„Ohne die FMLN wäre Funes nicht Präsident geworden“

Nach 70.000 Toten und zwölf Jahren Bürgerkrieg in El Salvador wurde dieser im Januar 1992 mit dem Friedensabkommen von Chapultepec beendet. Sie waren eine derjenigen, die das Abkommen für die FMLN ausgehandelt hat. Was ist heute, gut zwanzig Jahre später, die wichtigste Veränderung im Land?
Jahrzehnte der Militärdiktatur wurden beendet und politische Freiheiten und Grundrechte durchgesetzt, die es erst ermöglicht haben, sich politisch zu engagieren, ohne Angst haben zu müssen, verhaftet oder gar ermordet zu werden. Ohne diese politische Demokratisierung hätte die FMLN auch nicht vor knapp drei Jahren die rechte ARENA-Partei von der Regierung ablösen können.

Und worin sehen Sie die größten Probleme im Friedensprozess?
Das ist einerseits die enorme soziale Ungleichheit, die sich in den ersten 17 Jahren nach Unterzeichnung des Friedensabkommens noch weiter verschärft hat. Die rechte ARENA-Regierung hat mit ihrer neoliberalen Politik die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher gemacht. Andererseits wurde die Straffreiheit nicht beendet. Die Mächtigen haben bis heute verhindert, dass die unzähligen Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit des Bürgerkriegs aufgeklärt werden.

Und wie beurteilen Sie die Remilitarisierung der Sicherheitspolitik durch den derzeitigen Präsidenten Mauricio Funes?
Mit dem Friedensabkommen wurde eine zivile Polizei (PNC) aufgebaut und den Streitkräften ihre dominierende Rolle bei der öffentlichen Sicherheit genommen. Sie dürfen laut Verfassung nur noch in besonderen Ausnahmefällen im Inland eingesetzt werden, worüber der Präsident entscheiden kann. So ein Fall ist nach Meinung von Mauricio Funes nun eingetreten, weshalb er die Streitkräfte auf die Straße geschickt hat.

Das ist die formale Seite. Aber Präsident Funes lässt die Streitkräfte nun alleine patrouillieren, während sein rechter Amtsvorgänger diese wenigstens noch gemeinsam mit der Polizei losgeschickt hat. Vor allem aber hat er den General im Ruhestand David Munguía Payés zum Minister für öffentliche Sicherheit ernannt und nun auch noch einen Ex-Militär zum neuen Polizeichef gemacht. Laut Verfassung muss der Direktor der PNC ein Zivilist sein, das ist nach der jahrzehntelangen Repression durch das Militär eine der wichtigsten Errungenschaften des Friedensabkommens. Doch General Francisco Salinas ist gerade mal eine Stunde vor seiner Ernennung zum Polizeichef aus den Streitkräften ausgeschieden.
Als FMLN haben wir gegen diese Ernennung protestiert. Doch der Präsident findet es in Ordnung, dass die Streitkräfte wieder eine größere Rolle bekommen. Seit den Friedensabkommen hat die Gewalt immer mehr zugenommen. Die Polizei aber hat zu keiner Zeit die Unterstützung bekommen, die sie benötigt hätte.

Warum macht der Präsident das? Früher hat Funes immer von der Notwendigkeit gesprochen, die Gesellschaft zu entmilitarisieren.
Die hohe Kriminalität ist für die Menschen im Land derzeit das zentrale Problem. Der Präsident sagt, dass sich die Menschen besser fühlen, wenn das Militär auf den Straßen patrouilliert. Damit hat er vermutlich sogar Recht, aber besser wird die Lage dadurch nicht. Die Streitkräfte können Menschen festnehmen, sie sind aber nicht dazu ausgebildet, Verbrechen aufzuklären. Die Polizei müsste gestärkt und besser ausgebildet werden. Das ist es, was wir wirklich brauchen.

Ist der Präsident dem Druck der USA erlegen – und hat deshalb alle FMLN-Mitglieder aus dem sogenannten Sicherheitskabinett entlassen?
Für die USA spielt der Kampf gegen die Drogen eine zentrale Rolle. Und da setzen sie voll auf die militärische Karte. So wie sie schon in Kolumbien oder in Mexiko eine Militarisierung des Kampfes gegen die Drogen durchgesetzt haben, wollen sie diesen Kampf auch in Zentralamerika militarisieren, und da möchten sie El Salvador als Verbündten haben.
Was die FMLN-Mitglieder im Sicherheitskabinett angeht, so kann es gut sein, dass die USA dabei direkten Druck auf den Präsidenten ausgeübt haben. Sie wollen den Einfluss der FMLN in der Regierung verringern. Dass es Veränderungen im Sicherheitsbereich geben soll, steht schon in dem Partnerschaftsabkommen, das die USA im November mit El Salvador abgeschlossen haben. Deswegen haben die Militärs auch wieder eine größere Rolle in der Regierung.
Am 11. März finden Parlaments- und Kommunalwahlen statt (siehe Artikel S.14). Die FMLN ist stärkste Kraft im Parlament, steht aber einer rechten Mehrheit gegenüber. Wird die FMLN davon profitieren können, dass sie an der Regierung ist?
Das wird nicht leicht. Präsident Funes versucht leider alles, damit die Erfolge der Regierung nicht im Wahlkampf dargestellt werden. Er hat den Ministern der FMLN sogar verboten, in rot, also der Parteifarbe der FMLN, aufzutreten. Es ist unglaublich, wie sehr er sich von der Partei distanziert, die ihn ins Präsidentenamt gebracht hat. Nun sind wir als Partei es, die die Erfolge der Regierung präsentieren. Dabei gibt es gerade bei den von FMLN-Mitgliedern geleiteten Ministerien einige Erfolge, die sich sehr positiv auf die Bevölkerung ausgewirkt haben.

ARENA, die langjährige ultrarechte Regierungspartei, hatte sich nach den letzten Wahlen gespalten, die neue Partei GANA (Große Nationale Allianz) ist entstanden. Wie wird das Parlament nach den Wahlen aussehen? Gibt es wieder eine Polarisierung zwischen FMLN und ARENA, oder werden GANA und andere Parteien an Bedeutung gewinnen?
Es sieht alles danach aus, dass auf der Rechten neben ARENA vor allem GANA einiges Gewicht haben wird. Für die FMLN beziehungsweise die Regierung ist das etwas einfacher, weil wir mit den Stimmen von GANA manchmal eine parlamentarische Mehrheit bekommen haben. Aber für uns muss es natürlich darum gehen, die eigene Abgeordnetenzahl zu erhöhen.

Kommen wir noch einmal zurück zum Verhältnis zwischen Präsident Funes und der FMLN. Hätten Sie vor den Präsidentschaftswahlen vor drei Jahren erwartet, dass es zu einer so großen Distanzierung zwischen der Partei und ihrem Kandidaten Mauricio Funes kommen würde?
Ich hatte erwartet, dass der Präsident sich stärker an das Wahlprogramm der FMLN halten würde. Mauricio Funes war der populäre Kandidat, der uns die nötigen Stimmen in der Mitte gebracht hat, um die Wahlen zu gewinnen. Aber ohne die FMLN wäre er auch nicht Präsident geworden. Das scheint er zu vergessen.

Kasten:

Nidia Díaz ist Anwältin und war während des Bürgerkriegs (1980 bis 1992) Kommandantin der FMLN. Sie nahm an den Friedensverhandlungen mit der Regierung teil. Heute sitzt sie als Abgeordnete der FMLN im Zentralamerikanischen Parlament Parlacen.

Sieg um jeden Preis

Als ob es rund um dieses Spiel nicht schon genug Gerüchte und Legenden gäbe: Das 6:0 Argentiniens bei der WM 1978 gegen Peru ist mit Sicherheit eines der umstrittensten Resultate in der Geschichte des Weltfußballs. Seit Jahrzehnten ranken sich Manipulationsvorwürfe um die Partie, die die Argentinier mit mindestens vier Toren Unterschied gegen eine damals eigentlich starke peruanische Mannschaft gewinnen mussten, um ins WM-Finale einzuziehen.
Im Zuge der Ermittlungen gegen den Diktator Jorge Videla, der der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1981 vorstand, gab es nun eine überraschende Enthüllung. Der ehemalige peruanische politische Gefangene und spätere Senator Genaro Ledesma Izquieta sagte gegenüber der argentinischen Justiz aus, er sei als Gegenleistung für einen hohen Sieg der Albiceleste gegen Peru nach Argentinien ausgeliefert worden. Ledesma Izquieta war damals Gewerkschaftsfunktionär im ebenfalls von einer Militärdiktatur beherrschten Peru und wurde vom Regime von General Francisco Morales Bermúdez gefangen genommen, da er einen Generalstreik angeführt hatte, dessen Ziel es war, die Gewaltherrschaft der Militärs zu beenden. Laut Ledezma Izquietas Aussage lieferte ihn Bermúdez deswegen gemeinsam mit zwölf weiteren Aktivist_innen als Kriegsgefangene im Austausch gegen ein günstiges Resultat im entscheidenden Spiel nach Argentinien aus. Ledesma Izquieta gab weiterhin an, die Aktion sei im Zusammenhang mit der „Operación Cóndor“ erfolgt. Die „Operación Cóndor“ war eine Zusammenarbeit der Geheimdienste der Militärregierungen Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays mit dem Ziel der Verfolgung und Ermordung linker Oppositioneller in den 1970er Jahren.
Ledesma Izquieta weist in seiner Zeugenaussage darauf hin, wie wichtig es den argentinischen Militärs war, ihr schlechtes Image mit Hilfe sportlicher Erfolge reinzuwaschen. Folter und Ermordung von Regimegegner_innen waren auch zum Zeitpunkt der WM 1978 international schon ein offenes Geheimnis. Bereits zu seiner Machtübernahme durch den Staatsstreich 1976 hatte Videla erklärt, es müssten „nun so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist“. Dem Fußball-Weltverband FIFA, der die WM bereits zehn Jahre zuvor an Argentinien vergeben hatte, war dies nach den politisch unruhigen Jahren der Regierung Isabel Perón mehr als Recht. „Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten“, frohlockte der brasilianische FIFA-Präsident João Havelange nur zwei Tage nach Videlas Putsch und legte auf der Eröffnungsfeier der WM zwei Jahre später nach: Nun könne die Welt „das wahre Argentinien kennenlernen“.
Offensichtlich fielen seine Worte zumindest in Deutschland auf fruchtbaren Boden, denn der WM-Teilnehmer und spätere deutsche Bundestrainer Berti Vogts bekannte unbedarft: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen“. Ob Vogts auch heute noch in dem Glauben lebt, die „Schmach von Córdoba“ (Deutschlands 2:3-Niederlage gegen Österreich, die das Ausscheiden besiegelte) sei das Schlimmste gewesen, was damals in Argentinien passierte, ist nicht bekannt. Fakt ist hingegen, dass etwa 30.000 Oppositionelle während Videlas Herrschaft inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden – auch wenn es in der verzerrten Realität, in der Fußballer zwischen Teamhotel und Trainingsplatz während eines großen Turniers zu leben pflegen, vermutlich tatsächlich nicht wahrnehmbar war. Dies war Teil eines Plans der Militärjunta, die aus Prestigegründen auch Armutssiedlungen mit hohen Mauern umgab, um sie unsichtbar zu machen, oder sie sogar einfach abreißen ließ und die vertriebenen Bewohner_innen in Orte fernab der WM-Stadien umsiedelte.
Damit der Fußball 1978 seine Rolle als Opium fürs Volk übernehmen konnte, brauchten die Militärs aber vor allem um jeden Preis Siege für das argentinische Team. Mehr noch: Es sollte endlich der lang ersehnte WM-Titel her, den die „Gauchos“ trotz langer Fußballtradition noch nie an den Río de la Plata geholt hatten. Doch die Lage verkomplizierte sich gegen Ende des Turniers, als es um den Einzug in das WM-Finale ging. Das heute übliche K.O.-System existierte 1978 nicht, die beiden Finalisten wurden über zwei Zwischenrundengruppen bestimmt, deren Sieger ins Finale kamen. Vor dem letzten Spieltag lag Argentinien in seiner Gruppe gleichauf mit Brasilien, das allerdings über das leicht bessere Torverhältnis verfügte – nach dem 0:0 der beiden Teams im direkten Duell das entscheidende Kriterium. Die letzten Gruppenspiele waren ursprünglich zeitgleich für den Abend des 21. Juni angesetzt. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde jedoch ohne ersichtlichen Grund das letzte Gruppenspiel der Brasilianer auf den Nachmittag vorgezogen – ein erneuter Kniefall der FIFA vor Videla, denn nach dem 3:1-Sieg der Seleção wussten die Argentinier genau, mit wie vielen Toren Unterschied sie mindestens gewinnen mussten, nämlich mit besagten vier.
Dass es letztendlich sechs wurden, öffnete den Spekulationen Tür und Tor. Die Peruaner waren bis dahin nicht für ihre durchlässige Abwehr bekannt, unter anderem hatten sie Holland, der offensivstärksten Mannschaft des Turniers, ein 0:0 abgetrotzt. Zu Beginn des Spiels hielten sie auch mit und trafen sogar zwei Mal den Pfosten, in der zweiten Halbzeit brachen jedoch alle Dämme und sie wurden von Superstar Mario Kempes & Co. ohne Gegenwehr überrollt. Argentinien stand im Finale gegen Holland und gewann anschließend unter ähnlich dubiosen Umständen (unter anderem wurde der für das Finale vorgesehene Schiedsrichter kurzfristig ausgetauscht) seinen ersten Weltmeistertitel. 15 Tage nach Ende der WM lieferte Argentinien dann 35 000 Tonnen Getreide an Peru und erließ dem Land zudem Schulden in Höhe von 50 Millionen Dollar.
Ein direkter Zusammenhang dieser auffälligen Großzügigkeiten mit dem WM-Spiel konnte zwar nie nachgewiesen werden. In den letzten Jahren häuften sich aber die Enthüllungen bezüglich des Spiels mit dem ungewöhnlich hohen Ergebnis. Verbrieft ist, dass General Videla und der US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger vor der Partie die peruanische Kabine aufsuchten. Der englische Journalist David Yallop schrieb in seinem 1999 erschienenen Buch „Wie das Spiel verloren ging“ zudem, drei peruanische Spieler hätten unabhängig voneinander im Gespräch mit ihm zugegeben, Zahlungen von je 20 000 Dollar erhalten zu haben, um für ein „korrektes Ergebnis“ zu sorgen. Bereits 1998 hatte Ramón Quiroga, der damalige Torwart der peruanischen Mannschaft (pikanterweise gebürtiger Argentinier, aber an den Gegentoren weitgehend schuldlos) in einem Interview mit der argentinischen Zeitung La Nación mehrere Spieler und seinen Trainer beschuldigt. Mehrere „seltsame Dinge“ seien in Zusammenhang mit diesem Spiel geschehen. So hätten Spieler auf dem Platz gestanden, die unter normalen Umständen nie gespielt hätten. Vor den Gegentoren hätten sich Spieler gebückt und ihre Gegenspieler einfach laufen lassen. Quiroga widerrief zwar später einige seiner Aussagen. 2008 wurde die Debatte jedoch kurz vor einem wichtigen WM-Qualifikationsspiel Argentiniens gegen Peru durch den Sohn des kolumbianischen Drogenbarons Gilberto „El Ajedrecista“ Rodríguez Orejuela wiederbelebt, der in seiner Autobiografie behauptete, sein Vater hätte damals das Geld für die Bestechung der peruanischen Spieler bereitgestellt.
Nun bringen die Aussagen von Genaro Ledezma Izquieta weitere Brisanz ins abgekartete Spiel. Laut dem früheren Senator wurde er gemeinsam mit den anderen Gefangenen in die nördliche argentinische Provinz Jujuy verschleppt. Dort sollten sie auf ein Flugzeug warten, das sie über dem Río de la Plata abwerfen sollte. In der argentinischen Militärdiktatur war es gängige Praxis, Oppositionelle unter Drogen zu setzen und dann von Flugzeugen aus ins Meer zu werfen, wo sie den sicheren Tod fanden. Offiziell gelten die Opfer dieser Morde bis heute als „Verschwundene“. Ledezma Izquieta führte weiterhin aus, ein Abkommen zwischen Videla und Bermúdez habe geregelt, dass nicht das „kleinste Bisschen“ von den 13 Aktivist_innen übrig bleiben sollte. Dass es anders kam, hatte er nur seiner Berufung in die peruanische Nationalversammlung zu verdanken. Die peruanische Militärjunta hatte den Übergang zum Parlamentarismus eingeleitet und freie Wahlen gestattet. Ledezma Izquieta war einer der Kandidaten mit den meisten Stimmenanteilen aus dem linken Lager und durfte deswegen mit seinen Mitgefangenen wieder die Heimreise antreten, um seiner parlamentarischen Arbeit nachzugehen. Besondere Brisanz erhalten seine Aussagen auch durch die Tatsache, dass sie ein weiteres Indiz für die Einbindung Perús in die „Operación Cóndor“ unter der Regierung Bermúdez liefern, die der Ex-Präsident bis heute bestreitet. Vor einem italienischen Gericht läuft aus diesem Grund auch eine Klage gegen ihn. Veröffentlichte US-Dokumente belegen unter anderem, dass argentinische Geheimdienste mit Billigung der Regierung Bermúdez Operationen in Peru durchführten. Auch mit Chile soll es geheime Vereinbarungen bezüglich einer Zusammenarbeit im Rahmen der „Operación Cóndor“ gegeben haben.
Ob Argentinien nun angesichts dieser Entwicklungen um seinen ersten WM-Titel bangen muss, darf bezweifelt werden. Der Sprecher des argentinischen Fußballverbandes AFA, Ernesto Cherquis Bialo, reagierte entrüstet auf die Aussagen Ledezma Inquietas. Man sei „perplex“, dass an der Rechtmäßigkeit des Titels gezweifelt werde, die Aufzeichnung der Partie Argentinien-Peru sei das „bildliche Zeugnis“, dass das Spiel „mit Anstand“ gewonnen worden sei. „Alles, was über dieses Spiel gesagt wird, ist pure Fantasie“. Man könne doch außerdem keinen Pokal zurückfordern, den ihnen FIFA-Präsident João Havelange persönlich ausgehändigt habe. Die Funktionäre der AFA müssen aber trotz aller Empörung vermutlich keine unruhigen Nächte fürchten. Die Organisation, die die Rechtmäßigkeit des argentinischen WM-Titels überprüfen wird, ist die FIFA selbst. Und die hat in letzter Zeit alles andere als den Ruf eines gründlichen Ermittlers, wenn es um das Thema Korruptionsbekämpfung geht.

