor jedem Gericht der Welt belangt werden können. Die Frage, warum es nicht auch gegen Unternehmen angewandt werden kann, ließ das Oberste Gericht offen. Dabei ermöglichte eine Besonderheit des US-Rechtssystems, der Alien Tort Claims Act (ATCA) von 1789, längst vor dem Weltrechtsprinzip die Ahndung von Völkerrechtsverletzungen außerhalb der Landesgrenzen. Der ATCA wurde geschaffen, damit die USA gegen Akte der Piraterie vorgehen konnten, die eigenen Wirtschaftsinteressen zuwiderliefen.

Es ist offensichtlich: Der Oberste Gerichtshof will es sich mit Multis nicht verderben, die in den USA Geschäfte machen und damit dort auch für Beschäftigung und Einkommen sorgen. Profite haben allemal Vorrang vor Menschenrechten. Im April 2013 scheiterten Nigerianer_innen mit ihrer Klage gegen den Ölkonzern Shell, der für Menschenrechtsverstöße im Niger-Delta verantwortlich ist. Das Argument des Obersten Gerichtes: Territorialprinzip. Im Dezember 2013 scheiterten Apartheid-Opfer aus Südafrika mit ihrer Klage gegen Daimler. Das Argument: Territorialprinzip. Nun sind es Diktatur-Opfer aus Argentinien.
Profit um jeden Preis: Diese Geschäftsgrundlage zahlt sich für Daimler und die anderen Multis bei einer solchen Rechtsprechung nach wie vor aus.

Profit um jeden Preis: Das ist auch die Devise nach der Hedgefonds wie NML Capital verfahren. Der hat argentinische Staatsanleihen rund um die Krise 2001/2002 zum Schrottwert auf dem Sekundärmarkt aufgekauft, um in den USA auf die Bedienung zum Nominalwert von 100 Prozent plus Zinsen zu klagen (siehe LN 468). Der New Yorker Bezirksrichter Thomas Griesa urteilte im November 2012 „Argentinien ist das schuldig, und es schuldet das jetzt.“ Müsste Argentinien zahlen, wäre ein erneuter Staatsbankrott mit all seinen sozialen Folgen à la 2001/2002 programmiert. Der Fall ist noch nicht letztinstanzlich entschieden. Das von Argentiniens Regierung angerufene Oberste Gericht in den USA sah sich bisher nicht bemüßigt, sich mit diesem Fall auch nur zu befassen. Argentinien ist schließlich kein für die USA wichtiger Konzern.

Ein aufregender Streifzug

„Aber nehmen wir doch einmal die kulturelle Intelligenz: Sie können von der Kultur, in die sie hineingeboren werden, ausgehen, um von dort aus andere Kulturen zu verstehen und sie für den eigenen Entwicklungsprozess zu nutzen. Das ist genau das, was ich mit meinen Arbeiten mache. Ich suche den Dialog mit dem Anderen, nicht um es zu kopieren, sondern um etwas Neues, etwas Drittes zu entwickeln.“ Der Choreograf und Tänzer Ismael Ivo, dessen Interview zu den interessantesten Beiträgen gehört, spricht das Thema an, das sich wie ein roter Faden durch den gesamten Sammelband zieht: Ist der „kulturelle Kannibalismus“, der 1928 von Oswald de Andrade mit dem Manifesto Antropófago entwickelte Gründungsmythos der brasilianischen Moderne, noch immer das konstituierende Element zeitgenössischer brasilianischer Kunst?
Im Vorwort des Herausgebers Alfons Hug heißt es dazu: „Die brasilianische ,Kulturphagie’ hat viel zu verdauen: Hybris und Hochkultur der Europäer, Leid und Lebenslust der Afrikaner sowie Widerstand und Spiritualität der Indígenas. Daraus entsteht eine Kreolisierung, die sich fundamental von atavistischen Monokulturen unterscheidet, die traditionell eher auf Ausgrenzung beruhen.“ Dass „die Afrikaner“ und „die Indigenen“ eigene Hochkulturen beizutragen hatten, ließe sich hier noch ergänzen. Darüber hinaus wird in den unterschiedlichen Beiträgen deutlich, dass der „kulturelle Kannibalismus“ heutigen brasilianischen Künstler_innen kein Wert an sich ist, sondern eine Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von außen, wie Ismael Ivo erklärt.
Ivo wurde in den 1980er Jahren als Solist der Tanzkompanie Alvin Aileys in New York international bekannt und füllte während seiner anschließenden Solokarriere die großen Theater Europas. Er arbeitet immer wieder mit ungewöhnlichen Choreograf_innen und Theatermacher_innen, setzte mit dem Wiener Festival ImPulsTanz kreative Akzente und kuratierte in den letzten acht Jahren die Tanz-Biennale in Venedig. Seine Arbeiten sind oft verstörend, unterlaufen die Erwartungen des Publikums, insbesondere die der Exotik des „schwarzen Tänzers“: „Wenn Kritiker versucht haben, mich zu kategorisieren in einem – sagen wir – exotischen oder folkloristischen Sinn als ,Brasilianer’, dann habe ich eben Shakespeare gemacht, oder mich mit Francis Bacon beschäftigt, mit der antiken Mythologie oder der Apokalypse. Ich lasse mich nicht in einem festen Rahmen definieren oder katalogisieren.“
Sein Interview endet mit der Entdeckung, dass die Brechung ästhetischer Konventionen in seinen Stücken ihre Wurzeln in der politischen Auseinandersetzung mit der afro-amerikanischen Geschichte hat. Während der Militärdiktatur war er Teil der Bewegung junger schwarzer Künstler_innen in Salvador de Bahia, die in ihren Arbeiten den alltäglichen Rassismus aufdeckten. Diese Erfahrungen inspirieren und motivieren seine Arbeit bis heute.
Eine andere Entdeckung ist der Multimedia-Künstler und Filmemacher Kiko Goifman, in dessen filmischen Arbeiten die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion verschwimmen. Seine Filme wurden bereits mehrfach auf internationale Festivals eingeladen; zuletzt wurde Olhe pra mim de novo (Schau mich von Neuem an) im Panorama der Internationalen Filmfestspiele in Berlin 2011 gezeigt. In FilmeFobia arbeitete Goifman mit Menschen, die echte Phobiker_innen sind, mit Schauspieler_innen und mit phobischen Schauspieler_innen, er nutzt die Mechanismen des Dokumentarfilms, um beklemmende Bilder der Angst zu erzeugen. In einem fiktiven Interview – tatsächlich also in einem Selbstporträt – setzt er sich mit der „Brasilianität“ seiner Filme auseinander: „Ich verspüre keinen Zwang über Themen zu arbeiten, die besonders brasilianisch sind. Ich lebe in Brasilien und drehe dort auch. Das ist, ob ich will oder nicht, in meiner Arbeit gegenwärtig. Wenn ich in mehreren Filmen das Thema Gewalt behandle und Brasilien ein äußerst gewalttätiges Land ist, ist klar, dass da eine Beziehung besteht. Was ich allerdings vermeiden möchte, ist, stereotype Vorstellungen von Brasilien zu bedienen. Ich denke mehr an eine verschwommene, sogar brüchige Beziehung, vielleicht über den brasilianischen Humor. Wenn wir uns darin einig sind, dass Brasilien par excellence ein Ort der Vielfalt ist, ist dies auch auf einzigartige Weise in jedem meiner Filme gegeben.“
International am bekanntesten ist die kulturelle Vielfalt Brasiliens im Bereich der Musik, in der „alles zusammengetragen und miteinander vermischt“ ist, wie die Musikjournalistin Patricia Palumbo in ihrem Artikel über Popmusik im heutigen Brasilien schreibt. Eine eher neue Erscheinung dieser musikalischen Diversität ist der Tecno-brega, zu der Gaby Amarantos, die „Königin des Tecnobrega“, interviewt wird. Amarantos wuchs in Jurunas am Rand von Belém in einer Familie von Samba-Musiker_innen auf. Zusammen mit ihrer Band Tecno Show kam sie auf die Idee, die schnellen Gitarrenriffs des traditionellen Brega mit einem Elektro-Beat zu unterlegen. Das Musikvideo zu ihrem Soloalbum Xirley machte sie und diese Musikrichtung der Peripherie in ganz Brasilien bekannt, auch das Album Treme wurde 2012 ein großer Erfolg. Der Tecnobrega speist sich aus der traditionellen Musik des amazonischen Bundesstaates Pará. Amarantos selbst erklärt ihren Erfolg so: „Jurunas, mein Viertel, ist meine Energiequelle, dort habe ich gelernt, dass man die Vielfalt schätzen muss. Ich hatte das Privileg, in einer multikulturellen Umgebung geboren worden zu sein, auch wenn sie offiziell zur Peripherie zählt. Weil Jurunas die Wiege verschiedener kultureller Strömungen ist, trage ich diese Pluralität in meinem Gepäck.“
Das klingt so, als sei der kulturelle Kannibalismus in seiner Gewalttätigkeit abgeschlossen und auch die Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von außen in der Generation von Amarantos einem leichtherzig gelebten Diversity-Menü gewichen.

