Auch mal zuhören

„Mit den Betroffenen reden sie nie!“ Antonia Melo, eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Widerstands gegen den Staudamm Belo Monte (siehe LN 467), deutet mit dem Kopf in Richtung der Delegation um den Präsidenten der staatlichen Energieforschungsagentur Brasiliens (EPE), Maurício Tolmasquim. Wie oft hätten sie um Termine „bei denen“ ersucht, sagt Antonia Melo, die seit Jahren die Bewegung Xingu Vivo para Sempre anführt. Nun auf einmal treffen sie doch aufeinander. In Brüssel, im Europaparlament.
Seit Monaten war die Regierung in Brasília über die Konferenz „Belo Monte Mega-Dam: The Amazon up for grabs?” informiert und ob einer Beteiligung angefragt worden. Doch es herrschte Sendepause seitens der diplomatischen Vertretung. Keine Antwort, keine weiteren Anzeichen dafür, dass Regierungs- oder Firmenvertreter_innen ihre Sicht der Dinge auf dem Podium darbieten wollten. So raunt es im Saal. Aber dann veröffentlichte eine brasilianische Journalistin einen Vorabbericht über die Konferenz. Der Text wurde auf fast allen Internetseiten von Menschenrechtsorganisationen in Brasilien veröffentlicht. Und Brasília wurde offenkundig ziemlich nervös. Anderthalb Tage vor der Konferenz teilte die brasilianische Botschaft mit, Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff persönlich habe eine mehrköpfige Delegation zusammengestellt, „handverlesen“. Und das Europaparlament sei ja eine demokratische Institution, das solch einer umfassenden Teilnahme sicher nicht im Wege stehen und die brasilianisch-europäischen Beziehungen nicht belasten wolle.
Die aus Brasília entsandten Vertreter_innen erhalten Redezeit: „Noch nie habe ich so viel Falschinformation erlebt, wie hier in den letzten Minuten“, erklärt Maurício Tolmasquim erhobenen Zeigefingers in die Mikrofone des Saales. „Ich bin schockiert!“ poltert er weiter. Da könnten noch so viele brasilianische Basis-Aktivist_innen eingeflogen werden, bezahlt über wen auch immer, es ändere nichts an den Fakten, so Tolmasquim. Der Staudamm Belo Monte sei nicht nur ein Leuchtturmprojekt erneuerbarer Energien, das der lokalen Bevölkerung zugutekomme und von den Betroffenen herbeigesehnt werde, sondern er stelle einen Gewinn für die Erde als Ganzes dar. Zudem sei es eben dem Staudammprojekt Belo Monte zu verdanken, dass „7.000 betroffene Familien in Altamira“, die umgesiedelt werden müssten, nun endlich „neue Häuser als Rohbauten mit Anschluss an die Trink- und Abwasserversorgung“ bekämen. Und Brasilien bezahle bei Belo Monte allein für den Bau des Kanals, der die Große Flussschleife Volta Grande abkürzt, 1,8 Milliarden Reais – umgerechnet 565 Millionen Euro –, „nur damit die 225 Indigenen an der Volta Grande nicht überflutet“ würden. „Ich wiederhole: Wir bauen einen Kanal für 1,8 Milliarden Reais, einen Kanal größer als den Panamakanal, nur damit 225 Indigene nicht betroffen, nicht überflutet werden.“
Im Saal raunt es. Denn Tolmasquim hat zwei der entscheidenden Stichwörter fallen lassen. „Betroffen“ und „nicht überflutet“. Denn dieses Detail hatte der Umweltingenieur und Wissenschaftler Francisco Del Moral Hernández in seinem Beitrag kurz zuvor verständlich erläutert: „Die brasilianische Gesetzgebung definiert, dass als betroffen nur der gilt, dessen Land überschwemmt wird“, so Hernández. So konnte bei den Indigenen der Arara und Paquiçamba bei der Volta Grande behauptet werden, sie seien nicht betroffen. Ihr Territorium wurde dann kurzerhand aus der Umweltfolgenstudie herausgestrichen: „Denn ihr Gebiet wird ja nicht überschwemmt, sondern bis zu 90 Prozent ausgetrocknet.“ Fehlt dann ihre Hauptnahrungsquelle, der Fisch, so ist das für die Logik der Umweltfolgenstudie irrelevant. Nicht überschwemmt, also auch nicht betroffen. Kollateralschäden also, die ein Tolmasquim gerne in Kauf nimmt.
Dann kommt die Abschlussrunde, in der Antonia Melo für ihre couragierte Rede Ovationen aus dem Saal erhält. Emotional, ja, wutgeladen, legt sie den Regierungsvertreter_innen die Sicht der Widerstandsbewegung dar. In Altamira seien 10.000 Familien wegen deren Zwangsumsiedlung Neubauten versprochen worden. Und Antonia Melo zeigt das Bild: Die Wände dieser Neubauten durchziehen dicke Risse, die bis ins Fundament reichen. „Die Häuser zerbröseln bereits vor dem Einzug!“, erklärt sie empört. Und denen, die sich weigern, die viel zu geringen Entschädigungszahlungen oder die baufälligen Häuser zu akzeptieren, denen bietet die zuständige Firma nur den Weg vor Gericht an. „Aber wer entscheidet da? Wer wird denn diese Leute vor Gericht verteidigen? Wer gewinnt diese Gerichtsprozesse wohl?“ Ihre Stimme bebt.
Die Gesetze und Rechte der Betroffenen würden systematisch verletzt, fährt sie fort. Was bedeute das für die Demokratie? „Es wurde hier gefragt: Wenn dort alles so demokratisch sei, warum müsse die Regierung dann die Nationalgarde entsenden? Ja, warum, Herr Tolmasquim?“, fragt sie in den Saal. Keine fünf Meter entfernt sitzt der Angesprochene, diesmal im Publikum – zum Zuhören verdammt, er hat seine Redezeit zuvor schon deutlich überschritten. Seine Laune, so ist ihm deutlich anzusehen, ist nicht die Beste.

Das Erbe von Chico Mendes

Es war am späten Abend. Er wollte sich waschen. Dort, zehn Meter hinter seinem Haus, wo er selbst eine behelfsmäßige Dusche gebaut hatte. Kaum hatte er die Hintertür geöffnet, als die Kugeln ihn in die Brust trafen. 25 Jahre sind seither vergangen. Am 22. Dezember 1988 wurde Chico Mendes vor seinem Haus in Xapuri im amazonischen Bundesstaat Acre kaltblütig ermordet. Der Täter war der Sohn eines Großgrundbesitzers, in dessen Auftrag er handelte.

Chico Mendes hatte schon viele Morddrohungen erhalten. Von den fazendeiros, Großgrundbesitzer_innen, Holzfirmen, Viehfarmer_innen, Militärs. Zuerst störte sie die Unruhe, die er in der Gegend stiftete, da er die seringueiros, die Kautschukzapfer_innen, gewerkschaftlich organisierte. Dann erzürnte sie, dass er und seine Kolleg_innen die Urbarmachung des Waldes verhinderten mit ihren mittlerweile so erfolgreichen empates – Menschenketten, die gewaltfrei das Vordringen der Bulldozer verhinderten. Die Holzfirmen schäumten vor Wut, als er sogar nach Washington reiste und die Interamerikanische Entwicklungsbank davon überzeugte, keine Kredite mehr für Rodungsprojekte in Amazonien zu bewilligen. Sie warfen ihm vor, den „Fortschritt des Landes“ zu behindern. Als er die vormals verfeindeten Gruppen der seringueiros und Indigenen miteinander versöhnte, weil sie erkannten, dass der Kampf um den Wald ihre gemeinsame Herausforderung ist, da schrillten bei den traditionell Mächtigen der Region alle Alarmglocken. Und es störte sie seine Forderung nach neu zu schaffenden Schutzgebieten, den reservas extrativistas. Deren nachhaltige Waldnutzung durch die traditionellen Gruppen sollte den Wald erhalten – und den seringueiros, Babaçanuss-Sammler_innen und den Indigenen ihr Auskommen sichern.

Chico Mendes verband Umweltschutz und die sozialen Bewegungen, ohne es geplant zu haben. Er soll gesagt haben, er hätte gar nicht gewusst, dass das Umweltschutz sei, was er tue. Ihm sei es um den Kampf der sozialen Bewegungen der Sammler_innen gegangen und wenn das dann „Umweltschutz“ sei, dann sei das auch in Ordnung.

25 Jahre sind seit der Ermordung von Chico Mendes vergangen. Doch sein Name ist in Brasilien und in der Welt noch immer bekannt. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde in Brasília das Gesetz über die von ihm geforderten Sammelschutzgebiete verabschiedet. Gegenwärtig gibt es allein in Amazonien 59 dieser Territorien mit einer Fläche von 19,1 Millionen Hektar. Das Instituto Chico Mendes zur Betreuung dieser Gebiete trägt seit 2007 seinen Namen. Die Entwaldungsraten Amazoniens von heute lassen sich nicht mit denen der 80er und 90er Jahre vergleichen. Ist Chico Mendes´ Erbe also eine Erfolgsgeschichte?

Nur zum Teil. Die seringueiros von heute werden weniger, da es noch immer deutlich lukrativer ist, den Wald illegal zu roden oder Viehzucht zu betreiben. Zudem rollt die Walze des Agrobusiness in Amazonien weiter voran. Ob Soja- oder Rinderfarmen, ob Bergbau oder Staudamm: Es geht noch immer um die Inwertsetzung von Land – und nicht in erster Linie um die nachhaltige Nutzung des Landes, wie es die seringueiros oder Indigenen betreiben. Und neben der erschreckenden Agenda des brasilianischen Kongresses bezüglich der Rücknahme demarkierter indigener Territorien oder der Ausdehnung des Bergbaus auch auf Schutzgebiete stehen nun auch die Sammelgebiete selbst unter Druck, diesmal im Namen „grünen Wirtschaftens“. Angetrieben von internationalen Geldgeber_innen legen sich derzeit die Landesregierungen vor allem von Acre, Amazonas und Pará mächtig ins Zeug, den Wald in Wert zu setzen. Diese wollen den seringueiros ein paar hundert Reais im Monat als „grünes Stipendium“ dafür zahlen, dass sie ihre so lang gepriesene Mischnutzung – Kleinackerbau und Viehwirtschaft in Subsistenz bei nachhaltiger Nutzung des Waldes – beenden und den Wald erst gar nicht mehr betreten. Der Regenwald als Park – das ist nicht im Sinne von Chico Mendes.

Keine Anklagen bei Mord

Unter starker Kritik der Öffentlichkeit ernannte der honduranische Kongress am 1. September den Verfassungsrichter Oscar Fernando Chinchilla zum Generalstaatsanwalt, stellvertretender Staatsanwalt wurde der ehemalige Minister Rigoberto Cuellar. Chinchilla ist der einzige honduranische Verfassungsrichter, der die sogenannten Modellstädte (siehe LN 461) für verfassungskonform hielt. Er ist außerdem der einzige von fünf Richtern der Verfassungskammer, der vom Kongress am 12. Dezember 2012 nicht abgesetzt wurde. Die Umbesetzungen im obersten Gerichtshof wurden von der Opposition im Dezember als technischer Putsch des Kongresses gegen die Justiz bezeichnet. Der zukünftige stellvertretende Staatsanwalt Rigoberto Cuellar war während seiner Amtszeit als Minister für Naturressourcen und Umwelt unter anderem für die Vergabe von Umweltlizenzen für Staudamm- und Bergbauprojekte verantwortlich. Auf Rechtsbrüche bei der Vergabe der Lizenzen wiesen indigene Organisationen immer wieder hin.
Die Berufung der Staatsanwälte ist ein weiteres beunruhigendes Zeichen für die Verschärfung der staatlichen und informellen Repression, bei der es vor allem um die Aneignung indigenen und kleinbäuerlichen Landes geht. So wurden Ende August drei Tolupán-Indigene bei einer Straßenblockade im Departamento Yoro ermordet. Die Tolupanes protestierten zu dem Zeitpunkt bereits seit zwölf Tagen friedlich gegen illegale Abholzung, illegalen Bergbau und den geplanten Bau eines Staudammes auf ihrem Land. Die Ermordeten waren Angehörige der Breiten Bewegung für Würde und Gerechtigkeit (MADJ).
Ein weiterer Konflikt um eine Bergbaukonzession findet aktuell im Dorf Nueva Esperanza im Departamento Atlántida statt. Auch dort unterstützt die MADJ die Bewohner_innen. Nueva Esperanza geriet Ende Juli in die Öffentlichkeit, als dort zwei internationale Menschenrechtsbeobachter_innen der Organisation PROAH entführt wurden. Bewaffnete Sicherheitskräfte des Unternehmers Lenir Pérez hielten sie über zwei Stunden fest und bedrohten sie (siehe Interview in dieser Ausgabe). Das Unternehmen Minerales Victoria, dessen Eigentümer Pérez ist, besitzt eine Bergbaukonzession in der Region von Atlántida. Seit mehreren Monaten berichten Anwohner_innen und Menschenrechtsorganisationen über Einschüchterungen und Angriffe auf die lokale Bevölkerung, die sich gegen die Ausplünderung ihres Landes wehrt. Inzwischen musste die Familie, die die Menschenrechtsbeoachter_innen aufgenommen hatte, Nueva Esperanza verlassen.
Der Konflikt um das Staudammprojekt Agua Zarca in der Region Río Blanco zeigt wiederum, dass Menschenrechtsverletzungen auch direkt durch staatliche Sicherheitskräfte begangen werden. Seit dem 1. April halten Bewohner_innen mehrerer Dörfer eine friedliche Straßensperre aufrecht, um gegen den Staudammbau zu protestieren. Staatliche Sicherheitskräfte und Institutionen gehen mit Repression und Kriminalisierung gegen die Protestierenden vor und unterstützen die Firmen DESA und SINOHYDRO, unter anderem bei logistischen Arbeiten für den Staudammbau. Der Direktor von DESA, David Castillo, wurde in der West Point Military Academy ausgebildet, und arbeitete mehrere Jahre beim militärischen Geheimdienst.
Trauriger Höhepunkt des Konflikts in Río Blanco war die Ermordung des lokalen Gemeindeführers Tomás García durch einen Soldaten während einer Demonstration vor dem Firmengelände der Unternehmen. Der Soldat, der unter den Augen der anwesenden Polizisten die tödlichen Schüsse auf García abfeuerte, wurde gegen die Zahlung einer Kaution freigelassen. Auf der anderen Seite wurde ein Gerichtsverfahren gegen führende Aktivist_innen der indigenen Organisation COPINH wegen Nötigung, Besetzung und Schädigung der Firma DESA eingeleitet.
Wenige Stunden nach dem Mord an Tomás García wurde in der Nähe die Leiche des Jugendlichen Cristian Anael Madrid Muñoz gefunden. Die Umstände seines Todes sind bisher ungeklärt und von staatlichen Stellen wurden laut COPINH bisher keine ernsthaften Ermittlungen in dem Fall aufgenommen. DESA beschuldigt jedoch die Demonstrant_innen für den Tod des Jungen verantwortlich zu sein, was die Sprecher_innen von COPINH entschieden bestreiten. Laut COPINH und Beobachter_innen des Konfliktes ist nicht auszuschließen, dass die Ermordung von Cristian Madrid Teil einer Strategie ist, um den legitimen Protest weiter zu kriminalisieren, vom Mord an García abzulenken und den Konflikt um das Staudammprojekt innerhalb der Dörfer zu verschärfen.
Die oben genannten Fälle sind nur die Spitze der jüngsten Meldungen von Drohungen, Einschüchterungen und Aggressionen gegen Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen in Honduras. Sowohl von den Tolupanes, als auch in Nueva Esperanza und Río Blanco wurden staatliche Autoritäten seit langem auf die Ablehnung der Projekte durch die lokale Bevölkerung und die zunehmende Verschärfung des Konflikts hingewiesen. Unternommen wurde nichts. Die Verantwortlichen für die genannten Morde befinden sich weiterhin auf freiem Fuß. Stattdessen berichtet die Bevölkerung vor Ort weiter von Morddrohungen und Einschüchterungen. Es ist zu befürchten, dass die jüngsten Morde, genauso wie die mehr als 130 politischen Morde seit dem Putsch im Juni 2009, straflos bleiben. Angesichts der Vorgeschichte des neuen Generalstaatsanwaltes und seines Stellvertreters ist eine baldige Änderung dieser Situation äußerst unwahrscheinlich.