Von der Presse entlassen

Brasilien arbeitet kräftig an seiner Rolle als Global Player. Unter der Führung der Präsidentin Dilma Rousseff und der Arbeiterpartei PT ist das größte Land Lateinamerikas dabei, seine Stellung in der Staatengemeinschaft auszubauen. Mit dem mittlerweile sechstgrößten Bruttoinlandsprodukt wurde Großbritannien überholt. Die Tendenz ist steigend: Trotz weltweiter Krise wird für 2012 ein weiterer Anstieg des Wirtschaftswachstums vorausgesagt, unter anderem wegen der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns im Dezember 2011 um 14 Prozent. Brasilien ist zur Weltmacht aufgestiegen, setzt auf regionale Integration und erlaubt sich – mit einer gewissen Überheblichkeit –, den lang beneideten Industriestaaten Ratschläge zum Überwinden der Finanzkrise zu geben.
Innenpolitisch profitiert Dilma von einer gespaltenen und extrem schwachen Opposition. Der wichtigste Gegenspieler, die sozialdemokratisch-konservative PSDB von Fernando Henrique Cardoso, streitet schon jetzt über den nächsten Präsidentschaftskandidaten und findet keine Themen, mit denen sie die Regierung in die Enge treiben könnte. Zudem steht die traditionelle Rechtspartei DEM vor der Auflösung, seit São Paulos Bürgermeister Gilberto Kassab ausgetreten ist und die neue Partei PSD gegründet hat. Diese rekrutiert Mitglieder aus fast allen anderen Parteien und sucht den Schulterschluss mit der breiten Regierungskoalition. Ihr Kalkül ist offensichtlich: Solange Dilma souverän im Sattel sitzt, ist Opposition eine mühsame Angelegenheit und in Hinsicht auf die Geldverteilung des immensen Staatshaushaltes auch ein schlechtes Geschäft.
Fundierte Kritik und Opposition kommt heute zumeist von Seiten der organisierten Zivilgesellschaft. Soziale Bewegungen stellen das in Zahlen so erfolgreiche Entwicklungsmodell in Frage. Besonders in der Kritik sind Megaprojekte wie Staudämme im Amazonasgebiet oder die Vertreibung Tausender Menschen für den Bau neuer Stadien und Verkehrswege für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Hinterfragt wird zudem die exportorientierte Landwirtschaft, ähnlich wie in Europa nimmt die Kritik an der globalisierten Agrarindustrie zu.
Doch auch diese Opposition spürt die Regierung Dilma kaum. Zu lange standen die sozialen Bewegungen unter dem Einfluss der PT, als dass sie sich neun Jahre nach der Regierungsübernahme schon von ihr emanzipiert hätten. Oft scheitert die Opposition an internen Streitigkeiten, die meist damit zu tun haben, dass parteinahe Aktivist_innen einen frontalen Angriff auf die PT-Regierung für kontraproduktiv halten. So wird oft nur darauf geachtet, nicht der rechten Opposition in die Hände zu spielen. Und wenn sich radikalere Optionen durchsetzen, greift der Staat zum beliebten wie effektiven Mittel der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen.
Allerdings zahlt die Regierung einen hohen Preis für die Dominanz im Parteienspektrum. Dilma folgt der Lehre, die Lula aus seiner ersten Amtszeit zog. Damals konnte er sich nur mühsam den Vorwürfen einer breiten Palette von Oppositionsparteien erwehren, die mit allen Mitteln versuchten, die erste linke Regierung in Brasilia zu torpedieren. Der Korruptionsskandal mensalão, bei dem ein illegales Parteifinanzierungssystem aufgedeckt wurde, kostete ihn viele Stimmen bei der Wiederwahl und wird bis heute von der rechten Opposition und vor allem von der bürgerlichen Presse immer wieder zitiert. Für die Linke hingegen war der mensalão der Beginn eines bösen Erwachens, da ihnen klar wurde, dass „ihre“ Regierung in Sachen Ethik und Veränderungswillen nicht viel besser als ihre Vorgänger war.
Die Lehre Lulas aus seiner ersten Amtszeit war ganz einfach: Die Regierung muss auf eine breite Basis gestellt werden, möglichst viele Parteien müssen an der Macht und insbesondere an den Pfründen beteiligt werden. An erster Stelle die größte Partei, die PMDB, die schon während der Militärdiktatur entstand. Politisch kann sie kaum eingeordnet werden, da sie vor allem eine diffuse Ansammlung von Seilschaften, Lobbys und regionalen Potentat_innen ist, die mittels Regierungsbeteiligung auf allen Ebenen die hehren Ziele des Machterhalts und der Bereicherung verfolgt. Eingebunden werden darüber hinaus alle Parteien jedweder Couleur, die sich auf den Handel der politischen Unterstützung gegen die Kontrolle zumindest eines Ministeriums einlassen.
Diese in Lulas zweiter Amtszeit erfolgreiche Strategie ist auch ein zentrales Erfolgskonzept seiner Nachfolgerin Dilma. Der zu zahlende Preis entspricht dem Profil der Partner, sowohl politisch wie finanziell. Die Regierungslinie rückt in einigen Politikfeldern entsprechend nach rechts, zum Beispiel in den Bereichen Landwirtschaft oder Transportwesen. Wichtiger noch ist der Umstand, dass die Kontrolle eines – oft beliebigen – Ministeriums von der jeweiligen Partei dazu genutzt wird, die öffentlichen Gelder in erster Linie für die Bereicherung ihrer Günstlinge und für politische Einflussnahmen zu verwenden.
Diese Schwäche der Regierung Dilma nutzte die rechtsgerichtete Presse 2011, um gemeinsam mit den rechten Oppositionsparteien die Amtsinhaberin zu attackieren. Als erstes traf es im Juni den Staatsminister Antonio Palocci, der zu schnell durch zu viele Nebentätigkeiten reich geworden ist. Er trat wegen „persönlichen Verfehlungen“ zurück, aber nicht wegen Korruption im eigentlichen Sinne. Danach ging es Schlag auf Schlag: Im Juli fiel der Transportminister von der rechten, evangelikalen PR, im August der Landwirtschaftsminister und im September der Tourismusminister, beide von der PMDB. Im Oktober traf es den Sportminister von der kommunistischen Partei PCdoB und schließlich im Dezember den Arbeitsminister von der PDT.
Außer Palocci stolperten alle fünf Minister über klassische Korruptionsfälle. Allen Ministern wurde zudem vorgeworfen, sich auf Einladung von Unternehmer_innen privat vergnügt zu haben. Alfredo Nascimento hatte das Transportministerium genutzt, um mittels überteuerter Auftragsvergabe beim Straßenbau die Finanzen seiner Partei aufzubessern. Dies dürfte die Steuerzahler_innen umgerechnet 300 Millionen Euro gekostet haben. Rund 100 Millionen Euro veruntreute Ex-Landwirtschaftsminister Wagner Rossi, um Kolleg_innen und befreundete Unternehmen zu beschenken. Pedro Novais, Orlando Silva und Carlos Lupi sollen die Strukturen des Tourismus-, Sport- bzw. Arbeitsministeriums genutzt haben, um nahestehende Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) zu sponsern. Nebeneffekt dieses Skandals war, dass die Regierung vorübergehend alle Zahlungen an Organisationen der Zivilgesellschaft einstellte und dass das Image der wirklich aktiven NRO durch die Medienpräsenz der Schein-NRO in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Präsidentin Dilma reagierte wie in der Politik allerorten üblich. Erst abwiegeln und dann, wenn größerer politischer Schaden droht, absetzen und das große Reinemachen ankündigen. Ihr Zögern wurde schnell vergessen. Innerhalb weniger Monate genoss sie das Image einer Frau, die bei Korruption – auch in den eigenen Reihen – kompromisslos durchgreift. Darüber hinaus stärkte sie ihre Position im koalitionsinternen Machtgefüge: Da alle fünf Fälle nicht die eigene PT, sondern Koalitionspartner betrafen, errang sie etwas mehr Spielraum bei der für Anfang 2012 vorgesehenen Ministerreform.
Korruption ist ohne Zweifel, in Brasilien wie anderswo, Teil der Parlamentarischen Demokratie. Genauso bekannt ist, dass die meisten groß angekündigten Feldzüge gegen Korruption, insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs, nichts am Problem ändern, sondern nur von fehlenden politischen Konzepten ablenken sollen. Zumal passive Korruption bei Politiker-innen immer auch aktive Korruption voraussetzt. Und zwar von denen, die über die Mittel verfügen, in erster Linie Unternehmen, denen selten größere mediale Aufmerksamkeit zuteil wird.
In diesem Sinne analysiert der Ex-Minister und Vizepräsident der PSB, Roberto Amaral, die Serie von Korruptionsfällen als politischen Schachzug des in Brasilien allgegenwärtigen Medienmonopols, das es gewohnt ist, bis in höchste Ebenen Einfluss auf das politischen Geschehen im Land zu nehmen. „Es ist eine einzigartige Kampagne der Massenmedien, die – angesichts der Schwierigkeit, die Wirtschaftspolitik der Mitte-Links-Regierung zu kritisieren – sich gegen das gesamte politische Leben in Brasilien richtet. Den Bürger_innen wird suggeriert, dass unser Problem nicht die soziale Ungleichheit ist, sondern die Korruption, von der üblicherweise die Elite am meisten profitiert,“ schrieb Amaral in der links-liberalen Wochenzeitung Carta Capital.
Er vergleicht das Vorgehen der Presse heute mit einer ähnlichen Kampagne, die 1964 den Militärputsch vorbereitete. „Es wird die Idee verbreitet, dass der repräsentative Prozess die Probleme des Landes nicht löst, dass alle Politiker gleich sind, nämlich korrupt,“ führt Amaral aus. Es sei schon auffällig, so der Politiker Roberto Amaral, dass in den ersten elf Monaten der Regierung Dilma sechs Minister „durch die Presse entlassen wurden, aufgrund von nicht bewiesenen Korruptionsvorwürfen, die nicht weiter erwähnt werden, wenn das Ziel (der Rücktritt) erreicht wurde.“
Nach Ansicht des Juristen und politischen Beobachters Carlos Ferreira hat diese Pressekampagne zudem einen sozialpolitischen Hintergrund: „Zweifellos sind diese Minister korrupt gewesen, so wie viele andere auch. Aber die Summen, um die es sich handelt, sind eine Lappalie, verglichen mit großen Korruptionsfällen wie beispielsweise der Privatisierung des Bergbau-Konzerns Vale unter der Regierung Cardoso“, sagte er den Lateinamerika Nachrichten. Wenn es um die Interessen der wirklich Reichen oder Mächtigen gehe, schweige die Presse gerne. Es sei schon verdächtig, wenn jetzt gegen NRO eine so breite Kampagne losgetreten werde. „Die Elite und ihre Massenmedien haben nicht das geringste Interesse, Korruption im großen Stil zu bekämpfen“, sagt Ferreira. Was sie störe sei die Tatsache, dass unter der PT auch mal andere – seien es Gewerkschaften, NRO oder einfach nur weniger betuchte Menschen – Zugang zu öffentlichen Gelder bekämen. „Es geht also darum, die alten Hierarchien und die Umverteilung von unter nach oben wieder herzustellen,“ ist das Fazit von Carlos Ferreira.

Die sensiblen Konquistadoren

Die beiden Brüder ziehen ihre guten Schuhe aus und tauschen sie gegen einfache Sandalen. Sie verstrubbeln ihre Bärte und Haare, bestreuen sich mit Staub und mustern sich gegenseitig. Ja, nun sehen sie aus wie echte sertanejos, arme Leute aus dem brasilianischen Nordosten. Das Abenteuer kann beginnen.
Zu Beginn des Films Xingu sieht man Leonardo und Cláudio Villas Bôas, wie sie sich beim Militär melden, um als Landarbeiter an einer Expedition teilzunehmen, die das gigantische brasilianische Hinterland erkunden soll. Als Söhne aus wohlhabender Familie, mit guter Ausbildung, wurden sie zunächst nicht genommen: Das Militär suchte sertanejos, von denen man annahm, dass sie besser mit den harten Bedingungen in den nicht erkundeten Savannen des Westens zurechtkommen würden. Die Villas Bôas gaben sich erfolgreich als Analphabeten aus und durften so doch an der Expedition „Roncador-Xingu“ teilnehmen. Schnell holten sie ihren Bruder Orlando dazu. Nachdem sie sich im Busch bewährt hatten, wurden sie zu den Anführern der künftigen Expeditionen.
Die Expedition zu der damals fast unbekannten Bergkette Roncador und den Ufern des Flusses Xingu im Jahr 1943 war der Beginn des vom Präsidenten Getúlio Vargas proklamierten „Marsch in den Westen“, der neues Land für „die Zivilisation“ erschließen sollte. Für die Brüder Villas Bôas war es ein großes Abenteuer. Sie hatten gute Jobs, doch sie wollten, wie die Stimme Cláudios aus dem Off erzählt, „dorthin, wo noch nie jemand vor ihnen war.“ Sie sind begeistert von der nationalistischen Idee, das Hinterland für Brasilien „in Besitz zunehmen“. So sieht man die Brüder zu Beginn des Films, wie sie das vermeintliche Niemandsland Brasiliens erkunden, Wege markieren und Landeflächen für Flugzeuge vorbereiten. Bis sie den „Niemanden“ begegnen, denn das Land gehört sehr wohl jemandem, nämlich verschiedenen indigenen Ethnien, die bis dahin nie Kontakt zur Zivilisation der Weißen hatten. Cao Hamburger erzählt in seinem neuen Film seine Version der realen Geschichte der Brüder Villas Bôas, die zusammen mehrere Jahrzehnte im Cerrado, der brasilianischen Feuchtsavanne, verbrachten und auf friedlichem Wege mit den Indigenen Kontakt aufnahmen. Sehr glaubwürdig berichtet der Film davon, wie sich die Sicht der Brüder auf die Indigenen ändert: Am Anfang überwiegt die Furcht und das Gefühl der Fremde, doch die Haltung der Brüder wandelt sich zu Respekt und schließlich echter Wertschätzung. Über mehrere Jahrzehnte erzählt der Film von ihren Expeditionen und ihren politischen Kämpfen.
Bisweilen scheint die Geschichte etwas zu einfach, insbesondere zu Beginn des Films. Doch sobald man beginnt zu denken, dass der Film doch etwas simpel ist, wird ein neuer Aspekt eingeführt. So wird der Film zunehmend komplexer, was sehr gut gemacht ist. Die Zuschauer_innen werden nicht mit zu vielen Information auf einmal bombardiert, aber man hat auch nicht den Eindruck, dass wichtige Aspekte ausgelassen werden.
Erfreulich ist auch, dass Cao Hamburger versucht, einen „kolonialen Blick“ auf die Geschehnisse zu vermeiden: Die Indigenen nehmen selbstbewusst Kontakt mit den Weißen auf, es handelt sich bei den „Entdeckungsreisen“ der Brüder genau so um die Entdeckung der „Weißen“ durch die Indigenen. Letztlich jedoch waren die Indigenen auf die Hilfe der Villas Bôas angewiesen. Denn der „Marsch in den Westen“ wurde eben nicht vor allem von sensiblen Menschen geführt, die die indigene Zivilisation als der eigenen Kultur gleichberechtigt ansahen. Vielmehr überwogen die Interessen von Farmern, Goldgräbern und Holzfällern, die die Indigenen als „Hindernis für den Fortschritt“ ansahen. Wenn überhaupt, waren die Indigenen für diese Leute billige Arbeitskräfte, die man nach Belieben ausbeuten, ja versklaven konnte. Die Massaker, die Viehzüchter und andere Weiße in dieser Zeit an Indigenen begangen haben und den bis heute existierenden anti-indigenen Rassismus in Brasilien thematisiert der Film auch. Und er erzählt, wie angesichts dieser überwältigenden Entwicklung bei den Brüdern mit den Jahren die Idee reifte, ein Schutzgebiet, etwa in der Größe Belgiens, einzurichten. Wenigstens dort sollten die Indigenen ihre Lebensweise und ihre Kultur bewahren können. Im Jahr 1961, nach zähen Verhandlungen, wurde schließlich das indigene Schutzgebiet Xingu vom Präsidenten proklamiert. Bis heute ist es eines der größten der Erde. Der Film Cao Hamburgers würdigt das 50-jährige Bestehen dieses Parks und damit die historische Leistung der Brüder Villas Bôas.
Wirklich gelungen ist, dass Hamburger auch die Ambivalenz der Villas Bôas zeigt: Auch sie brachten Krankheitserreger zu den Indigenen, an denen diese massenweise starben. Auch wenn die Absichten der Brüder gut waren, waren sie doch die Wegbereiter für eine Entwicklung, die die Lebenswelt der Indigenen zerstörte. Und auch sie zeigten bisweilen eine paternalistische bis autoritäre Haltung gegenüber den Indigenen. Ohne die historische Leistung der Villas Bôas herabzusetzen, werden sie nicht zu moralischen Überhelden inszeniert, die frei von Fehlern und Schwächen sind.
Der Film endet mit der Übersiedlung der Kreen, einer Ethnie, die bis dahin nie kontaktiert wurde, in das Schutzgebiet Xingu in den 1960er Jahren. Die Villas Bôas hatten zuvor den Kontakt vermieden, um sie vor Keimen zu schützen, doch der Bau der Überlandstraße Transamazônica durch das Amazonasgebiet ließ keine Alternative. Routiniert und desillusioniert machten sich die Brüder an die Arbeit, die Kreen zu kontaktieren, ohne den Enthusiasmus ihrer frühen Jahre. Von den etwa 600 kontaktierten Kreen überlebten nur 79 Menschen die Krankheitserreger der Weißen.
Wie schon sein erster Film Cuando os meus pais sairam de fèrias (siehe LN 393), der auf der Berlinale 2007 gezeigt wurde, schließt Xingu mit historischen Originalaufnahmen. In dem Film von 2007 waren es Aufnahmen von den Erfolgen der brasilianischen Mannschaft bei der Fußball-WM 1970, die mit einer tragischen Geschichte über den Sohn von Oppositionellen, die in der Militärdiktatur verschleppt wurden, kontrastiert wurden. In Xingu werden Bilder von den echten Villas Bôas Brüdern gezeigt, aber auch Aufnahmen aus Propagandafilmen, die den „Marsch in den Westen“ als Fortschritt der Zivilisation feierten. Nachdem man Xingu gesehen hat, sieht man in diesen Bildern kein Zeugnis für Fortschritt, sondern Dokumente eines Verbrechens.
Erneut dekonstruiert Cao Hamburger die brasilianische Geschichte und zeigt eine ihrer Schattenseiten: den Genozid an Indigenen im Verlauf des „Marschs in den Westen“. Dass Cao Hamburger dabei mit filmischen Mitteln und durchaus unterhaltsam der Komplexität des Themas gerecht wird, ist eine große Leistung.