Alfons Hug im Auftrag der Akademie der Künste und des Goethe-Instituts (Hg.) // Positionen 6 – Zeitgenössische Künstler aus Brasilien // AdK // Berlin/Steidl, Göttingen 2013 // 24,00 Euro

Die Versprechen der Michelle Bachelet

Für die Medien war es eine schöne Steilvorlage: Das Duell der Generalstöchter Michelle Bachelet und Evelyn Matthei. Erstere trat für die Mitte-Links-Koalition Neue Mehrheit an, Zweitere für das rechte Parteienbündnis Allianz für Chile. Töchter von Vätern, die befreundet waren und die der Putsch gegen Salvador Allende 1973 entzweite. Bachelets Vater wurde zum Opfer der Pinochet-Diktatur, Mattheis Vater machte unter Pinochet weiter Karriere. Michelle Bachelet hatte den Wettstreit um die Wähler_innenstimmen im ersten Wahlgang am 17. November klar gewonnen und bekam 46,7 Prozent der gültigen Stimmen. Matthei konnte lediglich 25 Prozent der Stimmen für sich behaupten. Die Ausgangslage für den zweiten Wahlgang war damit klar: Alles andere als ein Sieg von Bachelet wäre eine Sensation.
Auch wenn die klare Stimmenverteilung beeindruckt, bleibt festzuhalten, dass die Wahlbeteiligung bei lediglich 49 Prozent lag. Damit hat mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Chilen_innen nicht teilgenommen. Die im Vergleich zu den Wahlen 2009 äußerst geringe offizielle Beteiligung – diese lag damals bei 86,7 Prozent – hängt auch damit zusammen, dass nun zum ersten Mal alle Wahlberechtigten automatisch in das Wahlregister eingetragen wurden und zudem keine Wahlpflicht herrschte. Aber auch in absoluten Zahlen nahm die Beteiligung um etwa 500.000 Wähler_innen ab. Chile ist damit das lateinamerikanische Land mit der geringsten Wahlbeteiligung. Neben dem klaren Vorsprung bei den Präsidentschaftswahlen konnte das Mitte-Links-Bündnis Neue Mehrheit auch bei den Parlamentswahlen Erfolge verbuchen. Im Senat stellt sie nun 20 der 38 Senator_innen und im Abgeordnetenhaus 67 der 120 Parlamentarier_innen. Die uneindeutigen Mehrheitsverhältnisse sind dem in Chile gültigen binomialen Wahlrecht geschuldet, bei dem pro Wahlkreis die Kandidat_innen mit den meisten und den zweitmeisten Stimmen ins Parlament einziehen. Dies führt dazu, dass es äußerst schwierig ist, klare Mehrheiten im Parlament zu erlangen.
Neben den Abgeordneten, die für Parteien kandidierten oder sich als unabhängige Kandidat_innen einem Parteienbündnis anschlossen, sind auch drei unabhängige Kandidat_innen ins Abgeordnetenhaus eingezogen: Alejandra Sepúlveda, Giorgio Jackson und Gabriel Boric. Boric und Jackson bilden zusammen mit Camila Vallejo und Karol Cariola den Block der ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen, die sich bei den seit 2011 andauernden Protesten einen Namen gemacht haben. Dabei ist die Wahl des unabhängigen Boric eine kleine Sensation: „Entgegen aller Prognosen haben wir es geschafft gegen beide Bündnisse zu gewinnen und das binomiale Wahlrecht zu brechen“, so Boric. Vallejo und Cariola traten hingegen für die Kommunistische Partei an, die Teil der Neuen Mehrheit ist. Der innerhalb der Studierendenbewegung als moderat geltende Jackson wurde von der Neuen Mehrheit dadurch unterstützt, dass diese in seinem Wahlkreis keine_n Kandidat_in aufstellte.
Wenn alles wie erwartet läuft und Michelle Bachelet Präsidentin wird, hat sie sich mit ihrem Programm große Aufgaben gegeben: Die zentralen Punkte ihres Programms, eine Bildungsreform, eine Steuerreform und eine neue Verfassung sind die Versprechen, mit denen sie antrat. Vor allem bei der Umsetzung der Bildungsreform ist sie allerdings auf die Stimmen der unabhängigen Abgeordneten angewiesen. Ob und wie sich die versprochenen Reformen verwirklichen lassen, ist fraglich. Schon 2006, während ihrer ersten Amtszeit, versprach sie als Reaktion auf die Proteste der Sekundarschüler_innen eine Bildungsreform. Diese entpuppte sich jedoch als absolut unzureichend. Von Seiten der Studierendenbewegung, die die Beteiligung am Wahlprozess teilweise kritisch betrachtet, ist bereits jetzt Skepsis zu vernehmen. Melissa Sepúlveda, Präsidentin der FeCh, der Organisation der Studierenden der Universidad de Chile äußerte im Interview mit der Zeitschrift Punto Final: „Die guten Absichten von Michelle Bachelet und der Kommunistischen und Sozialistischen Partei sind wenig wert. Um zu wissen, was sie wirklich wollen, müssen wir abwarten und beobachten wie sie agieren.“
Auf die Frage, wie denn die Erarbeitung einer Verfassungsreform ausehen könnte, hat Bachelet bisher auch keine konkrete Antwort gegeben. Im Zuge der Wahl forderte eine Kampagne, auf den Wahlzettel ein „AC“ für „Asamblea Constituyente“ zu schreiben und dadurch dem Wunsch nach einer Verfassunggebenden Versammlung Ausdruck zu verleihen. Die derzeit geltende Verfassung, die für viele Probleme verantwortlich gemacht wird, wurde 1980 von der Militärdiktatur geschaffen. Auf die Frage, ob Bachelet eine solche Verfassunggebende Versammlung befürworte, antwortet sie stets ausweichend, dass sie für eine neue Verfassung sei. Ob dies im Rahmen der Institutionen möglich ist, wird sich noch zeigen. Sicher ist, dass es bei diesem Thema auch innerhalb der Neuen Mehrheit Konflikte geben wird. So hat Camila Vallejo ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie sich ausdrücklich für eine solche Versammlung ausspricht.
Teile der sozialen Bewegungen betrachten eine potenzielle Regierung Bachelet kritisch. Während der Gewerkschaftsdachverband CUT das Mitte-Links-Bündnis unterstützt, sind die Stimmen aus der eher syndikalistischen Gewerkschaft CGT verhaltener: „Die Neue Mehrheit ist nicht die Stimme der Arbeiter“, so deren Präsident Manuel Ahumado. Auch die Fraktionen innerhalb der Studierendenbewegung, die sich wie Melissa Sepúlveda gegen eine Institutionalisierung der Bewegung aussprechen, betrachten die neue Regierung mit Skepsis. Aus ihren Reihen war eine Kampagne gestartet worden, die dazu aufrief, nicht an den Wahlen teilzunehmen.
Von Seiten der linken Mapuche-Organisationen ist ebenfalls wenig Begeisterung über eine zukünftige Präsidentin Bachelet zu hören. In ihre erste Amtszeit fallen unzählige Verfahren gegen Mapuche, bei denen das aus der Militärdiktatur geerbte Antiterrorgesetz Anwendung fand. Außerdem wurden während ihrer Amtszeit die jungen Aktivisten Matías Catrileo, Jaime Mendoza und Johnny Cariqueo von der Polizei ermordet, ohne dass die dafür verantwortlichen Polizeibeamten zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Rahmen der Veröffentlichungen von Wikileaks ist zudem ans Licht gekommen, dass die Regierung von Bachelet den US-Geheimdienst FBI um Hilfe gebeten hatte, um Verbindungen zwischen Mapuche-Organisationen und der kolumbianischen Guerilla FARC sowie der baskischen Untergrundorganisation ETA zu ermitteln. Damit wurde klar, dass die Regierung den Konflikt lediglich unter dem Aspekt der Repression betrachtete.
Sollte Bachelet wie zu erwarten den zweiten Wahlgang gewinnen, die gemachten Versprechen allerdings nicht einhalten, könnte eine unruhige Regierungszeit auf sie zukommen – oder wie es Melissa Sepúlveda ausdrückte: „In Chile müssen Veränderungen passieren oder Michelle Bachelet wird ein Land mit steigender politischer Instabilität regieren müssen.“

„Chile braucht eine neue Verfassung“

Sie wurden bei den Parlamentswahlen am 17. November in den Kongress gewählt. Welches sind die Projekte, die Sie verfolgen werden?
Wir von der Neuen Mehrheit haben ein Programm, das das Ergebnis der Arbeit der Kommissionen und aller politischen Akteure der Neuen Mehrheit ist. Dieses Programm hat drei zentrale Punkte: eine neue Verfassung für Chile, eine Bildungsreform, die die Forderungen der Studenten nach einer öffentlichen, kostenlosen und guten Bildung aufgreift, und eine Steuerreform, da die Bildungsreform finanzielle Mittel benötigt.

Aber Ihre Sitze im Parlament reichen nicht aus, um diese Reformen ohne die Stimmen der Rechten durchzuführen.
Für einige Schritte haben wir die notwendige Mehrheit, aber für die wirklich tiefergehenden Reformen müssen wir durch klare und transparente Vorschläge und in Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen vor allem die unabhängigen Abgeordneten überzeugen.

Was ist der Unterschied zwischen der Koalition Neue Mehrheit und dem vorherigen linken Parteienbündnis Concertación?
Die Neue Mehrheit umfasst mehr politische Kräfte: die Kommunistische Partei, die Partei Breite Soziale Bewegung und die Partei Bürgerliche Linke. Und das ist gut. Man muss Kräfte vereinen. Je mehr politische Akteure an der Ausarbeitung eines Programms arbeiten, desto besser. Diversität und Meinungsverschiedenheit sind wichtig und man muss debattieren.

Während der Präsidentschaft von Michelle Bachelet wurden viele Dinge versprochen, unter anderem eine Bildungsreform. Passiert ist dann am Ende aber wenig. Warum sollte das in dieser Legislaturperiode anders werden?
Die Reform, von der Sie sprechen, war nicht Teil eines Programms und ich bin mit den Ergebnissen, die sie gebracht hat, auch nicht zufrieden. Das Programm für diese Wahlen wurde breit diskutiert, von allen politischen Kräften der Neuen Mehrheit und auch einigen Unabhängigen. Das darf man nicht vergessen! Auch unabhängige Kandidaten saßen in den Kommissionen! Nun können die Bürger überwachen, ob das Programm umgesetzt wird. Dementsprechend hat es eine größere Verbindlichkeit.
Eine Legislaturperiode dauert nur vier Jahre und nicht alles wird sich in dieser Zeit umsetzen lassen. Aber man kann Fortschritte erzielen und vor allem einen klar definierten Weg vorgeben, wohin dieser Fortschritt gehen soll. Chile befindet sich in einem neuen politischen Zyklus und das ist der Moment, um das Vertrauen in die Politik und die Institutionen wiederherzustellen.

Aber hat sich das mangelnde Vertrauen in die Institutionen nicht auch daran gezeigt, dass 51 Prozent der Chilen_innen nicht zur Wahl gegangen sind?
Es ist schwierig, den Grund zu finden, warum die Leute nicht wählen gegangen sind. Es gibt verschiedene Gründe, der größte ist wahrscheinlich, dass das Vertrauen fehlt oder dass es vielen Menschen egal ist, wer gewinnt. Es gibt aber noch viele andere Gründe, warum viele Chileninnen und Chilenen nicht wählen gegangen sind. Weil der Bus zum Wahllokal zu teuer ist, weil Leute nicht dort wohnen, wo sie gemeldet sind…
Glauben Sie, dass der Fortschritt innerhalb der engen Grenzen, die die Verfassung von 1980 setzt, erfolgen kann?
Ich spreche mich für eine neue, demokratische und partizipative Verfassung aus. Wir können nicht mit einer Verfassung weitermachen, die während der Militärdiktatur installiert wurde, die nicht demokratisch ist, die keinen Rechtsstaat garantiert. Wir müssen uns vom binomialen Wahlrecht trennen, wir müssen bindende Bürgerentscheide schaffen, die indigenen Völker anerkennen und Umweltthemen berücksichtigen. Das alles muss in eine neue Verfassung.