Infokasten:

Menschenrechtsdelegation zu den Wahlen in Honduras

Vom 10. November bis 1. Dezember befindet sich eine Delegation aus Freien Journalist_innen, Vertreter_innen unabhängiger Nichtregierungsorganisationen und Initiativen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Honduras.
Ziel der Delegation ist es, die Geschehnisse um die Präsidentschaftswahlen am 24. November zu beobachten und darüber zu informieren. Dabei stehen angesichts der politischen Morde, Bedrohungen und Vertreibungen die aktuelle Menschenrechtslage und die Situation sozialer und politischer Bewegungen in der Hauptstadt sowie in besonders von Konflikten betroffenen Regionen im Vordergrund.
Während des Aufenthalts und nach Rückkehr der Delegation möchten wir unsere Erfahrungen publizieren sowie auf Veranstaltungen darüber berichten. Aktuelle Berichte werden unter anderem auf dem Blog der Hondurasdelegation erscheinen: http://www.hondurasdelegation.blogspot.com
Kontakt unter: hondurasblog2010@gmail.com

Spenden zur Unterstützung der Delegation:
Ökumenisches Büro
Konto-Nr. 5617 62 58
Stadtsparkasse München
BLZ: 701 500 00
Verwendungszweck: Novemberdelegation in Honduras
IBAN: DE65 7015 0000 0056 1762 58
SWIFT-BIC: SSKMDEMM

Der Bischof auf der Barrikade

„Das ist eigentlich die größte Tragödie von Belo Monte: Dass die Leute in ihrem Sein und in ihrer Existenz, in ihrer Würde und ihren Rechten nicht respektiert werden“, sagt der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler. Als „Dom Erwin“ kennen sie ihn in seiner Diözese in Altamira und am Xingu-Fluss: die Indigenen, die Flussanwohner_innen und die Fischer_innen aus der Region, in der die brasilianische Regierung auf Biegen und Brechen den mit 11 Gigawatt Leistung drittgrößten Staudamm der Welt errichten lässt: Belo Monte.
Martin Keßler und sein Team begleiten Dom Erwin und Antônia Melo von der Widerstandsbewegung Xingu Vivo para Sempre zum dritten Mal. Sie besuchen die Indigenen in ihren Dörfern am Fluss. Dom Erwin redet und warnt vor dem Projekt. „Diese Arbeiten müssen gestoppt werden“, erklärt er unmissverständlich. Denn er weiß genau: „Sonst sind hier alle tot.“ Für Antônia Melo (siehe LN 418) bedeutet der Bau des Damms einen Genozid an den indigenen Völkern vor Ort, und der Film lässt diese Betroffenen zu Wort zu kommen. Ruhig hält die Kamera auf die Gesichter und die Betroffenen wissen, was vorgeht: „Alles leere Versprechungen der Regierung!“, empören sie sich. Strom war ihnen versprochen worden, nun sei der Generator da, aber den Diesel dazu bekämen sie nur noch diesen Monat, erzählt einer. Ab nächstem Monat müssten sie ihn kaufen. Aber wovon? „Wir lebten vom Fischfang, nun ist da nichts mehr“, sagen sie, denn das Wasser ist wegen des Staudammbaus weiter oben am Flusslauf verschmutzt. „Zuvor lebten die Menschen hier vom Fang von Zierfischen und anderer Kleinfischerei“, berichtet Antônia Melo. Das ist nun nicht mehr möglich. Zudem soll der Xingu auf 100 Kilometer Länge nahezu trocken gelegt werden, so dass die Flussanwohner_innen die Fische dann wohl kaufen müssen.
Doch der Film lässt auch jene zu Wort kommen, die sich Hoffnungen machen. Eine Hoffnung sei Belo Sun, eine kanadische Firma, die an der Volta Grande den Goldabbau vorantreibt. Denn: „Nur Gold da unten – Gold, Gold, Gold“, sagt einer mit leuchtenden Augen, der gerade aus einem 280 Meter tiefen Schacht gestiegen ist. Unaufgeregt kontrastieren die folgenden Szenen die ökologischen und so­zialen Schattenseiten des Erzabbaus und zeigen die anhaltende Armut in den lokalen Gemeinden – die Bilder sprechen für sich. Ebenso bei den Totalen, die die Ausmaße des Baugeländes am Staudammprojekt zeigen. Genauso die Detailaufnahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen, die in den betroffenen Gemeinden durchgeführt werden. Bei streng regulierter Redezeit ist festgelegt, wie die Beteiligung der Betroffenen aussieht, womit die Gesetzesbestimmungen pro Forma erfüllt scheinen. Aber die brasilianische Verfassung sieht die vorherige, freie und informierte Befragung aller betroffenen Indigenen vor: Dies ist bis heute nicht geschehen. So berichtet der Film auch von den Klagen der Bundesstaatsanwaltschaft (siehe LN 467) gegen den Staudammbau. Auch von der Erwartung, dass Brasiliens Oberster Gerichtshof sich dieser Frage annehmen wird. „Die Regierung bricht das Gesetz“, sagt Bischof Kräutler. Und er verweist auch auf die Verantwortung der europäischen Firmen, die an Belo Monte verdienen. Keßler fuhr sogar nach München, zur Aktionär_innenversammlung von Siemens. „Kein Mensch von irgendeiner Firma aus Frankreich, Deutschland oder Österreich ist vor Ort gegangen, um sich das anzuschauen“, beklagt Kräutler im Film. „Wir brauchen die Unterstützung der Menschen, sonst können wir nicht weitermachen“, mahnt er an. So ist der Bischof gegen Ende des Films selbst auf der Barrikade zu sehen, die die Indigenen auf der Landstraße errichtet haben, um die Lastwagen aufzuhalten. Belo Monte ist zu rund einem Drittel fertiggestellt – aber der Widerstand ist ungebrochen.

Martin Keßler // Count-Down am Xingu III // Dokumentarfilm // 76 Minuten // 2013 // http://neuewut.de

Farmerfront will Indigenenland

„Die Regierung kann und wird nicht irrealen, ideologischen Projekten von Minderheiten zustimmen.“ Mit diesem Satz begründete Gleisi Hoffmann, ihres Zeichens Kabinettschefin der Regierung Dilma Rousseff in Brasília, ihre Entscheidung von Anfang Mai, der für die indigenen Territorien zuständigen Bundesbehörde FUNAI in den drei südlichen Bundesstaaten Paraná, Rio Grande do Sul und Santa Catarina mit sofortiger Wirkung die Befugnisse über die Demarkation der Gebiete zu entziehen. Von nun an solle dort die staatliche EMBRAPA für die Demarkation zuständig sein.
Die EMBRAPA hatte zuvor auf Wunsch von Regierungschefin Rousseff eine Untersuchung anhand des Falls des Bundesstaats Paraná vorgelegt. Darin hatte sie gezeigt, dass bei den Gebieten, die zuvor von der Indigenenbehörde zur Demarkation vorgeschlagen worden waren, in 15 Gegenden im Westen Paranás „Indios inexistent sind oder zu kurzfristig dort leben“, als dass sie als indigene Territorien demarkiert werden könnten.
Nun war die EMBRAPA 1973 mit dem Ziel gegründet worden, landwirtschaftliche Forschung zu betreiben, um die Erträge der brasilianischen Landwirtschaft zu steigern. Sie untersteht direkt dem Landwirtschaftsministerium in Brasilía. Dieses Ministerium ist traditionell in der Hand der Großfarmer_innen und ist für diese zuständig, anders als das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung, das für die Kleinbäuerinnen und -bauern im Lande zuständig ist. Nun soll also die EMBRAPA gemeinsam mit den beiden in Landwirtschaftsfragen miteinander konkurrierenden Ministerien für die Demarkation indigenen Landes zuständig sein.
Die EMBRAPA solle zunächst die bisherigen Demarkationen überprüfen, erklärte Hoffmann. Sollten die Informationen und Studien der FUNAI „Unstimmigkeiten oder mangelnde Konsistenz“ aufweisen, so würden auch bereits erfolgte Demarkationen rückgängig gemacht, versicherte Gleisi Hoffmann den Abgeordneten im brasilianischen Kongress.
Die bancada ruralista, die Fraktion der großen Landbesitzer_innen im Kongress, jubelte – und legte sofort nach. „Aus Gründen der Gleichberechtigung beantrage ich hiermit die sofortige Auflösung der Demarkationsstudien in Mato Grosso do Sul und in ganz Brasilien!“, forderte der Abgeordnete Luiz Henrique Mandetta von der rechten DEM-Partei im Namen der ruralistas. Diese kündigten zudem für den 15. Juni landesweite Blockaden der Überlandstraßen an, eigentlich eine Demo-Taktik der Landlosen und Indigenen; nun aber wollen die ruralistas zeigen, wer Herr auf dem Lande ist. Zudem forderten sie lautstark die Umsetzung der PEC 215, die der Exekutive per Verfassungsänderung die Zuständigkeit für Demarkationsfragen entziehen und dem Kongress übertragen soll (siehe LN 467). Eine vom Zaun gebrochene Kampagne mit landesweit verteilten T-Shirts, auf denen die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zur FUNAI gefordert wird, soll den Druck auf der Straße gegen die FUNAI weiter erhöhen.
Nun war die FUNAI weitaus nicht die Behörde, die sich in indigenen Belangen Ruhmesblätter erworben hätte. Die FUNAI blickt auf eine lange – und dabei auch blutige – Geschichte zurück. Ihre 1910 gegründete Vorgängerorganisation SPI war jahrzehntelang an der Repression und auch an der physischen Vernichtung indigener Gruppen beteiligt, wie der unlängst wieder aufgetauchte Figueiredo-Report (siehe Editorial) offenlegte. Auch galt die FUNAI lange als hoffnungslos korrupt, von Indigenen bewohntes Land wurde oft gegen Schmiergeld flugs den lokalen Farmer_innen übertragen. Aber in den letzten Jahren hatte sich die FUNAI doch deutlich geändert. Darauf wies das Centro de Trabalho Indigenista (CTI) explizit hin. Demnach erfolge zum jetzigen Zeitpunkt der Großangriff der Farmer_innen auf die FUNAI, da deren Mitarbeiter_innen in den lokalen Büros nicht mehr so leicht käuflich seien wie früher. Hinzu komme, dass die brasilianische Bundesregierung derzeit auf die Sicherung ihrer Regierungsmehrheit bei den 2014 anstehenden Wahlen im Lande schaue, meint das CTI – und die ruralistas stellen als informelle Fraktion die mächtigste und größte Gruppe im brasilianischen Kongress. In dieser Gemengelage, analysiert Egon Heck vom Indigenen-Missionsrat CIMI, schreite der Großangriff auf die indigenen Territorien voran: „Nach ihrem Sieg beim Waldschutzgesetz Código Florestal hat sich die bancada ruralista nun die Demarkation indigener Territorien als neues Ziel ausgesucht“, so Heck, der seit über vierzig Jahren mit indigenen Gruppen zusammenarbeitet.
Für die indigene Bevölkerung Brasiliens wäre der Kompetenzentzug der FUNAI eine Katastrophe, da sind sich Fachleute einig. „Es ist bestürzend, eine Ministerin unserer Regierung zu sehen, wie sie die Revision der Demarkationen indigenen Landes der letzten 25 Jahre fordert“, erklärte Egydio Schwade, einer der Mitbegründer von CIMI. „Die [Territorien] sollen durch das Agrobusiness annektiert werden, geöffnet werden für die kapitalistische Exploration des Bergbaus oder sie sollen bedeckt werden mit den Fluten der Stauseen der großen Wasserkraftwerke“, beklagte Schwade.
Cleber Buzatto, Generalsekretär des CIMI, zeigte sich äußerst alarmiert: „Wir sind extrem besorgt. Je mehr die Regierung nachgibt und die Einhaltung der indigenen Rechte missachtet, desto mehr greifen die ruralistas diese Grundrechte an.“ Buzatto warf den Großfarmer_innen in der Presse vor, einen systematischen Frontalangriff ohne jedwede ethische Grenzen voranzutreiben. Das Großfarmertum gebrauche „politischen Terrorismus in seinem Angriff auf die indigenen Gemeinschaften Brasiliens“, so Buzatto. „Die Konsequenzen dessen sind unabsehbar“, warnte er. Die Koordination indigener Gruppen des brasilianischen Amazonasgebietes COIAB (siehe LN 406) warf der Regierung vor, in kolonialistischem Stil gegen die Indigenen vorzugehen: „Jetzt versuchen sie, unsere Stimme zum Schweigen zu bringen, im Namen der Entwicklung“. Und die Regierung weigere sich, mit den Indigenen zu reden, warf die COIAB Brasília vor.
Genau das erleben die Indigenen gerade vor Ort, an dem zentralen Monument brasilianischer Entwicklungsgläubigkeit, die über die Interessen der lokal Betroffenen mit Handstreich hinweggeht: beim Staudamm Belo Monte.
Bereits zum zweiten Mal binnen Monatsfrist haben rund 150 Indigene eine der Baustellen für den drittgrößten Staudamm der Welt besetzt. Anfang Mai hatten Indigene der Munduruku, Kayabi, Xikrin, Arara, Juruna, Kayapó, Xipaya, Kuruaya, Asurini und Parakanã Belo Monte besetzt und so die Bauarbeiten gestoppt. Die rechte Wochenzeitschrift Veja titelte „Índios wollen Tumulte“ und warf vor allem den führend an der Baustellenbesetzung beteiligten Munduruku vor, durch Nichtregierungsorganisationen finanziert zu werden. Mit Bussen seien die Munduruku 850 Kilometer aus dem Bundesstaat Mato Grosso zum Staudamm Belo Monte gekommen. Der Tenor der Veja war dabei klar: Angestiftet wurden sie und zu einem Staudamm gefahren, mit dem sie, die Munduruku, gar nichts zu tun hätten. Genau dies machten die Munduruku aber wiederholt klar: Belo Monte sei der Öffner für alle weiteren bis zu 60 im Amazonasgebiet geplanten Großstaudämme, Belo Monte sei der symbolhafte Ort des Geschehens, das Fanal für alle im Amazonasgebiet von Staudammprojekten betroffenen Indigenen.
Die Munduruku werfen der Regierung vor, sie bei den an den Flüssen Teles Pires und Tapajós in Planung befindlichen Staudämmen nie befragt zu haben. Allein dort plant Brasília die Errichtung einer Handvoll Großstaudämme. Die Regierung Rousseff ließ wiederholt erklären, am Teles Pires und Tapajós würden bisher die Studien erstellt und es ginge dabei nur um Staudämme, deren Material ohne die Errichtung von Straßen dorthin gebracht würde; es handele sich also um Staudämme, die gleichsam isoliert wie Erdölplattformen im Meer keine Beeinträchtigung für die Umgebung zur Folge hätten. Wie die Regierung plant, die produzierte Elektrizität aus diesen isolierten Gegenden ohne Überlandleitungen zu transportieren, bleibt bislang Brasílias Geheimnis.
Seit Brasilien 2004 die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat, ist die Konsultation der indigenen Gruppen von der brasilianischen Verfassung vorgesehen – unter Vorabinformation und in freier Befragung zu ihrer Meinung. Da sie die Regierung trotzdem nie angehört habe, besetzten die Indigenen Ende Mai erneut die Baustelle. Diesmal waren es Munduruku, Xipaya, Kayapó, Arara und Tupinambá. Damit haben sich dem Protest der Munduruku bei der zweiten Besetzung vermehrt Gruppen direkt aus der betroffenen Gegend des Staudamms Belo Monte angeschlossen. Die Besetzer_innen stellten unmissverständlich klar: „Wir gehen erst, wenn wir von der Regierung angehört wurden.“ Der Präsidialamtsminister Gilberto Carvalho lehnte aber bis Redaktionsschluss dieses Angebot der Indigenen ab. Carvalho hatte bereits bei der ersten Besetzung von Belo Monte Anfang Mai klargestellt, was er von den Munduruku hält – er hatte die Indigenen als „Banditen“ verunglimpft.
Angesichts der aktuellen Zuspitzung der Konflikte des brasilianischen Staates mit den indigenen und anderen traditionellen Gruppen rät der bekannte Anthropologe Spensy Pimentel der Rousseff-Regierung zu mehr Verständnis und Feingefühl: „In einem Land wie Brasilien zeigt sich der Grad an noblem Verhalten einer Regierung an der Behandlung der indigenen Fragen, weil die Indigenen hierzulande in expressiven Zahlen als Wählerpotenzial zwar nicht groß ins Gewicht fallen, aber sie sind diejenige Komponente mit der allerhöchsten Bedeutung für unsere Geschichte und unsere Identität als Brasilianer.“

„Belo Monte ist ein Angriff auf die Verfassung“

Kürzlich wurden bei Belo Monte und in anderen Regionen Militäreinheiten in Stellung gebracht. Was war der Anlass?
Verena Glass: Tausende Bauarbeiter protestierten dagegen, dass sie nicht entsprechend der gesetzlich vorgesehenen Mindestlöhne entlohnt werden, dass sie nicht ausreichend Essen bekommen und wenn sie Essen bekommen, dann ist es von Ungeziefer befallen. Sie werden dauerbewacht von der Polizei. Zu Beginn dieses Monats wurden 1.500 Arbeiter entlassen, weil sie ihre Rechte eingefordert haben. Die Situation ist inzwischen so dramatisch, dass sich Streiks und Aufstände auf der Baustelle häufen, auf die die Regierung wiederum mit plumper Repression reagiert: Sie schickt Spezialeinheiten des Militärs zur Aufstandsbekämpfung und setzt diese gegen die Bevölkerung und die Arbeiter ein. Zuvor hatten wir einen Spitzel entdeckt, der für den brasilianischen Geheimdienst ABIN unser Netzwerk und den Widerstand ausspioniert hatte. Die Regierung versucht, jeglichen Protest durch Polizeigewalt und Bespitzelungen durch den Geheimdienst zu bekämpfen.

