„Mit Worten allein ist noch keine Revolution gemacht“

Marceal Méndez, Sie sind einer der wenigen indigenen Märchenschreiber Mexikos. Ihre Texte eignen sich aber nicht wirklich als Gute-Nacht-Geschichten. Worüber schreiben Sie?

Meine Geschichten spielen in indigenen Gemeinden in Chiapas und erzählen vom Leben der Menschen, ihren Göttern, der Geschichte und Religion der Maya. Götter und Dämonen leben nicht im Himmel oder der Hölle sondern mitten auf der Erde. Sie verlangen Opfergaben, sonst bestrafen sie die Menschen mit Hunger und Dürre. Ich schreibe über das Zusammenleben zwischen den kaxlanes, den Mestizen, die vor Jahrhunderten dieses Land besetzten und es den „wahren Menschen“, den Menschen aus Mais, wegnahmen. Obwohl es in vielen Gemeinden viel mehr Indigene gibt, ist die Macht immer noch auf Seiten der Mestizen. In Slajibal ajawetik / Los ultimos dioses (Die letzten Götter) versuche ich, den Unterschied zwischen den Menschen in Chiapas mythologisch, historisch und literarisch aufzuarbeiten.

Wieso wählen Sie dafür die Form der fantastischen Literatur?

Erzählte Geschichten haben eine lange Vergangenheit in der indigenen Kultur. Viele übernatürliche Figuren habe ich aus den Erzählungen meines Großvaters, mit dem ich aufgewachsen bin. Es sind Figuren, die mich immer faszinierten und ein Leben lang begleiteten. Anders als mein Großvater, der als Mediziner arbeitete, kann ich diese Wesen nicht sehen. Meine Aufgabe ist es wohl, ihre Existenz schriftlich festzuhalten.

Haben Sie außer den Geschichten ihres Großvaters und den mythologischen Quellen ihrer Vorfahren andere literarische Vorbilder?

Ich wurde wohl eher durch thematische als durch stilistische Aspekte beeinflusst. Drei mexikanische Autoren haben mich in dieser Hinsicht geprägt: Juan Rulfo, José Revueltas und Eraclio Zepeda. Hinzu kommt der Einfluss der klassischen Russen und einigen zentralamerikanischen Autoren wie Quiroga oder Monterroso.

Haben Sie unter all den fabelhaften Wesen aus der indigenen Mythologie eine Lieblingsfigur oder Lieblingsgeschichte?

Mamal Jmol ist meine Lieblingsfigur. Er ist der Geist des Maises, der Bohne, der Erde. In der indigenen Mythologie existiert diese Figur seit jeher, da die Menschen immer mit der Landwirtschaft verbunden waren. Der in einer Höhle lebende Mamal Jmol hat viele Kinder zu ernähren. Er raubt den Mais und das Rindfleisch der mestizischen Landbesitzer und teilt es mit den Menschen. Den Rest verkauft er. Die Landbesitzer sind damit gar nicht einverstanden und lassen ihn töten. In meinem Märchen erkläre ich, wie der Mestize gekommen ist und den Indigenen das Land weggenommen hat. Dessen Tiere haben den Mais der Indigenen gefressen und sie hungern lassen. Also beginnt Mamal Jmol, sich zu wehren und sich den Mais wieder zurückzunehmen.
Ich sage in der Geschichte nicht, ob es gut oder schlecht ist, wenn Mamal Jmol das Essen stiehlt. Aber ich zeige auf, dass es eine Konsequenz ist.

Neben „Mamal Jmol“ erzählen Sie in Ihren Geschichten von Dämonen und „grünen Männern“, die den einfachen Menschen das Leben schwermachen. Sprechen sie damit auch die repressive Politik der mexikanischen Regierung an?

Literatur bietet viele Formen der Kritik und des Protests. Meine fantastischen Fabelwesen machen es mir möglich, zwischen den Zeilen über aktuelle Dämonen und Bedrohungen zu sprechen, ohne diese direkt zu erwähnen.

Die Veröffentlichung Ihres Buches wurde von offizieller Seite finanziell unterstützt. Wie geht das zusammen?

Mit meinen Texten habe ich den zweiten Preis eines Wettbewerbs für Literatur in indigenen Sprachen gewonnen. Dies sah eine Buchveröffentlichung vor. Indigene Schriftsteller verkaufen sich zurzeit relativ gut. Es ist ein neuer Trend. Für die Regierung ist die Förderung der indigenen Kultur gute Werbung. Obwohl wir unterstützt werden, will man uns vorgeben, worüber wir schreiben sollen. Unsere Literatur soll in erster Linie von Traditionen berichten. Das Leben der Indigenen soll aus nichts anderem bestehen. Wenn wir über aktuelle Probleme in den Dörfern sprechen wie Armut, Alkoholismus, Gewalt, Pornografie und anderes wird uns gesagt, das sei nicht „indigen“ und wir werden nicht veröffentlicht.