Xingu // Cao Hamburger // 102 Minuten // Brasilien 2012 // Sektion Panorama

„Ihr werdet zu politisch“

„Studenten verteilen Flugblätter. Auswirkungen: keine.“ So lautet eine Ereigniskarte des Brettspiels „Junta“, bei dem die Teilnehmer_innen in die Rolle korrupter Politiker_innen schlüpfen. Das Spiel „Junta“ findet sich auch unter den Exponaten der Ausstellung „Chile-Solidarität in Münster“. Doch Historikerin Prof. Silke Hensel, ihre Mitarbeiterin Barbara Rupflin und Museumsleiterin Dr. Barbara Rommé haben eine andere Botschaft: Der Protest der Münsteraner_innen – darunter auch viele Student_innen – bedeutete für die Opfer der Militärdiktatur durchaus konkrete Hilfe.
So werden unter anderem chilenische Wandteppiche ausgestellt, so genannte Arpilleras. Sie wurden von Frauen genäht, deren Ehemänner aus politischen Gründen verhaftet worden waren. Viele verschwanden spurlos, nicht wenige fand man Jahre später in anonymen Massengräbern wieder – Opfer eines Staates, der zum Mörder wurde. Ihre Frauen blieben oft mittellos zurück. Indem sie die Arpilleras nähten und ins Ausland verkauften, konnten sie sich ein bescheidenes Zubrot verdienen. Die Handarbeiten künden vom erlebten Leid, geben Zeugnis auch über Sprachbarrieren hinweg. Oft halfen die kunsthandwerklichen Teppiche den Frauen auch, die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Viele der Exponate stammen aus einer Sammlung in Göttingen, doch auch aus Münster gibt es ein Exemplar. Es zeigt Frauen, die vor einem Gebäude stehen und fragen: „Dónde están?“ Wo sind sie? Daneben ein Friedhof mit namenlosen Gräbern und der Aufschrift: „Aquí están.“ Hier sind sie. Arpilleras gehörten in den 70er Jahren zu den typischen Devotionalien der Solidaritäts-Bewegung: „Ein klassisches Objekt, das man damals zu Hause an der Wand hatte“, sagt Barbara Rupflin.
Originalplakate aus den 70er Jahren erinnern an Ereignisse wie das „Blutspenden für Chile“, bei dem die Studierenden ihre Aufwandsentschädigung der politischen Solidaritätsarbeit zur Verfügung stellten. Andere wünschten sich Spenden für Chile als Hochzeitsgeschenk. Jahr für Jahr überwiesen die Münsteraner_innen dem chilenischen Solidaritäts-Vikariat rund 100.000 Mark. Mit dem Geld wurden Anwält_innen bezahlt, die für die Menschenrechte stritten. Ferner wurden Wohnungen und Sprachkurse für im Exil lebende Politiker_innen und andere Repressionsopfer finanziert.
Auch eine Original-Sammelbüchse wird gezeigt – leider ist sie das einzige wirklich dreidimensionale Objekt der Ausstellung. Barbara Rupflin, deren Magisterarbeit den Anstoß zu der Schau gegeben hatte, erklärt: „Das Problem ist: Es gibt wenig Objekte. Die Menschen wollten damals etwas für Chile und die Exilchilenen tun. Ihre eigene Arbeit zu dokumentieren, war für sie nicht der Sinn der Sache.“
Was die Wissenschaftlerinnen heute noch finden, ist das, was man in Historikerkreisen despektierlich als Flachware bezeichnet: die eingangs erwähnten Flugblätter, selbst gemalte Plakate, Fahnen, Transparente, Zeitungsartikel, Fotos – und hiervon nicht einmal be sonders viele. Hauptsächlich Bilder aus Zeitungs- und Polizeiarchiven dokumentieren heute noch die Demonstrationen gegen die Diktatur in Chile.
Doch die Ausstellungsmacherinnen wussten sich zu helfen. Altersschwache Plakate wurden abfotografiert und originalgetreu reproduziert. Das Museum lässt in der Mitte des Raumes eine Gruppe von Pappkameraden aufmarschieren, die mit Sandwich-Plakaten behängt sind.
Gegenüber lädt eine klassische 70er-Jahre-Sitzecke dazu ein, den ausführlichen Ausstellungskatalog zu lesen, der einen historischen Abriss der Protestbewegung in Münster liefert, oder der Musik der Gruppe Inti Illimani zu lauschen, die mit Solidaritätskonzerten auf das Unrecht im Land aufmerksam machte. Hier liegt auch das „Schwarzbuch Chile“, von dem Barbara Rupflin sagt, damals habe es fast jeder gehabt. Hier liegen Buttons, Platten und Konzertkarten. Und hier kann man sogar „Junta“ spielen.
Mehr noch als Sitzgruppe und Pappkameraden hauchen die Video-Ausschnitte von Zeitzeugeninterviews der Ausstellung Leben ein. Hier berichten Aktivist_innen aus der kirchlichen Arbeit. Der damalige katholische Studentenpfarrer Dr. Ferdinand Kerstiens etwa veranschaulicht, wie die internationalen Studierenden den Blick für die Situation in anderen Kontinenten geschärft haben: „Die Welt kam mit ihren Problemen in die Gemeinde.“ Vieles hier hat anekdotischen Charakter, etwa wenn Martin Ostermann, einst Sprecher des Initiativkreises, sich erinnert, wie er sich über Jahre hinweg jeden Donnerstag mit seinen Mitstreiter_innen traf. Oder wenn Barbara Imholz, Gemeindeassistentin der katholischen Studentengemeinde, erzählt, wie wichtig, aber auch anstrengend, für sie der persönliche Kontakt mit Chilen_innen war – sie reiste sogar selbst nach Chile und lernte Spanisch. Andererseits weist Pfarrer Kerstiens auch kritisch darauf hin, dass die Kirchenobrigkeit gesagt habe: „Ihr werdet zu politisch.“ Das habe heißen sollen: „Ihr vertretet die falsche politische Meinung.“
Insofern spart die Ausstellung auch die Debatten nicht aus, die damals die Kirchen bewegten: Ging es den Aktivist_innen in Münster wirklich um die Menschenrechte, oder wandten sie sich vor allem gegen die USA, die Augusto Pinochet protegierten? Und unterstützte man, wenn man für Salvador Allende und seine Gefolgsleute Partei ergriff, auch gleichzeitig die Sowjetunion und ignorierte die Menschenrechtsverletzungen dort?
Die Veranstalterinnen haben den kirchlichen Schwerpunkt bewusst gewählt: Die studentischen Gemeinden in Deutschland standen in Kontakt mit der chilenischen Kirche, die sich als Anwalt der Opfer sah. Sie waren führend bei der Spendenakquise wie bei der Organisation von Kundgebungen. Deswegen gehört Münster zu den deutschen Städten, in denen sich der Protest konzentrierte.
Doch die Unterstützung für Chile, das zeigen die historischen Quellen, durchzog das gesamte politische Spektrum: Auf einer Demonstration sprachen nacheinander ein Pfarrer, ein Vertreter der kommunistischen Partei und der FDP-Politiker Jürgen Möllemann. Professoren unterzeichneten Spendenaufrufe und Protestnoten. 36 unterschiedliche Gruppen unterstützten den „Kongress gegen Militärdiktatur und Imperialismus in Chile und Lateinamerika“, der im Juni 1983 2000 Menschen nach Münster lockte und von dem Aufnahmen in einer zweiten Videostation zu sehen sind.
Mit der Umsetzung von Archivalien der Solidaritätsbewegung als publikumsgerechte Schau haben die Historikerinnen Neuland betreten. Das ist zu begrüßen. Die Ausstellung „Chile-Solidarität in Münster“ kann damit als Vorbild für die museale Aufbereitung weiterer Proteste gelten.

Meine Mine, Deine Mine

Vom Auto bis zum MP3-Player, überall wo elektronische Bauteile verwendet werden, wird Kupfer gebraucht. Die Nachfrage nach dem rötlichen Metall steigt seit Jahren, was auch die Preise, zu denen es aufgekauft wird, in die Höhe treibt. Und zumindest in näherer Zukunft scheint es so, als ob sich mit Kupfer weiter Geld verdienen lasse. Dem Vorstandsvorsitzenden des staatlichen chilenischen Kupferkonzerns Codelco, Diego Hernández, nach ist der Hauptgrund dafür das rohstoffhungrige China, das 38 Prozent des jährlich produzierten Kupfers verbraucht. Und die chinesische Wirtschaft scheint trotz der in den Staaten des Nordens um sich greifenden Akkumulationskrise ungebremst weiter zu wachsen. Rosige Aussichten also für die Kupferproduzenten.
Rosige Aussichten auch für den chilenischen Staat, könnte man meinen, befinden sich doch gut 30 Prozent der weltweiten Kupferreserven auf chilenischem Territorium. Doch so einfach ist die Angelegenheit nicht. Laut dem Komitee für die Verteidigung und Rückgewinnung des Kupfers lag der Anteil an der privaten Kupferforderung in Chile im Jahr 2007 bei 72 Prozent, im Vergleich zu 15 Prozent im Jahr 1990. Wurden also 1990 noch gut 85 Prozent des Kupfers vom Staatsunternehmen Codelco gefördert, ist dieser Anteil nach 20 Regierungsjahren des Parteienbündnisses Concertación auf 28 Prozent geschrumpft. Die Gewinne nach Steuern der privatwirtschaftlichen Unternehmen werden sich nach der Zeitung el ciudadano allein im Jahr 2011 auf 34,6 Milliarden US-Dollar belaufen – dies entspräche 79 Prozent des gesamten chilenischen Staatshaushaltes. Angesichts dieser Zahlen ist es verlockend, die Verstaatlichung der Kupferförderung zu fordern, ließe sich doch mit diesem Geld viel bewegen. Nicht umsonst ist eine der Forderungen der Studierendenbewegung eben diese Verstaatlichung, um ihre Forderung nach kostenloser öffentlicher Bildung finanzieren zu können.
Doch eine Verstaatlichung ist schwieriger, als es sich viele Chilen_innen vorstellen. Nicht nur fehlt im Moment ein starker politischer Akteur, der diese Maßnahme durchsetzen wollte und könnte – die Concertación hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie dem neoliberalen Modell nicht weniger verschrieben ist als die parlamentarische Rechte. Es scheint schon schwierig, geltendes Recht für die Privatunternehmen durchzusetzen und beispielsweise Steuerbetrug entgegenzuwirken. Hinzu kommt, dass es durch die engen Verquickungen von Personal aus privaten Unternehmen mit Codelco am Ende oft zu Nachteilen für das Staatsunternehmen kommt.
Aktuelles Beispiel hierfür ist der Fall um die in der Nähe von Santiago gelegene Kupfermine La Disputada de las Condes, die im Moment noch dem britisch-südafrikanischen Konzern Anglo American gehört, die allerdings verkauft werden soll.
Die Mine war 1971 im Zuge der Verstaatlichungspolitik des damaligen Präsidenten Salvador Allende von der Staatsfirma Enami, die nach der Fusion aller verstaatlichten Minengesellschaften in Codelco aufgegangen ist, aufgekauft worden. 1979 wurde sie dann an Exxon verkauft. „Exxon hat diese Mine für 24 Jahre ausgebeutet und immer Verluste verzeichnet und dementsprechend nicht einen Peso an Steuern gezahlt. Dann wurde diese Gesellschaft, die immer nur Verluste gemacht hat, 2003 für 1,3 Milliarden US-Dollar an Anglo American verkauft, hat aber außerdem wegen akkumulierter Steuerverluste noch 700 Millionen US-Dollar aus der Staatskasse erhalten“, erklärt der auf Bergbau spezialisierte Ökonom Julián Alcayaga.
Diese Form von Steuerhinterziehung ist gang und gäbe in Chile. Recherchen der Zeitung El ciudadano zufolge steigen die von den im Consejo Minero, einer chilenischen Bergbaulobbyorganisation, organisierten Minengesellschaften deklarierten Kosten erstaunlicherweise immer entsprechend der Entwicklung der Weltmarktpreise für Kupfer. Dementsprechend niedrig ist das Steueraufkommen der privaten Minenunternehmen, vor allem im Vergleich zu den Abgaben, die Codelco an den Fiskus abführt.
Anglo American hatte nun mit Codelco, dessen Vorsitzender Diego Hernández zwischen 1988 und 1996 für Anglo American gearbeitet hatte, einen Deal ausgearbeitet, der vorsah, dass Codelco 49 Prozent der Anteile an La Disputada erwerben sollte. Dies hätte dem Verkaufsvertrag von 1971 entsprochen, in dem festgelegt wurde, dass Enami – heute durch Codelco vertreten – eben diese 49 Prozent alle drei Jahre zurückkaufen kann, sofern Teile dieser 49 Prozent nicht im Besitz einer weiteren dritten Partei sind. Nicht nur wäre der vereinbarte Preis von 9,76 Milliarden US-Dollar im Vergleich zu den 1,3 Milliarden, die beim Verkauf 2003 geflossen waren, sehr hoch, auch das Konstrukt, mit dem Codelco die Mine erwerben und in der Folge direkt wieder privatisieren wollte, rief Kritik von linken Medien und Nichtregierungsorganisationen hervor. Anstatt auf die reichlich vorhandenen Rücklagen zurückzugreifen oder einen Kredit bei einem Finanzinstitut aufzunehmen, war vorgesehen, sich von der japanischen Firma Mitsui die benötigte Summe zu leihen und diese Anleihe dann in Anteilen an der Mine zurückzuzahlen. Allein das Vorgehen von Codelco hier ist schon ein Skandal für sich.
Doch bevor die Kritik an Codelco Fahrt gewinnen konnte, begab sich Anglo American in die Schusslinie. Im November gab das Management des Unternehmens bekannt, dass sie 24,5 Prozent der Anteile an La Disputada für 5,39 Milliarden Dollar an das japanische Unternehmen Mitsubishi verkaufen würden. Damit blieben für Codelco nur noch die verbleibenden 24,5 Prozent an der Mine, die der Konzern dann zu einem entsprechend höheren Preis kaufen müsste. Die Reaktionen folgten prompt: Hernández drohte mit rechtlichen Schritten und verkündete in einer Online-Pressekonferenz: „Man muss nicht nur die Form, sondern auch den Geist des Vertrages erfüllen und man muss es mit ehrlicher Absicht tun“.
Allerdings gibt es keine Klausel im Vertrag zwischen Codelco und Anglo American, die letztererm verbietet, seinen Anteil zu verkaufen. In der chilenischen Presse wird gemutmaßt, dass es hierbei vor allem um persönliche Pfründe von Hernández geht, Belege dafür fehlen allerdings. Auch Präsident Piñera ist auf den abfahrenden nationalistischen Zug aufgesprungen und hat angekündigt, Codelco bei dem Gerichtsverfahren voll zu unterstützen. Hierbei handelt es sich allerdings nur um moralische Unterstützung, politisches Handeln wird dem Ganzen nicht folgen. Dabei könnte Piñera jederzeit sämtliche Bodenschätze verstaatlichen. Denn selbst nach den Jahren der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 und den Jahren neoliberaler Politik von der Concertación ist noch heute eine 1971 verabschiedete Verfassungsreform gültig, die besagt, dass dem Gesetz nach sämtliche Bodenschätze auf chilenischem Territorium nationalisiert sind. De facto würde also ein Oberster Regierungserlass des Präsidenten reichen, um die Show um Anglo American und Codelco zu beenden.
Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit dafür mehr als gering. Der Fall um La Disputada zeigt, dass die Diskussionen um die chilenischen Bodenschätze noch lange nicht vorbei sind. Trotz der gebetsmühlenartig immer wieder gestellten For-derung nach Verstaatlichung des chilenischen Kupfers wird sich mittelfristig an den Besitzstrukturen der Rohstoffe auf chilenischem Territorium nichts ändern.