Frau Palmquist, die Bundesstaatsanwaltschaft in Pará, hat durch ihre Klagen gegen Belo Monte in den vergangenen Jahren immer wieder viel internationale Aufmerksamkeit erhalten. Wie viele Klagen hat Ihre Institution bislang gegen Belo Monte eingereicht und warum?
Helena Palmquist: Insgesamt haben wir 17 Klagen gegen Belo Monte eingereicht. Im August vergangenen Jahres reichten wir Klage ein, da die betroffenen Indigenen nicht konsultiert wurden. Dies stoppte den Bau komplett für den Zeitraum von zehn Tagen. Eine vorläufige richterliche Genehmigung hob den Baustopp wieder auf. Zunächst, denn jetzt liegt der Fall auf dem Tisch des Obersten Gerichtshofs Brasiliens (STF) – und wir sind zuversichtlich, dass der Fall noch in diesem Jahr verhandelt wird. In einer unserer Rechtsbeschwerden, die wir 2006 eingereicht haben, gibt es einen Satz, der Wesen und Gehalt dieses Staudamms auf den Punkt bringt: Belo Monte ist ein Angriff auf die brasilianische Verfassung. Trotz aller bekannten Langsamkeit der brasilianischen Justiz, gehe ich davon aus, dass es zu einer Entscheidung vor dem STF in diesem Jahr kommt, bevor die Situation der indigenen Völker und der Bewohner der Region noch schlechter wird.

Wie ist die aktuelle Situation der Betroffenen vor Ort?
VG: Im Herzen Amazoniens wird das Bauvorhaben 100 Kilometer des Xingu-Flusses trockenlegen. In dem Xingu-Becken leben 24 Ethnien der brasilianischen Urbevölkerung, die 30 indigene Schutzgebiete bewohnen. Alle sind von den Auswirkungen des Megaprojekts betroffen. Belo Monte wirkt sich auf elf Gemeinden in der Region aus, die rund 300.000 Einwohner hat. 40.000 Flussanwohner, kleinbäuerliche Familien, Fischer und Bewohner der Stadt Altamira, die zukünftig teilweise überschwemmt sein wird, werden um ihre Lebensgrundlage gebracht.

Wie viele Menschen wurden bereits vertrieben?
VG: Bis heute hat das Unternehmerkonsortium von Belo Monte 850 ländliche Grundstücke in Familienbesitz enteignet. Diese Zahl wird sich voraussichtlich noch verdoppeln. Die Mehrzahl der Familien, deren Bio-Kakaobäume und ähnliche Pflanzungen zerstört wurden, haben mehr als 700 Klagen gegen das Betreiberkonsortium eingereicht, weil sie kein Ersatzland bekamen. Oder weil sie keine oder nur eine so geringe Entschädigung erhielten, dass sie davon nicht umsiedeln und wieder ein würdevolles Leben aufbauen können.

Wie verändert der Bau von Belo Monte die Stadt Altamira?
VG: In der Stadt Altamira sind ein Anwachsen der Favelas und eine exorbitante Preissteigerung für Lebensmittel Folgen des Bauprojekts. Laut Polizeiangaben haben Drogenbesitz und der Konsum der Droge Crack in Altamira im letzten Jahr um 900 Prozent zugenommen. Studien der staatlichen Universität von Pará zeigen, dass die Zahl der Vergewaltigungen in einer nie dagewesenen Form in den letzten drei Jahren angestiegen ist. In diesem Zeitraum kamen Tausende von Bauarbeitern für den Belo Monte Staudamm nach Altamira. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Bordelle stark zugenommen. Bei einer Polizeiaktion wurden jüngst Zwangsprostituierte in einem Bordell, das sich auf dem Konzessionsgelände des Betreiberkonsortiums befand, vorgefunden. Darunter war auch eine Minderjährige.
HP: Zu diesem schrecklichen Fall hat die Bundesstaatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen.

Wie ist die Situation in den indigenen Gemeinden?
VG: In den zwei direkt an Belo Monte angrenzenden indigenen Dörfern können Hunderte Familien weder Fischen noch Jagen und auch keinen Feldbau mehr betreiben. Durch die Baumaßnahmen ist das Wasser des Flusses so verunreinigt, dass es als Trinkwasser ungeeignet ist.
HP: Die Verschmutzung des Wassers im Staubecken von Belo Monte ist dem Mangel an grundlegendster Abwasserentsorgung in der Stadt Altamira geschuldet. Die Abwässer der Stadt werden ungeklärt in den Fluss geleitet, obwohl eine der Umweltauflagen für den Bau des Staudamms die vollständige Klärung der Abwässer verlangt. Nur, bislang wurde Belo Monte bereits zu 30 Prozent fertig gestellt, und die Stadt Altamira hat heute schon 50.000 Bewohner mehr als vor knapp zwei Jahren – aber kein Kilometer Abwasserkanal wurde gebaut. Die Auflagen zur Minderung der Umweltschäden des Baus werden nicht eingehalten, die Umweltbehörde kontrolliert nicht und verhängt erst recht keine Strafen gegen die verantwortlichen Konzerne.

Welche Rolle spielt die Bundesumweltbehörde IBAMA im Fall Belo Monte?
HP: Der gesamte Vorgang um Belo Monte ist gesetzeswidrig. Dies gestehen sogar beteiligte Regierungsbeamte ein. Allein beim Umweltbundesamt IBAMA haben ein Präsident und zwei Direktoren um Entlassung gebeten, weil sie mit dem Vorgehen nicht einverstanden waren. Der auf IBAMA ausgeübte Druck führte dazu, dass sie eine Teilgenehmigung erteilten, die es nach brasilianischem Gesetz gar nicht gibt. Dies zwang uns, eine weitere Klage gegen Belo Monte einzureichen.

Wogegen richten sich die anderen Klagen?
HP: 2001 reichten wir unsere erste Klage gegen den Bau von Belo Monte ein, gegen die damalige Regierung von Fernando Henrique Cardoso. Und diese Klage war in allen Instanzen der Justiz erfolgreich. Im Jahre 2006, damals noch unter der Regierung Lula (Luis Inácio Lula da Silva, Anm. d. Red), haben wir unsere zweite Klage eingereicht. In dieser Klageschrift legten wir dar, dass die betroffenen indigenen Völker nie konsultiert wurden, wie es die Verfassung vorschreibt und wie es auch die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verlangt. Brasilien hat die ILO-Konvention 169 im Jahre 2002 unterzeichnet.

Warum wurden die Indigenen nicht konsultiert?
HP: Seit dem Moment, als der damalige Präsident Lula entschied, Belo Monte zu bauen, waren die Zeitpläne des Baus immer wichtiger als die betroffenen Menschen. Das Dekret des brasilianischen Nationalkongresses zur Autorisierung des Baus von Belo Monte brauchte vom ersten Entwurf bis zur Verabschiedung nur 15 Tage; in 15 Tagen ist es unmöglich, alle Betroffenen zu befragen und das ihnen zustehende Recht der Konsultation einzuhalten. Die Umweltfolgenstudien wurden ebenfalls unter Zeitdruck und ohne jede Transparenz durchgeführt.

Aber es wurden Umweltstudien durchgeführt?
HP: Die in den Studien gewonnenen Daten und Erkenntnisse wurden unter Verschluss gehalten. Dagegen haben wir unsere dritte Klage eingereicht. Der Zeitdruck trug auch dazu bei, dass die Umweltfolgenstudien unvollständig bei der Umweltbehörde abgegeben wurden. Dies war dann der Grund für unsere vierte Klage. Selbst danach gab es weiterhin Druck und Zeitdruck. Die öffentlichen Anhörungen zur Aussprache über die Umweltstudien wurden in nur drei der elf betroffenen Gemeinden und in der Landeshauptstadt Belém durchgeführt – und dies unter massiver Polizeipräsenz und mit Schwierigkeiten für die Betroffenen, Zugang zur Anhörung zu bekommen. Dies zwang uns zu einer weiteren Klage.

Polizeipräsenz bei den Anhörungen, nun auch Militär zur Duchsetzung des Großbauprojekts, Bespitzelung durch den Inlandsgeheimdienst: Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
HP: Um diese Vorgänge in Amazonien zu begreifen, muss man in die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur von 1964 bis 1985 zurückblicken. Das war die Zeit, als brasilianische Baukonzerne, Ingenieure, Geologen und Militärs die Pläne schmiedeten, fast alle Zuflüsse des Amazonas mit Talsperren zu versehen, um Energie zu produzieren. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie gab es Versuche, in Amazonien weitere Staudammprojekte in Angriff zu nehmen. Aber der Widerstand der indigenen Völker, der Flussanwohner und sozialen Bewegungen aus den Städten Amazoniens war damals zu groß, zu stark, zu entschlossen. Wie kann ein Projekt aus der Zeit der Militärdiktatur in Zeiten der Demokratie umgesetzt werden? Nur, indem die Gesetze gebrochen werden!
VG: 2003 nahm die Regierung das Projekt wieder auf mit der Begründung, dass das Land mehr Strom zum Wachsen bräuchte. Der Kampf gegen dieses Kraftwerk dauert bereits mehr als zwei Jahrzehnte an. Und Brasilien erlebt jetzt einen Rückgriff auf Praktiken der Militärdiktatur. Im Namen einer vermeintlichen „Entwicklung“ hat die brasilianische Regierung 2012 die Umweltgesetzgebung geopfert. Auf Druck der Agrarindustrie wurden der Waldschutz geschwächt und die Schutzgebiete verkleinert. Der Kongress hat ein neues Waldgesetz verabschiedet, das Abholzern einen Freibrief erteilt und mehr Entwaldung zulässt, und damit auch die Schutzanforderungen an Bauvorhaben wie Belo Monte verringert. Um solche Megaprojekte in Amazonien zu schützen, setzt die Regierung Repressionsmethoden aus der Zeit der Diktatur ein, gegen die traditionelle Bevölkerung, gegen Demonstrationen und gegen alle Proteste.

Helena Palmquist
ist seit 2004 Pressereferentin der Bundesstaatsanwaltschaft in Pará. Seither hat sie alle 17 Klagen der Staatsanwaltschaft gegen Belo Monte begleitet. Derzeit führt die Staatsanwaltschaft auch Ermittlungen und Klagen gegen fünf neue Staudämme am Fluss Tapajós im brasilianischen Amazonasgebiet durch.

Verena Glass
ist Journalistin bei der Nichtregierungorganisation Repórter Brasil. Zudem betreut sie die internationale Kampagnenarbeit des Widerstandsbündnisses Xingu Vivo para Sempre aus Altamira.
Sie stammt aus São Paulo und verfolgt die Vorgänge um den Staudammbau Belo Monte seit dem Jahre 2003.

Infokasten:

Proteste gegen Münchener Rück wegen Belo Monte

Am 25. April protestierten Vertreter_innen des brasilianischen Widerstandsbündnisses Xingu Vivo para Sempre und ein europäisches Kampagnennetzwerk in München auf der Aktionärsversammlung der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft. Die Münchener Rück, der weltgrößte Rückversicherer, hat 25 Prozent der Rückversicherungssumme für den Bau des umstrittenen Staudamms Belo Monte in Brasilien übernommen und erhält dafür umgerechnet 15,5 Millionen Euro an Prämien über einen Zeitraum von vier Jahren. Die gesamte Rückversicherung von Belo Monte betrifft die Bauphase von geschätzt neun Jahren und deckt die bislang anvisierte Gesamt-Bausumme von umgerechnet 7,6 Milliarden Euro ab.
Die Gruppen warfen der Munich Re, wie diese sich seit ein paar Jahren nennt, vor, den seit Jahren in der Presse gegen das Staudammprojekt Belo Monte erhobenen Vorwürfen nicht nachzugehen. „25 Prozent der Rückversicherungssumme ist ein signifikanter Anteil an dem gesamten Projekt Belo Monte. Damit zeichnet der Vorstand der Münchener Rück mitverantwortlich für die im Zusammenhang mit Belo Monte stehenden Vorgänge und kann damit nicht entlastet werden“, so das Netzwerk in dem von den Gruppen auf der Aktionärsversammlung eingereichten Antrag auf Nichtentlastung des Vorstandes.
Auf der Aktionärsversammlung ergriffen Verena Glass vom Bündnis Xingu Vivo para Sempre und Helena Palmquist, Pressesprecherin der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft in Pará (siehe Interview), sowie Barbara Happe von der deutschen Umwelt- und Menschenrechtsorganisation Urgewald vor den anwesenden 3.500 Aktionär_innen das Wort. Sie konfrontierten den Konzern mit den Missständen in Belo Monte. Der Vorstand der Münchener Rück wies in seiner Antwort alle Vorwürfe zurück – nur an einer Stelle entglitt dem Vorstandsvorsitzenden in Bezug auf Belo Monte das Wort „Monsterstaudamm“. „Da hat er sich verraten“, attestierte ihm Verena Glass.
// Christian Russau