Sind alle indigenen Schriftsteller so brav und halten sich an die Vorgaben?

Wir befinden uns am Anfang einer schriftlichen indigenen Literatur. Zurzeit sind viele indigene Autoren Chiapas‘ darum bemüht, Tradition und Geschichte ihrer Dörfer festzuhalten. Unsere Erzählstrategie ist das Erinnern. Wenn all das archiviert ist, werden wir zu den aktuellen Themen übergehen.

Ihre Texte erscheinen zweisprachig. Schreiben Sie auf Tseltal und übersetzen später ins Spanische?

Wir indigenen Schriftsteller in Chiapas sind alle zweisprachig. Neben unserer Muttersprache, in meinem Fall Tseltal, sprechen und schreiben wir fließend Spanisch. Meine ersten Schreiberfahrungen habe ich auf Spanisch gemacht. Ich musste erst lernen, Tseltal nicht nur zu sprechen, sondern auch zu schreiben. Wie alle indigenen Sprachen ist sie in erster Linie mündlich. Meine Texte schreibe ich heute zweisprachig. Dialoge verfasse ich vorwiegend auf Tseltal, während ich für detailliertere Angaben die spanische Sprache verwende. So erscheint es mir am natürlichsten. Später übersetze ich die einzelnen Textpassagen in die andere Sprache.

Haben Sie ein bestimmtes Publikum, für das sie schreiben?

Meine Märchen sind nicht für Kinder, sondern für Erwachsene gedacht. In erster Linie versuche ich junge Menschen ab 15 Jahren zu erreichen. Ich möchte sie für das Lesen begeistern. Mexiko ist eines der Länder mit am wenigsten Lesern, das kommt nicht von ungefähr. Ein Buch kostet hier zehnmal soviel wie eine einfache Mahlzeit. Literatur und Bildung sind Luxus. Ich möchte sie über unsere Tradition, unsere Geschichte, Mythologie und aktuellen Probleme informieren.

Wird das in den Gemeinden nicht sowieso gemacht?

Leider immer weniger. Ich sehe einen großen Bruch zwischen der Generation der Jugendlichen und ihren Eltern. Es gibt keine funktionierende Kommunikation. Fernsehen, Internet, Schule scheinen das kollektive Gedächtnis der Indigenen zu übertönen. Erziehung ist in Mexiko sehr ahistorisch. Es ist ein Wiedergeben von Jahreszahlen, mehr nicht. Die präkolombianische Geschichte wurde komplett aus dem Schulunterricht gestrichen und wird vergessen.

In Ihren Märchen wird neben diesen Besonderheiten auch die jahrhundertealte Wut und Ohnmacht der Indigenen und ihr Wille zur radikalen gesellschaftlichen Veränderung angesprochen. In Chiapas werden diese Forderungen mit dem Zapatismus verbunden. Wie stehen Sie der Bewegung gegenüber?

Das Jahr 1994 und der bewaffnete Aufstand der Zapatisten haben das Bewusstsein vieler Indigener wachgerüttelt, uns unsere Geschichte und ihre Konsequenzen verstehen lassen. Damals war ich 15 Jahre alt und ging noch zur Schule. Es gab später einem Moment, an dem ich mir gesagt habe: Ich beende die Universität und gehe zur zapatistischen Armee, zur EZLN.

Was hat Sie davon abgehalten?

Als ich angefangen habe, im Celali (staatliches Institut für indigene Sprachen, Kultur und Literatur, Anm. d. Interviewerin) zu arbeiten, habe ich den offiziellen Weg gewählt. Dieser lässt sich mit dem Zapatismus nicht vereinen. Obwohl es in den letzten Jahren still um die Bewegung geworden ist, habe ich nicht aufgehört, sie ideologisch zu unterstützen.

Welche Aufgabe hat das Celali?

Das Celali setzt sich für die Förderung der indigenen Sprachen und Kulturen ein. Seine Gründung geht aus den „Acuerdos de San Andres sobre derechos y cultura indígena“ hervor, den Vereinbarungen zwischen mexikanischer Regierung und EZLN bezüglich der indigenen Kultur aus dem Jahr 1996.

Was sind ihre Aufgaben in der Institution?