Welche Rolle werden die ins Parlament gewählten Studierendenvertreter_innen haben? Verändert das die Dynamik im Parlament?
Es ist wichtig, dass die Studenten ins Parlament eingezogen sind. Politische Kämpfe müssen auf der Straße von sozialen Bewegungen, aber auch in den Parlamenten, in den Institutionen geführt werden. Denn wenn sich die Studierendenvertreter nur auf die Straße beschränken, werden immer wieder dieselben Leute wie vorher gewählt. Deswegen ist es gut, dass glaubwürdige Führungspersönlichkeiten aus sozialen Bewegungen, die das System verändern wollen, auch innerhalb der Institutionen arbeiten.

Werden die Mobilisierungen weitergehen – jetzt, da eine linkere Regierung an die Macht kommt?
Das ist schwierig zu beantworten. Das wäre, als würde ich für die Studenten sprechen. Aber ich denke nicht, dass die Mobilisierungen aufhören müssen. Ich glaube, Chile ist dabei sich zu verändern. Die Demonstrationen waren ja auch nicht nur von der Studierendenbewegung, es gab Demonstrationen für die Gleichstellung von Homosexuellen, für die gleichgeschlechtliche Ehe, es gab sogar eine große Demonstration für die Legalisierung von Marihuana.

Die Mapuche sind enormen Repressalien ausgesetzt, ihre Gemeinden werden militarisiert, es gibt unzählige politische Gefangene. Wird sich daran etwas ändern?
Das muss sich in der Gesellschaft verändern. Wir können nicht darüber entscheiden, was das Volk der Mapuche will. Die Mapuche sind sehr vielseitig, es gibt verschiedene Gemeinden mit unterschiedlichen Ansichten. Ich glaube, dass die wesentlichen Politikentwürfe aus der Gemeinschaft der Mapuche kommen müssen. Ich denke, Chile hat sich verändert, wir wollen kein Antiterrorgesetz mehr, wir wollen keine Repression gegen die Mapuche mehr. Wir wollen eine Verfassung, die die indigenen Völker anerkennt. Und ich denke, da müssen wir als Gesellschaft Fortschritte erreichen.

Zur gleichen Zeit geht aber die Repression gegen die Mapuche weiter. Und es gibt auch Teile der Gesellschaft, die Machtpositionen besetzen und die nicht mit dem einverstanden sind, was Sie sagen.
Ja, das stimmt. Chile ist eine vielseitige Gesellschaft. Wir müssen daran arbeiten, dass das, was ich eben gesagt habe, umgesetzt wird. Politische Prozesse gehen nicht immer den direkten Weg. Ich werde nie für Repression sein, weder gegen die Mapuche noch gegen ein anderes indigenes Volk.

Infokasten:

MAYA FERNÁNDEZ ALLENDE
Die Tierärztin Maya Fernández Allende wuchs im kubanischen Exil auf und kehrte Anfang der 1990er Jahre nach Chile zurück. Für die Sozialistische Partei gewann sie bei den Parlamentswahlen die Hauptstadtbezirke Ñuñoa und Providencia. Diese gelten eigentlich als Hochburg der Rechten. Bereits 2012 kandidierte sie für das Bürgermeister_innenamt in Ñuñoa, wo sie dem Kandidaten der rechten Partei Nationale Erneuerung äußerst knapp unterlag.

„Keine Schwarz-Weiss-Malerei“

Besten Dank für das interessante Dossier zum 40. Jahrestag des Putsches in Chile! Natürlich wird nicht jedeR LeserIn allem zustimmen, aber das ist ja auch gut so, denn das letzte, was wir wollen, ist ein eintöniger Totalkonsens.
Der Artikel zur unterschiedlichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit in Argentinien und Chile bringt sehr interessante Aspekte zur Sprache, wie zum Beispiel die unterschiedliche politische und ideologische Stärkeposition des Militärs im Moment des Übergangs zur Demokratie. Allerdings scheint mir die Darstellung besagter Unterschiede als zwei extreme Fälle (dem positiven in Argentinien und dem negativen in Chile), doch einer Schwarz-Weiss-Malerei zu unterliegen, bei dem zum Verständnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendige Grautöne verschwinden. So wird die „umfassende Vergangenheitsbewältigung“ in Argentinien vor allem damit erklärt, dass es keinen paktierten Übergang zur Demokratie gab, die Militärs vom Malwinen-Krieg (hier – für die LN überraschend – „Falkland-Krieg“ genannt) geschwächt waren, während die Menschenrechtsbewegung demgegenüber vergleichsweise stark ist und das Thema erfolgreich immer wieder zur Sprache brachte. Mit diesem günstigen „strukturellen“ gesellschaftlichen Hintergrund lässt sich allerdings kaum erklären, dass – wie der Artikel korrekt benennt – aufgrund des Drucks des Militärs (carapintadas) 1986 Amnestiegesetze erlassen wurden und später Präsident Menem die verurteilten Juntageneräle begnadigte. Damit entstand bis 2005 „eine Situation vollkommener Straflosigkeit“, die somit mehr als doppelt so lange währte wie die argentinische Militärdiktatur selbst – nicht eben ein Hinweis auf die Dominanz besagter „struktureller“ Faktoren. Das änderte sich erst mit dem Amtsantritt von Nestor Kirchner, der die Aufarbeitung der Vergangenheit zu einem wichtigen Punkt seiner Regierungspolitik machte, allerdings bei seiner ersten Wahl im ersten (und letzten) Wahlgang nur wenig mehr als 20 Prozent der Stimmen erhielt: Nicht gerade ein massiver gesellschaftlicher Auftrag. Dagegen waren die „strukturellen“ Faktoren in Chile ungünstig für eine umfangreiche Aufarbeitung der Vergangenheit; vor allem die Machtposition des Militärs, die Beschränkungen der Verfassung und die (Selbst)Amnestie begrenzten alle weitreichenden Maßnahmen, und – wie der Artikel von Dieter Maier gut erläutert – Pinochet hatte ja auch eine gesellschaftliche Basis, die weit über das traditionelle rechte Drittel der chilenischen Politik hinausging. So konnte das Militär den Bericht der vom Präsidenten Aylwin (der die bezeichnende Kernaussage „soviel Gerechtigkeit wie möglich“ machte) eingesetzten Kommission Rettig zu den Morden und dem Verschwindenlassen in der Diktatur schlichtweg zurückweisen.
Die Strategie der demokratischen Opposition berücksichtigte die Machtverhältnisse nach dem gewonnenen Plebiszit von 1988, einschließlich der starken Minderheit, die für Pinochet gestimmt hatte, und optierte für eine graduelle Transformation im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung, die in vielen Politikfeldern mit „zu wenig, zu langsam“ kritisiert werden kann. Unzutreffend wäre es allerdings anzunehmen, dass sich diese „strukturellen Faktoren“ in den letzten 23 Jahren überhaupt nicht verändert haben und es daher keine Fortschritte bei der Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben hätte. Im Artikel wird etwa behauptet, dass Pinochet bis zu seinem Tode den Prozess der Vergangenheitsbewältigung stark beeinflussen konnte. Demgegenüber ist festzustellen, dass seine Position mit der Festsetzung in London stark geschwächt war, obwohl er, zum Teil aufgrund des Drucks der chilenischen Regierung, schließlich nicht nach Spanien ausgeliefert wurde und nach Chile zurückkehrte. Nicht zuletzt aufgrund der Arbeit von MenschenrechtsanwältInnen wurde die juristische Verfolgung seiner Straftaten in Chile vorangetrieben, der er schließlich nur aus Gesundheitsgründen entkam. 2002 trat er als lebenslanger Senator zurück. Zusätzlich wurde seine öffentliche Position durch die Aufdeckung von Millionenkonten geschwächt, die er in den USA unter falschem Namen führte. Und heute? Nach einer kürzlichen Umfrage halten ihn nur noch 10 Prozent der ChilenInnen für den wichtigsten Präsidenten Chiles – 10 Prozent zu viel, aber viel weniger als in der Vergangenheit.
Die graduellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte führten unter anderem dazu, dass der zweite Bericht einer Wahrheitskommission, der vom Präsidenten Lagos eingesetzten Kommission Valech zur Folter, kaum noch Ablehnung, dafür um so mehr Bestürzung erfuhr. Nach und nach gelang es MenschenrechtsanwältInnen und demokratischen RichterInnen auch, für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Militärs und Polizisten hinter Gitter zu bringen, darunter alle Chefs der Geheimpolizei DINA und CNI (Zehn von ihnen allerdings in einem Luxusgefängnis, bis Ende September 2013 Präsident Piñera dessen Schließung und die Verlegung dieser Häftlinge in ein anderes Spezialgefängnis für Menschenrechtsverbrecher anordnete; in diesem Zusammenhang beging ein ehemaliger CNI-Chef Selbstmord). Ähnlich wie in Argentinien mussten dazu zum Teil juristische Wege gefunden werden, die Amnestiegesetzgebung auszuhebeln – in Argentinien vor allem der Raub von Kindern und ihre Vergabe in Adoption, in Chile die Definition des Verschwindenlassens als ungeklärtes Verbrechen, das nicht amnestiert werden kann. Ohne Zweifel laufen zu viele Menschenrechtsverletzer weiterhin frei herum, aber die Fortschritte lassen sich nicht leugnen. Das „Museo de la memoria“, Kinofilme, Fernsehserien, Dokumentationen und Theaterstücke haben die Diktatur und ihre Verbrechen immer wieder in die – mal breitere, mal spezialisiertere – Öffentlichkeit gebracht, mit einem Höhepunkt zum 40. Jahrestag des Putsches. Das massive Zuschauerinteresse widerlegte dabei die Behauptung der politischen Rechten, die Menschen seien an Gegenwart und Zukunft interessiert, während die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Gesellschaft spalte, dem Land nicht nütze und vom Großteil der Bevölkerung auch gar nicht gewollt sei.
Also: Viele Grautöne statt Schwarz-Weiss. Speziell die Darstellung Chiles als das „schlechte Extrem“ in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung lässt sich kaum aufrechterhalten, schon gar nicht, wie es die Autorin macht, gegenüber Brasilien und Uruguay (wo in zwei Volksabstimmungen das Schlusspunktgesetz bestätigt wurde), denen sie eine „Mittelposition“ zwischen den Extremen zuschreibt. Zum Abschluss eine, vermutlich polemische, Interpretation: Wie auch bei einigen anderen Artikeln des Dossiers scheint mir der Vernachlässigung besagter Grautöne ein Verständnis der chilenischen Realität als ein von der Diktatur begründetes neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu Grunde zu liegen, welches nennenswerte gesellschaftliche Verbesserungen grundsätzlich unmöglich macht, sodass alle Veränderungen unterhalb der Schwelle einer radikalen Umwälzung zwangsläufig irrelevant sind. Ein solches Verständnis begrenzt jedoch die Fähigkeit zur Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse.
Alles Gute, Jürgen Weller