„Jetzt kommen die echt hier rein, ohne Genehmigung!“

„Herr Präsident, die Indios da draußen erzwingen [Einlass], um den Plenarsaal zu stürmen. Das ist eine Situation, vor der wir uns alle fürchten“. Als der Abgeordnete von der rechten PMDB, Francisco Escórcio, genannt Chiquinho, diese Worte ins Mikrofon des Plenarsaals der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses spricht, bebt seine Stimme, er ist bleich, die Angst ist ihm anzusehen – und dann geht alles ganz schnell.
„Draußen sehen wir eine große Gruppe von indigenen Personen, die versuchen, hier in den Saal zu gelangen… jetzt kommen die echt hier rein in den Plenarsaal der Abgeordnetenkammer, ich bin hier mitten im Gewimmel der Rennerei… die kommen hier rein, wir sehen sie jetzt grade reinkommen, ohne Genehmigung“. So die Szene der bei TV Camara von der Reporterin Paula Bittar live kommentierten Sitzung im Plenarsaal, als 600 Indigene von 73 Ethnien aus ganz Brasilien ihrem Unmut über den Kongress freie Luft ließen und in den Saal eindrangen. Links im Fernsehbild tauchen tanzende Indigene auf, in traditioneller Kleidung, einige mit Lanzen und Pfeilen – rechts verschwinden aus dem Fernsehbild die in Anzug, mit flatternder Krawatte, flüchtenden Abgeordneten, die sich hinter dem Podium des Parlamentspräsidiums verschanzen. Brasiliens Presse hatte ihre Titelschlagzeile: „Indios erstürmen Abgeordnetenkammer!“
Eine, die an vorderster Stelle der Protestwelle dabei war, ist Sônia Guajajara, aus dem Bundesstaat Maranhão. Sie ist eine der führenden Vertreter_innen der Guajajara-Indigenen, deren 16 Gemeinschaften im Bundesstaat Maranhão rund 20.000 Einwohner_innen umfassen. „Wir haben den Plenarsaal der Abgeordnetenkammer nicht gestürmt, wir sind da reingegangen, denn wenn dort über unser Leben entschieden wird, dann müssen wir daran teilnehmen“, erläutert sie im Interview mit den Lateinamerika Nachrichten. „Wir kämpfen, besetzen, führen Dialog, aber versucht nicht, uns reinzulegen“, stellt sie unmissverständlich klar.
Sônia Guajajara ist zusammen mit 600 anderen Indigenen in zwölf Bussen aus ganz Brasilien angereist. Mehrtägige Reisen waren das, viele der Indigenen mussten erst mit Booten aus ihren Dörfen zur nächsten Straße fahren, berichtet Guajajara. Anlass für den Protest in Brasília ist die PEC 215/2000, wie die seit dem Jahr 2000 von den ruralistas, den Abgeordneten der Fraktion der Großfarmer_innen, im Kongress vorangetriebene Verfassungsänderung genannt wird. „Nein zur PEC 215!“, heißt es seit Monaten in den Protesterklärungen und Videos, in der landesweiten Kampagne, die die Indigenen vom Zaun gebrochen haben als klar wurde, dass die ruralistas nun Ernst machen. Es geht bei der PEC 215 um die Frage, ob in Zukunft nicht mehr die Bundesregierung in Brasília über die Einrichtung von Territorien der traditionellen Völker und Gemeinschaften entscheiden wird, sondern ob diese in die Zuständigkeit des Kongresses, der beiden Kammern des Abgeordnetenhauses und des Senats, fallen soll. „Wir, die indigenen Völker, werden nicht erlauben, dass eine Minderheit der brasilianischen Gesellschaft – diese ruralistas und großen Unternehmer – mehr entscheiden darf als wir“, so Sônia Guajajara. „Wir werden bis zum Ende kämpfen“, sagt sie.
Ende März hatte die Parlamentskommission für Verfassungs- und Rechtsfragen für die PEC 215 gestimmt. „Das Problem ist“, so Saulo Feitosa vom Indigenen-Missionsrat CIMI, „dass die Fraktion der ruralistas die Mehrheit [im Abgeordnetenhaus] hat und sie deshalb nicht nur die [Demarkation der] Territorien abschaffen, sondern sogar die [bisherigen] Demarkationen rückgängig machen könnte.“ Kurz vor dem „Tag des Índios“ im April, zu dem die 600 Indígenen nach Brasilia gereist waren, hatte der Präsident der Abgeordnetenkammer, Henrique Eduardo Alves von der PMDB, eine Sonderkommission zur PEC 215 eingesetzt. Es war Alves, der die Indigenen im Plenarsaal mehrmals aufforderte, den Saal zu räumen – zunächst erfolglos. Die Indigenen fuhren fort mit ihren rituellen Tänzen, einige diskutierten mit dem Teil der Abgeordneten, die sich nicht wie die ruralistas hinter dem Podium des Präsidenten der Abgeordnetenkammer verschanzt hatten, und andere machten es sich derweil gemütlich auf den Abgeordnetensesseln. Presseberichten zufolge zündeten sich einige von ihnen im Plenarsaal ein Pfeifchen an. Dann sagte Sitzungspräsident Alves den 600 Indigenen zu, dass sie gemeinsam mit ihm in seinem Büro den Dialog fortführen konnten – daraufhin verließen die Indigenen friedlich den Plenarsaal.
Einer Mitteilung Henrique Eduardo Alves‘ zufolge einigten sich beide Seiten in dem anschließenden Dialog darauf, eine aus Parlamentarier_innen und Indigenen zusammengesetzte Untersuchungskommission zu indigenen Fragen zusammenzustellen und die Sonderkommission zur PEC 215 zumindest bis August dieses Jahres nicht einzurichten. Vertreter_innen der Indigenen werteten dies als ersten Erfolg. Auch Alves zeigte sich zufrieden: „Wir haben heute eines der schönsten Dinge in diesem Hause gesehen“ – doch die Quittung der ruralistas kam postwendend. Luiz Carlos Heinze von der stramm rechten PP ließ Alves‘ Zusage bezüglich der Sonderkommission zur PEC nicht gelten. „Diese Kommission ist schon eingesetzt, wir werden uns also zur Tagung treffen und die PEC behandeln“, so Heinze. Heinzes Partei PP gehört zur breiten Regierungsallianz, die die Arbeiterpartei PT seit Jahren im Kongress geknüpft hat. Zu dieser Allianz zählt auch die PMDB von Alves, der neben anderen illustren Gestalten brasilianischer Politik wie José Sarney auch Abgeordnete wie Chiquinho Escórcio angehören. Heinze kündigte gleich die Retourkutsche an: „Sollte unsere Sonderkommission zur PEC nicht klappen, dann werden wir Vergeltungsmaßnahmen bei Projekten einleiten, die im Interesse der Regierung sind“, so Luiz Carlos Heinze.
Doch die PEC 215 ist derzeit nicht die einzige Sorge der traditionellen Völker und Gemeinschaften Brasiliens. Der Senat hat eine Gesetzesinitiative, das lei 1.610 vorgelegt, die Bergbau auch in bereits demarkierten indigenen Territorien ermöglichen würde. Da der Staat in Brasilien Eigentümer der Bodenschätze ist, erlaubt die Verfassung zwar den Bergbau in diesen Territorien, verlangt dafür aber eine spezifische Gesetzgebung. Da diese bisher nicht existierte, blieben die Territorien in der Praxis jedoch verschont. Doch das lei 1.610 soll das nun ändern. Eine Abstimmung über das Gesetzesvorhaben wird in der zweiten Jahreshälfte erwartet. Die Umweltorganisation ISA hat errechnet, dass mit dem lei 1.610 die bisher noch blockierten 4.220 Bergbauvorhaben, die es allein für indigene Territorien gibt, frei gegeben werden könnten. Davon betroffen wären 152 indigene Territorien. „Wenn diese Gebiete für den Bergbau geöffnet werden, dann würden einige der indigenen Ländereien zu 96 Prozent von der Exploration betroffen sein“, warnt der Rechtsanwalt Raul Silva Telles do Vale von der Organisation ISA. Insgesamt sei dann ein Drittel allen indigenen Territoriums bedroht.
Diese Gefahr sieht auch Raoni Metuktire. Raoni ist Kazike der Kayapó, eines indigenen Volks aus der Region des Xingu-Flusses, wo die brasilianische Bundesregierung derzeit den drittgrößten Staudamm der Welt, Belo Monte, bauen lässt (siehe Interview dieser Ausgabe). „Niemals werde ich Rodung auf indigenem Land dulden, niemals den Bau eines Kraftwerks in indigenem Gebiet, niemals werde ich Bergbau auf unserem Land zulassen“, so der entschlossene Raoni gegenüber der Presse anlässlich des indigenen Besuchs im Plenarsaal der Abgeordnetenkammer. Die in Brasília demonstrierenden Indigenen werfen auch Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vor, sich dem Dialog zu verweigern. „Dilma ignoriert unsere Gesprächsangebote seit Jahren: warum?“, fragen die Indigenen in ihrer offenen Erklärung. „Nein, jetzt wollen wir nicht mehr mit ihr reden, da sie nichts löst“, fahren sie fort und erklären, 2011 hätten sie Dilma Rousseff konkrete Vorschläge gemacht, aber nichts sei passiert, nie mehr habe sie sich mit ihnen getroffen. „Aber seither konnten wir gar nicht mehr zählen, wie oft sich Dilma mit Großgrundbesitzern, Unternehmern, Bergbaukonzernen und der Truppe der Wasserkraft getroffen hat“, empören sich die Indigenen. Mit Argwohn und Empörung verfolgen sie, dass der neue Präsident der Umweltkommission des Senats in Brasília kein Geringerer ist als Blairo Maggi. Maggi ist der weltgrößte Sojaproduzent, seit dem Jahre 2005 Träger des Greenpeace-Preises „Goldene Motorsäge“ und war bereits Partner der Regierungsallianz von Lula. Nun spielt er bei der Regierung Dilma Rousseffs mit.
Für Cleber Buzatto, wie Saul Feitosa Mitarbeiter von CIMI, bedeutet die derzeitige Politikagenda Brasílias in Bezug auf die Indigenen einen dreifachen Angriff. „Erstens sollen Demarkationen von neuen Territorien verhindert werden“, so Buzatto gegenüber brasilianischen Medien. „Zweitens sollen bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden und drittens sollen diese Territorien ausgebeutet und vermarktet werden“. Die Verfassungsänderungen und Gesetzesentwürfe seien dafür die legislativen Angriffe, die Exekutive stütze sich auf zusätzliche Maßnahmen wie zum Beispiel die Entsendung von Militär zur Absicherung umstrittenener Großprojekte, wo es erbitterten Widerstand seitens der Betroffenen gibt (siehe Interview). Und dabei handelt die Regierung auch illegal, meint Buzatto: „Ein Beispiel dafür ist die Operação Tapajós in der Region der [Indigenen] Munduruku, diese wurde durch das Oberste Regionale Bundesgericht TRF für illegal erklärt“, so Buzatto. Am Rio Tapajós plant Brasília den Bau von fünf Staudämmen. Die betroffenen Mundukuru vom Ober-, Mittel- und Unterlauf des Tapajós stellten in einem Offenen Brief an die brasilianische Bundesregierung klar: „Wir sind gegen Staudämme und wollen, dass unsere Flüsse frei fließen. Und wir werden um sie kämpfen“.

Neoliberaler Sprint in Honduras

Am 23. Januar brachte der Kongress die noch vor wenigen Monaten für verfassungswidrig erklärten „Modellstädte“ oder Sonderentwicklungszonen zurück auf die Tagesordnung.
Der US-amerkanische Ökonom Paul Romer hatte der Regierung 2010 ins Ohr gesetzt, seine liberalistische Vision in Honduras umzusetzen, und versprach Wachstum, Arbeitsplätze und landesweite Entwicklung. Konkret sollten extra-territoriale Wirtschaftszonen mit eigener Gesetzgebung und autonomem Regierungs- und Sicherheitssystem geschaffen werden, die anderen Staaten oder transnationalen Unternehmen unterstehen. Eine Verfassungsänderung im Januar 2011 autorisierte die Einführung dieser „Sonderwirtschaftszonen“.
Daraufhin regte sich Protest gegen den Angriff auf die territoriale Souveränität, getragen von einem breiten Spektrum sozialer, politischer und indigener Organisationen, feministischer Gruppen, Gewerkschaften, Anwält_innen und Aktivist_innen der nach dem Putsch entstandenen Widerstandsbewegung. Kundgebungen, 12.000 Unterschriften, knapp 70 Verfassungsklagen und weitere Klagen wegen Landesverrat führten dazu, dass der Oberste Gerichtshof die Modellstädte im Oktober 2012 für verfassungswidrig erklärte.
Doch die Freude währte nur kurz: Im Dezember setzte der Kongress mit einem juristischen Putsch kurzerhand die vier der fünf Richter_innen der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs ab, welche gegen die Modellstädte gestimmt hatten. So konnte Mitte Januar 2013 fast einstimmig das neue Gesetz zur Einführung der „Arbeits- und wirtschaftlichen Entwicklungszonen“ verabschiedet werden.
Doch auch dieses Gesetz ist verfassungswidrig: Die in Honduras existierenden „in Stein gemeißelten“ Artikel, welche unantastbar sind, werden mit den Verfassungsänderungen verletzt.
Laut Anwalt Fredin Funes stellt das neue Gesetz sogar eine verstärkte Version dar. Zu den Modellstädten, den sogenannten „autonomen Städten“, kommen elf weitere Regimes hinzu: Internationale Finanzzentren, internationale Logistikzentren, internationale Handelsgerichte, Spezielle Investitionsdistrikte, Erneuerbare Energie-Distrikte, Spezielle Wirtschaftszonen, Speziellen Justizsystemen unterstellte Zonen, Spezielle Agroindustrielle Zonen, Spezielle Tourismuszonen, Soziale Minenzonen (!) und Forstzonen. „Zwölf Arten, die Souveränität zu verletzen. Zwölf Arten, sich das Land anzueignen“, so Fredin Funes.
In einer Verfassungsänderung wird die territoriale Aufteilung des Landes in Bundesländer und Bezirke um die neuen Regimes erweitert. Laut Gesetz sollen vor der Einführung Volksabstimmungen in den betroffenen Gegenden durchgeführt werden – außer im Falle von gering besiedelten Gegenden.
Kritiker_innen vermuten jetzt, dass das Ziel ist, die Regimes in ganz Honduras auf Minen-, Staudamm-, Windpark-, Maquila-, und Tourismusstätten anzuwenden, um die nationalen Regulierungen zu beispielsweise Arbeits- und Umweltrechten zu umgehen und die Gewinne direkt abzuziehen. Auch die Privatisierung der wichtigen Tourismusorte wie der Maya-Ruinen Copán wird befürchtet. Die Forstzonen könnten so zum Beispiel möglicherweise Hand in Hand gehen mit Abholzung oder Palmöl-Plantagen.
Ob der aktuelle Bau der riesigen Tourismus-Komplexe in der karibischen Tela-Bucht und in Trujillo oder die Privatisierung des größten Hafens von Honduras, Puerto Cortés, ebenso mit der baldigen Einführung der Sonderregimes zu tun hat, wird sich zeigen.
China zeigt in letzter Zeit besonderes Interesse an Honduras und bietet an, die „souveränen Schuldverschreibungen“ des bankrotten Staats zu kaufen. Im Gegenzug, heißt es, will China sich den Zugang zu den Küsten und Häfen im Pazifik und Atlantik sichern, um mit dem „trockenen Kanal“ der im Zuge des Mesoamerika-Plans gebaut wird, die schnelle Verbindung zwischen den Ozeanen auszunutzen. Unter anderem ist hier der Verkauf der Insel Amapala in Aussicht.
Neben dem Hafen laufen weitere öffentliche Unternehmen Gefahr, privatisiert zu werden, wie das Telefonunternehmen Hondutel, das Wasserversorgungsunternehmen SANAA,das Hafenunternehmen ENP, die Post Honducor und das Nationale Energieunternehmen ENEE. Der Verkauf von ENEE würde auch die öffentlichen Kraftwerke wie beispielsweise den größten honduranischen Staudamm El Cajón mit einschließen.
Währenddessen stehen Dutzende neue private Projekte zur sogenannten grünen Energieproduktion an. Doch auch die Staudämme und Windparks stellen territoriale Bedrohungen dar, zum Beispiel den Verlust des Zugangs zu Flüssen und Wasserquellen sowie Überschwemmungen von Gemeinden und kommunaler Ländereien. Zudem haben sie Korruption und die Spaltung der Gemeinden zur Folge.
Am selben Tag wie die Modellstädte wurde auch das neue Bergbaugesetz, das zuvor in Kanada – Ursprungsland der meisten Minenunternehmen – abgesegnet wurde, durchgewunken. Noch unter Ex-Präsident Manuael Zelaya, der 2009 durch den Putsch sein Amt verlor, waren neue metallische Bergbaukonzessionen und Tagebau mit Zyanid-Einsatz auf Eis gelegt worden. Das neue Gesetz ermöglicht diese höchst schädliche Bergbauform wieder. Statt konstruktiver Kritik werden vom Minen-Sekretariat jedoch die Fortschritte bezüglich sozialer und Umwelt-Standards gelobt. So sollen gar Volksabstimmungen der ansässigen Bevölkerung vor Einführung einer Mine durchgeführt werden.
Legitimiert wird das neue Gesetz mit dem Verweis auf die Erhöhung von Steuereinnahmen. Ein Beispiel ist die Einführung einer Sicherheitssteuer, „die die Minenfirmen an das honduranische Volk zahlen werden, um für mehr Sicherheit in den Gemeinden zu sorgen“, so der Minensekretär Aldo Francisco Santos. Auf die Nachfrage, was dies konkret bedeute, antwortete er: „Diese Geldsumme wird dazu dienen, mehr Polizei anzustellen, Equipment, Überwachungskameras, Waffen, Fahrzeuge für die Gemeinden zu kaufen, in denen abgebaut wird“. Sicherheit für wen also?
Laut Pedro Landa, Koordinator der Nationalen Koalition der Umweltnetzwerke, stellt das neue Gesetz mit seinen vielfachen Leerstellen und Fallen eine weitere Gefahr für die Souveränität der Territorien da. Allein der westliche Bundesstaat Santa Bárbara sei zu 120 Prozent an Minen konzessioniert, wobei noch weitere Konzessionen wie die für Staudämme hinzukommen. So sind manche Territorien doppelt vergeben. Vor allem der Zugang zu Wasser ist bedroht, da das Gesetz keine beschränkung der Wassernutzung der Minen vorsieht.
Die Strategien der herrschenden Klasse zur Durchsetzung der Minen und anderer Megaprojekte scheinen fast übertrieben plump. Kurz nach dem neuen Minengesetz ließ der vor einem Jahr neu eingesetzte Bischof der westlichen Diözese Santa Rosa de Copán, Darwin Andino, mindestens 14 Pfarrer und eine Nonne versetzen. Die Geistlichen waren allesamt in der Verteidigung der Territorien aktiv. Laut Aktivist_innen heißt es, dass die Caritas mit ihrem internationalen Koordinator Kardinal Rodríguez von honduranischen Minengesellschaften finanziell unterstützt wird. „Dies ist ein makabrer Plot der mächtigen Gruppen Tegucigalpas, um die Bevölkerung im Westen des Landes zu demobilisieren“, erklärt der betroffene Pfarrer Esteban Guzmán, der auch Todesdrohungen erhalten hat. Die Gemeinden wehren sich unter anderem mit Kirchenbesetzungen gegen die Beseitigung der Geistlichen.
Doch es bleibt nicht dabei. Menschenrechtsorganisationen zeigten sich negativ überrascht über das ebenfalls im Januar verabschiedete Geheimdienst-Gesetz, welches die Nationale Ermittlungs- und Intelligenz-Direktion (DNII) schaffen soll, sowie Geheimoperationen und Spezialagenten vorsieht und an die Methoden der Aufstandsbekämpfung im Honduras der 1980er Jahre erinnert. Es wird befürchtet, dass dies gerade im Kontext der territorialen Bedrohungen zur Bespitzelung und Kriminalisierung sozialer Proteste führen könnte.
Dieses Gesetz addiert sich zum 2010 verabschiedeten „Gesetz gegen die Finanzierung des Terrorismus“, womit die finanziellen Mittel angeblich subversiver Gruppen, inklusive Nichtregierungsorganisationen, überwacht werden, sowie zum Abhörgesetz von 2011, welches das Abhören von Telefonaten, die Kontrolle von E-mails und Bankkonteneinsicht legalisiert. Unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung wird währenddessen das Land militarisiert.
Am 24. Januar dieses Jahres wurde des Weiteren das „Gesetz zum Politischen Prozess“ diskutiert, das die Immunität von Politiker_innen abschaffen soll. Das Gesetz wird dieser Tage verabschiedet.
Es wird vermutet, dass es ein Instrument zur Eliminierung internen Widerstands gegen Gesetze wie diese darstellt. So ist ab jetzt das Absetzen von Richter_innen durch den Kongress legal.
Die sozialen und Umwelt-Bewegungen stehen vor der schwierigen Aufgabe, dem neoliberalen Sprint Einhalt zu gebieten. Die Verteidigung der Territorien ist dieses Jahr zum Stichwort zahlreicher Proteste und neuer Allianzen geworden. In einem Kommuniqué des „Zusammenschlusses zur Neugründung“, welcher am 29. Januar vor dem Kongress protestierte, heißt es: „Jedes Dorf, jedes Viertel, jeder Landkreis muss sich in einen Schutzwall gegen die Landesverkäufer verwandeln“.
Vom 26. Februar bis 8. März fand unter diesem Motto ein groß angelegter Marsch zur Verteidigung der Territorien statt, der von mehreren Städten Richtung Hauptstadt führte.