Es wird erinnert – aber nicht von der Regierung

Momentan erregen Prozesse gegen ehemalige Militärangehörige in Argentinien weltweites Aufsehen. Glauben Sie, dass so etwas auch in Chile passieren könnte?

Es ist nicht so, dass es in der chilenischen Justiz in den letzten zehn Jahren keine Fortschritte gegeben hätte. Es wurden mehr als 500 Prozesse durchgeführt und mehr als 200 Agenten der Geheimdienste verurteilt, von denen heute 64 im Gefängnis sitzen. Das ist zwar nicht so aufsehenerregend wie in Argentinien, wo Militärangehörige wegen Verletzungen der Menschenrechte und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden. In Chile hingegen wurde bisher kein einziger Militärangehöriger verurteilt. Auch Pinochet starb ja, bevor es dazu kommen konnte.

Wie kann das sein?

In Chile ist immer noch ein Amnestiegesetz in Kraft. Das bedeutet, dass jemandem, der während der Diktatur an der Hinrichtung eines Menschen beteiligt war, keine lebenslängliche Strafe droht, sondern eine Strafe von drei bis fünf Jahren. Die Verurteilten kommen also sehr schnell wieder aus dem Gefängnis oder müssen ihre Strafe nicht einmal antreten, da die Prozesse mitunter so lange dauern. Die größten Verbrecher der DINA (Geheimdienst unter Pinochet; Anm. d. Red.) haben akkumulierte Strafen von über 100 Jahren, aber niemand wurde bisher zu lebenslänglich verurteilt. Zum Beispiel Krassnoff Marchenko, einer der Offiziere, der an einer Vielzahl von Hinrichtungen beteiligt war und auch in der Villa Grimaldi gearbeitet hat. Er wurde in 23 Fällen von Menschenrechtsverletzungen zu 144 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber keines der Urteile in Chile lautete lebenslänglich. Nur in Frankreich wurde eine lebenslängliche Haftstrafe verhängt.

Was muss ihrer Meinung nach also noch in Bezug auf Vergangenheitsbewältigung in Chile getan werden?

Im Bereich der Justiz muss noch viel getan werden. Von den 1.196 Verschwundenen wurden beispielsweise bis heute nur zehn Prozent identifiziert. Und die Prozesse gegen die Verantwortlichen müssen weitergeführt werden, damit die Schuldigen verurteilt werden.

Und auf politischer Ebene?

Es gibt in Chile immer noch keine staatliche Politik in Bezug auf Orte der Erinnerung. Doch der Staat muss die Erschließung der Orte, an denen Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, fördern und dafür sorgen, dass der Bevölkerung diese als Orte der Erinnerung zugänglich gemacht werden.
Auch im Bereich der Bildung muss mehr getan werden, um den jungen Leuten die traumatische Vergangenheit des Landes nahezubringen. Die neuen Generationen müssen lernen, dass viele Probleme der Gegenwart, wie Diskriminierung, Kriminalität und Ungleichheit, auf die Vergangenheit zurückzuführen sind. Aber es wird nicht darüber gesprochen, dass das Land während der Militärdiktatur absolut isoliert war und es praktisch kein kulturelles Leben gab. Oder dass die Bildung privatisiert wurde, die Mittelschicht während der Diktatur verschwand und die Gesundheitsversorgung sich verschlechterte, so dass es heute sehr schwierig ist, das Niveau wieder zu heben. All das sind Folgen einer Diktatur, die die jungen Leute nicht kennen. Erst jetzt gibt es wieder eine große Jugendbewegung, die sich dafür einsetzt, die Lebensbedingungen zu verbessern.

In der Gedenkstätte Villa Grimaldi wird versucht, diese jüngere Geschichte des Landes und die Verbrechen der Diktatur zu vermitteln. Wie und von wem wird das Angebot des Parks denn genutzt?

In den ersten Jahren nach der Eröffnung waren die Besucher vor allem Personen, die Menschenrechtsarbeit gemacht haben. Daneben kamen auch die Opfer der Diktatur, die ehemaligen Häftlinge oder die Angehörigen der Menschen, die hier inhaftiert waren und verschwunden sind. Sie nutzten den Park vor allem als Gedenkstätte. Am Anfang kamen auch viele ausländische Besucher und Forscher. Durch die Entwicklung von Führungen durch den Park, die von ehemaligen Häftlingen durchgeführt werden, und die Arbeit mit Schulen, hat sich unser Publikum allmählich verändert. Die Hälfte der Besucher heutzutage sind Jugendliche unter 25 Jahren. 85 Prozent aller Besucher kamen zum ersten Mal im Jahr 2010.

Und welches Vorwissen bringen die Schüler_innen heute mit, die den Park besuchen?

Sie sind sehr schlecht informiert. Wie gesagt gibt es keine staatliche Politik, die die Vermittlung der neueren Geschichte des Landes anregen würde. Bis vor einigen Jahren galt: Im Unterricht über die Menschenrechtsverletzungen zu sprechen heißt, über Politik zu sprechen. Das führte dazu, dass viele Lehrer solche schwierigen Themen lieber umgingen. Das hat sich zwar mit einer neuen Generation Lehrer in den letzten Jahren geändert, diese ist besser ausgebildet, interessiert sich für die jüngste Geschichte Chiles und möchte dieses Interesse auch an ihre Schüler weitergeben. Dass heute mehr Jugendliche als früher zu Orten der Erinnerung kommen, hat auch damit zu tun, dass die Lehrer engagierter sind und weniger Angst haben als früher.

Aber das Thema Diktatur steht weiterhin nicht in den Lehrplänen?

Nein. Das Thema wird dort eher am Rand behandelt. Nirgendwo steht, dass man im Unterricht über Menschenrechtsverletzungen in Chile zwischen 1973 und 1990 reden soll.

Wenn der Staat seine Verantwortung so vernachlässigt, wie wird ein Ort der Erinnerung wie der Park Villa Grimaldi denn dann überhaupt finanziert?

Es ist ein ständiger Kampf staatliche Unterstützung zu bekommen. Die staatlichen Institutionen, die sich für den Bau des Parks eingesetzt hatten, fühlten sich nach der Fertigstellung nicht mehr zuständig, so dass er an eine andere Institution übergeben wurde, die für die Parks der Stadt zuständig ist. Doch diese nahm ihre Aufgabe nicht ernst und wurde abgelöst von der Gemeinde Peñalolén, in der sich der Park befindet. Der damalige Bürgermeister der Gemeinde war schon während der Diktatur im Amt und interessierte sich somit auch nicht für den Erhalt des Erinnerungsorts. Es war schließlich die Corporación Parque por la Paz, die sich vor allem mithilfe freiwilliger Helfer um ihn kümmerte. In den Jahren 2003 und 2004 gelang es uns, Mittel zu beantragen und so eine größere Professionalisierung zu erreichen. Erst 2005 erhielten wir wieder staatliche Subventionen, was aber auch eine komplette Abhängigkeit vom Staat bedeutete. 2010 wurden wir schließlich vom Finanzministerium berücksichtigt und in den nationalen Haushalt aufgenommen. Doch wir mussten jedes Jahr darauf hoffen, im folgenden wieder berücksichtigt zu werden. So konnten wir nie Pläne auf lange Sicht machen. Und mit der neuen Regierung von Präsident Piñera wurden uns die staatlichen Mittel 2010 wieder komplett gestrichen. Nachdem wir lautstark dagegen protestiert hatten und dank der Unterstützung durch mehrere Parlamentarier wurden wir schließlich zwar wieder aufgenommen. Wir waren jedoch nicht die einzigen: auch anderen Orten der Erinnerung wurde von Piñera das Budget gestrichen. Dieser hat kein Interesse, Institutionen zu fördern, die zu Erinnerung arbeiten.

Sie sind auch Mitglied des Aufsichtsrats des Museums der Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile, das 2010 von der damaligen Präsidentin Bachelet eröffnet wurde. Warum war dieses Museum nötig?

Der Park Villa Grimaldi ist ja kein Museum, es ist ein Ort, an dem Menschenrechtsverletzungen verübt wurden und an dem an die Opfer gedacht werden kann. Orte der Erinnerung gibt es in Chile viele, die Kommission über politische Haft und Folter hat 1.156 Orte entdeckt, an denen politische Häftlinge festgehalten und gefoltert wurden. Aber bis heute sind nur sehr wenige dieser Orte zurückgewonnen worden. Ich denke, dass es daher notwendig war, ein Museum der Erinnerung und Menschenrechte zu errichten. Der chilenische Staat musste dort zeigen, was in den Jahren von 1973 bis 1990 während der Militärdiktatur passiert ist, was die Repression bedeutet hat. Das wurde durch den Bau des Museums der Erinnerung gewährleistet. Der Zweck, den das Museum der Erinnerung erfüllt, ist der, wichtige Information über die Repression in ganz Chile zu vermitteln.

Welchen Einfluss haben der Park und das Museum auf die chilenische Politik und Gesellschaft?

Das Museum der Erinnerung hat heute mehr als 2.000 Besucher pro Monat, Tendenz steigend. Täglich besuchen zwei bis drei Schulklassen das Museum. Das ist ein sehr wichtiger Prozess für die chilenische Gesellschaft. Das Museum hat eine informative Funktion in Bezug auf Repression und Staatsterrorismus, eine erzieherische Funktion in Bezug auf Menschenrechte und eine wiedergutmachende Funktion, die auch wichtig ist für die chilenische Gesellschaft: die offizielle Anerkennung, dass die Gesellschaft 17 Jahre lang unterdrückt wurde.

Sehen Sie Parallelen in der Art, wie in Deutschland und in Chile mit der gewalttätigen Vergangenheit umgegangen wird?

Repression und Menschenrechtsverletzungen in Europa während des Zweiten Weltkriegs nehmen wir in Chile als eine Erfahrung auf, die uns selbst zum Nachdenken veranlasst, wieso sich solch Taten wiederholen. Das hat mit der Vermittlung der Kultur der Menschenrechte sowie mit Erziehung und Bildung zu tun. Wir können nicht aufhören, uns mit anderen Orten der Welt zu vernetzen, an denen Menschenrechtsverletzungen verübt wurden. Was uns heute verbinden könnte, ist die gemeinsame Arbeit aller Länder, die solche Gewalterfahrungen gemacht haben, eine Arbeit des Austauschs. Alles, was wir uns mitteilen können über unsere Erfahrungen, trägt dazu bei, dass die Bürger darüber nachdenken und diese sich nicht wiederholen.

Kasten1

Margarita Romero Méndez studierte Medizin an der Universidad de Concepción in Chile und an der Freien Universität von Brüssel in Belgien. Während der Militärdiktatur in Chile war sie politische Gefangene im Militärstützpunkt Talcahuano. Zwischen 1975 und 1988 lebte sie im politischen Exil in Belgien. Zurück in Chile trat sie der chilenischen Ärztekammer bei und wurde Mitglied der Kommission zur Solidarität für Ärzt_innen, die Opfer politischer Unterdrückung geworden waren. Sie ist Co-Autorin der Bücher Porque fuimos médicos del pueblo (1993) und Ellos se quedaron con nosotros (1999). Seit 2004 ist sie Aufsichtsratsmitglied der Corporación Parque por la Paz Villa Grimaldi, zurzeit ist sie auch deren Präsidentin. Außerdem ist sie Aufsichtsratsmitglied des Erinnerungsmuseums Museo de la Memoria y de los Derechos Humanos in Santiago und der Women’s Institute Foundation.

Kasten2

Erinnerungsort Villa Grimaldi

Die Villa Grimaldi war seit Mitte des 20. Jahrhunderts Treffpunkt von Intellektuellen und Künstler_innen in Santiago de Chile. Ab 1974 wurde es von Pinochets Geheimdienst DINA als Kaserne benutzt. Später arbeitete dort der Geheimdienst CNI, vermutlich bis zum Jahr 1978, und nutze es als eines der berüchtigsten politischen Gefängnisse des Landes. Im Jahr 1984 wurde es dann an ein Bauunternehmen verkauft, das dort Wohnhäuser errichten wollte. Doch Nachbar_innen der Stadtviertel Peñalolén und La Reina wollten dies verhindern und konnten den Ort schließlich für die Nutzung durch die Gesellschaft zurückgewinnen. Aus ihrem Einsatz ging dann schließlich die Vereinigung Corporación Parque por la Paz Villa Grimaldi hervor, die entschied, an diesem Ort einen Park anzulegen, um an die Opfer und Verbrechen der Pinochet-Diktatur zu erinnern. Der Park hat eine symbolische Architektur, die den Weg der Häftlinge nachzeichnet. Führungen ehemaliger Häftlinge und Bildungsangebote sollen die gewaltsame Vergangenheit des Landes und Respekt für die Menschenrechte vermitteln.