„Freiheit ist das Wichtigste in meinem Leben!“

Bereits Ende der sechziger Jahre nahm die damalige Soziologiestudentin der Universität São Paulo sich die Freiheit, das Studium abzubrechen und in der Boca do Lixo der Prostitution nachzugehen: „Die Bewegung der contracultura war prägend für meinen politischen Werdegang.“ Die Erfahrungen der Rebellion gegen traditionelle Werte und für eine soziale Revolution setzte sie bereits 1979 in die Praxis um. Zu Zeiten der Militärdiktatur organisierte sie die erste Prostituiertendemonstration gegen die Polizeirepression in São Paulo, nachdem drei Kolleg_innen gefoltert und umgebracht wurden. Der erste politische Erfolg war die Absetzung des verantwortlichen Polizeikommissars und die Einstellung der „Säuberungsaktionen“.
Ihre weiteren Wege führten sie über Belo Horizonte 1982 nach Rio de Janeiro, wo sie eigentlich nur ein paar Tage bleiben wollte. Dem Charme Rios erlegen, blieb sie und wurde zur echten carioca (Einwohnerin Rio de Janeiros), die den Samba frequentierte und Dichter wie Manuel Bandeira verehrte. Letzterer beschrieb das traditionelle Rotlichtviertel Mangue, wo sie in einer der Straßen, die die Stadtumstrukturierung überdauert hatte, anfing zu arbeiten.
1987 organisierte sie den ersten Prostituiertenkongress Brasiliens in Rio de Janeiro unter dem Motto „As rosas já falam“ („Die Rosen sprechen bereits“) in Anspielung auf das Lied des Sambakomponisten Cartola. Für sie war es wichtig, dass Prostituierte für sich sprechen und als Protagonist_innen ihrer Angelegenheiten in Gesellschaft und Politik wahrgenommen werden. „Freiheit ist das wichtigste in meinem Leben!“, sagte sie immer wieder. Dies war auch der Beginn der brasilianischen Prostituiertenbewegung, die heute in vielen Städten Brasiliens vertreten ist. Im Jahr darauf rief sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten Flavio Lenz, die Zeitung Beijo da Rua („Kuss der Straße“) ins Leben, wo die anschaffenden Frauen selbst zu Wort kommen. Ihre Kolumne nutzte sie stets, um über ihre politischen Gedanken zu philosophieren: „Wenn die Prostituierte wie jede andere Arbeiterin zu etwas Alltäglichem in der Gesellschaft wird, werden wir über Sexualität, Lust, Liebe, Glück, diese uns so wichtigen Dinge, besser nachdenken können.“
Um unabhängig von anderen Nichtregierungsoganisationen zu sein, gründete sie 1992 die Organisation Davida, die für die Rechte von Prostituierten eintritt. Als eine der Pionier_innen der Aidsbewegung machte sie sich immer dafür stark, die Krankheit im Kontext von Stigma und Vorurteilen zu sehen. „Heute werden wir als Gruppe, die „vulnerabel“ ist, bezeichnet“, argumentierte sie bei einem Treffen der Vereinten Nationen gegen diskriminierende Begrifflichkeiten. „Nach meinem Verständnis hat dies die gleiche Bedeutung wie Risikogruppe.“ Der Name habe sich geändert, aber das alte Vorurteil bleibe das gleiche. „Wenn wir als Risikogruppe bezeichnet werden, bedeutet dies, dass die anderen nicht für die Übertragung des Virus verantwortlich sind.“
Die Anerkennung der Prostitution als Arbeit war eines ihrer wichtigsten Anliegen. Ihr stetes Engagement in Brasilien führte 2002 dazu, Prostitution in den Brasilianischen Tätigkeitenkatalog (CBO) des Arbeitsministeriums aufzunehmen. Auch mit der Position, Prostitution als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu verteidigen, war sie vielen ihrer Zeit oft voraus. „Über Prostitution nur im Zusammenhang mit Armut zu reden, bedeutet, die Sexualität außer acht zu lassen“, setzte sie den moralisch geprägten Debatten entgegen. „Auf diese Weise versuchen wir zu zeigen, daß Prostituierte keine Vagabundinnen sind oder ein Ergebnis des „wilden“ Kapitalismus, sondern ein Teil einer Gesellschaft, die vor Angst stirbt, wenn sie ihrer Sexualität gegenübertritt, und sich bedroht fühlt, wenn eine Prostituierte ihr Gesicht zeigt.“ Durch ihre klare Haltung prägte sie auch die internationale Sexarbeiter_innenbewegung, wo sie als Vorstandsmitglied des Netzwerks für Sexarbeit-Projekte (NSWP) eine entscheidende Rolle in Diskussionen mit UN-Organen einnahm. Während sich seit Ende der neunziger Jahre in vielen Ländern der Begriff der Sexarbeiterin durchsetzte, war Gabriela hingegen die Bezeichnung Prostituierte wichtig: „Ich benutze den Begriff Prostituierte als Politikum im Kampf gegen das Stigma“. Am liebsten war ihr aber das Wort Hure, das am besten die Nähe zur Boheme und Kunst charakterisierte: „Daher halte ich die Kunst, die über Prostituierte spricht, für sehr wichtig, da sie den Fantasien der Gesellschaft Raum bietet. Sie hilft, Prostituierte aus dem Ghetto zu holen und in die brasilianische Realität zu stellen.“
So waren auch die Kneipen ihr zweites Zuhause, wo sie ihre Treffen abhielt, Interviews gab, Projekte plante, neue Ideen hatte und vor allem mit unzähligen Menschen über Prostitution diskutierte und stritt. Viele haben später diese Gespräche als Lebenslektionen definiert. In ihrer Radikalität konnte sie provozieren und stieß so manchen vor den Kopf. Gleichzeitig schaffte sie es dadurch, die Menschen zum Nachdenken zu bewegen und die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Als Ausgleich tankte sie zu Hause mit ihrer großen Leidenschaft des Kochens im Kreise der Freund_innen ihre Energien wieder auf.
Ihr wohl genialster Streich war die Gründung des Modelabels Daspu („das putas“ – „von den Huren“) im Jahre 2005, um für die Projekte von Davida Gelder zu akquirieren. Die Idee war, damit Projekte für die Rechte der Prostituierten umzusetzen, die normalerweise bei internationalen Geldgebern keinen Anklang fanden. Auf den T-Shirts sind ironische und doppeldeutige Sprüche über Rechte, Freiheit und Sexualität gedruckt, die von den Prostituierten selbst angeregt wurden: „Wir sind böse, wir können noch böser sein“, „Die guten Mädchen kommen in den Himmel, die schlechten gehen überall hin“, „Mode zum Umdenken“. Für Gabriela war es immer ein bewegendes Ereignis, wenn die Kolleg_innen über sich selbst hinauswuchsen, sobald sie als Models den Laufsteg betraten. Wenn sie am Ende unter Applaus auf die Bühne stieg, war sie stets vor Glück zu Tränen gerührt: „Wenn meine Kolleginnen, die Huren, als Models auftreten, ohne sich zu schämen, Hure zu sein, reden sie von sich selbst und sind politisch und revolutionär.“
Die zahlreichen Facetten ihres Lebens hat sie unter dem Titel Tochter, Mutter, Großmutter und Hure beschrieben, das 2009 als Buch erschien und im folgenden Jahr als Theaterstück adaptiert wurde. Darüber hinaus plant der Regisseur Caco Souza die Verfilmung ihres Buches. Auch durch den Gesetzentwurf des linken PSOL-Abgeordneten Jean Wyllys zur Regulierung der Prostitution wird sie uns in Erinnerung bleiben. Er reichte im Juni 2012 den Entwurf mit ihrem Namen als Anerkennung ihres Engagements im Parlament ein.
Nun kann sie von dem Friedhof Catumbi auf die ehemalige Vila Mimosa – die Bordellgasse, wo sie in Rio de Janeiro gearbeitet hat, blicken. Ob sie dort die Ruhe von den vielen Kämpfen, die sie Zeit ihres Lebens geführt hat, gefunden hat, weiß ich nicht. Aber ich kann mir bestens vorstellen, dass sie, wo immer sie jetzt weilt, auch dort mit aller Leidenschaft weiter gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit kämpfen wird. Viel Power dabei, Gabi!