Handeln statt pauken

Die Perspektive wechseln, globale Zusammenhänge verstehen, einen Bezug zum eigenen Handeln herstellen – all das soll Schüler_innen und anderen Interessierten bei Bildungsveranstaltungen des Globalen Lernens ermöglicht werden. Die Kultusminister-­Konferenz und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben dafür 2007 einen Orientierungsrahmen herausgegeben. Mittlerweile gibt es viele außerschulische Angebote, die Lehrer_innen und Trainer_innen Material und Unterrichtsvorschläge zur Verfügung stellen, um Globales Lernen in ihre Arbeit zu integrieren.
Zum Thema Lateinamerika hat das Informationsbüro Nicaragua schon mehrmals fantasievolle, interaktive Materialien herausgegeben. Die Autor_innen des Infobüros nutzen ihre Lateinamerikakenntnisse, um komplexe Probleme verständlich zu machen und differenzierte Sichtweisen zu ermöglichen.
In der aktuellen Publikation zum Thema Klimawandel möchten die Autor_innen zeigen, „was der abstrakte Prozess der globalen Erwärmung und Umweltzerstörung konkret für Menschen und Gesellschaften in Lateinamerika bedeutet“, wie es im Vorwort heißt. Das Werkheft und die dazugehörige DVD sind Ergebnis einer Lern- und Methodenwerkstatt, in der Multiplikator_innen und Bildungsarbeiter_innen die vorgestellten Konzepte gemeinsam entwickelten und erprobten. So entstanden sieben thematische Bausteine mit unterschiedlichen Unterrichtssequenzen: Der Klimawandel als Nord-Süd-Konflikt, der Blick von Betroffenen aus Nicaragua, ökologische Folgen von Fleischkonsum, Agrosprit, der Belo-Monte-Staudamm, Atomkraftwerke am Amazonas und Alternativen zur Zerstörung der Umwelt.
Die Bausteine sind eine gute Mischung aus regionalen und thematischen Schwerpunkten. Das Besondere liegt jedoch nicht in der Themenwahl, sondern in deren vielfältiger methodischer Aufbereitung. Alle vorgeschlagenen Sequenzen geben den Teilnehmenden die Möglichkeit zu handeln, zu erfahren, Stellung zu beziehen und erleichtern ihnen damit eben jenen Perspektivenwechsel, der für Globales Lernen so wichtig ist.
Zum Beispiel Agrosprit: Hier erarbeiten sich die Teilnehmenden das Thema anhand eines Tribunalspiels. Sie sind entweder Anwält_innen eines Palmöl-Großprojekts oder einer Kleinbäuer_innenorganisation und müssen vor dem fiktiven Internationalen Gerichtshof für Klima und Umweltschutz ihre Mandant_innen vertreten. Dafür erhalten sie eine Reihe von Zeug_innenaussagen, die sie für ihre Argumentation vor Gericht auswerten. Anschließend können sie die differenzierten Informationen gleich anwenden. Das Raffinierte an diesem Spiel ist, dass die Teilnehmer_innen zwar eine Meinung vertreten, in ihrer Rolle als Anwält_innen aber nicht selbst betroffen sind, sondern bei der Verhandlung gewinnen wollen. So sind sie als Außenstehende zugleich mitten im Geschehen, da sie argumentativ siegen wollen.
Zu jeder Lernsequenz gibt es abschließend reflektierende Fragen, mit denen die Teilnehmenden das Erlebte rekapitulieren und auf ihre eigene Lebenswirklichkeit beziehen. Eine umfassende Literaturliste zu jedem Thema erleichtert es Lehrer_innen und Multiplikator_innen außerdem, sich weiter zu informieren.

Hrsg. Informationsbüro Nicaragua e. V. // Was sind schon zwei Grad mehr?! Klimawandel und Umweltkonflikte // Bestellbar gegen eine Schutzgebühr von 5,- Euro unter: info@informationsbuero-nicaragua.org

Mit Autonomie gegen aufgezwungene Projekte

Wie hat sich die Situation der indigenen Gruppen in Honduras durch den Putsch verändert?

Bereits vor dem Putsch waren wir dem Druck durch die Interessen transnationaler Unternehmen ausgesetzt, der Privatisierung der natürlichen Gemeingüter, dem Eindringen großer Oligarchen und nationaler und internationaler Konzerne in unsere Territorien und dem totalen Ausschluss der indigenen Gruppen aus der honduranischen Gesellschaft. Die Politik des Staates zielt darauf ab, die indigenen Gruppen auszunutzen, sie als folkloristische Objekte zu sehen und nicht als politische und historische Subjekte. Unsere Autonomie, unsere Rechte und Entscheidungen werden nicht respektiert. In den letzten Jahren ist die Not in den indigenen Dörfern weiter gestiegen. Das Phänomen, dass Jugendliche sich dazu gezwungen sehen, auszuwandern, war in vielen Dörfern nicht bekannt. Auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung existiert eine totale Vernachlässigung.Es sind die indigenen Dörfer, in denen die höchste Mütter- und Kindersterblichkeit herrscht. In einigen Landkreisen ist auch die Zahl der Frauenmorde angestiegen. Mit dem Staatsstreich hat sich diese Situation nochmals verschärft und das Niveau der Straflosigkeit, welches Honduras 2012 weiterhin durchlebt, hat die Dörfer dazu gezwungen, den Widerstand zu verstärken. Die Unternehmen und die Machtsektoren schreiten mit ihren Megaprojekten voran. So zum Beispiel bei der Vergabe von Fluss- und Bergbaukonzessionen, den REDD-Programmen und den riesigen Windparkanlagen.

Welchen akuten Bedrohungen sind die indigenen Gruppen in Honduras ausgesetzt?

Seit dem Putsch haben die Abgeordneten im Kongress einer Vielzahl wirklich schlimmer Gesetze zugestimmt, schlimm nicht nur für die Indigenen, sondern für die gesamte Bevölkerung von Honduras. Sie haben Konzessionen über einen Zeitraum von 50 Jahren für alle Flüsse des Landes an Unternehmen vergeben, manche sogar ohne zeitliche Begrenzung. Es gibt keine Befragung der betroffenen Dörfer. Die Firmen dringen in unsere Territorien ein und beginnen mit Studien. Sie kommen mit Polizei oder Militär oder auch mit privaten Sicherheitskräften und bezahlten Schlägern. Sie fälschen Unterschriften und sagen, damit sei alles legal. Oftmals lassen sich auch die Bürgermeister bestechen. Momentan wird versucht, ein neues Bergbaugesetz zu verabschieden, das Unternehmen bei der Wassernutzung bevorzugt, zum Nachteil der Dörfer, vor allem in Regionen mit indigener und schwarzer Bevölkerung. Wir stellen zudem fest, dass mit all diesen Vorstößen der neoliberalen Politik auch die Militarisierung des Landes voranschreitet. Es wurde ein Gesetz zur Überwachung der privaten Kommunikation der Honduranerinnen und Honduraner verabschiedet. Ebenfalls bewilligt wurde ein Gesetz, das dem Militär weitreichende Machtbefugnisse erteilt, ihm polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Funktionen übergibt.

Welche genauen Interessen haben nationale und internationale Unternehmen in der Region?

Bis jetzt hat COPINH alleine in der Lenca-Region fünfzehn geplante Staudammprojekte recherchiert. In vielen Fällen gab es Kampagnen, um den Widerstand der Dörfer aufzuweichen, so zum Beispiel in San José. Obwohl es eine offene Versammlung gegeben hatte, die den geplanten Staudamm auf Landkreisebene ablehnte, erteilte das Dorf, auf dessen Gebiet der Staudamm gebaut werden soll, die Erlaubnis dafür. Jetzt gibt es dort Wasserknappheit und die Bewohner werden mit der Realität und den Auswirkungen des Projekts konfrontiert. Zu der Avocadoplantage in San José, wo der Bau des Staudamms bewilligt wurde, haben die Dorfbewohner keinen Zutritt mehr. Nicht einmal den Familienangehörigen der Leute, die auf der Baustelle arbeiten, wird das Betreten erlaubt. Es gibt Dorfbewohner, welche die Bauarbeiten fotografieren wollten, und deshalb von privaten Sicherheitskräften verfolgt wurden.
Ein anderes Projekt findet in Río Blanco, im nördlichen Teil von Intibuca statt. Dort leistet das Dorf organisierten Widerstand. Es gab eine offene Versammlung unter Beteiligung des ganzen Dorfes, auf der Staudamm- und Minenprojekte absolut abgelehnt wurden. Trotzdem hat sich der Bürgermeister dafür hergegeben, Techniker, Polizei und bezahlte Schläger in das Dorf zu holen, und sie sind gerade dabei, Baumaschinen heranzuschaffen. Wir haben Anzeigen wegen der Vorfälle auf internationaler Ebene und hier in Honduras gestellt. Es gibt niemanden mehr an den wir uns noch wenden können, und die Dorfbewohner überlegen nun selbst, gemeinschaftliche Aktionen zu starten, um den Bau des Staudammes zu verhindern und ihr Territorium zu verteidigen.
Das sind die zwei konkreten Fälle, die wir haben, alle anderen Projekte konnten wir bisher stoppen. Wir wissen auch, dass es Interessen des Bergbausektors in der Region gibt. Staudämme als Wasserspeicher und zur Energiegewinnung sowie der Abbau von Metallen und Mineralien sind meist miteinander verknüpft.

Zuvor haben Sie auch das UN-Waldschutzprogramm REDD angesprochen. Welche Erfahrungen gibt es damit?

Im Kampf gegen die Privatisierung der natürlichen Gemeingüter der Dörfer müssen wir ständig neuen Herausforderungen entgegentreten. Erst war es die Holzindustrie, dann die Staudämme. Das neueste sind diese REDD-Projekte zur Verringerung der Emissionen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung. Für uns sind die REDD-Programme nichts anderes als eine weitere Form der Privatisierung und der Enteignung. Wie kann jemand Ertragsrechnungen über Sauerstoff und die Speicherung von Kohlenstoff erstellen? All das ist für die indigenen Gruppen nicht verständlich und unakzeptabel. Diese Projekte der erneuerbaren Energie und das REDD-Programm kommen aus der Debatte um den Klimawandel. Wer die wirklich Verantwortlichen sind, sagen sie niemals, sie sprechen nur vom Klimawandel, als wäre es etwas von Gott Vorherbestimmtes. Hier gab es starken Druck von Stiftungen auf die Dörfer, große Gebiete zu privatisieren. Von Stiftungen, die wir nicht kennen, die Phantomen gleichen und uns erzählen, ihre Projekte würden von den Regierungen Finnlands, der USA, Spaniens, Japans und anderen vorangetrieben.
Es kamen auch Techniker, die sagten, sie wären vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen und wollten im Austausch für die Projekte die kommunalen Landtitel der Dörfer.
Wir haben ganz klar begriffen, dass REDD den Verlust der Autonomie und die Vertreibung der Indigenen aus ihren Territorien bedeutet. Dass es andere sein werden, wie zum Beispiel die Stiftungen, die sich Umweltschützer oder internationale gemeinnützige Organisationen nennen, die über das Schicksal der indigenen Dörfer bestimmen. Sie sagen uns „Ihr werdet auch Aktionäre sein!“, aber es ist klar, dass sie fünf auswählen und dann sagen werden, diese würden das gesamte Dorf repräsentieren.

Was sind die Aktionsformen des COPINH gegenüber diesen Bedrohungen?

Wir haben einen Kampf aus den Dörfern heraus aufgebaut. Wir üben unsere Autonomie aus und versuchen, das Eindringen dieser Projekte in unsere Gebiete zu verhindern. Wir versuchen von Anfang an, ihre Infrastruktur zu behindern und sie so zu vertreiben, wenn uns Projekte aufzwungen werden sollen. Alles in allem haben wir im Laufe der Jahre verschiedenste Protestformen entwickelt. Wir haben Straßenblockaden durchgeführt, den Präsidentenpalast, den Kongress und den obersten Gerichtshof besetzt. Wir haben Hungerstreiks organisiert und die Werke der Holzindustrie besetzt. Wir veröffentlichen nationale und internationale Erklärungen und Anklagen. Wir glauben, es ist auch auf internationaler Ebene wichtig, Solidarität mit den Indigenen und Schwarzen von Honduras aufzubauen. Wir unterhalten zwei kommunale Radiosender. Für uns sind die Radios mehr als nur Werkzeuge unseres Widerstandes, sie sind Teil unserer Gesamtstrategie und ein wichtiger Erfolg unseres bisherigen Kampfes, eigene alternative Medien zu besitzen. Wir realisieren verschiedene Bildungsprojekte, unter anderem zu indigenen Rechten und Frauenrechten. Dabei schaffen wir es, Alternativen zur vorherrschenden Misere aufzuzeigen. Sowohl Antworten auf die dringlichen unmittelbaren Bedürfnisse und Forderungen, die in den indigenen Dörfern bestehen, als auch Lösungsansätze für die tiefe landesweite politische und soziale Krise, in der sich Honduras aktuell befindet.

Kasten:

Bertha Cáceres setzt sich seit ihrer Jugend für die Verteidigung der indigenen Rechte und der Frauenrechte ein. Sie ist Gründungsmitglied und seit einigen Jahren Koordinatorin des Consejo Civico de Organizaciones Populares e Indigenas de Honduras (Ziviler Rat der Basis- und Indigenenorganisationen in Honduras – COPINH). COPINH vereint zahlreiche Dörfer der Region Lenca im Nordwesten von Honduras, aber auch Frauen- und Jugendgruppen. Die Organisation definiert sich über den Widerstand, die Forderungen und die Verteidigung der Rechte der indigenen Gruppen gegen patriarchale, rassistische und kapitalistische Strukturen und zeigt alternative Lebensformen auf.
Bertha Cáceres wird für ihr Engagement und die Arbeit von COPINH im Juni 2012 der Menschenrechtspreis des AK Shalom der katholischen Universität in Eichstätt verliehen. Vor und nach der Preisverleihung werden mehrere Veranstaltungen mit ihr stattfinden.