Daimler muss doch vor Gericht

„Jetzt muss das deutsche Unternehmen für das Geschehene Rede und Antwort stehen“, zeigte sich der US-Opferanwalt Terry Collingsworth im November in San Francisco zufrieden. Die Hinterbliebenen hatten bereits 2004 Klage gegen die DaimlerChrysler AG in den USA eingereicht. Sie stützen sich auf das Alien Tort Claims Act, ein Gesetz aus dem Jahr 1789 – ein guter Jahrgang also. Das ATCA war damals gegen die Pirat_innen erlassen worden, die in der Karibik ihr Unwesen trieben. Es erlaubte bei Gewaltverbrechen, die in internationalen Gewässern von Ausländer_innen verübt worden waren, die US-Gerichte anzurufen – da die Tribunale der Bahamas oder der Cayman Islands, wo die Pirat_innen beheimatet waren, kaum diese Delikte aburteilen würden. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gruben Menschenrechtler_innen diese Vorschrift wieder aus, um südamerikanische Folterer in den USA anzuzeigen. Auf dem Subkontinent verhinderten Amnestiegesetze die Strafverfolgung.
Bei dem kommenden Verfahren geht es um Verbrechen gegen die Menschheit, die nicht verjähren, es geht um Beihilfe zum Mord an vierzehn Betriebsräten in den Jahren 1976 und 1977, als in Argentinien eine Militärdiktatur herrschte. Zeug_innen haben ausgesagt, dass die Firmenleitung Hand in Hand mit den Militärs zusammen gearbeitet hatte. So hat etwa Héctor Ratto bei seiner Verhaftung mit angehört, wie der Mercedes-Manager Juan Ronaldo Tasselkraut die Adresse seines Kollegen Diego Núnez den Polizist_innen überreichte. In derselben Nacht wurde Núnez verschleppt, noch einmal im Folterzentrum Campo de Mayo gesehen und ist danach nie mehr aufgetaucht. Einer der tausenden Verschwundenen der Militärdiktatur.
Insgesamt sind während der Diktatur in der argentinischen Niederlassung von Mercedes-Benz siebzehn Betriebsräte verschleppt und gefoltert worden, nur drei von ihnen haben überlebt und sind heute nicht nur wichtige Zeugen, sondern auch Kläger in dem Verfahren in San Francisco. Zu den Kläger_innen werden auch zwei Frauen stoßen: Paula Logares und Elsa Pavón. Elsas Tochter Mónica war 1978 im Rahmen der Operation Kondor im Exil in Montevideo verhaftet worden, zusammen mit ihrem Mann und ihrer anderthalb Jahre alten Tochter Paula. Umgehend wurden sie nach Buenos Aires verfrachtet und landeten im Kommissariat San Justo, ganz in der Nähe der Mercedes-Fabrik in González Catan. In diesem berüchtigten Kommissariat waren mehrere Mercedes-Arbeiter gefoltert worden. Mónica und ihr Mann sind bis heute verschwunden, ihre Tochter griff sich der Kommissariats-Leiter Rubén Lavallen, einer der übelsten Folterer, und trug sie als seine leibliche Tochter ein. Wenige Tage später quittierte er seinen Dienst – und startete bei Mercedes-Benz eine Karriere als Sicherheitschef. Elsa Pavón suchte nicht nur nach ihrer Tochter, sondern auch nach ihrer Enkelin, sie ist eine der Großmütter der Plaza de Mayo der ersten Stunde. Paula war das erste Kind, das 1983 wiedergefunden wurde.
Lavallen wurde vor Gericht gestellt und nach einem Gentest verurteilt. Er verbüßte zwei Jahre im Gefängnis. Mercedes-Benz löste das Arbeitsverhältnis auf, zahlte ihm aber noch eine großzügige Abfindung für geleistete Dienste. Das Unternehmen aus Untertürkheim hatte, der vereidigten Aussage seines Justiziars zufolge, auch die Folterkammern der Generäle mit Brutkästen ausgestattet – und die Manager sollen sich Babies der ermordeten Regimegegner_innen widerrechtlich angeeignet haben. In der Familie Tasselkraut sind drei Kinder als leibliche Kinder eingetragen, die wahrscheinlich aus den Folterzentren stammen. Eine Genanalyse ist seit langem beantragt, aber die argentinische Justiz tut sich schwer, gegen die Firmen vorzugehen. Das Unternehmen wurde 1951 von Jorge Antonio, der rechten Hand von General Juan Domingo Perón, gegründet – Nazigeld wurde dort in großem Umfang gewaschen, kam nach der Beschlagnahmung der Firma 1955 heraus.
Strafrechtlich sind die Verantwortlichen für diese Verbrechen bis heute nicht zur Verantwortung gezogen worden. Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck erstattete in Deutschland Anzeige, aber die Staatsanwaltschaft in Nürnberg stellte das Verfahren ein, weil – so die Begründung – nicht nachgewiesen wurde, daß die verschwundenen Arbeiter nicht irgendwann wieder auftauchen würden. In Argentinien, wo 2003 die Amnestiegesetze aufgehoben wurden, kamen die Ermittlungen ebenfalls nicht voran. Die Staatsanwaltschaft von Buenos Aires gab das Verfahren an ein Provinzgericht ab, und dort schläft es seitdem sanft.
2004 reichten die Hinterbliebenen von Mercedes-Benz dann Klage in den USA ein – ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, so kurz nach der Annullierung der Amnestie-Gesetze durch Präsident Néstor Kirchner, der sich selbst vor der UNO zum „Sohn der Maiplatz-Mütter“ erklärte. Und in den USA ließ George W. Bush die Folterkammern in Guantánamo und anderen Orten auf Volltouren laufen. 2003 hatte gerade erst der Supreme Court entschieden, dass nach dem ATCA nur noch Verfahren eröffnet werden sollten, für die es keinen anderen, besseren Gerichtsstand gäbe. So wollte Corporate America verhindern, für seine Untaten in der Dritten Welt zu Hause haftbar gemacht zu werden.
Daimler wiegte sich in Sicherheit, konnte sogar die Zustellung der US-Klage in Stuttgart verhindern, weil es das Oberlandesgericht Karlsruhe davon „überzeugen“ konnte, daß das US-Verfahren die Sicherheit der Bundesrepublik gefährden würde.
Noch unter Bush verloren die Kläger_innen die erste Instanz, die Hinterbliebenen sollten in Deutschland oder in Argentinien klagen, meinte der Richter. Dann gewann Barack Obama die Wahlen und die Stimmung kippte. Trotzdem urteilte im August 2009 der District Court in San Francisco gegen die Zuständigkeit, die deutsche Bundeskanzlerin persönlich soll Bedenken vorgetragen haben. Auf Nachfrage behauptete das Bundeskanzleramt, dass „hierüber keine Unterlagen im Bundeskanzleramt vorliegen“. Es dementierte jedoch nicht, dass Einwände erhoben worden waren. Auf eine parlamentarische Anfrage antwortete das Kanzleramt: „Die Bundeskanzlerin hat anlässlich ihres Besuchs in den USA im November 2009 das von Ihnen genannte Zivilverfahren nicht angesprochen“. Bei dem Besuch im November bestimmt nicht, gefragt worden war nach der versuchten Einflußnahme vor dem Urteil.
Von den drei Richtern schrieb 2009 einer, Stephen Reinhardt, im Urteil seine dissidente Meinung fest: Daimler erziele „45 Prozent ihres jährlichen Gewinnes aus den Verkäufen in den USA, 2,4 Prozent seines Gesamtumsatzes wurden (2004) in Kalifornien gemacht.“ Daimler habe sich selbst dem Risiko einer gerichtlichen Überprüfung in den USA ausgesetzt, als die Firma beschlossen habe, „über ihre Niederlassung in den USA hohe Gewinne zu erwirtschaften. Wir verletzen nicht die deutsche Souveränität, wenn unsere Gerichte diese Sache verhandeln“, stellte Reinhardt fest. Ausländische Konzerne, die auf dem US-Markt hohe Profite einfahren, müssen sich also auch der US-Gerichtsbarkeit stellen. Das Stuttgarter Unternehmen sei alleiniger Inhaber des Aktienkapitals von Mercedes-Benz USA, und die Niederlassung müsse alle Werbekampagnen und die Besetzung von Chefposten absegnen lassen. Doch Reinhardt wurde 2009 überstimmt.
Der Anwalt Terry Collingsworth beantragte zwar noch die Einberufung des Großen Senats zu diesem Fall, aber den Weg zum Obersten Gerichtshof wollte er nicht beschreiten, um einen negativen Präzedenzfall zu vermeiden. Damit schien der Rechtsweg in den USA ausgeschöpft.
Überraschenderweise hoben dieselben drei Richter nun im November dieses Jahres ihr eigenes Urteil auf. Warum, das geht aus den Akten nicht hervor. So wurde auch der letzte Einspruch Daimlers abgewiesen.
Eigentlich könnte das Verfahren damit sofort beginnen, Zeug_innen gehört, Beweismaterial gesichtet werden. Doch nun hat Daimler beantragt, das Verfahren auszusetzen, solange nicht der Supreme Court entschieden habe. Die Argumentation ist nun eine ganz andere: Das Unternehmen behauptet nicht mehr, dass es einen besseren Gerichtsstand gebe – Argentinien oder Deutschland. Es will jetzt durchsetzen, dass ATCA nur für Individuen und nicht für Firmen gelten soll. So wollen sich auch andere Konzerne, die nach dem ATCA in den USA wegen Verbrechen gegen die Menschheit verklagt worden sind, aus der Schlinge ziehen. Zum Beispiel bei der Klage wegen der Unterstützung des Apartheidregimes in Südafrika, unter anderem gegen Daimler und Rheinmetall. Ende 2010 hatte ein New Yorker Berufungsgericht in einem Verfahren gegen Shell, wegen dessen Verstrickungen in Nigeria, zu Gunsten des Ölmultis geurteilt. Menschenrechtsorganisationen haben daraufhin den Obersten Gerichtshof angerufen.
Daimler spielt auf Zeit und hofft, ein paar Monate zu gewinnen. Warum, fragen sich Beobachter_innen, hat das Unternehmen zu keinem Zeitpunkt versucht, auf andere Weise Verantwortung für die Geschehnisse zu übernehmen? Ein Zivilprozess bedeutet mit Sicherheit einen erheblichen Imageschaden und birgt das Risiko einer astronomischen Geldstrafe. Seit 1999 ist der Komplex Mercedes-Benz Argentina vor verschiedenen Gerichten anhängig, in drei Kontinenten. Auch wenn die anzeigenabhängige Presse dazu vornehm schweigt, die Vorwürfe sind der interessierten Öffentlichkeit bekannt, wurden mehrfach auf den Aktionärsversammlungen dargelegt. Ein britischer oder ein US-Konzern hätte in einer solchen Situation vermutlich einen externen Krisenberater hinzugezogen. Und der hätte geraten: „Holt die Kuh vom Eis und entschuldigt Euch mit schönen Worten!“ Doch Schrempp, Zetsche und die Aufsichtsräte rührten keinen Finger. Ihnen fiel nichts besseres ein, als nur auf Zeit zu spielen – nach dem Motto: Soll es doch mein Nachfolger richten. Doch spätestens mit dem Urteil ist das Eis gebrochen. Es wird ernst für die Daimler AG. Jetzt hat sie es nicht mehr mit einer Handvoll Menschenrechtsbewegter zu tun, sondern mit der US-Justiz – und das kann sehr teuer werden.

„Meister sein ist nur ein Detail“

Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Viera de Oliveira – welch ein Name, schon wie ein Gedicht und erste Zeile eines Sambas. Und welch ein Fußballer! Fast kann man es schon nicht mehr glauben, dass die Welt – und Brasilien – auch solche Fußballer wie Sócrates hervorgebracht hat. Geboren in Belém im amazonischen Bundesstaat Pará, aufgewachsen in Riberão Preto im Staat São Paulo. Sohn eines Vaters, der Platon las und von einem Philosophen als Sohn träumte. Den griechischen Sokrates kennen wir nur durch Platons Schriften, aber in Brasilien war es dann andersrum: Sócrates las Platon – so sagt es wenigstens die Überlieferung.
Sócrates war Arzt und Fußballer und wurde deshalb auf dem Platz immer doutor gerufen. Er blieb stets dem Verein verbunden, mit dem er berühmt wurde: Corinthians, einer der drei großen Clubs von São Paulo. Aber ungewöhnlich für einen Fußballer ist Sócrates‘ Verbindung zur Politik. Anfang der 1980er – Brasilien stand noch unter dem Regime der Militärdiktatur (1964 bis 1985) – unterstützte Sócrates die Kampagnen für demokratische Direktwahlen, die sogenannte direitas já-Bewegung, und etablierte in seinem Club die democracia corinthiana, nach welcher alles im Verein per Abstimmung aller Beteiligten – Spieler, Trainerstab und Vereinsleitung – erfolgte. Die Fans von Corinthians, insbesondere die Gruppe der Gavioes da Fiel Torcida (Die treuen Habichte), waren schon seit 1969 durch Parolen gegen die Militärdiktatur aufgefallen. Aber 1982 verbündeten sich die rebellischen Fans mit einigen Spielern: Neben Sócrates spielten noch Vladimir, Zenon (noch ein griechischer Philosoph) und Casagrande eine wichtige Rolle. Sie verbanden das politische Engagement für Direktwahlen mit einer Politisierung des Fußballs. Sócrates selbst sagte über die Zeit: „Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Clubführung mitbeteiligt. Und das mit einem einzigartigen Gleichheitsniveau: Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Unternehmens, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch. Diese Zeit war wunderbar und hat uns alle verändert. Die Personen, die in dieser Mikrogesellschaft involviert waren, haben ständig kommuniziert, jeder hat teilgenommen und mit entschieden. Die Neuen waren am Anfang wirklich verzweifelt: »Warum spricht hier niemand über Fußball?«“ Aber Fußball wurde gespielt und sehr erfolgreich – auch wenn die Democracia Corinthiana unter dem Slogan posierte: Meister zu sein, das ist nur ein Detail. 1982 gewannen sie die Meisterschaft von São Paulo.
Aber 1982 ging auch als eines der tragischen Jahre in die Geschichte des Fußballs Brasiliens ein: Das für viel Brasilianer_innen bis heute großartigste Team aller Zeiten spielte bei der WM 1982 in Spanien genial auf – und schied dann gegen die „0:0“-Spezialisten aus Italien aus. Sócrates, Falcão und – der wohl größte von allen – Zico sind die unvergessen Heroen dieser Tragödie, die sich 1986 durch die bittere Niederlage im Elfmeterschießen gegen Platinis Frankreich wiederholte. Sócrates und Zico präsentieren bis heute die brillianteste Epoche des brasilianischen Fußballs. Die Emotionen, die diese Teams (1986 war noch der geniale Júnior dabei) hervorgerufen haben, sind für viele unermesslich größer als die „kalten“, ergebnisorientierten Siege von 1994 und 2002: Im Gedicht „Das Angesicht von Brasilien“ heißt es:
„Brasilien Mauro Silva, Dunga und Zinho,
das Brasilien 0:0 und Weltmeister
oder das Brasilien, das auf dem Weg stehen blieb,
Zico, Sócrates, Júnior und Falcão“
Das Brasilien von Sócrates & Co war noch mitten auf dem Weg, es verkörperte die Zeiten der Hoffnung, der großen Möglichkeiten, den Traum, dass Schönheit und Erfolg zusammenpassen. Sócrates äußerte sich und agierte politisch links wie kaum ein anderer Fußballer von Weltrang, er stand ein für eine Praxis, in der soziale Gerechtigkeit und Fußball wundersame Symbiosen eingehen können. In den tragischen Momenten blitzte die Utopie eines Spiels auf, dessen Signifikanz weit über das Fußballfeld hinaus deutet. Sócrates gab dem brasilianischen Fußball, nach den Worten des Literaturtheoretikers und Komponisten José Wisnik „einen philosophischen Touch“.
Sócrates wirkte manchmal fast ungelenk, irgendwas war falsch: eine wandelnde Heuschrecke nannte Wisnik ihn, 192 cm lang bei nur Schuhgrösse 41, genannt Magrão (der Magere). „Gefährte des Biers, der Philosophie und des Schweißes“, so charakterisierte Wisniks berühmter Samba den brasilianischen Sócrates.
Ja, Gefährte des Bieres und des Weines, Sócrates hatte immer seinen alkoholisierten Hedonismus mit flotten Sprüchen verteidigt: „Bier ist mein bester Psychologe.“ Zum Ende seines Lebens muss ein vom Alkoholkonsum schwer gezeichneter Sócrates seinen Alkoholismus öffentlich bekennen.
Nach seiner aktiven Laufbahn als Fußballspieler betätigte sich Sócrates unter anderem als politischer Kommentator. Er schrieb eine regelmäßige Kolumne in der Wochenzeitschrift Carta Capital, die in kritischer Unterstützung zur Regierung des Ex-Präsidenten Lula da Silva (2003 bis 2010) und jetzt zu Dilma Rouseff stand. Sócrates blieb immer ein bekennender Linker, ein Bewunderer von Fidel Castro (ein Sohn heißt Fidel, und Sócrates selbst sagte einmal, er wäre gerne Kubaner) und Hugo Chávez. Sócrates träumte immer von einer Welt ohne Macht.
Politik und die Leidenschaft für Corinthians verbinden Lula und Sócrates, der sich zwar nicht parteipolitsch betätigte, aber doch in der Regierung Lula einen großen Fortschritt für das Land sah. Aber irgendwie gingen die Träume Sócrates in eine andere Richtung als die Lulas. In einem seiner letzten Interviews diese überraschende Vision: „Die Mobilisierung des Volkes ist fundamental. Wir haben zwei große politische Gruppen: die organisierten Fußballfans und die Bewegung der Landlosen (MST). Die Bourgeoisie fürchtet, dass diese Gruppen noch stärker werden. Stell dir mal vor – die größten Fangruppen in einer gemeinsamen Aktion, etwa gegen die Erhöhung der Eintrittspreise. Der Grad der Politisierung dieser Organisitionen wird unsere Zukunft bestimmen.“
Eine seiner letzten Ideen war, nach Venezuela zu gehen und für Chávez zu arbeiten. Dies brachte ihm eine überschwengliche Hommage des venezolanischen Präsidenten ein, der ihn als Verkörperung des Neuen Menschen sieht, der sogar Geschlechtergrenzen überschreitet: „Dr. Sócrates ist ein Beispiel des neuen Menschen und der neuen Frau, die wir so sehr in Lateinamerika und der Karibik brauchen.“
Wenige Stunden nach dem Tod Sócrates‘ am 4. Dezember 2011 wurde Corinthians brasilianischer Meister. Wie sein Leben ist das Timing der Fußballgötter voller Ambiguitäten. Wollten sie ihn für den Spruch „Meisterschaft ist nur ein Detail“ bestrafen? Wollten Sie noch einmal die fußballerische Tragik seines Lebens evozieren? Und den heutigen Fans von Corinthians eine Lektion erteilen: kein Triumph ohne Tränen. Wie dem auch sei, Sócrates wird‘s überleben.