Ich arbeite im Celali als kultureller Promotor und Wissenschaftler. Eine meiner Aufgaben ist die Formierung und Förderung neuer Schriftsteller durch Kurse und literarische Schreibwerkstätten in indigenen Gemeinden.

Geht Ihr Weg damit weniger über die Waffen als über das Wort?

Das ist einer der zentralen Gründe, warum ich schreibe. Mein Buch ist ein erster Versuch über Dinge zu schreiben, die mich unwohl stimmen. Die sometidos, die Unterdrückten, liegen mir am Herzen. Nicht nur Indigene, auch viele Mestizen leben am Limit. Die gesellschaftlichen Diskrepanzen werden nicht geringer. Das alles zeigt, dass wir eine Veränderung brauchen.

Glauben Sie diese Veränderung ist mit Worten, auf friedlichem Wege erreichbar – in Mexiko oder anderswo?

Nein, mit Worten allein ist noch keine Revolution gemacht. Das Wort hilft, um das Bewusstsein der Menschen zu erwecken. Aber für einen wirklichen Wandel braucht es leider Waffen. Das hat uns die Geschichte gelehrt und das zeigt auch die Gegenwart. Die Regierung versteht keine Worte, aber sie versteht eine gesellschaftliche Explosion.

Würden auch Sie unter diesen Umständen zur Waffe greifen?

Ja. Früher oder später werde ich das auch tun müssen. Die innenpolitische Situation in Mexiko ist im Norden wie im Süden immer angespannter. Die Menschen leiden, aber die Regierung profitiert davon.

Das klingt so, als stünde eine zweite mexikanische Revolution bevor.

Es wird sie geben müssen. Ich denke noch vor 2020. Dann, wenn das Volk sie will und dazu bereit ist.