Weitere Infos zur Rundreise von Cáceres und zu Honduras:
www.hondurasdelegation.blogspot.com
www.copinh.org
http://akshalom.landlos.de/

Ärger um fließendes Wasser

„Wir brauchen dieses Land als Vorbild, dass man sehr schnell Energie erzeugen kann aus regenerativen Energien. Das wird anderen Mut machen.“ Bundespräsident Wulff hatte auf seiner Lateinamerikareise Anfang Mai dieses Jahres nur lobende Worte für die costaricanische Energie- und Umweltpolitik übrig. Diese Einstellung mag vor dem Hintergrund der Kehrtwende in der Atompolitik der schwarz-gelben Bundesregierung verständlich sein, bei Enrique Rivera bringen solche Äußerungen nur Kopfschütteln hervor. Rivera ist Vorsitzender des Kulturvereins der Teribe, einer indigenen Gruppe in Costa Rica.
„Auf den ersten Blick sieht ein Staudamm harmlos aus. Hier in Térraba bedroht ein solches Projekt unsere Kultur. Aber das scheint vielen Leuten nicht wichtig zu sein, denn indigene Rechte werden vom Staat mit Füßen getreten.“
Nur wenige Tage vor Wulffs Stippvisite hatte der UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Indigenen, James Anaya, ebenfalls das Land besucht. Dem vorausgegangen war ein Hilferuf der Teribe an die Vereinten Nationen. Die Indigenen wehren sich gegen das größte Staudammprojekt Mittelamerikas „Diquís“, dessen Damm inmitten ihres Territoriums gebaut werden soll. Mehr als 700 Hektar Land des Gebietes würde der Stausee überfluten und darüber hinaus weitere Teile des eigentlich geschützten Lebensraums der Indigenen unbewohnbar machen.
Viele Teribe befürchten, dass durch den Staudammbau und dessen soziale sowie ökologische Folgen ihre Kultur endgültig vernichtet würde.
„Mit den Bauarbeiten kommen Drogen, Gewalt und Prostitution in unsere Gemeinde“, befürchtet Rivera. „Aber selbst das Recht auf Zustimmung ist uns von Anfang an verwehrt worden. Daher haben wir uns an die UN gewendet.“
Im Rahmen einer offiziellen UN-Mission untersuchte Anaya Ende April die Vorwürfe vor Ort. „Die Befragung ist nach geltendem Völkerrecht verpflichtend. Sie ermöglicht einen Dialog zwischen allen Beteiligten“ so der UN-Sonderberichterstatter. Tatsächlich genügt ein Blick in die Konvention 169 der ILO über die Rechte der indigenen Völker, welche Costa Rica 1993 ratifiziert hat. Darin heißt es unter Artikel 6: „Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“ Und so musste auch Franklin Ávila, leitender Direktor des Staudammprojektes „Diquís“, klein beigeben. „Wir haben die Entscheidung getroffen, uns zurückzuziehen und unsere Studien vor Ort zu beenden, um den Konsultationsprozess wirklich beginnen zu lassen. Dies soll kein Stein im Schuh sein“, verkündete er im Anschluss an Anayas Besuch. Zuvor hatte Ávila die Befragung noch als unverbindlich angesehen.
„Studien“ ist eine offizielle Sprachregelung, denn tatsächlich hatten die Baumaßnahmen schon längst begonnen. Das verantwortliche staatliche Energieunternehmen Costa Ricas ICE hatte breite Straßen durch das indigene Territorium Térraba angelegt, täglich waren hier schwere Baumaschinen in Richtung der aufgekauften Landfläche unterwegs. „An den neuen Straßen wurden gleich fünf neue Bars eröffnet“, beschreibt Rivera die Situation. „Eigentlich ist der Verkauf von Alkohol innerhalb unseres Territoriums verboten.“ Dabei hatte das ICE zumindest ansatzweise versucht, die indigene Bevölkerung in den Planungsprozess mit einzubeziehen. Jahre zuvor war ein noch größeres Staudammprojekt in der Region an dem erbitterten Widerstand der indigenen Gruppe der Boruca gescheitert, die aus ihrem angestammten Territorium komplett hätten zwangsumgesiedelt werden müssen. Das ICE versuchte, daraus Lehren zu ziehen, reduzierte den Umfang des künftigen Stausees um ein Drittel und trat in direkten Kontakt mit den betroffenen Gemeinden. Die Anzahl der unmittelbar betroffenen Indigenen sollte so klein wie möglich gehalten werden. Aufgeben wollte das ICE nicht, schließlich wird das Projekt mit Mitteln der Weltbank finanziert und verspricht zudem satte Gewinne durch Energieexporte. „Sie sagen uns, dass der Staudamm nur Strom für Costa Rica erzeugen wird. Wofür bauen Sie dann aber transnationale Stromnetze bis in die USA?“ fragt sich Rivera. Ihm und weiteren Gegner_innen des Projektes wird vorgeworfen, die Entwicklung des Landes zu gefährden, sollte der Staudamm nicht gebaut werden.
Das Auswärtige Amt bezeichnet Costa Rica wohlwollend als Musterland für politische Stabilität und sozialen Frieden. Auch wenn die politischen Realitäten des Landes anders aussehen, so muss man doch eine gewisse, im zentralamerikanischen Kontext bemerkenswerte demokratische Tradition anerkennen. Weshalb scheitert Costa Rica daran, grundlegende Rechte der indigenen Bevölkerung umzusetzen? Auch wenn die Indigenen nur rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, besteht mit acht indigenen Gruppen eine enorme kulturelle Vielfalt. Costa Rica besitzt einen Mikrokosmos an indigenen Sprachen, Mythen und Traditionen, die aber zunehmend ignoriert und verdrängt werden. Die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft hat kulturellen Unterschieden und deren Entwicklung keinen Raum gelassen, schon gar nicht politisch. Da hilft es wenig, dass der Feiertag zu Kolumbus’ Entdeckung Amerikas in einen „Tag der Kulturen“ umbenannt wurde.
Formal bestehen umfangreiche Schutzmechanismen, welche die derzeitige prekäre Situation der Indigenen hätten verhindern müssen. Bereits vor der Ratifizierung der ILO-Konvention 169 waren die Landflächen der 24 indigenen Territorien unveräußerlich und ausschließlich für die dort lebenden indigenen Gruppen vorbehalten.
Enrique Rivera aus Térraba wirkt verbittert. „Was helfen ein paar gut gemeinte Gesetze? Seit 500 Jahren gibt es hier kein Recht für uns. Der Staat ignoriert seine eigenen Verpflichtungen, um an die Ressourcen hier zu kommen.“ Vielmehr werden Eigentums-, Informations- und Partizipationsrechte der Indigenen auch durch staatliche Institutionen verletzt. Am Beispiel des Territoriums Térraba und des dort geplanten Staudammes wird diese Schieflage besonders deutlich.
Rund 750 Personen gehören zur Gruppe der Teribe und diese haben bereits mehr als 90 Prozent der ihnen zugesprochenen Landflächen an nicht-indigene Personen verloren, obgleich der Erwerb von Land innerhalb ihres Territoriums durch Nicht-Indigene illegal ist. De facto ist landesweit die Hälfte aller indigenen Territorien in fremdem Besitz.
„Viele Indigene haben ihr Land zu Spottpreisen verkauft, dabei wussten sie nicht, dass die Kaufverträge illegal waren. Aber auch viele Siedler haben sich einfach ungenutztes Land genommen, ohne dass irgendwer etwas dagegen gesagt hat.“ Rivera meint, dass auch viele Indigene für die Situation mitverantwortlich seien.
Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen ist massive Korruption in den Verwaltungen der indigenen Territorien für den illegalen Landverkauf verantwortlich, zum anderen ein bürokratisches Verwaltungssystem. Anstatt den Indigenen die gesetzlich zugesicherte autonome Selbstverwaltung zu ermöglichen, setzte der costaricanische Staat eigene Verwaltungsstrukturen ein. Nun waren die Indigenen nicht untätig. Nach der Ratifizierung der ILO 169 arbeite die indigene Bewegung einen Gesetzentwurf aus, welcher die Umsetzung der Konvention auf lokaler Ebene beinhaltet. Doch anstatt dieses Gesetzesvorhaben ernsthaft zu behandeln, behalten es Regierung und Parlament seit nunmehr 18 Jahren in der Warteschleife. Zu mächtig scheinen die wirtschaftlichen Interessen, denen das Gesetz mit der Nummer 14.352 ein Dorn im Auge ist. Zu peinlich wäre es indes, den Indigenen ihr geltendes Recht zu verwehren. Als problematisch erweist sich dabei die nationale Vertretung der Indigenen CONAI, der Nationalen Kommission für Indigene Angelegenheiten. Dieses Gremium würde nach dem Gesetzentwurf aufgelöst werden, da es als feste Institution des Staates einer autonomen Selbstverwaltung nicht gerecht würde. Die Indigenen der CONAI haben daher ein vitales Interesse daran, dieses Vorhaben zu verhindern. Sie erzählen daher nicht nur der Regierung, dass die Gesetzesvorlage überhaupt nicht von der indigenen Mehrheit gewünscht sei. Dabei wurde das Gesetz in intensiver Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen und indigenen Verbänden entworfen. Seit 18 Jahren dauert diese paradoxe Situation nun an. Als die indigene Bewegung letztes Jahr eine Antwort haben wollte, ob das Gesetz wenigstens im Parlament diskutiert werden könne, kamen keine Vertreter_innen der Regierungspartei zu der vereinbarten Pressekonferenz im Parlamentsgebäude. Aufgebracht besetzten daraufhin Indigene den Parlamentsraum, wurden aber umgehend vom Sicherheitsdienst entfernt.
„Es ist wichtig, dass ein Gesetz, das die Minderheit schützt, nicht die gesamte nationale Entwicklung gefährdet“, kommentierte Präsidentin Laura Chinchilla den Vorfall. Ihr Umweltminister Teófilo de la Torre gab zu, dass konkrete Staudammprojekte wie „Diquís“ dem Gesetzentwurf entgegenstünden: „Erhält die indigene Bevölkerung bei Entscheidungen, die ihr Territorium betreffen, ein Mitspracherecht, könnte das für das Land den Verlust dieser wertvollen Ressource bedeuten.“
José María Villalta, einziger Abgeordneter der Linkspartei Frente Amplio, fasst die Gründe für die jahrelange ablehnende Haltung zusammen: „Erstens: Die starken Interessen von privaten Gruppen mit Beziehungen zur Regierung, welche die natürlichen Ressourcen in den indigenen Territorien ausbeuten: Bergbau, Wasserkraft, Forstwirtschaft, die biologische Vielfalt. Sie wollen nicht, dass die Indigenen mehr Autonomie haben, um Entscheidungen über die Nutzung dieser Ressourcen treffen zu können. Zweitens: Die Interessen der Weißen, die in den indigenen Territorien Land besitzen. Das Gesetz verlangt die Rückgabe dieses Landes, sodass diese Personen wirtschaftliche Macht verlieren würden. Und drittens die Interessen der Mitglieder von CONAI, die glauben, mit ihrer völlig paternalistischen und unzeitgemäßen Überzeugung die Indigenen zu unterstützen. Sie möchten weiterhin Klientelpolitik betreiben, die Meinung der Indigenen manipulieren und sich daher nicht, wie im Gesetzesentwurf vorgesehen, selbst abschaffen. Zu viele mächtige Gruppen würden durch das Gesetz Macht verlieren.“
Der Alltag in den indigenen Territorien Costa Ricas ist von Armut, Arbeitslosigkeit und schlechter medizinischer Versorgung geprägt. Für viele ist die Arbeit in transnationalen Unternehmen oder ein Arbeitsplatz in der Hauptstadt die einzige Möglichkeit, die eigene Familie zu ernähren. Im Cantón Buenos Aires, in dem neben Térraba drei weitere indigene Gruppen leben, lässt Del Monte in großem Maßstab Ananas anbauen. Dennoch ist Buenos Aires die zweitärmste Region Costa Ricas. Befürworter_innen des Staudammprojektes hoffen daher auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Del Monte versprochen hatte: Arbeitsplätze, Infrastruktur, Wohlstand. Das ICE weiß um diese Hoffnungen und propagiert „Diquís“ als Garant für eine bessere Zukunft der Region. Gleichzeitig warnt das ICE vor landesweiten Stromausfällen, sollte der Staudamm nicht in Betrieb genommen werden können. Es darf daher zumindest angezweifelt werden, ob die nun anstehende Befragung den internationalen Standards entspricht oder ob sie in eine Propagandaschlacht ausarten wird, bei der das ICE am längeren Hebel sitzt.
In Térraba hat sich bereits eine tiefe Spaltung zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen des Staudammes vollzogen. Selbst Indigene, die seit langem in der Bewegung aktiv sind, wollen inzwischen die Befragung dazu nutzen, bessere Bedingungen mit dem ICE auszuhandeln. Es herrscht eine Mischung aus Misstrauen, Verwirrung und Desinformation. Fabian Flores aus Térraba macht dafür auch das ICE verantwortlich: „Viele Mitglieder unserer Gemeinde sind nicht richtig informiert, weil das ICE sich nicht die Zeit genommen hat, das Vorhaben verständlich zu erklären.“
Enrique Rivera versteht nicht, weshalb manche sich sichere Arbeitsplätze durch den Staudamm erhoffen, da diese nur kurzfristig während der Bauarbeiten vorhanden wären. „Andere wiederum wollen das Projekt unterstützen, wenn es dafür bessere Schulen, Straßen und medizinische Versorgung gäbe. Aber müssen diese eigentlich selbstverständlichen Dinge durch die Zerstörung eines Flusses erkauft werden?“
Eine Ironie der Geschichte ist, dass „Diquís“ ein Wort in der Sprache der Teribe ist. Es bedeutet fließendes Wasser.