Ex-General im höchsten Staatsamt

„General des Friedens“. So bezeichnet sich Otto Pérez Molina gerne, seit er bei den Friedensabkommen im Jahr 1996, die den 36-jährigen Bürgerkrieg zumindest formell beendeten, den guatemaltekischen Staat repräsentierte. Nun hat er in Guatemala wie erwartet die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Manuel Baldizón gewonnen und wird für die nächste Legislaturperiode das höchste Amt in Guatemala bekleiden. Pérez Molina erreichte knapp 54 Prozent, während Baldizón auf knapp 46 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 60 Prozent.
Der zukünftige Präsident hat allerdings eine Vergangenheit, die ernsthafte Zweifel an seiner Demokratiefähigkeit aufkommen lassen: In der dunkelsten Zeit der Geschichte Guatemalas, der Militärdiktatur von 1978 bis 1982, galt er als ein Vertrauter des damaligen Juntachefs, General Lucas García. Zu Beginn der 1980er Jahre kommandierte Pérez Molina die Militärbasis im Departamento El Quiché – die Region, in der der Bürgerkrieg am heftigsten tobte und zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübt wurden.
Auch seine Karriereschritte als Chef des Militärgeheimdienstes G-2 zwischen 1991 und 1993 und der Präsidentenschutztruppe „Estado Mayor Presidencial“ (EMP) von 1993-1996, werfen Fragen auf: Während des Bürgerkriegs waren sowohl der EMP als auch die G-2 berüchtigte staatlichen Einheiten, denen Entführungen, Folter und Morde vorgeworfen werden.
Guatemalas frisch gewählter Präsident leugnet auch, dass es in Guatemala je einen Völkermord gegeben hat. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública.com.gt erklärte Pérez Molina in diesem Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerillaarmee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben, so die Logik des Ex-Generals.
Da die guatemaltekische Justiz erst in jüngster Vergangenheit bei der Aufarbeitung von Diktaturverbrechen vorsichtig tätig geworden ist und die Medien mit dem Kandidaten Pérez Molina mehr als gutmütig umgingen, kann dieser Vorwürfe im Hinblick auf seine Vergangenheit als reine Schmutzkampagnen abtun. Dementsprechend wissen die meisten Wähler_innen über die Vergangenheit des Ex-Generals so gut wie gar nichts.
Trotz vieler Indizien, die auf eine Verstrickung der Streitkräfte mit den Drogenkartellen hindeuten, wird der Chef der Patriotischen Partei (PP) nicht müde, die Armee als einzige ehrenwerte Institution des Landes zu bezeichnen. Eine Militärlandebahn, die auch von Drogenkurieren angesteuert wird, Armeewaffen, welche die Polizei bei Kartellmitgliedern sichergestellt hat: Es gibt Hinweise für Verstrickungen der Streitkräfte in dunkle Geschäfte. Otto Pérez Molina fordert Beweise und verspricht, dass diese dann auch zu Urteilen führen würden.
Das entspricht ganz der angekündigten Linie der „harten Hand”, 100 Prozent Rechtsstaat und null Prozent Straflosigkeit, die dem Präsidenten die Unterstützung der Mittelschicht gebracht hat, die sich ein bisschen Sicherheit vor der überbordenden Gewalt erhofft. Auch ehemalige und aktuelle Militärs, die unter einem Präsidenten Otto Pérez wenig zu befürchten haben dürften, zählen zu seinen Unterstützer_innen. Genau wie Unternehmer_innen, denen die nun abgewählte rechtssozialdemokratische Regierung unter der Führung von Álvaro Colom ein Graus war. Viele wichtige Geschäftsleute stehen auf der Kandidatenliste der PP für den Kongress.
Ihnen allen hat die Partei des Kandidaten Otto Pérez Molina in der ablaufenden Legislaturperiode wertvolle Dienste geleistet: Ob die Gesetzesinitiative zur Eindämmung der Steuerhinterziehung oder zur Reform der Einkommenssteuer, ob eine Besteuerung von Telekommunikationsunternehmen, wie auch jeder Fortschritt in der Strafverfolgung, die Pérez Molina angeblich so am Herzen liegt: Die PP mauerte bei allen Initiativen und kungelte dabei so erfolgreich mit Regierungsabweichlern und anderen Oppositionsparteien, dass in der Regierungszeit des scheidenden Präsidenten Álvaro Colom kaum ein Gesetzesvorhaben durchgesetzt wurde.
Für Dr. Adrian Zapata, der an Guatemalas öffentlicher Universität San Carlos das „Institut für nationale Probleme“ leitet, bedeutet der Wahlausgang die Kontinuität einer Politik zu Gunsten von Auslandsinvestitionen und zur Förderung der Rohstoffausbeutung in Guatemala. Eine soziale Komponente sei in der Politik der „Patriotischen Partei“ nicht zu erkennen, weswegen die von der UNE-Regierung eingeführten, aber wegen ihrer Intransparenz heftig kritisierten Sozialprogramme wohl relativ schnell Geschichte sein dürften. Eine Gefahr des Rückfalls in eine oligarchisch-militaristisch dominierte Gesellschaft sieht Zapata allerdings nicht. Dazu hätten sich Guatemala, die Region und die internationalen Verhältnisse in den letzten zwanzig Jahren zu sehr geändert. Das Militär sei nach wie vor ein wirtschaftlicher Akteur, seine Rolle sei jedoch im Vergleich zu den 1980er Jahren sehr zurückgedrängt worden.
Anzeichen für radikale Veränderungen in Guatemala in den nächsten Jahren gibt es also kaum. Die Hoffnung auf Korrekturen am Wirtschaftsmodell, um mehr auf die Bedürfnisse von Armen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern eingehen zu können, ist gering. Ebenso unwahrscheinlich ist eine wirksame Bekämpfung der seit der Militärdiktatur bestehenden militärischen Parallelstrukturen oder der Infiltration von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durch die Drogenkartelle. Die Arbeit der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), die in den letzten Jahren einige spektakuläre Verfahren gegen Politiker_innen, Unternehmer_innen und hohe Beamt_innen initiieren konnte, wird unter Pérez Molina sicherlich nicht leichter. Ob sie aber erschwert wird, muss sich erst noch zeigen.
Durchregieren wird Pérez Molina mit Sicherheit nicht können. Genau wie in den vergangenen Legislaturperioden kann auch der am 6. November gewählte Präsident im Kongress auf keine eigene Mehrheit bauen. Bei einem Anteil von gerade mal einem Drittel der Abgeordneten im Parlament dürfte ein großer Teil der ohnehin dünnen Programmversprechen der parlamentarischen Kungelei zur Mehrheitsbeschaffung zum Opfer fallen. Ansonsten könnte sich auch die neue Regierung statt einer Politik der harten Hand am Ende vor allem durch Symbolismus und Klientelpolitik auszeichnen – während sich Otto Pérez Molina als Präsident vor Fragen bezüglich seiner Vergangenheit wohl noch sicherer fühlen dürfte als bislang.

Vermeintlicher Linksruck

Es ist ein historischer Erfolg. Mit 54 Prozent der Stimmen erzielte CFK, wie die Linksperonistin von Anhänger_innen wie Gegner_innen genannt wird, den zweithöchsten Wahlsieg in der Geschichte der freien Wahlen des Landes. Überflügelt wurde sie lediglich vom peronistischen Übervater Juán Domingo Perón. Für dessen zweite Amtszeit stimmten 1952 ganze 60 Prozent.
Die eigentliche Überraschung vom 23. Oktober war jedoch die kleine linksliberale Sozialistische Partei (PS) um den Gouverneur von Santa Fé, Hermes Binner. Die PS hatte gemeinsam mit einigen linken Splitterparteien und bekannten Funktionär_innen des alternativen Gewerkschaftsdachverbandes CTA die Breite Progressive Front (Frente Amplio Progresista, FAP) gebildet. Wenn auch ohne klares wirtschaftspolitisches Programm, präsentierte sich die FAP geschickt als nicht etablierte Alternative zur Regierung – mit Erfolg. Sie landete mit 16,87 Prozent auf Platz zwei und düpierte die gesamte rechte Opposition. Ricardo Alfonsín, Kandidat der ältesten Partei Argentiniens, der Radikalen Bürgerunion (UCR), und Sohn des ersten demokratischen Präsidenten nach der letzten Militärdiktatur, Raúl Alfónsin, blieb mit 11,15 Prozent sogar weit hinter den ohnehin schon pessimistischsten Erwartungen zurück. Noch schlimmer erwischte es den rechten, mit dem Kirchner-Flügel zerstrittenen Teil der Peronistischen Partei, PJ. Dieser hatte sich nicht auf einen Kandidaten einigen können und zwei alte Hasen ins Rennen geschickt. Der Gouverneur der Provinz San Luís, Alberto Rodríguez Saá, kam auf gerade einmal 7,98 Prozent. Eudardo Duhalde, der einige Jahre Vizepräsident unter Carlos Menem war und das Land von 2002 bis 2003 regierte, schaffte nicht einmal die 6-Prozentmarke.
Gefreut haben dürfte sich die kleine trotzkistische Gemeinde Argentiniens. Mit 2,79 Prozent erreichten sie das beste Ergebnis der radikalen Linken der letzten Jahrzehnte. Ein Grund für den Erfolg war ironischerweise ein von ihnen kritisiertes neues Wahlgesetz. Dieses sieht unter anderem vor, dass eine Partei, um bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, in zuvor durchgeführten Vorwahlen mindestens 1,5 Prozent der Stimmen erreichen muss. Das zwang die Trotzkist_innen praktisch zur Einheit.
Knapp 70 Prozent der rund 28 Millionen stimmberechtigten Argentinier_innen haben sich für linke oder linksliberale Parteien entschieden. Daraus jedoch auf einen generellen Linksruck breiter Teile der Bevölkerung zu schließen, sozusagen als Langzeitfolge des argentinischen Aufstandes, der sich im Dezember zum zehnten mal jährt, wäre gleichwohl übertrieben. Ausschlaggebend für die Wiederwahl von CFK waren neben dem Popularitätsschub der Präsidentin nach dem Tod ihres Ehemanns vor allem ökonomische Motive. Der 2003 mit dem Amtsantritt Néstor Kirchners eingesetzte Wachstumsboom hielt auch während der vergangenen vier Jahre an. Anders als in den 1990er Jahren hatte das Wachstum auch spürbare Effekte auf den Lebensstandard größerer Teile der Bevölkerung.
Das bestätigten auch Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Poliarquía. Etwa 48 Prozent der Argentinier_innen glaubte vor den Wahlen, dass es dem Land besser gehe als vor vier Jahren. 52 Prozent meinten, dass die Regierung eine gute Arbeit gemacht habe und schätzten den starken Rückgang der Arbeitslosigkeit und das Wirtschaftswachstum von knapp acht Prozent im Wahljahr. Die Hauptthemen der rechten Opposition traten dagegen in den Hintergrund. Die massive Inflation, die nach offiziellen Angaben bei etwa zehn Prozent liegt, laut privater Institute bei bis zu 25 Prozent, wurde von „nur“ 33 Prozent der Wähler_innen als Problem angesehen. Auch die Kriminalität spielte nur für 22 Prozent eine wahlentscheidende Rolle.
Die wichtigste Basis der Regierung sind die Armen, die spürbar vom starken Ausbau der Sozialpolitik der vergangenen Jahre profitierten. Neben der Anhebung des Mindestlohns auf 2300 Peso, knapp 540 Euro, ist vor allem das im Dezember 2009 eingeführte universelle Kindergeld zu nennen. Insgesamt 3,7 Millionen Kinder armer Familien erhalten inzwischen eine staatliche Unterstützung von 270 Peso pro Monat (etwa 45 Euro). Einzige Bedingungen sind die regelmäßige Teilnahme am Schulunterricht und Impfungen. Die Zahl der Kinder an Sekundarschulen nahm in den letzten drei Jahren um 20 Prozent zu. Die Sozialleistungen bedeuteten für die meisten ihrer Bezieher_innen zwar keine Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt, indem die Regierung viele ihrer Sozialleistungen in Gesetze goss, koppelte sie diese jedoch zumindest teilweise vom für argentinische Politik typischen Klientelismus ab.
Königsmacher war allerings die Mittelklasse. Nach Jahren der Auszehrung hat sie am kräftigsten vom Boom mit neuen Jobs und steigenden Löhnen profitiert. Und sie kann wieder konsumieren. Argentiniens Einzelhandel profitiert davon ungemein, in diesem Jahr wurden täglich 5.000 neue Autos verkauft. In vielen kleineren Städten, besonders in Sojagebieten, werden so viele Häuser gebaut, dass die Gemeinden mit dem Straßenbau nicht mehr hinterherkommen.
In den nächsten vier Jahren wird die Regierung eine mehr als komfortable Position im Kongress haben. Neben der Besetzung des Präsidentenamts wurde am 23. Oktober auch über 24 der 72 Senatsmitglieder und 130 der 257 Parlamentsabgeordneten abgestimmt. Gemeinsam mit ihren Verbündeten würde die Regierungspartei FPV ab Ende des Jahres mit 135 Abgeordneten wieder die Mehrheit im Parlament stellen. Diese hatte sie nach der Schlappe bei den Regionalwahlen 2009 verloren. Im Senat steigerte sich die Regierung mit ihren Verbündeten von 37 auf 38 Sitze.
Von einem »Durchregieren« oder gar einem „Superautoritarismus“, wie ihn die Opposition vor den Abstimmungen heraufbeschwörte, kann jedoch nicht die Rede sein. »Man muss zwischen der Politik der Regierung und den Kräften unterscheiden, die sie unterstützen«, meint Sebastián Etchemendy in der spanischen Tageszeitung El País. Der Politikwissenschaftler der Universidad Torcuato Di Tella in Buenos Aires verweist darauf, dass das Regierungsbündnis weitaus heterogener ist, als es den Anschein hat. Maßnahmen wie die Verstaatlichung der Rentensysteme, die massiven Lohnsteigerungen, das neue Mediengesetz oder das im Juli 2010 aufgehobene Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen würden bei weitem nicht von allen Koalitionspartnern unterstützt.
So etwas wie einen Koalitionsvertrag gibt es nicht. In der Pipeline stehen unter anderem ein Gesetz zur Beschränkung des privaten Bodenbesitzes und mehrere Reformen der Subventionen für Unternehmen. Ob es allerdings zu einer neuen Anlauf kommen wird, den Einfluss und die Renditen des Sojasektors zu beschränken, kann gerade niemand sagen. Beim letzten Versuch 2008 ging die Regierung mit Pauken und Trompeten unter.

„Der Rückzug wird lehrreich sein“

Die bisherigen Bildungsproteste in Chile werden vielfach als Einschnitt betrachtet. Was ist dieses Mal anders als bei vorherigen Protesten?

Ab einem gewissen Moment haben die Proteste übertroffen, was bisher in Chile erreicht wurde. Deswegen denke ich, dass es ein vor und ein nach den Protesten geben wird. Am Anfang dachten viele, es wäre einfach eine Fortführung der bisherigen Bildungsproteste, die mit den Protesten 2006 (siehe LN 385/186) ihren Höhepunkt erreicht hatten. Deswegen richteten sich die Forderungen am Anfang nach den realen Möglichkeiten. Kostenlose Bildung wurde im April noch nicht gefordert. Aber als die Bewegung mit der größten Demonstration seit dem Ende der Diktatur Mitte Juni mit 200.000 Menschen in Santiago und später mit 400.000 in ganz Chile immer größer wurde, wurden auch die Forderungen entsprechend der Möglichkeiten ausgeweitet. Die Forderung nach einem Modellwechsel wurde artikuliert und das ist ein Meilenstein in der Geschichte der sozialen Bewegungen seit der Rückkehr zur Demokratie. Bisher waren diese immer auf einzelne Bereiche oder Verbände beschränkt, wie auch 2006, als die Proteste nur von der Forderung nach einem kostenlosen Schülerticket für den Nahverkehr ausgingen.

Wie verhält sich die Regierung zu den Protesten?

Es ist paradox, wie sich die Regierung verhalten hat und was sie mit diesem Verhalten erreicht hat. Sehr viel nämlich und das, obwohl ihr Verhalten komplett improvisiert war und sie eine politische Unerfahrenheit offenbart hat. Am Anfang versuchte sie, den Protestierenden keine Beachtung zu schenken und sie zu verharmlosen, da sie nichts Konkretes fordern würden und nur einen Teil der Studierenden repräsentiere. Zwischenzeitlich behauptete sie dann, dass die Bewegung von linken Kräften der kommunistischen Partei kooptiert sei. Die Rechte in Chile denkt eben immer noch in Kategorien aus dem Kalten Krieg. Danach wurde gesagt, die Proteste würden die öffentliche Ordnung stören. Damit rechtfertigte die Regierung heftige Repressionen. Gleichzeitig fing Piñera an, doppelte Standards zu verwenden und nach außen hin besorgt zu wirken. So bezeichnete er die Forderung nach kostenloser Bildung als gerecht und nobel. Im Folgenden wurden die ersten großen Vorschläge verabschiedet, die Piñera im Fernsehen ankündigte und denen er sensationalistische Namen gab, die aber im Vergleich zu den Forderungen nichts anderes als Brotkrumen waren. Die Regierung glaubte, wir würden nochmal so dämlich sein wie 2006, als wir mit der Mobilisierung aufhörten, nachdem Vorschläge kamen.
Die runden Tische wurden demnach abgebrochen. Laut der Rechten wegen der Unnachgiebigkeit der Studenten, aber eigentlich waren sie diejenigen, die nicht bereit waren in irgendeiner Form von ihrem neoliberalen Bildungsmodell abzurücken.

Warum ist die Regierung auch nach sechs Monaten des Protests nicht bereit, von diesem Modell abzurücken?

Die Regierung repräsentiert einen Teil der Kapitalisten aus dem Bildungs- und Finanzsektor, welcher über die Studienkredite auch seinen Teil aus der Bildung zieht. Sie ist viel eher bereit, ihre Popularität oder eine zukünftige Wahl zu verlieren, als ihre ökonomische Macht im Bildungs- und Finanzsektor. Deswegen haben sie sich den Forderungen der Studierenden gegenüber taub gestellt, obwohl das unglaublich unpopulär ist. Deswegen haben sie im August, als die Umfragen gezeigt haben, dass sie vollständig ohne Unterstützung sind, ihre Strategie geändert. Sie haben aufgehört, sich von der schönen Seite zu zeigen, um wieder Unterstützung zu gewinnen und verteidigen jetzt eindeutig den Sektor, der ihnen Gewinne bringt. Auf der anderen Seite haben diejenigen, die diese Bewegung ausmachen, die Studenten und Bürger, die an den Umfragen teilnehmen und auf die eine oder andere Demonstration gehen, keine andere Möglichkeit die Regierung unter Druck zu setzten. Ihnen die Stimme zu verweigern ist aber anscheinend nicht genug.