Die Leere des unbesetzten Stuhls

Die Familie nutzte ein verlängertes Wochenende für einen Ausflug. Auf der Landstraße São Paulo – Mogi Mirim legten sie einen kurzen Stopp und schossen ein Bild: die Mutter, die Tochter und der Sohn stehen Arm in Arm, gelehnt an die Kühlerhaube, in der Ferne verliert sich die Flucht der Autostraße. 48 Jahre später, im Jahre 2012, die gleiche Landstraße: Arm in Arm stehen Mutter und Tochter vor dem parkenden Wagen, die Flucht der Straße verliert sich immer noch im Hintergrund. Aber der Sohn fehlt. Luiz Almeida Araújo, damals 27 Jahre, wurde im Juni 1971 auf offener Straße verhaftet und gilt seither als verschwunden.
Die Familie Cardoso Rocha traf sich stets zum Familienessen, damals im Belo Horizonte Anfang der 1960er Jahre. Die Rochas waren eine kinderreiche Familie. Und alle gingen oft zusammen ins Restaurant. Zu neunt sind sie 1961 um den Tisch versammelt. 2012 sitzen nur noch acht Familienmitglieder am Tisch. Arnaldo Cardoso Rocha fehlt. 1969 ging Arnaldo für die Stadtguerrilla Nationale Befreiungsaktion ALN in den Untergrund. Er starb 1973 – laut Militärangaben infolge eines Schusswechsels. Aussagen von Zeug_innen zufolge wurde er lebend festgenommen und im Folterzentrum der DOI-CODI in São Paulo ermordet.
Ana Rosa Kucinski Silva lehnt, entspannt sitzend, am Rahmen einer Haustür in Paraty, wohin die Familie aus São Paulo im Jahre 1966 einen Ausflug gemacht hatte. 2012 sitzt niemand im Rahmen der Tür. Ana Rosa hatte sich am 22. April 1974 mit ihrem Ehemann zum Mittagessen im Zentrum São Paulos verabredet (siehe LN 471/472). Dort wurden sie und ihr Mann Wilson Silva verhaftet – und nie wieder gesehen.
Es sind die Bilder des argentinischen Fotografen Gustavo Germano. Und die der Familienangehörigen der Verschwundenen. Gustavo Germano hat dieses Projekt in Brasilien im vergangenen Jahr mit Unterstützung des Menschenrechtssekretariats realisiert, nachdem er zuvor das gleiche Projekt in Argentinien durchgeführt hatte.
Germano dokumentiert die Geschichten der Opfer der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985) dadurch, dass er Fotos aus den Familienalben dreißig, vierzig Jahre später mit den Hinterbliebenen nachstellt. Die Bilder werden durch die Lebensgeschichten der Verschwundenen und ihrer Familienangehörigen hervorragend ergänzt.
In der Gegenüberstellung der alten und neuen Fotografien setzt Germano die Abwesenheit der politischen Verschwundenen und von der Diktatur Ermordeten einfühlsam in Szene. Es ist diese Leere des unbesetzten Stuhls am Familientisch, die nicht vieler Worte der Erklärung bedarf. Selten sprechen Fotografien bereits beim ersten Anblick so für sich.

Iuri Xavier Pereira. 23 Jahre

Geboren am 2. August 1948 in Rio de Janeiro im gleichnamigen Bundesstaat als ältester Sohn von João Baptista und Zilda de Paula Xavier Pereira, beide engagierte Kommunisten und Mitglieder der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB). Iuris Bruder, Alex de Paula Xavier Pereira, ebenfalls aktives Mitglied der Nationalen Befreiungsaktion ALN, wurde im Januar 1972 umgebracht.
Im Untergrund war Iuri aktiv an den internen Machtkämpfen der PCB beteiligt. Er stand Carlos Marighella bei der Gründung der ALN zur Seite und gehörte seit 1970 zu deren Zentralkommando. Iuri war nicht nur für seinen Kampfgeist bekannt, sondern auch für seine theoretische Kompetenz und sein Engagement im Bereich der Untergrund-Presse.
Am 14. Juni 1972 traf er sich zum Mittagessen mit drei Kampfgefährten in einem Restaurant in São Paulo. Der Besitzer rief die Polizei an und teilte ihr mit, in seinem Lokal säßen gesuchte Terroristen. Schnell war ein Hinterhalt vor Ort aufgebaut. Im Verlauf der Operation kamen Iuri und zwei seiner Gefährten ums Leben. Der dritte konnte verletzt entkommen. Iuri bekam ein Armenbegräbnis auf dem Friedhof Dom Bosco in Perus im Bundesstaat São Paulo. Erst im Jahr 1980 wurde sein Leichnam zusammen mit dem seines Bruders Alex nach Rio de Janeiro überführt. Die Exhumierung in São Paulo wurde von Polizeibeamten überwacht, die mit Maschinengewehren ausgestattet die Überführung der sterblichen Überreste der Brüder nach Rio de Janeiro begleiteten.

Fernando Augusto de Santa Cruz Oliveira. 26 Jahre

Geboren am 20. Februar 1948 in Recife, Bundesstaat Pernambuco, als Sohn von Izita Santos de Santa Cruz Oliveira und Lincoln de Santa Cruz Oliveira. Fernando Augusto war verheiratet mit Ana Lúcia Valença Santa Cruz Oliveira und hatte einen Sohn, Felipe. Er arbeitete als Angestellter der Wasser- und Elektrizitätswerke in São Paulo, wo er mit seiner Frau und seinem damals zweijährigen Sohn lebte. An einem Samstag vor Karneval hielt die Familie sich in Rio de Janeiro auf. Gegen 15:30 Uhr verließ Fernando das Haus, um seinen Freund Eduardo Collier zu treffen. Er gab zu verstehen, dass, sollte er um 18.00 Uhr nicht zurück sein, er verhaftet worden sei. Sein Hinweis bestätigte sich: Er wurde von Agenten des Sonderkommandos Geheimoperationen – Operationszentrum Innere Verteidigung/Rio de Janeiro (DOI-CODI/RJ) am 23. Februar 1974 verhaftet, nur wenige Wochen vor Ende der Regierungszeit von General Garrastazu Médici. Seine Festnahme erfolgte im Rahmen einer Operation der Militärpolizei in verschiedenen Orten des Landes, die 1973 eingeleitet wurde, um die Widerstandskämpfer der Marxistisch-Leninistischen Volksaktion (APML), einer linken Bewegung, die der Katholischen Kirche nahestand, zu liquidieren.

Luiz Almeida Araújo. 27 Jahre

Geboren am 27. August 1943 in Anadia, Bundesstaat Alagoas, als Sohn von Maria José Mendes de Almeida Araújo und João Rodrigues de Araújo. Luiz ging 1957 nach São Paulo, wo er Botengänge erledigte und ein Abendstudium absolvierte. Bereits während des Studienkollegs im Instituto Santa Inês begann er, sich in der Studentenbewegung zu engagieren und unterhielt Verbindungen zur Katholischen Studentenjugend (JEC).1964 wurde er verhaftet und gefoltert. Im selben Jahr reiste er nach Chile und wurde nach seiner Rückkehr erneut verhaftet.
Als politischer Aktivist zeigte er zwischen 1966 und 1968 eine zunehmende Militanz und schloss sich den Dissidenten um Carlos Marighella an, die der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB) den Rücken zukehrten. Er engagierte sich im Bereich Kunst und Kultur und spielte im Theater Leopoldo Fróes. Da er für eine Aktion der Gruppe Marighella seinen Wagen zur Verfügung gestellt hatte, wurde er aufgegriffen und in der Avenida Angélica im Juni 1971 entführt. Das Todesdatum von Luiz steht nicht genau fest. In einem Bericht der Marine von 1993 gibt es einen Eintrag zu seiner Person: „AUG/71 – ist angeblich tot.“ Als Luiz verschwand, war seine Lebensgefährtin Josephina Vargas Hernandes schwanger. Er starb, ohne seine Tochter Alina kennenzulernen.

Übersetzung: Sarita Brandt und Ursula Kindel

Ausstellung „Ausências“ // Fotografien: Gustavo Germano und die Familienangehörigen der Verschwundenen // Kontakt und Informationen zur Ausstellung bei: www.gustavogermano.com

Die Ausstellung „Ausências Brasil“ wurde produziert durch das Menschenrechtssekretariat der Präsidentschaft Brasiliens mit Unterstützung der brasilianischen Agentur Alice – Agência livre para informação, cidadania e educação.

Im Rahmen des Ehrengastauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse war die Ausstellung „Ausências Brasil“ vom 7. bis 20. Oktober 2013 im Haus am Dom in Frankfurt zu sehen.

„Ausências“ wird voraussichtlich im Frühjahr 2014 in Berlin und Köln/Bonn im Rahmen der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage gezeigt werden, die an den 50. Jahrestag des Militärputsches in Brasilien erinnern.
Das Programm der „Nunca-Mais“-Brasilien-Tage wird demnächst hier in den LN bekannt gegeben werden.

Des Journalisten Fährte

Chile, Mitte der achtziger Jahre. Die Militärdiktatur sitzt noch fest im Sattel. Der Journalist Oliver Podewin reist in den Süden Chiles, nach Punta Arenas. Sein Sitznachbar im Flugzeug fällt ihm auf, da dieser ungerührt die Turbulenzen erträgt. Auch hat er oberhalb seines Handgelenks eine markante Tätowierung, einen Raubvogel, der etwas im Schnabel trägt.
Ins Gespräch kommen die beiden Fluggäste nicht. Dennoch bleibt die Bekanntschaft nicht folgenlos: Podewin will in der Stadt an der Magellanstraße einen Hörfunkbericht über die Hintergründe eines Attentats auf eine Kirche in einem Armenviertel machen, bei dem der vom Geheimdienst stammende Attentäter selbst ums Leben kam. Die Kirchenleute unterstützen ihn bei seinen Interviews und Recherchen. Von einem von ihnen erfährt Podewin, dass jener Sitznachbar ein Folterer war. Einer der Folterlehrer, die aus dem Ausland in lateinamerikanische Staaten reisten und dort ihre Dienste feilboten.
Als Podewin wenig später auf einer Fahrt nach Santiago einen Zwischenstopp in der Nähe der Foltersiedlung Colonia Dignidad machen will, erhält er einen in akzentfreiem Deutsch gesprochenen Drohanruf. Podewin verzichtet daraufhin auf den Halt und setzt seine Reise nach Santiago fort. Spätere überraschende Begegnungen führen ihn zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem deutschen Anrufer und dem Unbekannten aus dem Flugzeug um dieselbe Person handelt. – El Salvador, knapp zwei Jahre später. Podewin begleitet als Journalist die internationale Untersuchungskommission zum Tod eines Aktivisten aus der Solidaritätsszene. Wie auch im Chile-Teil verarbeitet hier der Autor reale Vorkommnisse: Der Schweizer Jürg Weis – im Roman gibt ihm der Autor den Nachnamen Roth, behält aber den Vornamen bei – war im August 1988 nach El Salvador gereist und dort von Militäreinheiten erschossen worden (siehe LN 178). Es gelingt der Untersuchungskommission aus der schweizer und deutschen Soli-Szene, in El Salvador die Version des Militärs zu widerlegen.
Dann taucht unvermittelt der geheimnisvolle Fremde wieder auf. Und Podewin, ganz Journalist, setzt sich auf die Fährte, recherchiert und lässt seine Kontakte spielen, um dessen Geheimnis zu ergründen. Es geht ihm hierbei nicht darum, den mutmaßlichen Folterer dingfest zu machen. Aus dem Journalisten wird nicht der überspannte Privatkommissar, der den Schurken zur Strecke bringt. Vielmehr lässt ihn die Idee, ein Interview mit diesem „negativen Helden“ zu bekommen, nicht mehr los. Im Kolumbien der neunziger Jahre – an Militärs und Paramilitärs, Guerillas und Drogenbaronen mangelt es nicht – gelingt es Podewin schließlich, den Fremden ausfindig zu machen.
Der Autor, Norbert Ahrens, nimmt die Lesenden auf eine Reise durch drei lateinamerikanische Länder der achtziger und neunziger Jahre mit und lädt sie ein, den geheimnisvollen Fremden aus dem Flugzeug wieder zu treffen, ihn zu suchen und dessen Geheimnis zu ergründen. All dies vor den konkreten historischen Ereignissen der Zeit – Militärdiktaturen, Bürgerkrieg, Guerilla –, die der Autor literarisch verarbeitet. Die Beschreibungen der politischen Situationen lassen den erfahrenen Blick des Journalisten erkennen, der sich seinem Sujet diesmal als Romanautor annähert. Und das macht den Roman dann so realitätsnah und lesenswert.