Noch zu wenig linke Akzente

Kaum im Amt sah sich Brasiliens neue Präsidentin Dilma Rousseff der ersten großen Belastungsprobe in den beiden Kammern des Kongresses ausgesetzt: Ihre Regierung hatte in Absprache mit den Koalitionspartnern einen Vorschlag zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf monatlich 545 Real (umgerechnet etwa 237 Euro) eingebracht. Die Gewerkschaften forderten einen Mindestlohn von 580 Real (circa 252 Euro). Der Ton im Streit zwischen Regierung und den Gewerkschaften und die Anpassung der Steuerstufen hat sich rasant verschärft. Nach Erhebungen des gewerkschaftsnahen Institut Dieese müsste der Mindestlohn in Brasilien bei 2.194 Real (954 Euros), liegen, um die Befriedigung der Bedürfnisse der ArbeiterInnen in den Bereichen Ernährung, Wohnung und Freizeit zu gewähren.
Dilma Rousseff bekräftigte, dass sich ihr Vorschlag am Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahre orientiere. Dieses Vorgehen sei von den Gewerkschaften mit Vorgänger-Präsident Lula so vereinbart worden. Die Gewerkschaft hingegen sah das ganz anders: Der Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, Celso Woyciechowski, wies auf das erhebliche Wirtschaftswachstum 2010 und die Notwendigkeit hin, die Arbeitenden angemessen daran zu beteiligen. „Außerdem ist die Anpassung der Steuerstufen absolut notwendig“, sagte Woyciechowski. Ohne eine solche Anpassung der Steuerprogressionssätze würden die Arbeitenden mehr zahlen müssen. Woyciechowski wies auch darauf hin, dass es nur durch gerechtere Einkommensverteilung möglich wäre, die Armut in Brasilien auszulöschen – eine klare Anspielung auf das erklärte Hauptziel von Präsidentin Rousseffs Regierung: die extreme Armut im Land zu besiegen.
Dilma setzte sich durch – gleichwohl war der Graben zwischen den ehemaligen Alliierten der regierenden Arbeiterpartei PT und dem Gewerkschaftsdachverband CUT nicht mehr zu übersehen: Während der Parlamentsdebatte im Kongress pfiffen angereiste GewerkschafterInnen auf den Zuschauerplätzen den PT-Abgeordneten Vicente Paulo da Silva (Vicentinho) aus, als dieser den Regierungsvorschlag einbrachte. Vicentinho war Gründungsmitglied und erster Präsident des Gewerkschaftsdachverband CUT gewesen. Nachdem er damit drohte, die Protestierenden des Saales zu verweisen, schwiegen die GewerkschafterInnen, drehten dem ehemaligen Kollegen und nun Abgeordneten aber demonstrativ den Rücken zu.
Im Zentrum linker Kritik an der Regierungspolitik steht nach wie vor das von Dilma konzipierte und unter Vorgängerpräsident Lula ins Leben gerufene Programm der Beschleunigung des Wachstums (PAC). Dieses soll nun auch vermehrt für Großprojekte zur Realisierung der anstehenden Megaevents Fußballweltmeisterschaft 2014 und Olympische Spiele in Rio 2016 eingesetzt werden. Besorgt zeigen sich die sozialen Bewegungen und Organisationen über die daraus resultierenden Räumungen. Diese Gefahr sieht auch die Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien. Sie befürchtet „massive Umsiedlungen“ von ärmeren Bevölkerungsschichten wegen der geplanten Baumaßnahmen für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Die Staatsanwaltschaft kündigte deswegen an, die Vorgänge um die sozialen Auswirkungen rund um die geplanten Baumaßnahmen zur Fußball-WM unmittelbar zu verfolgen. Dazu habe der Bundesstaatsanwalt in São Paulo, José Roberto Pimenta Oliveira, Amtsanfragen an diverse Bundes-, Landes- und Bezirksbehörden versandt, um „detaillierte Informationen über die Prozesse der Umsiedlung und Wiederansiedlung von Familien zu erhalten“, so die Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Da die Fußball-WM ein Projekt mit Auswirkungen auf das ganze Land sei, müsse sich die Staatsanwaltschaft auf Bundesebene des Falles annehmen. Dazu habe die Bundesstaatsanwaltschaft zum Schutze des Bürgers eine Sonderarbeitsgruppe mit dem Namen „Mega-Events und angemessenes Wohnen“ gegründet.
Vor Konflikten auch mit der Regierung scheut die Staatsanwaltschaft bekanntermaßen nicht zurück: Erst im vergangenen Jahr hatte etwa die Bundesstaatsanwaltschaft in Pará mehrere Baustopps gegen den Megastaudamm Belo Monte in Amazonien per Eilverordnung verfügt. Der andauernde Konflikt in Belo Monte bringt die RegierungskritikerInnen besonders auf die Palme. Die Vorgängerregierung unter Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte die Anweisungen mit verschiedenen, teils auch illegalen Maßnahmen zu verhindern versucht. Anfang April 2011 wurde das umstrittene Projekt am Xingu-Fluss im brasilianischen Amazonasgebiet auch durch die Forderung der Menschenrechtskommission CIDH der Organisation Amerikanischer Staaten an Brasilien, das Genehmigungsverfahren und sämtliche Bauarbeiten am Staudamm im Bundesstaat Pará sofort einzustellen, in Frage gestellt. Besonderen Wert legte die Kommission dabei vor allem auf den Umgang mit den indigenen Gemeinschaften. „Brasilien ist nun endlich aufgefordert, alles zu tun, um die isoliert lebenden kleinen Völker im Xingu-Becken zu schützen und dafür zu sorgen, dass die Ausbreitung von Krankheiten und Epidemien verhindert wird, die Siedler und Bauarbeiter einschleppen könnten“, so die CIDH. Binnen 15 Tagen muss Brasilien der OAS über geplante Maßnahmen Bericht erstatten, um die Forderungen zu erfüllen. Mitglieder der Regierung Dilma haben diese Forderungen scharf kritisiert, das Außenministerium zeigte sich „perplex“. Dilma selbst hat sich noch nicht öffentlich dazu geäußert. Gleichwohl bat Brasilien Mitte April um eine Fristverlängerung bei der CIDH, um auf die Forderung nach Baustopp formal zu antworten.
Stehen für massive Infrastrukturprojekte im Rahmen des PAC Milliardenbeträge zur Verfügung, so hat Dilma auf der anderen Seite Kürzungen der Staatsausgaben in Höhe von 50 Milliarden Reais angekündigt. Befürchtet wird, dass weniger Investitionen in Bereich der Erziehung und Gesundheit stattfinden. Der Regierung stehen weniger als zehn Prozent des jährlichen Haushalts frei zur Verfügung, der Rest ist bereits festgeschrieben. Diese Kürzungen werden von der Regierung für notwendig erachtet, um die Bedrohung einer ansteigenden Inflation abzuwenden. Den neoliberalen Medien und der Opposition in Brasilien erscheinen diese Kürzungsmaßnahmen positiv, da sie davon ausgehen dürfen, dass die Regierungsallianz in erster Linie im Bereich der Sozialausgaben den Rotstift ansetzen werde.
Dennoch ist es vor allem der Sozialbereich der Regierungspolitik, der trotz aller Kritik auch gelobt wird. In diesem werde Dilma die wesentlichen Elemente der Regierung Lula nach Meinung des Soziologen Emir Sader „beibehalten und noch verstärken“. Im wichtigsten Sozialprogramm der Regierung, der Bolsa Família (Familienstipendium), werde Dilma keine Kürzungen vornehmen, so Sader, aber eben auch wenig ändern. Dieses Cash-Transfer Programm erreichte Anfang 2011 12,9 Millionen arme Familien in ganz Brasilien und verteilt im Durchschnitt etwa 95 Real (42 Euro) pro Familie. Diese Höhe ist unzureichend für die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Lebensmittel und für die Bekämpfung von Hunger und Armut. Das sieht wohl auch Dilma so, hat sie doch bereits im April erklären müssen, dass sie ihr erklärtes Hauptziel, die extreme Armut im Land zu besiegen, nicht wie vorgesehen erreichen werde.
Kritisiert wird das Bolsa Família-Programm neben der unzureichenden Höhe der Mittel aber auch deswegen, weil das Programm Bedingungen stellt, indem es Gegenleistungen und Konditionalitäten verlangt, wie beispielsweise den Nachweis, dass die Kinder regelmäßig zur Schule geschickt werden. Seit 2007 sind mehr als 130.000 Familien deshalb aus dem Programm ausgeschlossen worden, weil sie die Bedingungen nicht erfüllen. Soziale Organisationen haben diese Vorgehensweise scharf kritisiert und das Ende der Konditionalitäten verlangt, da diese vor allem den Ausschluss von Armen bedeutet. Doch die Regierung Lula wie auch die von Dilma zeigen sich in dieser Frage unnachgiebig. Dennoch: Es ist unbestritten, dass das Programm Bolsa Família zu einer Reduzierung von Armut und sozioökonomischer Ungleichheit geführt und zur Verbesserung der Ernährung beigetragen hat. Viele Familien in Brasilien haben jetzt mittels dieser vom Staat verteilten Gelder die Möglichkeit, regelmäßige Mahlzeiten zu erhalten.
Neue Akzente setzte Dilma vor allem in der Frauenpolitik, sie hatte bereits nach kurzer Zeit das Programm „Storch-Netzwerk“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Mütter- und Säuglingssterblichkeit zu verringern. Das Programm wird vom Staat finanziert, um dergestalt der in Brasilien hohen Zahl von ungewollten Schwangerschaften, dem schwierigen Zugang zu pränatalen Tests und dem mangelhaften Zugang zu Entbindungskliniken zu begegnen.
Die Regierung hat auch ein neues vom Staat finanziertes Programm zur Bekämpfung von Gebärmutter- und Brustkrebs gegründet. Dilma sagte, sie wolle sicherstellen, dass alle Frauen die gleichen Bedingungen zur Behandlung von Krebs haben. „Ich möchte, dass alle Frauen in Brasilien den Zugang zu den gleichen Dingen haben, die ich hatte“. Dilma hatte im Jahr 2009 einen Tumor in ihrer linken Achselhöhle im Frühstadium erkannt, der dadurch erfolgreich entfernt wurde. Ziel der Regierung ist, den Zugang zu Prävention von Brustkrebs für alle Frauen zwischen 50 und 69 Jahren zu gewährleisten. Außerdem begann die Regierung den Bau von 718 Kinderkrippen, um die Erziehung der Kinder zu fördern und die Frauen in Brasilien im Berufsleben zu unterstützen. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil die traditionellen Sozialnetzwerke oft nicht mehr so funktionieren wie in der Vergangenheit. Laut Aussage von Planungsministerin Miriam Belchior plant die Regierung bis zum Ende des Mandats den Bau von sechstausend neuen Kinderkrippen. Der Erziehungswissenschaftler Luiz Araújo rechnete allerdings vor, dass in ganz Brasilien insgesamt bis zu 49.000 Krippen fehlten.
In der Außenpolitik wird Dilma die Beziehungen zu den Ländern des Südens vertiefen, besonders zu den südamerikanischen Nachbarländern, Lateinamerika und der Karibik sowie Afrika, dem Nahen Ostern und Asien. Als bedeutsam wurde die im Kongress erkämpfte Zustimmung zur Verdreifachung der Zahlungen Brasiliens an Paraguay für den Überschussstrom aus dem binationationalen Kraftwerk Itaipú bewertet. So setzt Brasilien im MERCOSUR neue Akzente, wird aber auch weiterhin eine wichtige Rolle in der Organisation und Vertretung der Interessen der Länder des Südens spielen, besonders in der wirtschaftlich aufstrebenden Ländergruppe der „BRIC“-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China). Linke Gruppen kritisieren nach wie vor Brasiliens Rolle in der UN-Truppe MINUSTAH in Haiti – doch Dilma setzt hier die Politik ihres Vorgängers Lula nahtlos fort. Leichte Akzentverschiebungen sind in den Beziehungen Brasiliens zum Iran festzustellen, erklärte Dilma doch bereits kurz nach Amtsantritt, Menschenrechtsfragen vermehrt in den bilateralen Beziehungen zu thematisieren. Auch wird Dilma im Vergleich zu Lula ein unvoreingenommeneres Verhältnis zu den USA nachgesagt. Hatte sich Lula bei seiner Abschiedsrede Ende vergangenen Jahres mit unverhohlener Schadenfreude über die Wirtschaftskrise in den USA geäußert und war bei Obamas Besuch in Brasilien Mitte März zum gemeinsamen Dinner mit dem US-Präsidenten demonstrativ nicht erschienen, so erweckt Dilma durch die Ernennung des eher als US-freundlich geltenden Antonio Patriota zum Außenminister den Eindruck, die Beziehungen zu den USA verbessern zu wollen. Dies geschieht nicht zuletzt mit Blick auf einen möglichen ständigen Sitz Brasiliens im UN-Sicherheitsrat.
Die größte Stärke von Dilma sind wohl ihre Management-Fähigkeiten, speziell darin, die Regierungsallianz unter Kontrolle zu halten. Die Opposition hatte gemutmaßt, Dilma sei ein Platzhalter von Lula, ohne besondere eigene Initiativen und Fähigkeiten. Ihr Management hat aber bislang dazu beigetragen, dass sie die Kontrolle der Regierung gut in der Hand hat und somit politische und soziale Legitimität breiter ausbauen kann. Außerdem kann sie den Dialog mit anderen sozialen Sektoren – wie etwa der Mittelschicht – wie auch mit der Opposition erweitern und vertiefen. Hierin kann ein neues Element im Ausbau einer alternativen Politik mit breiter Unterstützung liegen.
Nach Meinung Emir Saders erforderte bereits das geerbte Modell aus Lulas Zeit wirtschaftliche und soziale Anpassungen und muss neue Elemente wie die internationale Konjunktur und die ansteigende Inflation berücksichtigen. Die Regierung Dilma würde versuchen, diesen Herausforderungen zu begegnen, besonders um eine unkontrollierte Inflation zu vermeiden, ohne weitere Ungleichgewichte in der Handelsbilanz aufkommen zu lassen. Tatsache ist, dass Dilma nicht nur vor einer verbesserten Gesamtsituation steht als die, der Lula sich vor acht Jahren gegenüber sah, sondern auch ein derzeit geschwächtes, demoralisiertes und besiegtes bürgerliches Lager erlebt. Das ist ein Szenario, das es Dilma erleichtert, den Kurs der Regierung dann doch noch nach links zu bewegen. Bis jetzt hat sie jedoch wenig in diese Richtung getan.

// Ohne Meiler wär‘ geiler

Three-Mile-Island, Tschernobyl, Fukushima – Nicht mehr viele kommen beim Gedanken an Atomkraft so ins Träumen wie Brasiliens Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão: „50 Atomkraftwerke bis zum Jahre 2050 können wir in Brasilien bauen“, hatte der Minister noch im Jahre 2008 bekräftigt. Nur so könne Brasiliens wachsende Stromlücke geschlossen werden. Und für etliche in Brasiliens Regierungspartei heißt Entwicklung noch immer Staatsmacht Plus Elektrifizierung. Sei es mittels Staudamm oder Atom: Hauptsache groß und zentral. Und bei der Uranproduktion könne Brasilien laut Lobão angesichts der vermuteten immensen unerschlossenen Reserven bei Eigenversorgung und Export in die Weltliga aufsteigen.

Brasilien plant Großes. Dies auch nach dem GAU im japanischen Fukushima. Unbeirrt und allenfalls auf kritische Nachfrage der Presse werden zusätzliche Sicherheitsüberprüfungen angeordnet – an der grundsätzlichen Fahrtrichtung ändert sich aber nichts: Nichts ist demnach geiler als noch mehr Meiler. Die sollen dann als Smart-Variante auch die Atom-U-Boote antreiben, die das brasilianische Öl vor der Küste sichern sollen. Nie war Atomkraft rein zivil gedacht, die militärische Komponente war und ist immer präsent.

Auch Argentinien will mehr Atomkraft nutzen als bislang. Die Regierung Kirchner plant mit Atucha 3 das vierte AKW im Land. In Mexiko ist keine Debatte um Ausstieg erkennbar. Nur Venezuela und Peru erteilten der Atomenergie nun eine klare Absage. Chiles Präsident Piñera hingegen strahlt – und startet mit der kürzlich unterzeichneten Atomkooperation mit den USA in Sachen Brennstäben gerade erst richtig durch. Da gibt es für die Westinghouses und General Eletrics, die Mitsubishis, Rosatoms, Arevas und Siemens‘ dieser Welt eine Menge zu verdienen.

Da will natürlich auch die deutsche Bundesregierung nicht zurückstehen. Gegen die Stimmen der Opposition hat im März die Regierungsmehrheit im Bundestag einen Antrag auf Stopp der Hermesbürgschaften für Brasiliens drittes Atomkraftwerk, Angra 3, abgelehnt. So erhält Angra 3 – und damit Areva NP, an der Siemens noch einen Anteil hält – Exportkreditgarantien durch deutsche Steuergelder in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Ein stolzer Kreditrettungsschirm für das AKW im Risikogebiet, das obendrein seit Inbetriebnahme vor zehn Jahren nicht einmal die Betriebsgenehmigung seitens der Behörden vorzuweisen hat.

Der Ausbau der Atomenergie wird auch in Lateinamerika fortgesetzt werden. Trotz aller langsam aufkommender Debatten und erstarkender Proteste von Umweltgruppen, besorgter Menschen und Anzeichen kritischer öffentlicher Meinung. Fukushima mahnt – doch stecken zu viele Interessen hinter dem letztlich auch immer militärisch-industriellen Komplex der Atomkraft. In Lateinamerika, in Europa oder anderswo.
// Die LN-Redaktion

EDITORIAL DES HONDURAS-DOSSIERS:
Frauen, LehrerInnen, Queers, Kleinbauern und -bäuerinnen, Indigene und ArbeiterInnen wehrten sich vereinzelt gegen eine neoliberale, repressive Übermacht, die ihre Ordnung in Honduras durchsetzte. Unter Präsident Zelaya begannen diese Gruppen erstmals, über gemeinsame Forderungen nach einem anderen Honduras nachzudenken. In der Widerstandsbewegung gegen den Putsch gelangte die Bewegung zu einer gesellschaftlichen Bedeutung, der die PutschistInnen nur noch mit Gewalt Einhalt gebieten konnten. Heute sind sie sichtbar. Ihr Kampf forderte zahllose Opfer, und die Unterdrückung gegen die Bewegung dauert unvermindert an. Den Aufbruch sichtbar zu machen, haben auch wir uns zur Aufgabe gemacht. Eine zehnköpfige Delegation bereiste im Dezember 2010 Honduras, um diese Bewegung in ihrer Vielfalt kennen zu lernen. Wir sind nicht unbeteiligt. Die Ereignisse in Honduras geschehen in einer Konstellation internationaler Interessen. Dass die Regierungen der EU ein moralisch und politisch bankrottes Regime gegen einen enormen gesellschaftlichen Aufbruch verteidigt, löst ein Unbehagen aus, das über die Grenzen von Honduras hinausgeht. Sichtbares Ergebnis davon ist dieses Heft, das wir als Einladung verstehen.
Die Lateinamerika Nachrichten und die Honduras-Delegation 2010 freuen sich, dieses gemeinsam präsentieren zu können. Ebenfalls für die Verbreitung sorgen die Wiener Zeitschrift Lateinamerika Anders, das Münchner Info-Blatt des Ökumenischen Büros, und, so hoffen wir, Sie und ihr.
// Honduras-Delegation 2010 & LN-Redaktion