Die Unterstützung zeigt sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in öffentlichen Bekanntmachungen von Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen, allerdings nicht auf den Demonstrationen. Warum?

Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wurde während der Militärdiktatur komplett zerschlagen und auch seit der Rückkehr zur Demokratie gab es keinerlei große Demonstration der Arbeiter. Sie wurden von der Concertación (Mitte-links-Bündnis, das von 1990 bis 2010 regierte, Anm. d. Red.) vereinnahmt und seitdem von ihr gezügelt. Des Resultat ist heute sichtbar: Es gibt keine organisatorische oder politisch Verbindung zwischen den Studierenden und den Arbeitern. Die Gewerkschaft CUT kann in Stellungnahmen ihre Unterstützung ausdrücken, aber um die Arbeiter zu mobilisieren, müsste es eine wirkliche Basisarbeit geben, um eine Verbindung mit uns herzustellen, die bisher nicht existiert. Ihr Aufruf war also abstrakt und die Studierendenvereinigung Confech konzentriert sich mehr darauf, die Bürger auf unsere Seite ziehen, nicht so sehr auf die Arbeiter. Es gibt keine gemeinsame Petition mit den Gewerkschaften und keine Versuche eine Verbindung zur Basis herzustellen, was jetzt dazu führt, dass die Bewegung ins Stocken gerät.

In letzter Zeit haben sich auch einige Oppositionspolitiker_innen mit der Bewegung solidarisiert. Wie ist die Einstellung dazu innerhalb der Bewegung?

Die Bekundungen der Politiker sind absolut opportunistisch. In Wirklichkeit war es doch die Concertación, die das von der Diktatur geschaffene Modell verstärkte. Auch sie haben ein Interesse daran, dass das so bleibt. Jetzt haben sie eine Möglichkeit gesehen, um sich zu positionieren. Allerdings haben sie so wenig Unterstützung, sogar noch weniger als die Regierung, dass sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Im Kongress gibt es einige Eingaben an die Regierung, aber die Opposition unterstützt nicht einmal die Petition der Studierenden, sondern verharrt in einem „ja, aber“ und im Endeffekt stellen sie keine wirkliche Unterstützung dar.
Und beispielsweise Jorge Schaulsohn, ein ehemaliger Politiker der Concertación, sagte in einem Interview, den Unternehmern werde klar, dass die Concertación die einzige politische Kraft ist, die einen Kapitalismus samt sozialem Frieden garantieren könne. Im Klartext heißt das, dass die Rechte die sozialen Bewegungen nicht im Zaum halten könne. Von keinem Standpunkt aus sind die Oppositionellen also irgendein Verbündeter.

Es gab Vorwürfe, dass die kommunistische Partei zu viel Einfluss auf die Bewegung habe. Gibt es deswegen Konflikte innerhalb der Bewegung?

Die Studierendenbewegung hat eine sehr heterogene Basis mit verschiedenen politischen Meinungen. Es ist richtig dass die kommunistische Partei, die kommunistische Jugend, die autonome Linke und andere Gruppen die Führungspositionen der traditionellen Studierendenorganisationen übernommen haben. Konflikte entstehen aber nicht, weil einige sich abspalten wollen, sondern weil sie bereits in der Basis vorhanden waren. Das ist normal und gesund. Es gibt viele historische Beispiele in denen soziale Bewegungen erst durch das Überwinden ihrer Führung weiterkamen. Diese mediale Kampagne, die sagt, die sogenannten „Ultras“ seien es, welche die Bewegung spalten, ist falsch. Das einzige was darunter leidet ist vielleicht das Bild in der Öffentlichkeit. Allerdings hat sich gezeigt, dass uns 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen, weswegen einer kleiner Popularitätsverlust nicht schwerwiegend ist.

Der Protest der Studierenden dauert nun schon fast sechs Monate an und es gibt kein nennenswertes Entgegenkommen der Regierung. Lässt sich inzwischen eine Ermüdung der Bewegung feststellen?

Natürlich! Sechs Monate Protest sorgen für Ermüdung. Auf der einen Seite generiert er eine Skepsis in den Sektoren, die uns von Beginn an eher passiv unterstützt haben. Sie sind zwar mit unseren Forderungen einverstanden, wollen aber zurück zur Normalität. Auf der anderen Seite gibt es auch eine innere Ermüdung. Die ganze Zeit gab es politische Diskussionen, viel Arbeit, viel Spannung, Spaltungen und die Kreation von neuen Organisationen. Aber diese ganze Arbeit hat nicht angefangen, konkrete Ergebnisse zu liefern und ermüdet so die Motivation und die Verbindungen innerhalb der Organisationen. Wir haben eine gute Bewegung, aber die Menschen werden müde und es gibt sehr große Veränderungen.

Welche Pläne gibt es vor diesem Hintergrund für die nächste Zeit?

Zurzeit ist die Bewegung generell etwas zerstreut. Im Moment wird der Haushalt mit den Parlamentariern im Kongress diskutiert. Die Confech ist da ziemlich involviert, aber ich glaube, dass das wegen der Zusammenarbeit mit der Concertación zur Schwächung der Bewegung führen kann.
Es werden internationale Organisationen zur Durchsetzung der Menschenrechte gesucht, jedoch hat die Regierung bereits ihre Indifferenz demgegenüber ausgedrückt. Sie werden deswegen nicht einlenken. Vor allem sind wir gerade auf die Frage konzentriert, wie wir mit dem zweiten Semester umgehen. Zum Beispiel gab es in der Universidad de Chile ein Referendum darüber, ob das zweite Semester beginnen oder die Proteste ein Ende haben sollen und welche politischen Konsequenzen dies haben kann. Wenn wir alle in die Universitäten zurückkehren, wird sich die Bewegung schnell auflösen. Wenn wir aber nicht zurückkehren, geht die Ermüdung weiter, ohne dass wir etwas erreicht haben. In diesem Dilemma gibt es an jeder Ecke Gefahren. Die studentische Bewegung ist wohl leider in einer Phase des Rückzugs, aber dies kann auch lehrreich sein.

Inwiefern?

Die Bewegung hat noch nie die Erfahrung eines Rückzugs aufgrund der Unnachgiebigkeit der Regierung gemacht. 2006 war es ein taktischer Fehler zu denken, dass die Dialogrunde das Problem lösen würde. Jetzt wird uns die Unmöglichkeit eines strukturellen Wandels deutlich und dass die Bewegung ermattet. Deswegen wird der Rückzug lehrreich sein. Daraus können zwei Typen von politischen Personen entstehen: solche, die sich jetzt politisiert haben und mit Frustration gefüllt sind und Passivere, die zur politischen Indifferenz übergehen werden. Aber ich glaube, es wird mehr frustrierte und politisch aktivierte Personen geben, die aufgrund dieser Erfahrung geeint sind.

Infokasten:
Lucas Miranda Baños studiert Philosophie an der Universidad de Chile. 2010 war er für die studentische Koordination in der philosophischen Fakultät verantwortlich und hat auch schon als Sekundarschüler 2006 am sogenannten Pinguinaufstand teilgenommen. Er war in Berlin und Europa, um Kontakt mit Chilen_innen aufzunehmen und Verbindungen zu solidarischen Gruppen herzustellen.

50 Jahre und kein Ende in Sicht

Was haben Thomas Drach, der Entführer von Jan Philipp Reemtsma, und Hartmut Hopp, die einstige rechte Hand Paul Schäfers, gemeinsam? Einen Rechtsanwalt namens Helfried Roubicek aus Börgerende-Rethwisch an der Ostsee. Der Fall Colonia Dignidad war schon immer für Skurilitäten gut.
Hartmut Hopp braucht gerade einen guten Anwalt. In Chile ist der ehemalige Krankenhaus-Direktor und „Außenminister“ der Colonia Dignidad bereits mehrfach verurteilt. Die meisten gegen ihn gerichteten Verfahren sind jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen – auch weil ganze Anwaltsteams den ehemaligen jerarcas (Führungspersonen) der Colonia Dignidad zur Seite stehen und alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen. Keine_r der Täter_innen der Colonia Dignidad musste bisher eine Haftstrafe antreten – nur der im vergangenen Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago verstorbene Sektenführer Paul Schäfer. Doch das könnte sich schon bald ändern: Für die kommenden Wochen wird der endgültige Urteilsspruch des chilenischen Obersten Gerichtshofs im Verfahren um den systematischen Kindesmissbrauch in der Colonia erwartet. Die Eltern von 26 chilenischen Kindern hatten 1996 gegen Paul Schäfer und seine Helfershelfer Strafanzeige wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch erstattet. 26 Personen waren deswegen seit 2004 erstinstanzlich verurteilt worden. 2006 wurde Paul Schäfer – nach seiner Festnahme und Ausweisung aus Argentinien – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im vergangen Januar bestätigte das Berufungsgericht Talca die Urteile, nach denen ein Großteil der noch lebenden Führungsriege der Colonia Dignidad zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt wurde. Fünf Jahre betrug das Strafmaß für Hartmut Hopp – ohne Bewährung.
Fünf Jahre Gefängnis vor Augen, entschied sich Hartmut Hopp im vergangenen Mai zur Flucht nach Deutschland. Schließlich liefert Deutschland seine eigenen Staatsbürger_innen nicht aus, und die Chancen, dass ihm die deutschen Staatsanwaltschaften nicht zu nahe treten, standen – ein Blick in die Vergangenheit genügte – recht gut: 22 Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Bonn gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ermittelt, im September 2010 wurden die Ermittlungen eingestellt, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. Nach dem Tod von Paul Schäfer könne man das Ermittlungsbuch zuklappen, so dachte man wohl bei der Staatsanwaltschaft.
Hopp flüchtete trotz eines chilenischen Ausreiseverbots über Argentinien und Paraguay nach Deutschland und ließ sich mit seiner Frau Dorothea – die bereits vorgereist war – in Willich bei Krefeld nieder. Dort beantragten beide Sozialhilfe. Der chilenische Ermittlungsrichter hingegen beantragte einen internationalen Haftbefehl und richtete ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Justiz, doch Hopp blieb erst einmal auf freiem Fuß.
Bereits eine Woche nach Hopps Ankunft in Deutschland meldete die chilenische Presse seinen Aufenthaltsort: Bärbel Schreiber, die mit Hopps Adoptivsohn Michael verheiratete Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Sekte, Albert Schreiber, hatte geplaudert, Hopp sei in Krefeld. Krefeld ist eine wichtige Anlaufstelle für nach Deutschland zurückkehrende Dignidad-Mitglieder: Hier hat die „Freie Volksmission“ des freikirchlichen Predigers Ewald Frank ihren Sitz. Frank, der Paul Schäfer bereits seit den 1950er Jahren kennen soll, war 2004 erstmals in die Villa Baviera (ex-Colonia Dignidad) gereist und hatte dort Massentaufen durchgeführt. Auch Hartmut Hopp wurde von Ewald Frank getauft. Die chilenische Regierung befürchtete daraufhin, dass Frank das Erbe von Schäfer als „neuem Messias“ der Colonia Dignidad antreten wolle und verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Einreisesperre.
Seither waren mehrere Mitarbeiter Franks nach Chile in die Villa Baviera gereist – und Deutschland-Rückkehrer der Kolonie kommen zahlreich zu seinen monatlichen Massengottesdiensten nach Krefeld. Albert Schreiber, zum Beispiel, besuchte nach seiner Flucht vor der chilenischen Justiz nach Deutschland die Gottesdienste in der Freien Volksmission – und Hartmut Hopp nutzte zumindest das sekteneigene Faxgerät: „Zunächst möchte ich emphatisch erklären, dass ich weder zu Kindesmissbrauch noch Menschenrechtsverletzungen, noch irgendwelchen anderen strafrechtlichen Verstößen gleich welcher Art zu irgendeinem Augenblick Beihilfe oder andere Beteiligung gehabt habe. Alle Behauptungen, die das Gegenteil zu manifestieren versuchen, sind Verleumdungen“, faxte Hartmut Hopp Ende August aus der Freien Volksmission als Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung.
Die Opfer der Colonia Dignidad sehen das anders. Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichten daraufhin im August und Oktober drei Strafanzeigen gegen Hartmut Hopp ein. Tatvorwürfe sind dabei mehrfacher Mord an chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwere Körperverletzung durch systematische Verabreichung von Psychopharmaka an Siedlungsbewohner_innen. Die Staatsanwaltschaft Krefeld leitete infolgedessen ein neues Ermittlungsverfahren gegen Hopp ein. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Schreiber gab die Übersetzung des 500-seitigen chilenischen Missbrauchsurteils gegen Hopp in Auftrag. Im November dann, so Schreiber, könne gesagt werden, wie es mit den Ermittlungen weitergehe.
Mehrere hundert Menschen, vor allem aus Krefeld und Umgebung sind inzwischen Teil einer Facebook-Gruppe mit dem Titel: „Herr Hopp, Sie sind in Krefeld unerwünscht!“. Als im August bekannt wurde, dass Hartmut und Dorothea Hopp aus Willich in den Stadtteil Krefeld-Linn ziehen wollten, organisierten einige Dutzend Krefelder_innen eine Unterschriftensammlung vor der neuen Wohnung der Hopps. Der Vermieter kündigte daraufhin den Hopps.
Indessen wird in Chile des 50-jährigen Bestehens der Siedlung gedacht. In der Festschrift „50 Jahre Villa Baviera“ wird die landschaftliche Schönheit des Koloniegeländes betont und die harte Aufbauarbeit gewürdigt, die notwendig war, um das Land urbar zu machen. Und auch das Auswärtige Amt ist aktiv geworden. Seit 2008 führt das AA mit Haushaltsmitteln von ca. 250.000 Euro pro Jahr „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Dazu gehören die psychotherapeutische und seelsorgerische Betreuung, Bildungsprojekte sowie – mit über der Hälfte der Gelder – Betriebsberatung durch die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ und den Senior Experten Service. Eine Thematisierung der dunklen Vergangenheit der Colonia Dignidad unterbleibt hingegen vollständig. Während viele andere Orte des Foltern und Mordens des Pinochet-Geheimdienstes DINA inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt wurden oder wenigstens eine Gedenktafel an die dort begangenen Verbrechen erinnern, ist das in der ehemaligen Colonia Dignidad bislang gänzlich unterblieben.
Regelmäßig heißt es, die Firmen der Villa Baviera stünden kurz vor der Pleite, doch irgendwie geht es immer weiter. In die genauen Vermögensverhältnisse der ehemaligen Colonia Dignidad hat niemand so richtig Einblick: „Nähere Erkenntnisse hierzu liegen der Bundesregierung nicht vor“, so die Antwort auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Jan Korte (Linkspartei). Die Vermögenswerte der Colonia Dignidad wurden durch jahrzehntelange unentlohnte Arbeit der Siedlungsbewohner_innen, aber auch durch Waffenhandel, Steuer- und Zollbetrug und andere kriminelle Tätigkeiten angehäuft. Um eine Auflösung der Colonia Dignidad durch die chilenische Regierung nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zu umgehen, wurden alle Vermögenswerte auf ein Geflecht von Aktiengesellschaften übertragen und zu ungleichen Anteilen unter den Kolonie-Bewohner_innen verteilt. Unbekannte Summen wurden zudem ins Ausland verbracht. Hartmut Hopp sagte im September 2005 vor dem chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda aus, er wisse von Konten und Vermögenswerten in den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay und auf Karibikinseln. Geld sei auch über die Zweigstelle der Chemical Bank in New York geflossen. Ob die Justiz diese Geld- und Vermögenswerte untersucht hat, ist nicht bekannt.
Seit zwei Jahren hat die Villa Baviera einen externen Berater engagiert, um die Kolonieunternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Er heißt Falk W. Spahn und arbeitet unentgeltlich. 25 Jahre lang war er in Bogotá Vorstand der Sarah Consult, einer Firma, die deutsche Unternehmen bei ihrer Niederlassung in Kolumbien berät. Davor war er bei der Unternehmensberatung Kienbaum tätig. Auch Helfried Roubicek, der neue Anwalt von Hartmut Hopp, arbeitete bei Kienbaum und war davor Geschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie und Handelskammer. Vielleicht kennt man sich ja noch aus alten Zeiten.