Norbert Ahrens // Podewins Verfolgung // Kulturmaschinen // Berlin 2013 // 270 Seiten // 24,90 Euro

Canción Chilena mit tango

„Die Musik von Inti Illimani ist ein Bestandteil der chilenischen Kulturgeschichte und eine Stimme der fortschrittlichen Kräfte unseres Landes“, so wird Michelle Bachelet in der neuen Veröffentlichung von Inti-Illimani histórico Vivir en libertad (Leben in Freiheit) zitiert. Neben Quilapayún sind Inti Illimani die wohl bekanntesten Vertreter der in den 1960er Jahren entstandenen Musikrichtung La Nueva Canción Chilena (Das Neue Chilenische Lied). Sie baut auf lateinamerikanischen Musiktraditionen auf und verbindet politische Inhalte mit Musik. Dieses Jahr hat Inti Illimani in veränderter Besetzung eine neue CD herausgebracht.
Inti-Illimani histórico ist eines der beiden Nachfolgeprojekte der 1967 an der Universidad de Chile von Studierenden gegründeten Gruppe Inti Illimani. In dieser Zeit des politischen Aufbruchs in Lateinamerika überraschte sie der Militärputsch vom 11. September 1973 auf einer Europatournee. Die Zeit der Militärdiktatur verbrachten sie im italienischen Exil. Schon zuvor war die Gruppe zu einem Symbol chilenischer Musik geworden und trug nun über ihre Musik auch dazu bei, dass das Thema Chile in der europäischen Linken nicht von der Bildfläche verschwand.
Nach dem Ende des Militärputsches und der Rückkehr nach Chile begannen die einzelnen Musiker von Inti Illimani mit Soloprojekten, darunter auch der musikalische Leiter der Band, Horacio Salinas. 2004 schloss er sich mit den anderen Altvorderen Horacio Durán und José Seves sowie anderen Musikern zusammen: Sie beanspruchten für sich, die wahren Inti Illimani zu sein. Mit den unter fast vollständig neuer Besetzung spielenden Inti Illimani entbrannte ein Rechtsstreit um die Frage, welche Gruppe das Erbe und den Namen Inti Illimani weitertragen durfte. Als Folge nannte sich Salinas’ Band Inti-Illimani histórico.
Auf dem Mediabook Vivir en Libertad, das Inti-Illimani histórico nun bei Heupferd Musik veröffentlicht hat, befinden sich eine CD mit der Studioproduktion Esencial und eine CD mit den Aufnahmen eines Konzerts im Estadio Víctor Jara in Santiago de Chile. Außerdem gibt es ein ausführliches Booklet mit einem Text über die Geschichte Inti Illimanis, mit den Liedtexten zu beiden CDs sowie einigen historischen Bildern und einem Aufsatz zum Exil in BRD und DDR. Musikalisch schließen die Aufnahmen an die Traditionen der Nueva Canción Chilena an; Saiteninstrumente und Percussion sorgen für treibende Rhythmen, Holz- und Blechbläser harmonieren wunderbar mit dem choralen Gesang der Bandmitglieder. Im Vergleich zu älteren Aufnahmen fällt auf, dass mit Horacio Salinas‘ Sohn, Camilo Salinas, neue Instumente den Weg in die Musik der alten Inti-Illimani gefunden haben. Der Pianist und Akkordeonspieler bringt teilweise Tango-Atmosphäre in die sonst eher von kubanischen und andinen Einflüssen geprägte Musik und gibt gerade den Studioaufnahmen eine neue Tiefe und Melancholie.
Ansonsten hält das Mediabook, was es verspricht: Die Studioaufnahmen können, was die Intensität betrifft, nicht mit den Live-Aufnahmen mithalten, überraschen aber gerade durch den dezenten Einsatz von Akkordeon und Piano. Auch fast alle Lieder, die man erwarten würde, finden sich auf den beiden CDs. „Mercado de testaccio“, der im italienischen Exil entstandene Song, fehlt genauso wenig wie „Tinkú“ und „El Pueblo Unido“, die heimliche Hymne der chilenischen Linken. Leider fehlt eine übersichtliche Auflistung d