Cochabamba liefert jede Menge Impulse

Es ist der Abschlusstag des alternativen Klimagipfels in Cochabamba. Auf dem Campus der Valle-Universität im bolivianischen Tiquipaya, wo in den letzten Tagen die meisten Veranstaltungen des alternativen Klimagipfels stattgefunden haben, herrscht am Nachmittag Aufbruchstimmung. Die Menge strömt bereits in Richtung Fußballstadion im nahe gelegenen Cochabamba, wo in wenigen Stunden die von über 17 Arbeitsgruppen ausgearbeitete Abschlusserklärung verlesen wird. Dort wird der venezolanische Präsident Hugo Chávez die „Erpressungspolitik“ der US-amerikanischen Regierung geißeln, die Ecuador und Bolivien wegen eigenständiger Positionen in der Klimapolitik bereits zugesagte Gelder entzogen hat.
Über 35.151 TeilnehmerInnen hatten sich im Laufe der Woche akkreditiert, die meisten aus Bolivien. 9.254 Personen waren aus 141 Ländern angereist. Der Ansturm hat die OrganisatorInnen überrascht. Doch hat sich der Aufwand gelohnt?
„Auf jeden Fall“, sagt Tadzio Müller. Der lang gewachsene 33-jährige Umweltaktivist aus Berlin – schwarzes T-Shirt, schwarze Shorts, kurzer Vollbart – sitzt inmitten einer Handvoll AktivistInnen auf der Wiese vor dem Fachbereich Kultur.
Gerade hat er mit seinen MitstreiterInnen vom Netzwerk Climate Justice Action (CJA) einen Workshop organisiert, zu dem an die 100 Leute gekommen seien. Thema: die globale Klimaaktionswoche im Oktober, an der sich auch der Kleinbauerndachverband Vía Campesina und Kampagnengruppen wie 350.org beteiligen.
„Die Tage hier waren für mich interessant und produktiv“, sagt Müller, der sich sehr an die Weltsozialforen in Brasilien erinnert fühlt. Der Austausch von Gleichgesinnten steht im Vordergrund, kontroverse Debatten sind eher die Ausnahme.
Die Stimmung auf dem Unigelände ist entspannt: Hunderte drängen sich an Ständen vorbei, an denen vegetarisches Essen, Politliteratur und Kunsthandwerk angeboten werden. Junge KünstlerInnen bemalen eine Stellwand, andine Folkloregruppen musizieren, eine Rapperin aus El Alto im Andenhochland trägt ihre Stücke vor. Auf schattigem Rasen ruhen sich farbenfroh gekleidete Indigenas aus.
Und ob leibhaftig oder nicht: Boliviens Präsident Evo Morales ist allgegenwärtig: auf riesigen Plakaten an Unigebäuden oder an Ständen diverser Ministerien, auf Buchdeckeln oder Stellwänden, in den Reden begeisterter AnhängerInnen aus dem In- und Ausland. Morales kommt auch selbst vorbei: Mal lauscht er einer Podiumsdiskussion, mal eilt er mit seinem Gefolge zu einer Wiese, wo er mit dem burundischen Vizepräsidenten Yves Sahinguvu per Hubschrauber zu einer Stippvisite in die Provinz abhebt. Dort wird er eine Sporthalle einweihen und Fußball spielen.
In einem nahe gelegenen Luxushotel gibt der Staatschef eine Pressekonferenz. Umrahmt von Außenminister David Choquehuanca und UN-Botschafter Pablo Solón, sammelt er Fragen, die er anschließend im Block beantwortet. Eine beliebte Methode, um unbequeme Themen auszuklammern. Und doch ist dieser Auftritt weitaus überzeugender als Morales‘ Eröffnungsrede, wo er auf dem örtlichen Sportplatz durch ein paar unglückliche Bemerkungen Aufsehen erregt hatte. Die weiblichen Hormone industriell hochgezüchteter Hühner sei ein Auslöser für Homosexualität, scherzte er da, der Verzehr von genmanipulierten Lebensmitteln sei die Ursache für grassierenden Haarausfall. In Bolivien brachte ihm das Spott von der Opposition und den Protest von Schwulengruppen ein, in der internationalen Presse stellte er damit vielerorts seine Ausführungen über die Klimafrage in den Schatten.
Als Gesellschaftsform schwebt dem Präsidenten ein „kommunitärer Sozialismus“ vor. Auf dem Andenhochland, „wo ich geboren bin, gibt es kein Privateigentum“. Zur Förderung der Bodenschätze, dem von linken ÖkologInnen kritisierten „neuen Extraktivismus“, sieht er kurz- und mittelfristig allerdings keine Alternative, ebenso wenig zum Bau neuer Überlandstraßen. Hinter den Protesten gegen solche Projekte steckten Nichtregierungsorganisationen, die die lokale Bevölkerung manipulierten.
Andererseits bieten Morales & Co. in- und ausländischen AktivistInnen ein Forum, von dem die auf offiziellen UN-Klimagipfeln nur träumen können. Dass die KritikerInnen von Bergbau-, Staudamm- oder Straßenprojekten, die sich zur Arbeitsgruppe 18 zusammengeschlossen haben, außerhalb des Campus tagen müssen, hat sich als Eigentor erwiesen: Mehr als die 17 „offiziellen“ Gruppen stehen sie im Mittelpunkt des Medieninteresses, auch Promis wie die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein oder Ecuadors früherer Energieminister Alberto Acosta treten dort auf. Nach zwei Tagen wird die Forderung an Evo Morales verabschiedet, sämtliche Großprojekte abzublasen, von denen indigene Völker direkt betroffen sind. Außerdem solle die Regierung ein Wirtschaftsmodell anstreben, das nicht mehr auf dem Export von Rohstoffen basiert.
Aber auch in der Arbeitsgruppe „Wälder“ geht es hoch her, da feilschen SpezialistInnen um jede einzelne Formulierung. Schließlich setzten sich die KritikerInnen des Emissionshandels gegenüber den regierungsnahen FunktionärInnen aus Venezuela oder Bolivien durch. Die Vorsitzende Camila Moreno aus Brasilien lobt den „wunderbaren Konsens“, den man erreicht habe: „Anders als bislang in der Klimakonvention dürfen künstlich angelegte Monokulturen wie Eukalyptusplantagen nicht als Wälder definiert werden, und die Rechte der Indígenas müssen ausdrücklich berücksichtigt werden.“
Besonders freut sie sich über das klare Nein zum Emissionshandel als „neoliberalem Mechanismus“ zur Privatisierung von Urwäldern. Stattdessen wünsche man sich die Einrichtung von freiwilligen Fonds, die auf der Anerkennung der „Klimaschulden“ des Nordens gründen. „Das ist ein ganz entscheidender Unterschied“, erläutert Camila Moreno, „wir wollen keine Almosen des Nordens als Gegenleistung für so genannte Umweltdienstleistungen, sondern die Anerkennung, dass er uns das schuldet. Wir wollen die ökologische Restaurierung der Wälder durch die Völker“.
Die Beschlüsse der Wäldergruppe sind das klarste Beispiel dafür, wie sich Positionen, die selbst bei Südamerikas fortschrittlichen Regierungen noch keine Chance haben, auf der Konferenz Gehör verschaffen können. Das ist das Neue an Cochabamba: Durch Druck von unten scheint es wieder möglich, marktbasierte, von der internationalen Klimadiplomatie ersonnene Mechanismen in Frage zu stellen, deren Haupttriebfeder der Profit von Privatunternehmen ist. „Es ist ein wichtiger Schritt nach vorne“, sagt Alberto Acosta: „Das ist der größte Verdienst von Evo Morales“.

Kasten:
ABKOMMEN DER VÖLKER
Radikale Erklärung: Die Ergebnisse aus insgesamt 18 Arbeitsgruppen flossen in eine 10-seitige Abschlusserklärung ein, die in vielen Punkten radikaler ist als die Praxis der lateinamerikanischen Linksregierungen. So wird das Agrobusiness, das Lebensmittel für den Markt, aber nicht für die Ernährung aller Menschen produziere, als einer der Hauptverursacher des Klimawandels bezeichnet.
Die Kritik: Agrotreibstoffe, Emissionshandel, Gentechik, Geo-Engineering oder Monokulturen seien allesamt falsche Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel, heißt es weiter. Durch große Infrastruktur- und Bergbauprojekte würden indianische und bäuerliche Gemeinschaften in ihrer Existenz bedroht.
Die Forderungen: An die Industrieländer wird die Forderung gerichtet, ihren CO2-Ausstoß bis 2020 zu halbieren und sechs Prozent ihres jährlichen Haushalts in einen Weltklimafonds einzuzahlen. In einem weltweiten Referendum soll darüber abgestimmt werden, ob die Verteidigungsausgaben nicht lieber für den Klimaschutz umgewidmet werden sollten.
Das Klimagericht: Schließlich sollten Unternehmen und Regierungen vor einem zu gründenden Weltklimagerichtshof verklagt werden können.

Mexikos Gewerkschaften proben den Streik

Massendemonstrationen und Blockaden bestimmten das Bild vieler Städte Mexikos am 16. März. Ein breites Bündnis, angeführt von der Gewerkschaft der Mexikanischen ElektrizitätsarbeiterInnen SME, hatte für diesen Tag zu einem „Nationalen Politischen Streik“ gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Regierung von Präsident Felipe Calderón aufgerufen. Besonders die Gewerkschaft der MinenarbeiterInnen und die oppositionellen Lehrersektionen beteiligten sich, so dass in 25 der insgesamt 31 Bundesstaaten Aktionen verzeichnet werden konnten. Ein beachtlicher Mobilisierungserfolg in einem Land, in welchem die Gewerkschaften traditionell als verlängerter Arm der Regierung in die korporatistische Machtstruktur eingebunden waren. Die seit bald zehn Jahren regierende Partei der Nationalen Aktion PAN führte dieses Erbe der Revolutionären Institutionellen Partei PRI weiter, ist aber in jüngster Zeit auf Konfrontationskurs zu den nicht (mehr) kontrollierten Sektoren der Gewerkschaften übergegangen.
Die Menschen haben guten Grund, sich den Protesten der SME anzuschließen. Schließlich sind die Pläne der Regierung Calderóns zur Reformierung des Arbeitsgesetzes ein frontaler Angriff auf alle Lohnabhängigen. Diese sehen neben einer Legalisierung der Praxis der Anstellung über Subunternehmen, um so Arbeitsrechte zu verweigern, eine die massive Ausdehnung der Probezeit vor . Auf der anderen Seite soll das Streikrecht deutlich begrenzt werden. Zentrale Forderungen der Streiktage waren neben dem Erhalt der SME-Arbeitsplätze auch die Rücknahme des Reformvorhabens., sowie der Rücktritt des Arbeitsministers, Javier Lozano und Calderóns selbst, der immer hemmungsloser auf Repression gegen die sozialen Bewegungen und Militarisierung des Landes setzt.
Das Datum des Aktionstags war nicht zufällig gewählt: Am 16. März lief der Tarifvertrag der SME aus. Doch die 44.000 in der Gewerkschaft organisierten ElektrizitätsarbeiterInnen sind schon seit fünf Monaten ohne Arbeit, nachdem Mexikos Präsident Felipe Calderón die staatseigene Stromgesellschaft LFC über Nacht per Dekret aufgelöst hatte und alle Gebäude polizeilich-militärisch besetzen ließ (siehe LN 426). Der Entmachtung der kämpferischen SME liegen Privatisierungsbestrebungen zugrunde, die sich insbesondere auf das Glasfasernetz für Internet, Telefon und Fernsehen im Zentrum Mexikos konzentrieren. Die SME hatte sich allen Privatisierungsversuchen stets widersetzt. Stattdessen forderte sie, diese Dienste den Schulen und Universitäten gratis und allen anderen NutzerInnen zu günstigen Konditionen anzubieten. Auf den Handstreich gegen sie reagierte die älteste Gewerkschaft Mexikos mit Demonstrationen, einem Hungerstreik, der juristischen Anfechtung des Dekrets und Verhandlungen, doch ohne Erfolg.
Die Kräfte der SME im monatelangen, erfolglosen Ringen schienen langsam zu erlahmen. Viele ArbeiterInnen akzeptierten die Abfindungen und damit auch die Liquidation ihrer Arbeitsplätze. Doch dass der Widerstand noch nicht zu Ende ist, zeigt der Streiktag, zu dem die SME über die Plattform Versammlung des Mexikanischen Volkswiderstands (AMRP) aufgerufen hatte. In der AMRP sind hunderte Organisationen unterschiedlichster Couleur repräsentiert, darunter die oppositionellen Lehrersektionen und auch die MinenarbeiterInnen. Letztere tragen episch lange Arbeitskämpfe aus (siehe Kasten).
Am Streiktag besetzten die SME-GewerkschafterInnen die Eingänge von mehreren Dutzend Gebäuden der Stromgesellschaft in der Hauptstadt und umliegenden Bundesstaaten und verzierten sie mit schwarz-roten Streikfahnen. Ziel war, diese Eingänge solange unter Kontrolle zu behalten, bis die Liquidierung des Unternehmens LFC rückgängig gemacht wird. Verschiedene Repressalien schwächten die geplanten Blockadeaktionen: In der von der sozialdemokratischen Partei der Demokatischen Revolution regierten Hauptstadt wurde das Hissen der Streikfahnen im historischen Zentrum verhindert. In der Folge eines massiven Tränengaseinsatzes der Polizei gegen AktivistInnen in Mexiko-Stadt mussten 500 Kinder aus einer Krippe evakuiert werden. Weitere Polizeiaktionen folgten: Im Bundesstaat Hidalgo wurde in der Nacht das Haus eines Gewerkschafters durchwühlt, in Puebla entführten Polizeieinheiten zwei SME-Aktivisten über Stunden, sie wollten damit die Aufgabe von 17 Blockaden erzwingen. »Die Polizisten ertrugen es nicht, dass sie die Kontrolle über den Zugang zu den Strominstallationen verloren«, kommentiert Eric García, lokaler Regisseur, der einen Dokumentarfilm zum Widerstand der SME dreht. Er sieht nach dem 16. März die Chance eines zweiten Atems der Bewegung.
Nicht von ungefähr fanden die massivsten Proteste am Streiktag in Oaxaca statt: 70 000 LehrerInnen blockierten ab dem frühen Morgen wichtige Straßen, Regierungsgebäude und Niederlassungen multinationaler Konzerne und legten das öffentliche Leben im Bundesstaat nahezu lahm. Auch die Studierenden der Universität von Oaxaca besetzten den Campus und übernahmen den Radiosender der Hochschule. Dieser sicherte zusammen mit einem Sender der LehrerInnengewerkschaft und lokalen Gemeinderadios die Kommunikation der Streikenden. Anarchistische Gruppierungen und Gemeinden, welche sich gegen Staudamm-, Schnellstraßen- und Minenprojekte organisieren, schlossen sich den Protesten an. Der Geist des Aufstandes von 2006 wehte durch Oaxaca. Damals bot die Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO während sechs Monaten der Oligarchie die Stirn. „Oaxaca ist und bleibt die Stadt des Widerstands“, erklärte ein Koordinator der Gewerkschaft im Radio der LehrerInnen, kurz bevor das nicht bewilligte Radio Plantón durch ein Störsignal zu einem Frequenzwechsel gezwungen wurde.
Erste unmittelbare Erfolge konnten in Oaxaca ebenfalls erzielt werden. Auf Druck der DemonstrantInnen wurde am Verhandlungstisch mit dem Innenministerium die Freilassung von zwei indigenen Gefangenen erreicht. Die beiden Bauern aus der Gemeinde Santiago Xanica hatten zu den ersten politischen Gefangenen des Gouverneurs Ulises Ruiz gehört, gegen den sich bereits die Proteste von 2006 gerichtet hatten. Der dritte Gefangene aus derselben Konfrontation ist weiter in Haft. An der strukturellen Gewalt ändern solche häppchenweisen Zugeständnisse jedoch nichts. Die mexikanische soziale Bewegung wird weiter hart darum kämpfen müssen, nicht zwischen den Strukturanpassungsmaßnahmen und der Kriminalisierung des sozialen Protests aufgerieben zu werden. Der eher symbolische nationale Streiktag vom 16. März ist da zumindest ein hoffnungsvoller Anfang.

KASTEN:
Cananea: Mine seit 32 Monaten bestreikt

In der Stadt Cananea (Bundesstaat Sonora), unweit der Grenze zu den USA, befinden sich 1100 Minenarbeiter seit Juli 2007 im Streik. Doch im Februar dieses Jahres verlor die Gewerkschaft der weltweit drittgrößten Kupfermine die letzte gerichtliche Revision, die Arbeiter der BetreiberInnenfirma Grupo México (deren Aktien auch europäische Rentenversicherer halten) sind offiziell entlassen. Der Streik wurde zwar von den Behörden als legal bezeichnet, aber das Arbeitsverhältnis wegen angeblicher Zerstörungen an den Einrichtungen der Mine für beendet erklärt. Eine Reportage der regierungskritischen Zeitschrift Proceso berichtet im Widerspruch dazu von intakten Installationen der besetzten Mine. Die ArbeiterInnen halten den Mineneingang weiter besetzt, eine gewaltsame Räumung wird befürchtet.
Zentraler Grund des Streiks war die versuchte Zerschlagung der Minengewerkschaft durch die Regierung und Grupo México, indem sie eine der Unternehmensleitung genehme Gewerkschaft anerkannt und Wahlen einberufen hatten, bei denen die ArbeiterInnen gezwungen waren, dieser Gewerkschaft beizutreten. Der gewählte eigentliche Anführer der Gewerkschaft, Napoleon Gómez Urrutia, lebt aufgrund eines Haftbefehls wegen Korruption gegen ihn im kanadischen Exil. Verbunden war der Haftbefehl mit der Beschlagnahmung des Gewerkschaftsvermögens. Laut Internationalem Gewerkschaftsbund beruhen die Beweise gegen die Gewerkschaftsspitze auf Fälschungen. Sicherlich ist der Multimillionär Gómez – ähnlich wie auch andere Gewerkschaftbonzen – kein Engel. Einst „erbte“ er das Syndikat von seinem Vater, der die Gewerkschaft zuvor 40 Jahre lang autoritär geleitet hatte.
Dennoch hat gerade die kleine Ortschaft Cananea im historischen Bewusstsein der Arbeiterbewegung Mexikos eine immense symbolische Bedeutung. So war sie Schauplatz der gewaltsamen Niederschlagung eines Streiks 1906 (mit Beteiligung von US-Rangers aus dem nahegelegenen Arizona), der als Vorspiel der mexikanischen Revolution gilt. Jesus Verdugo vom Streikkomitee in Proceso: „Alle wissen, dass hier die Revolution begann. Hundert Jahre später sind wir am selben Punkt. Wenn sie Märtyrer wollen, dann werden sie sie hier finden, am Mineneingang.“

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