Streit im Paradies

Die Nachricht erregte internationales Aufsehen: Bei einer Konfrontation zwischen indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen nahe der Wasserfälle von Agua Azul wurde ein Mensch unter noch ungeklärten Umständen getötet, es gab mehrere Verletzte. Im Mittelpunkt standen aber 17 AusländerInnen, die wegen der Auseinandersetzung über 20 Stunden festsaßen und später mit Hubschraubern nach Palenque ausgeflogen wurden. Weniger Aufmerksamkeit gab es für die 117 Indígenas, die verhaftet und zur Polizeiwache gebracht wurden, um unter Androhung von Folter und ohne Beistand eines Übersetzers ihre Aussagen zu machen. Dabei handelt es sich um ihr Stück Land und den Zugang zu den Wasserfällen, an dem sich der Konflikt entzündet hatte und nun eskaliert war.
Neu ist dieser Streitpunkt allerdings nicht. Seit mehreren Jahren gibt es innerhalb der Gemeinde San Sebastián Bachajón im Landkreis Chilón einen Disput zwischen zwei Gruppen um das Kassenhäuschen, das auf dem Weg zu den Wasserfällen steht. Die einen gehören seit ein paar Jahren zur Anderen Kampagne, einer von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) ins Leben gerufenen antikapitalistischen, pazifistischen Initiative für eine neue Verfassung. Sie wehren sich gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen auf ihrem Gemeindeland und stellen sich damit auch gegen staatlich initiierte Pläne zur Ausweitung des Ökotourismus, zu denen sie nicht befragt wurden und von denen sie mehr Schaden als Nutzen erwarten. Die zweite Gruppe, von ihren Kontrahenten aufgrund ihrer Verbindung zu den politischen Parteien oficialistas genannt, befürwortet die Pläne der Regierung. Sie steht dem Landrat von Chilón und der lokalen Vertretung der chiapanekischen Regierung im Landkreis nahe, die die touristische Entwicklung vorantreiben. Es geht aber zudem noch um die Einnahmen aus dem unabhängigen Kassenhäuschen, das neben dem offiziellen Kassenhäuschen von der Anderen Kampagne aufgebaut wurde. Nach unbestätigten Angaben wurden dort im zweiten Halbjahr 2010 über 400.000 Pesos (circa 23.800 Euro) an Eintritt eingenommen, an denen auch die Regierung interessiert ist.
Bereits im April 2009 waren die AnhängerInnen der Anderen Kampagne Opfer der Repression der chiapanekischen Regierung unter Juan Sabines Guerrero geworden. Damals waren sechs Tseltal-Indigene von San Sebastián Bachajón unter dem Vorwurf festgenommen worden, an Überfällen auf Reisebusse in der Region um Agua Azul beteiligt gewesen zu sein. AnhängerInnen der Anderen Kampagne blockierten daraufhin die Landstraße zwischen Palenque und Ocosingo, einer der Hauptverkehrswege im Nordosten von Chiapas, an der Kreuzung zu den Wasserfällen. Dies wurde als Vorwand für einen massiven Polizeieinsatz genutzt, bei dem das unabhängige Kassenhäuschen zerstört wurde. Der chiapanekischen Regierung schien dies ein Dorn im Auge gewesen zu sein, da sie nicht an den Einnahmen beteiligt wurden und das Häuschen außerdem in der Hand erklärter GegnerInnen der Regierung war. Noch Wochen danach war die Polizei in umliegenden Dörfern und an der Kreuzung nach Agua Azul stationiert. Als sie wieder abgezogen war, wurde das Kassenhäuschen von den AnhängerInnen der Anderen Kampagne erneut aufgebaut. Der Konflikt innerhalb der Gemeinde war allerdings nicht gelöst, wie sich Anfang Februar 2011 zeigen sollte.
Bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen am 2. Februar erlangte zunächst die Gruppe der oficialistas gewaltsam die Kontrolle über das Kassenhäuschen. Die AnhängerInnen der Anderen Kampagne versuchten daraufhin, dieses wieder zu erobern. Bei dieser Konfrontation gab es Verletzte auf beiden Seiten. Ein Mitglied der ersten Gruppe wurde durch einen Schuss so schwer verletzt, dass er seinen Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus erlag. Infolgedessen kam es am Tag darauf zur Verhaftung der 117 AnhängerInnen der Anderen Kampagne, von denen 107 am 5. Februar wieder freigelassen wurden. Die restlichen zehn wurden ins nächstgelegene Gefängnis nahe Palenque gebracht, unter ihnen ein Minderjähriger und ein geistig Eingeschränkter. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba), welches die Verteidigung der zehn Männer übernommen hat, erklärte zu den Menschenrechtsverletzungen im Kontext der Verhaftung, dass „sie weder einen Anwalt noch einen Übersetzer hatten, zudem wurden sie von der Polizei bedroht und von Beamten der Staatsanwaltschaft eingeschüchtert“.
Die Pläne zum Ausbau des Ökotourismus in der Region haben das Konfliktpotential vor Ort dramatisch erhöht. Bereits Anfang Februar 2010 hatte es in einer Nachbargemeinde von Agua Azul einen gewaltsamen Übergriff gegeben, bei dem einer der Angreifer versehentlich von den eigenen Leuten erschossen wurde. Diese, aus Agua Azul stammend, hatten Ackerland der zapatistischen Gemeinde Bolom Ajaw besetzt, um es für ein geplantes Hotelprojekt an den dort gelegenen Wasserfällen zugänglich zu machen. Nachdem die ZapatistInnen erfolglos versucht hatten, die BesetzerInnen auf friedliche Weise zum Rückzug zu überreden, kam es zur Konfrontation zwischen beiden Gruppen. Das Menschenrechtszentrum Frayba, das den Fall ausführlich dokumentierte, erläuterte auch die Pläne der Regierung für die Region. Demnach soll Palenque zu einem „neuen Cancún“ werden. Die Stadt mit den Maya-Ruinen steht im Mittelpunkt eines regionalen Projekts zur Entwicklung des Tourismus mit dem Kürzel CIP-Palenque. Einen wichtigen Teil desselben bilden die Wasserfälle von Agua Azul und Bolom Ajaw. An letzteren sind Lodges geplant, für die Einnahmen zwischen 500 und 1.000 US-Dollar pro Nacht kalkuliert werden, die Anreise mit Hubschraubern von Palenque aus noch nicht mit eingerechnet.