Zwei Generalstöchter und eine aufgerüttelte Gesellschaft

Die politischen Parteien haben nach und nach ihr Ansehen in der chilenischen Bevölkerung verloren. Vieles ereignet sich nicht im Kongress, sondern auf der Straße. Zugleich liegt die hohe Zahl an Bewerber_innen um die Präsidentschaft auf einem historischen Rekordwert, wobei die Rechte ihre so mühsam errungene Macht allmählich verliert.
Die Erinnerung an die 17 Jahre Diktatur ist durch den 40. Jahrestag des Staatsstreichs am 11. September und den 25. Jahrestag des Plebiszits gegen Pinochet am 5. Oktober besonders präsent: Während des gesamten Septembers war der Putsch von 1973 in sämtlichen Medien das zentrale Thema. Sowohl die Regierung als auch die rechten Kandidat_innen in weiten Kreisen als Befürworter_innen Pinochets angesehen.
Mit der politischen Geschichte des Landes verwoben sind auch die Biografien der beiden Hauptkonkurrentinnen: Michelle Bachelet und Evelyn Matthei. Von Sandkastengefährtinnen in Kindertagen entwickelten sie sich unter den historischen Umständen zu Vertreterinnen gegensätzlicher Gesellschaftsentwürfe. Beide Väter waren Generäle. Alberto Bachelet kam während der Militärdiktatur ums Leben, Fernando Matthei wird beschuldigt, einer der Verantwortlichen für dessen Tod zu sein.
Bachelet starb im März 1974 als Konsequenz der Folterungen während seiner Gefangenschaft in der Folterstätte Academia de Guerra Aérea, die vom damaligen Oberst Matthei geleitet wurde. Am vergangenen 1. Oktober bestätigte das chilenische Berufungsgericht eine Entscheidung, wonach Matthei nicht an Bachelets Tod durch Folterungen beteiligt gewesen ist. Die Vereinigung der Angehörigen hingerichteter Politiker_innen (AFEP) hatte gefordert, die Umstände des Todes General Bachelets zu untersuchen. Laut Rechtsanwalt Eduardo Carranzo, der die AFEP vertritt, habe Matthei genauestens gewusst, was passierte, und nichts dagegen unternommen. „Mich zu beschuldigen, in irgendeiner Form am Tod meines Freundes Bachelet beteiligt gewesen zu sein, ist genauso grotesk wie Bachelet des Vaterlandsverrats zu beschuldigen“, bekräftigte der pensionierte General angesichts dieser Anschuldigungen. Die Tochter Michelle Bachelet und ihre Mutter waren Gefangene im Konzentrationslager Villa Grimaldi, dort gefoltert erhielten sie Asyl in der damaligen DDR.
Nun tritt Michelle Bachelet zum zweiten Mal als Präsidentschaftskandidatin an, diesmal für Die Neue Mehrheit, zu der sich die Concertación mit der Kommunistischen Partei, der Bürgerlichen Linken, der Breiten Sozialen Bewegung sowie Unabhängigen aus dem Mitte-Links-Spektrum zusammengeschlossen hat. Als erste Frau in der Geschichte des Landes war Bachelet von 2006 bis 2010 Präsidentin Chiles. Nach ihrem Mandat leitete sie die neu gegründete Frauen-Organisation der Vereinten Nationen.
Kurz nach dem Amtsantritt der aktuellen Regierung stellten die Parteien der Concertación fest, dass Bachelet die einzige Person sei, die die Rechte besiegen könnte. Während der letzten beiden Regierungsjahre wurde ihre Rückkehr zu einem offenen Geheimnis.
Laut Umfragen hielten es zuletzt knapp 72 Prozent der Beteiligten für wahrscheinlich, dass Bachelet die nächste Präsidentin wird. Sie wird allerdings dafür kritisiert, dass sie keine direkten Antworten auf drängende Probleme gebe und nicht an allen Diskussionen teilnehme. So fand die erste Fernsehdebatte am 9. Oktober ohne die „Favoritin für den Sitz im Präsidentenpalast La Moneda“ statt, wie Online-Medien berichten. Für Irritation hatte Bachelet auch damit gesorgt, dass ihre 50 Maßnahmen für die ersten 100 Regierungstage, die sie inmitten der Polemik um ihr fehlendes Programm am 7. Oktober ablieferte, mit keinem Wort die dringend notwendigen Verfassungsänderungen erwähnten. Nur zwei Tage später kündigte sie dann eine neue Verfassung für das zweite Regierungshalbjahr an: Die Abschaffung des binominalen Wahlsystems und der Privilegien für Minderheiten im Land, die dadurch Projekte der Mehrheit blockieren können, die Anerkennung der indigenen Bevölkerungsteile und der Menschenrechte sowie eine größere Autonomie für die Regionen, identifizierte sie dabei als wesentliche Anliegen. Im selben Atemzug fügte sie hinzu: „Aber natürlich sind die beiden großen Projekte, die wir im ersten Jahr angehen werden, die Bildungs- und die Steuerreform“. Letztere soll unter anderem zur Finanzierung eines gebührenfreien Bildungssystems beitragen.
Bachelet kommt in umfragen derzeit auf 33 Prozent der Zustimmungswerte. Evelyn Matthei kommt hingegen auf nur 23 Prozent. Sie repräsentiert das Mitte-Rechts-Bündnis Allianz für Chile der Parteien Unabhängige Demokratische Union und Nationale Erneuerung. Die Umstände zu ihrer Ernennung waren komplex: Der ursprüngliche Kandidat, Pablo Longueira, trat im Juli überraschend wegen Depressionen zurück. Matthei blieb als einzige konkurrenzfähige Kandidatin für eine chilenische Rechte, die sich derzeit in einer ihrer größten Krisen befindet. Nachdem Matthei seit 2011 Ministerin für Arbeit und Soziale Sicherheit gewesen war, hatte sie noch im vergangenen März verkündet, sich nach Ablauf der Legislaturperiode aus der Politik zurückzuziehen.
Als Präsidentschaftskandidatin möchte sie nun an die Regierung unter Sebastián Piñera und besonders an die Themen Wirtschaftswachstum und Verbesserungen im Lebensstandard anknüpfen. „Wenn Chile schon ungeheure Fortschritte geleistet hat, die uns in Lateinamerika auszeichnen, warum sollten wir dann tiefgreifende Veränderungen riskieren?“, bekräftigte die Kandidatin. Eine Steuerreform schließt sie aus.
Nur gut sieben Prozent der Bevölkerung halten es für möglich, dass Matthei Präsidentin werden könnte, in Umfragen folgt ihr Franco Parisi mit 15 Prozent Zustimmung auf dem dritten Platz. Parisi tritt als Unabhängiger an. Im Gegensatz zu Bachelet und Matthei, die besonders von der älteren Bevölkerung über 50 unterstützt werden, erhält Parisi die meisten Stimmen aus der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen. Außerdem sollen viele seiner Stimmen aus dem rechten Lager kommen und damit von Matthei abgehen. Er selbst versichert, dass er sich weder der Rechten noch der Linken zuordnet. Mit einer Anspielung auf das Plebiszit vom 5. Oktober 1988 und auf die Spaltung zwischen den Anhänger_innen Pinochets und jenen, die unter ihm litten, verspricht Parisi, dass es, sollte er gewinnen, mit dem „Ja“ und „Nein“ ein Ende haben werde.
Musste sich Parisi in den Umfragewerten zuvor den dritten Platz mit Marco Enríquez-Ominami teilen, konnte dieser zuletzt nur noch sieben Prozent Zustimmung erreichen. Enríquez kandidiert zum zweiten Mal, wobei viele ihm zur Last legen, dass wegen ihm Eduardo Frei Ruiz-Tagle die letzten Wahlen zu Gunsten Piñeras verloren habe, weil er die Unzufriedenheit mit der Concertación verkörpert hat: Nach 19 Jahren Mitgliedschaft war er aus der Sozialistischen Partei ausgetreten, um als unabhängiger Kandidat an den Präsidentschaftswahlen 2010 teilzunehmen. Er gründete die Progressive Partei von Chile. Im Bereich Bildung setzt er sich für kostenlose staatliche Universitäten und für private Universitäten mit einer einkommensgestaffelten Gebührenordnung ein. Im Bereich Gesundheit plädiert er für „ein würdiges und ganzheitliches Gesundheitssystem, da der Zugang zu öffentlichen Versorgungszentren extrem mangelhaft ist.“ Wie die meisten Kandidat_innen möchte auch er eine Verfassunggebende Versammlung einberufen.
Marcel Claude, Ökonom und Aktivist, liegt mit 5 Prozent nur knapp hinter Enríquez zurück. Mit Unterstützung der Humanistischen Partei repräsentiert er die Bewegung „Alle in die Moneda“, die sich aus über 20 politischen und sozialen Organisationen aus ganz Chile zusammensetzt. Unter den neun Kandidat_innen ist er der einzige, dessen Programm auf die Menschenrechte und das Erbe der Diktatur im neoliberalen wirtschaftlichen Modell eingeht, das viele als erbarmungslos beurteilen. Aber auch mit dem Ziel, die natürlichen Ressourcen zu renationalisieren sowie die Steuern für große Wirtschaftsunternehmen zu erhöhen, hebt er sich von anderen Kanditat_innen ab.
Die verbleibenden vier Kadidat_innen erhalten zwar nur ein bis zwei Prozentpunkte Zustimmung, dennoch stehen sie für recht eigenwillige Denkansätze: Jocelyn-Holt, Ex-Mitglied der Christdemokratischen Partei, lädt auf einer offenen Website dazu ein, an einem Dokument zur Ausarbeitung eines Regierungsprogramms mitzumachen. Die für ihn wichtigen Themen sind sexuelle Minderheiten, die Legalisierung des Marihuana-Konsums, das Steuersystem und kostenlose Bildung. Roxana Miranda stellt sich für die Partei Gleichheit zur Wahl. Sie wolle Schluss machen mit dem Kapitalismus, es solle ein buen vivir geben, ein respektvolles Leben in Harmonie mit allem, was existiert, so die Kandidatin. Ricardo Israel möchte als Kandidat der Regionalistischen Partei der Unabhängigen mittels Plebisziten die Regionen des Landes stärken. Schließlich tritt mit Alfredo Sfeir von der Grünen Partei ein ehemaliger Weltbank-Experte und spiritueller Führer an. Der Mann in Hindutracht und mit Pferdeschwanz gründete das Institut Zambuling, um die Verbindung zwischen Spiritualität und Politik mit dem Ziel des Weltfriedens zu unterstützen. Auch wenn Sfeir kaum Chancen hat, bringt er als beinahe Einziger neue Ansichten zu Umweltfragen auf die Wahlkampfagenda und antwortet damit auf das seit den Protesten 2011 stark gewachsene Interesse einer Zielgruppe im urbaneren, professionellen Spektrum.
Da es als wahrscheinlich gilt, dass Bachelet in der ersten Wahlrunde gewinnt, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den zweiten Platz: Bislang haben zwölf Prozent der Befragten signalisiert, dass sie sich noch nicht entschieden hätten oder einen leeren Stimmzettel abgeben würden. Um ihre Stimmen konkurrieren acht Kandidat_innen, deren unterschiedliche Gesellschaftsmodelle über den Wahlausgang hinaus Beachtung finden wollen. Daneben bleibt abzuwarten, inwieweit die Forderungen aus der Protestbewegung von einer neuen Regierung Bachelet tatsächlich umgesetzt werden.

„Das größte Problem ist die Verletzung der Menschenrechte!”

Fast nirgendwo sitzen, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen in Gefängnissen wie in Chile. Gleichzeitig hat das Land aber im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Staaten eine der niedrigsten Kriminalitätsraten. Wie kommt es dazu?
Seit der Durchsetzung des Neoliberalismus während der Militärdiktatur hat sich nicht nur das ökonomische Modell, sondern zum Beispiel auch die Logik, wie Alltag und Gesellschaft an sich funk­tionieren, verändert. Sicherheit ist als Thema wesentlich wichtiger geworden. So wird von Seiten des Staates und der Medien ein Gefühl der Angst geschürt, wenn gesagt wird, das Schlimmste sei die Kriminalität. Dabei ist die Kriminalitätsrate niedrig. War früher der Terrorist die größte Bedrohung, ist es nun der Kriminelle. Sie klammern andere Risiken, die viel alltäglicher sind, aus. Etwa die Risiken, die mit der ökonomischen Unsicherheit zu tun haben oder dem schlechten Zugang zum Gesundheitssystem. Dies bedeutet dann eine Kriminalisierung von Armut. 90 Prozent der Menschen im Gefängnis sind arm. Und die Strafen für Delikte und auch die Anzahl der Delikte, die Menschen betreffen, die weder Zugang zum Markt noch zur geregelten Arbeitswelt haben, werden erhöht.

Was sind die größten Probleme?
Was am meisten an die Öffentlichkeit dringt sind die Überbelegung und der Zustand der Gefängnisgebäude. Von den 89 Gefängnissen in Chile gibt es einige, die noch aus dem 19. Jahrhundert sind, die meisten sind aus dem 20. Jahrhundert. Und jene, die in den letzten 13 Jahren gebaut wurden, sind voll. Im Gefängnis in Valparaíso, das 1999 eröffnet wurde, sind beispielsweise die Blöcke, die für 80 Gefangene ausgelegt sind, mit 330 Gefangenen belegt. Man muss sich das vorstellen: In einer Zelle, die zwei mal zwei Meter groß ist und für zwei Gefangene ausgelegt ist, leben jetzt fünf oder sechs. Das größte Problem in den chilenischen Gefängnissen sind meiner Meinung nach aber die Verletzungen von Menschenrechten. Die Gefangenen werden täglich misshandelt, gedemütigt, bedroht, provoziert – von den Gefängniswärtern. Und auch wenn die Sozialarbeiter die Gefangenen nicht verbal oder physisch misshandeln, dann tun sie dies durch Unterlassung, durch Indifferenz und durch Vernachlässigung.

Gibt es Bestrebungen, etwas zu ändern?
Seitens des Staates wurden nach dem Brand im Gefängnis von San Miguel 2010 (bei dem 80 Gefangene ums Leben kamen, Anm. d. Red.) elf Maßnahmen angekündigt: Eine davon ist, den Gefangenen mehr Decken zu geben, damit sie Feuer löschen können, eine andere ist die Installation von Sprinkleranlagen, und es wurden zum Beispiel auch Feuerschutzbrigaden mit Gefangenen und Wächtern gegründet. Aber der Diskurs hat nicht dazu geführt, dass die Bedingungen, unter denen die Gefangenen leben, diskutiert wurden.

Und die Überbelegung?
Die Regierung hat beschlossen, neue Gefängnisse zu bauen: Seit 2002 sollten es zehn werden, im Moment sind davon fünf in Betrieb, die alle privatisiert sind. Die Gefängnisse werden von Unternehmen gebaut und verwaltet, das einzige was die Gendarmería macht, ist für die Sicherheit zu sorgen, sprich Wärter bereitzustellen. Das führt dazu, dass die Kosten für den chilenischen Staat wesentlich höher sind. Ein Gefangener in einem öffentlichen Gefängnis kostet circa 450 Euro, in einem privatisierten Gefängnis belaufen sich die Kosten auf etwa 700 Euro pro Monat. Deswegen sollen jetzt Gefängnisfabriken gebaut werden, in die Firmen integriert werden, für die die Gefangenen dann arbeiten müssen. Hinzu kommt, dass auch die neuen Gefängnisse schon jetzt voll sind.