Infokasten: Systematische Fluchtbewegung

Hartmut Hopp ist nicht das erste Mitglied der Colonia Dignidad, das sich durch Flucht nach Deutschland dem Zugriff der chilenischen Justiz entzieht. Etwa zehn weitere Colonia Dignidad Mitglieder werden teilweise mit Interpol-Haftbefehlen von chilenischen Justizbehörden gesucht. Weltweit könnten sie festgenommen und nach Chile ausgeliefert werden. Nur in Deutschland nicht, denn das Grundgesetz verbietet eine Auslieferung an Drittstaaten. Jedoch besteht bei von deutschen Staatsbürger_innen begangenen schweren Straftaten wie Mord oder sexuellem Missbrauch eine Ermittlungspflicht für hiesige Strafverfolgungsbehörden. Ermittlungsverfahren deutscher Staatsanwaltschaften gegen von der chilenischen Justiz flüchtige Colonia Dignidad-Mitglieder wurden bislang regelmäßig eingestellt. Vor Hartmut Hopp war Albert Schreiber der bekannteste nach Deutschland geflüchtete Colonia Dignidad-Funktionär (er ist inzwischen verstorben). Auch seine Frau Lilli und sein Sohn Ernst, die sich in Chile den gegen sie erhobenen Ermittlungen wegen Kindesentführung durch Flucht entzogen hatten, wohnen unbehelligt in Deutschland.
Ähnliches gilt auch für das ehemalige Führungsmitglied Hans-Jürgen Riesland und auch für den ehemaligen Chauffeur Paul Schäfers, Reinhard Döring. Riesland wird von der chilenischen Justiz Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Döring hingegen soll nach vertraulichen Zeugenaussagen vor Gericht auch an Gefangenentransporten zu Exekutionsstätten beteiligt gewesen sein.

Infokasten: Wikileaks-Enthüllungen zum Fall Colonia Dignidad

Auch in Chile gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad schwierig. Bereits 1991 hatte der Bericht der chilenischen Wahrheitskomission („Informe Rettig“) angedeutet, dass viele politische Gefangene während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad verhört, gefoltert und ermordet wurden. Dutzende Gerichtsaussagen von ehemaligen DINA-Agenten und Mitgliedern der Colonia Dignidad haben dies in den letzten 20 Jahren bestätigt. Trotzdem tut sich die chilenische Justiz schwer damit, die Täter_innen zu benennen und zu verurteilen.
Kürzlich von Wikileaks enthüllte State Department-Berichte deuten an, dass Sonderrichter Zepeda mit Informant_innen in der Colonia Dignidad zusammenarbeitet. Diese fungieren möglicherweise als Kronzeug_innen und verraten Taten – aber keine Täter_innen – und könnten dafür selbst straffrei ausgehen. Botschafter Kelly schickte am 20. Dezember 2005 zwei Berichte an das State Department, die ein ausführliches Treffen des US-Konsuls Sean Murphy mit Sonderrichter Jorge Zepeda am Vortag wiedergeben. Zepeda berichtete dem Konsul, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass direkt nach dem Putsch 1973 sowie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene von der DINA und den Wachmannschaften der Kolonie zu Verhören und Folterungen in die Colonia Dignidad gebracht wurden und teilweise auch dort ermordet worden seien. Er habe solide Beweise über fünf politische Gefangene, die in der Colonia gefoltert, ermordet und vergraben worden seien, und plane, die Ermittlungen dazu im Januar 2006 abzuschließen.
Zepeda betonte die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden der Diktatur und der Kolonie und zeigte dem Konsul ein Foto, das Paul Schäfer gemeinsam mit dem Chef der Geheimpolizei DINA, Manuel Contreras, auf einem nächtlichen Jagdausflug auf dem Sektengelände zeigt. Verbindungen wie diese seien der Grund dafür, dass die Colonia Dignidad bis weit in die demokratischen Transitionsjahre hinein weiterbestand. Der Richter erzählte dem Konsul ferner, dass er in der Kolonie mit einer Reihe von Informant_innen zusammenarbeite, die ihm präzise Informationen zukommen lassen. Trotz der Ankündigung Zepedas, die Fälle im Januar 2006 abzuschließen, sind diese weiterhin offen, der Ermittlungsstand ist weitgehend unbekannt.

Ein Kämpfer für die Menschenrechte

Frenz kam 1965 als evangelischer Pfarrer nach Chile. Er erlebte die Polarisierungen der drei Jahre Allende-Regierung und den Putsch von 1973, den er zunächst begrüßte. Dann saßen sie vor ihm, die Folteropfer der chilenischen Militärdiktatur, die Regimegegner, die er versteckte, die Angehörigen der „verschwundenen“ politischen Gefangenen. Sie berichteten von nächtlichen Greiftrupps und geheimen Gefängnissen. Er verhalf ihnen unter waghalsigen Bedingungen zur Flucht, riskierte dabei sein eigenes Leben.
Lateinamerikanische Flüchtlinge, die in Chile unter dem Sozialisten Allende Zuflucht gefunden hatten, kamen hilfesuchend in seine Kirche. Er tarnte sie als Teilnehmer_innen eines Bibelseminars, bis die Sache aufflog, das Gebäude umstellt wurde und alle „Seminaristen“ verhaftet wurden. Sie wurden in einen Militärbus gezwungen. Frenz mischte sich unter sie. Durch rasche und gezielte Intervention von Freunden kamen fast alle frei. Der am stärksten Gefährdete war, als die Militärs kamen, in einem Einbauschrank des „Bibelseminars“ versteckt worden. Frenz erzählte den Soldaten, die das Gebäude systematisch durchsuchten, dafür gebe es keinen Schlüssel, es sei irgendwelches Zeug darin, und der Trupp gab sich damit zufrieden. Als die Militärs weg waren, brach der Mann den Schrank auf und konnte sich retten. Diese Beispiele nennt Frenz in seiner Autobiographie …und ich weiche nicht zurück: Chile zwischen Allende und Pinochet (siehe LN 439). Er hat einige solcher waghalsiger Rettungen vollbracht. In dem von ihm mitgegründeten „Friedenskomitee“ erledigte er die mühsame tagtägliche Organisationsarbeit, verhandelte mit Generälen und auch mit Pinochet selbst. Frenz besorgte Geld für den Widerstand und wurde Teil der damals entstehenden chilenischen Menschenrechtsbewegung, die die Diktatur herausforderte, als der übrige Widerstand schon gebrochen war.
„Man muss wohl schon bereit sein, seinen eigenen Standort zu verlassen, um den Platz des Leidenden einzunehmen“, sagt er seiner konservativen Kirche. Sein Engagement spaltete diese Kirche. Seine Gegner warfen ihm vor, an dieser Spaltung schuld und ein „falscher Bischof“ zu sein.
1975 verweigerten ihm die chilenischen Behörden nach einem Auslandsaufenthalt die Wiedereinreise nach Chile. Daraufhin gründete er in Deutschland die Organisation „Aktion zur Befreiung der politischen Gefangenen in Chile“. 1976 wurde er Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Jetzt betrieb er professionell, aber nicht konventionell, was er in Chile gelernt hatte. Er wurde Emissär der realen Welt, in der Folter und Mord herrschen, gegenüber den Behörden. Er drang wegen Verhafteter in Argentinien mit seinem Mitarbeiter Tino Thun in das Auswärtige Amt (AA) ein, diese Burg der Amtskolleg_innen und Aktenhüter_innen. Die Niederschrift des AA vom ersten Gespräch mit ihm spricht vom „sogenannten” Bischof Frenz, der „aggressiv” gewesen sei. Das AA musste erst noch lernen, dass dort nicht nur die Wirtschaftsverbände mit Forderungen vorsprachen. Wenn heute die Menschenrechte Parameter internationaler Politik sind, an dem sich alle Staaten messen lassen müssen, dann ist das auch Menschen wie Frenz und seinen Mitkämpfer_innen zu verdanken
Später wurde Frenz Flüchtlingsbeauftragter in Schleswig-Holstein. Er polemisierte gegen die routinemäßige und standardisierte Verwaltung von menschlichen Schicksalen. 2004 ging er erneut nach Chile. Er arbeitete in der „Stiftung Salvador Allende“, die die beschlagnahmten Schwarzgelder Pinochets an die Opfer der Diktatur auszahlte. Es war schwer, ihm etwas abzuschlagen. Deshalb wurde er vorgeschickt, wenn es etwas zu beantragen gab, und er ließ sich vorschicken. Die chilenischen Menschenrechtsgruppen drängten ihn nach Ende der Diktatur, ihr Sprecher zu werden. Das lehnte Frenz ab, denn dann hätte er sich mit dem Sektierertum der Linken abplagen müssen.
Sein Weg hatte ihn vom Dorfpfarrer einer Ostseeinsel auf eine Weltbühne der Konfrontationen mit Diktaturen, Verhandlungen mit hohen Politikern, der vollen Säle und Kirchen, Fernsehkameras und Mikrophonen geführt. Er schlug waghalsige Brücken, sprengte Festungen, die für uneinnehmbar galten. Er integrierte, wo andere resignierten, agitierte in Kirchen und predigte draußen. Die Gemeinde strenggläubiger Atheist_innen und gealterter Untergrundkämpfer_innen, die er zum Weinen brachte und die ihm bis zu seinem Tode treu blieb, dürfte einzigartig sein.
Eine Heimat hatte er nicht mehr. Von Chile, das ihn 2007 zu seinem Ehrenbürger gemacht hatte, war er enttäuscht, es gab zu viel Pinochetismus ohne Pinochet. Die Ehrenstaatsbürgerschaft bedeutete ihm eine verdiente Anerkennung, die Ehrendoktorwürde und den Professorentitel zweier chilenischer Universitäten nahm er eher ironisch. Aus dem „Bischof a.D.“ macht er nach und nach den bescheidenen „Pastor a.D.“ Die Identitätsgefühle, die ihm geblieben sein mochten, trieben ihm die Behörden aus. Als er chilenischer Ehrenbürger geworden war, entzog ihm die deutsche Botschaft in Santiago die deutsche Staatsbürgerschaft. Nun sandte er, der unter der Diktatur ausländische Pässe für Verfolgte organsiert hatte und auf nationale Identität pfiff, eine fast komische Mail an seine Freunde, in der er sein Deutschtum nachwies. Nach Hamburg, wo er sein Auge operieren lassen wollte, musste er als Tourist reisen. Schließlich bekam er seine deutsche Staatsangehörigkeit zurück. Wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit zog sich der Aufenthalt in Hamburg immer länger hin. Die geplante Rückkehr nach Chile wäre gesundheitlich riskant gewesen.
Frenz blieb, bis er dazu nicht mehr in der Lage war, Pfarrer und Seelsorger. Als er noch in Chile war, begleitete er einen Untergrundkämpfer aus der schlimmsten Zeit der Pinochet-Diktatur beim Sterben. Opfer fanden bei ihm immer Gehör. Seine Partei war, wie er einmal sagte, „die Partei der Menschenrechte“. Zu den politischen Parteien hielt er verständnisvolle Distanz. Diese Fixpunkte und diese Distanziertheit prägten sein Leben voller Grenzüberschreitungen und immer neuen Engagements. Sie erlaubten ihm eine undogmatische politische Spannbreite, mit der er seiner Zeit und seiner Umgebung weit voraus war.

(K)ein Zuhause in der Fremde

Um der Haft zu entgehen, war Schillers Flucht zugleich Rettung, aber auch Abschied für eine ungewisse Zeit, wenn nicht für immer. Der Beginn der Erzählung fängt auf eindringliche Weise diese Stimmung ein. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte sie bereits zwei Haftstrafen von insgesamt fast sieben Jahren hinter sich. Als 1985 eine dritte Inhaftierung droht, beschließt Schiller, die BRD und Europa über die DDR zu verlassen.
Sie erhält nach mehreren Wochen Warten politisches Asyl in Kuba und eine kleine finanzielle Unterstützung. Doch empfindet sie eine Fremdheit, zunächst noch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, später umso deutlicher aufgrund der eigenen vergangenen politischen Praxis und kulturellen Sozialisation. Das kubanische politische System ist vertikal durchstrukturiert, eine politische Betätigung außerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich. Arbeit erhält sie erst viel später.
Margrit Schiller beschreibt den Alltag und ihre Begegnungen mit verschiedenen Leuten und ihre Versuche, ein geregeltes Leben mit Arbeit und sozialem Umfeld zu schaffen. Anekdoten und aufmerksame Beobachtungen wechseln sich ab mit Exkursen über die politischen und historischen Ereignisse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dazwischen steht immer wieder die Reflexion über die eigene Biografie und gegenwärtige Selbstverortung, bei welcher der Freude über die Freiheit Selbstzweifel und Isolierung gegenüberstehen.
Schiller erfährt über die kubanischen Freund_innen und ihren späteren Ehemann Zusammenhalt und solidarische Unterstützung als wesentliches Merkmal der kubanischen Gesellschaft. Die Frauen sind hier das Fundament der sozialen und familiären Strukturen, doch gleichzeitig werden die Geschlechterrollen, die vorherrschenden Vorstellungen von Heterosexualität und der Machismo von kaum jemandem thematisiert und kritisiert. Mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen eckt die Autorin immer wieder an. Angesichts der Weisung der Behörden, über ihr politisches Asyl und ihre Vergangenheit als RAF-Mitglied zu schweigen, wiegen die wiederkehrenden Gefühle von Fremdheit und Einsamkeit umso schwerer. Das schließt auch jegliche offene politisch-intellektuelle Tätigkeit aus. Sie muss ihre Vergangenheit verschließen, das Gute und Schlechte ihrer eigenen Geschichte vergessen, um vorangehen zu können.
Das Schweigen wird zur Last und schließlich zur Sprachlosigkeit. Die Sehnsucht nach Verständnis, die alltäglichen Aufgaben sowie die Sorge um ihre inzwischen geborenen Zwillinge erdrücken Schiller. Die Zerrissenheit zwischen der Dankbarkeit über das gewährte politische Asyl und der Traumatisierung der Flucht, in der die Auswirkungen der Haftjahre noch nachklingen, steht zwischen den Zeilen. Die wirkliche Bedeutung und Dimension von Haft und Exil erhält unter den gelebten Umständen durch die Umwelt keinen Raum. Nur Exilierte können einander begreifen.
Und so erhält Schiller erst viele Jahre später die Bestätigung durch eine andere ehemalige Gefangene aus Uruguay: „Wenn wir, die im Exil waren, uns treffen, sind wir bis heute erstaunt darüber, wie verschieden wir die Fremde erlebt haben im Vergleich zu Reisenden, die aus anderen Gründen im Ausland waren und sich frei bewegen konnten. Diese Empfindlichkeit, die das Exil bewirkt, die Verletzlichkeit, dieses Gefühl, dass das Innere bloß liegt und man sich einigeln muss, um sich zu schützen, macht einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arten des Fremdseins aus. Ich kann es nicht besser erklären, aber man verliert die Basis der eigenen Stärke, wenn man gehen muss und nicht zurückkann.“
Als mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auch Kuba in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise gerät und das weitere Bestehen des politischen Systems gefährdet ist, beginnt eine harte Zeit für die kubanische Bevölkerung. Die tägliche Sorge um das Allernötigste kann nur mithilfe persönlicher Beziehungen und informeller Geschäfte etwas erleichtert werden. Für Margrit Schiller bedeutet es plötzlich auch einen ungesicherten politischen Status, weil ihre Papiere nicht verlängert werden. Aus Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschließt sie sich, nach Uruguay zu gehen und verlässt 1993 Kuba mit ihrer Familie.
Ein neues Exil unter anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. In Uruguay gibt es viele Menschen, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1985) Schillers Erfahrungen von Gefängnis und Exil teilen. Die deutsche Immigrantin sucht die Nähe und den Austausch vor allem mit den Frauen. Auch eine gesellschaftliche und politische Debatte scheint hier möglich. Doch Gefängnishaft, Folter und Exil werden lange tabuisiert. Die Zurückgebliebenen interessiert das Exil nicht, den Geflüchteten wird mit einem indirekten Vorwurf begegnet, sie hätten es im Ausland leichter gelebt und den Bezug zu den Hinterbliebenen verloren. Erst allmählich beginnt ein Austausch und eine Auseinandersetzung über das Trauma der Haft und des Exils. Auf der anderen Seite formiert sich eine öffentliche Bewegung der Angehörigen der Verschwundenen. Wieder sind es die Frauen, die den ersten Schritt tun.
Schillers Erinnerungen sind sehr persönlich. Dieser Intimität stehen die historischen und politischen Einschübe gegenüber. Auch die politischen Debatten auf Kuba oder die Repression gegen die Bevölkerung während der Militärdiktatur in Uruguay. Bisweilen hätten diese kurzen Exkurse länger und abgerundeter sein können. Zusammen jedoch ermöglichen sie ein komplexes Bild der sozialen und politischen Umstände, unter denen Schiller gelebt hat.
Am Ende steht das letzte und nicht minder schwierige Thema – die Rückkehr. Ist sie überhaupt möglich? Können alte Beziehungen wieder geknüpft werden und neue entstehen? Und vor allem: Enden nun endlich Fremdheit und Sprachlosigkeit?
Margrit Schiller ist vor acht Jahren den Weg in ein verändertes Deutschland zurückgegangen. Sie hat ihrer Vergangenheit nicht abgeschworen und hat fast zwei Jahrzehnte Exil mit sich gebracht. Das Schreiben hat ihr das Sprechen erhalten. Noch in Kuba begann sie mit den ersten Aufzeichnungen, die mehrere Jahre später in ihrem ersten Buch Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF von 1999 veröffentlicht wurden. Schillers neues Buch schließt an diese Erinnerungen an. Sie endet mit den Worten einer Freundin zu einer der wesentlichen Erfahrung ihrer Geschichte: „Exil hört nie auf.“

Margrit Schiller // So siehst du gar nicht aus! Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. Mit einem Vorwort von John Holloway // Assoziation A // Berlin Hamburg 2011 // 172 Seiten // 16 Euro

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