Warum kritisieren Sie das System?
Ich arbeite seit mehr als 18 Jahren in dieser perversen und ungerechten Umgebung. Ich denke, dass im Gefängnis das Schlimmste passiert, was einem Menschen passieren kann. Nicht nur wegen der Einschränkung der Freiheit, sondern weil alle Rechte, die jeder Mensch hat, eingeschränkt und verletzt werden. Gefangene fühlen sich nicht wie Personen.
Als ich als Sozialarbeiterin anfing, habe ich mich angepasst und Verhaltensweisen übernommen, die einem, wenn man im Gefängnis selbst drin ist, normal erscheinen und die man erst erkennen muss. Als ich dann für zwei Jahre meinen Master in Buenos Aires gemacht habe, weit weg von meiner Arbeit und ich mit einigen Basisorganisationen von Gefangenen und Angehörigen in Kontakt gekommen bin, hatte ich die Möglichkeit, mein Verhalten zu analysieren. Und vor allem zu erkennen, wie das Gefängnissystem funktioniert und wie auch die Sozialarbeiter fast schon wie Wärter agieren. Diese Distanz, die ich gewonnen habe, erlaubt mir, die Kritik aufrechtzuerhalten. Der Platz, den ich gerade einnehme steht vielleicht mit einem Satz auf einer Karte in Verbindung, die mir eine Freundin gegeben hat: „Die beste Art und Weise den Staat zu sabotieren, ist von innen“. Ich glaube, dass es so möglich ist, Veränderung zu erzeugen, wenn auch nicht auf struktureller Ebene, so doch auf persönlicher Ebene und selbst, wenn es nur eine Person betrifft.

Was wären die strukturellen Veränderungen?
Mich würde es zum Beispiel freuen, wenn es keine Gefängnisse mehr gäbe [lacht]. Aber ich glaube, so lange es sie gibt, geht es darum, die Gefangenen mit Würde zu behandeln. Es geht dabei um mehr als die Überbelegung oder den Zustand der Gebäude. Es geht darum, den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu verbessern, dass die Unterstützung, die sie bekommen, ihren Bedürfnissen entspricht und vor allem, dass sie wie Personen behandelt werden. Allerdings sehe ich hier keine guten Entwicklungen. Mit den Gefängnissen geht es bergab. Die Ungerechtigkeiten werden immer offensichtlicher und es wird immer deutlicher, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen eingesperrt werden. In Chile sind das die Armen, in Europa Migranten, in den USA Afroamerikaner. Wie gesagt, mir scheint, als sollten Gefängnisse nicht existieren, aber das würde eine echte Revolution bedeuten [lacht]. Deswegen arbeite ich auf kleiner Ebene und unterstütze Gefangene, die sonst kaum Unterstützung bekommen, und versuche, ihnen dabei zu helfen, sich ihrer Rechte bewusst zu sein und sich selbst zu artikulieren.

Infokasten:

Marion Silva
ist Sozialarbeiterin im Gefängnis von Valparaíso. Sie ist Angestellte der Gendarmería de Chile, der Organisation, die für die chilenischen Gefängnisse verantwortlich ist.

Wege ins Exil

Uruguay sei ein Land „mit einer längeren demokratischen Tradition und seit der Jahrhundertwende für diese Weltgegend vorbildlichen sozialstaatlichen Einrichtungen“, hieß es 1939 in einer Broschüre des Hilfsvereins der Juden in Deutschland. Das kleine Land zwischen Brasilien und Argentinien wurde zum Zufluchtsort für etwa 10.000 Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus, was in Relation zur Einwohner_innenzahl weitaus mehr waren als in den USA oder Argentinien. Gründe hierfür waren die liberale Einwanderungspolitik Uruguays und die – verglichen mit anderen Staaten Südamerikas – recht stabilen ökonomischen und politischen Bedingungen. Das europäische Flüchtlingsproblem war zudem früh in Uruguay thematisiert worden. Dies drückte sich beispielsweise darin aus, dass Uruguay einen Sitz im Governing Body des 1933 berufenen Hochkommissars für Flüchtlinge aus Deutschland innehatte, dem das Land als einziger nicht-europäischer Staat neben den USA angehörte. Im Gegensatz zu Brasilien, Paraguay oder Argentinien gab es auch keine Versuche, Juden von der Einwanderung auszuschließen, indem man etwa die Taufe zur Voraussetzung machte.
Wegner verfolgt einen interessanten Ansatz: Neben 51 Interviews mit Emigrant_innen und zahlreichen autobiographischen Zeugnissen sowie den Gemeindeblättern der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde wertete sie Akten aus dem uruguayischen Innenministerium aus sowie Zeitungsberichte über die Einwander_innen. Daneben werden auch Dokumente der deutschen Verfolger_innen berücksichtigt, die Berichte des deutschen Gesandten in Montevideo ebenso wie Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. So werden Aspekte berücksichtigt, die in der Literatur über das Exil häufig zu kurz kommen, etwa die Haltung der deutschen Kolonie in Uruguay gegenüber den jüdischen Flüchtlingen oder auch Auseinandersetzungen innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft selbst. Dieser weite Horizont ist zugleich jedoch auch ein Problem des Werks, dem es zuweilen nicht gelingt, die wesentlichen Fakten für das Exil in Uruguay von der allgemeinen Geschichte der Vertreibung aus Europa zu trennen.
Der erste Teil widmet sich unter dem Titel Wege ins Exil den Umständen der Vertreibung. Der Terror in Deutschland wird ebenso geschildert wie die jüdische Selbsthilfe für Flüchtlinge und die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf die Not zu reagieren. Die Darstellung ist allerdings insgesamt sehr lang geraten, was nicht zuletzt an den vielen Wiederholungen liegt. Es wird hier kaum etwas geboten, was nicht schon an anderer Stelle präziser beschrieben worden wäre. Das ist schade, denn viele Facetten des uruguayischen Exils sind spannend und dazu geeignet, den Blick auf die Flucht nach Lateinamerika insgesamt zu verändern.
So wird die Bedeutung der vor 1933 eingewanderten, vor allem osteuropäischen Juden thematisiert. Diese solidarisierten sich mit den Flüchtlingen aus Deutschland und halfen bei den ersten Schritten in Uruguay. Eine Integration in die bereits bestehenden Gemeinden scheiterte aber. Es konstituierte sich eine deutschsprachige Gemeinde, die bis heute unter dem Namen Nueva Congregación Israelita de Montevideo (NCI) existiert und in der sich ein Großteil der Flüchtlinge organisierte. Die NCI war nicht nur religiöses, sondern auch soziales Zentrum vieler Einwanderer_innen. Neben finanzieller Unterstützung, die vor allem aus Mitteln US-amerikanischer Hilfsorganisationen gewährt werden konnte, gab es eine Arbeitsvermittlung, einen Gesundheitsdienst und Sprachkurse. Die wichtigste historische Quelle ist das Gemeindeblatt Boletín Informativo, das ab März 1938 monatlich erschien und von einem ehemals stellvertretenden Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin geleitet wurde. Hier wurden auch politische Fragen diskutiert, so etwa die Haltung zu Deutschland und der deutschen Kolonie in Uruguay. Während einige Flüchtlinge ihren Aufenthalt nur als Exil betrachteten und auf eine Rückkehr in ein „anderes“ und demokratisches Deutschland hofften, sahen die meisten Juden ihre Vertreibung als endgültig an. Dieser Konflikt spielte auch in dem anderen für die Flüchtlinge relevanten Medium eine Rolle: der ab 1938 täglichen Rundfunksendung La Voz del Día – Die Stimme des Tages. Deren Sendeleiter Hermann P. Gebhardt richtete seine „deutsche demokratische Rundfunkstunde“ ausdrücklich auch an nicht-jüdische Hörer_innen. In der Gemeinde wurde Gebhardt 1942 scharf kritisiert, da er auf einer antifaschistischen Kundgebung mit dem Motto „Deutschland ist nicht Hitler“ aufgetreten war. Die Kritiker_innen attestierten Gebhardt eine „einseitige und unglückliche Liebe“ und wiesen darauf hin, dass sich sowohl das antifaschistische Komitee als auch der Mitarbeiter_innenstab seiner Rundfunkstunde fast ausschließlich aus Juden und Jüdinnen zusammensetzte, während die nicht-jüdischen Deutschen auf Distanz blieben. Der Hintergrund, vor dem diese Auseinandersetzungen stattfanden, waren erste Nachrichten über die Verfolgung in Deutschland. Im April 1941 wurde im Gemeindeblatt auf vier Seiten über die furchtbare Lage badischer Juden berichtet, die in das französische Internierungslager Gurs deportiert worden waren. Versuche der uruguayischen Gemeinden, 500 Kinder aus Frankreich zu retten, scheiterte im Oktober 1942. Trotz dieser Nachrichten blieb Gebhardt bei seiner Haltung. Noch 1948 antwortete er auf Kritik: „Goethe hat nicht die Verbrennungsöfen von Auschwitz angezündet. Mozart hat nicht das Horst-Wessel-Lied komponiert.“ Diese Auseinandersetzungen sind Zeugnisse eines im Vergleich mit anderen Fluchtländern bemerkenswert offenen Klimas. Die Flüchtlinge konnten sich politisch betätigen; von der gegen deutsche Propaganda gerichteten Bestimmung, ab dem 28. Januar 1942 nur noch in einer der offiziellen Sprachen Lateinamerikas zu publizieren, waren die Presseerzeugnisse der jüdischen Gemeinde ausgenommen. Diese Schilderungen des Lebens in der Emigration sind sehr lesenswert und häufig überraschend. Dies gilt auch für die biographischen Porträts, etwa jenes von Rudolf Hirschfeld, der in Hamburg ein Modehaus besaß und mit Hilfe des uruguayischen Konsuls aus Nazi-Deutschland fliehen konnte, oder die Geschichte Annemarie Rübens, einer evangelischen Theologin, die ein Ferienheim für Flüchtlingskinder aus Montevideo und Buenos Aires gründete. Die Casa Rübens wurde 1973 ein zweites Mal zur Zuflucht, als die damals über 70-jährige ihr Haus für die Kinder Inhaftierter der Militärdiktatur öffnete.
Diese persönlichen Darstellungen sind ein großer Reichtum des Buches und es wäre sinnvoll gewesen, eine Übersicht über die Interviewpartner_innen, ihren Hintergrund, ihre Herkunft, ihren Werdegang zu geben. Diese fehlt leider ebenso wie ein Exemplar des von der Autorin verwendeten Fragenkataloges. Weniger Zusammenfassung von Übersichtsdarstellungen und ein klarerer Fokus auf die eigenen Forschungsergebnisse wäre wünschenswert gewesen. Trotz dieser Mängel handelt es sich bei dem Werk um einen wichtigen Beitrag zur Geschichte jüdischer Flüchtlinge in Südamerika, an dem niemand, der sich mit dem Thema beschäftigt, vorbeigehen sollte.

Sonja Wegner // Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933-1945 // Berlin 2013 // Assoziation A // 375 Seiten // 22,00 Euro // www.assoziation-a.de

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