Im Rahmen der Förderung des Tourismus in Chiapas ist zudem geplant, die Infrastruktur des Bundesstaates weiterzuentwickeln. Hierzu gehört der Bau einer Autobahn zwischen dem Kolonialstädtchen San Cristóbal de Las Casas und Palenque, die fast ausschließlich durch indigene Dörfer führen würde. In der Tsotsil-Gemeinde Mitzitón, 15 Kilometer außerhalb von San Cristóbal gelegen und geplanter Ausgangspunkt der Autobahn, regte sich bei einem Teil der BewohnerInnen Widerstand, als 2009 plötzlich Ingenieure mit Messgeräten im Dorf auftauchten. Sie schlossen sich der Anderen Kampagne an und machten ihre Opposition gegen das Projekt öffentlich, was ihnen Solidarität seitens anderer Gruppen in der von den ZapatistInnen initiierten Bewegung brachte, aber auch einen innerkommunitären Konflikt ausbrechen ließ. Denn ein anderer Teil des Dorfes sprach sich offen für den Bau der Autobahn aus und begann, die Protestaktion der AnhängerInnen der Anderen Kampagne zu stören und anzugreifen. Trauriger Höhepunkt war der Tod eines Autobahngegners im Juli 2009, als eine Gruppe von BefürworterInnen mit hoher Geschwindigkeit in eine Gruppe von GegnerInnen fuhr. Die chiapanekische Regierung hat mittlerweile verkündet, dass die Autobahn nicht gebaut werden soll, scheinbar aus Rücksicht auf die Proteste. Inoffiziell ist aber auch die Rede davon, dass der eigentliche Grund die fehlende Finanzierung des Projekts durch die föderale Regierung sei, die nach mexikanischem Recht für deren Bau zuständig ist.
Obwohl Mitzitón und San Sebastián Bachajón mehr als 100 Kilometer voneinander entfernt liegen, hat der Widerstand gegen die Pläne der Regierung die organisierten Gruppen in beiden Dörfern zusammengebracht. Ihre Zugehörigkeit zur Anderen Kampagne hat dies gefördert, wenn nicht gar erst möglich gemacht. Auf verschiedenen Treffen dieses Zusammenschlusses der pro-zapatistischen Bewegung gab es so die Möglichkeit zum Austausch. Und mehr als einmal haben sich beide Gruppen miteinander öffentlich solidarisiert, vor allem bei Protestaktionen, aber auch, wie jüngst in San Sebastián Bachajón geschehen, in Fällen von staatlicher Repression.
Die chiapanekische Regierung reagierte nach der Konfrontation bei Agua Azul am 2. Februar mit einer Medienkampagne, um sich als Schlichter zu präsentieren. In bezahlten Zeitungsanzeigen, unter anderem in der größten linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada, wurde von einem Runden Tisch zwischen den BewohnerInnen von Agua Azul und San Sebastián Bachajón berichtet, an dem sich auch der Gouverneur Juan Sabines Guerrero eingefunden hatte, um dem Dialog beizuwohnen. Als Lösung des Konflikts wurde das Modell eines einzigen Kassenhäuschens präsentiert, das vom chiapanekischen Wirtschaftsministerium geführt werden soll. Ein kleiner „Schönheitsfehler“ hieran war allerdings, dass die Gruppe der Anderen Kampagne, die in den Konflikt involviert ist, nicht am Dialog beteiligt war. Diese hatte Verhandlungen mit der Regierung bereits ausgeschlossen, nachdem die oficialistas ihnen das Kassenhäuschen gewaltsam entrissen hatten. Das Netzwerk für den Frieden, ein Zusammenschluss lokaler Menschenrechtsorganisationen, machte in einer Stellungnahme zu den Geschehnissen deutlich, dass ein zuvor von den Konfliktparteien initiierter Dialog durch die Handlung der Regierung zunichte gemacht wurde. Die Regierung habe zunächst die gewaltsame Besetzung des unabhängigen Kassenhäuschens zugelassen, die andere Seite mit Repression überzogen und die Freilassung der Gefangenen an die Zustimmung der von der Regierung durchgesetzten Bedingungen geknüpft. In einer Erklärung der zehn Gefangenen Ende Februar hieß es dann auch, dass sie von Regierungsfunktionären im Gefängnis gedrängt worden seien, „deren Vorschläge zum Dialog zu akzeptieren“, um im Gegenzug ihre Freilassung zu erreichen.
Einen Tag vor der gewaltsamen Konfrontation bei Agua Azul war Präsident Felipe Calderón auf einem als privat erklärten Besuch in der Region, um das „Jahr des Tourismus“ in Chiapas öffentlichkeitswirksam zu fördern. Ob ein Zusammenhang zwischen seiner Reise und dem Vorfall besteht, bleibt unklar, kann aufgrund der zeitlichen Nähe aber nicht völlig ausgeschlossen werden. Sollten die mexikanische und die chiapanekische Regierung auf ihrer Strategie beharren, den Tourismus auf Kosten von Konflikten in den indigenen Gemeinden zu stärken, könnten sich die Medienberichte wie die von Anfang Februar über die 17 internationalen TouristInnen als kontraproduktiv erweisen und Chiapas als Urlaubsziel unattraktiv machen.

Die Qual der Wahl

Eineinhalb Jahre nach dem Staatsstreich ist die honduranische Demokratiebewegung FNRP (Frente Nacional de Resistencia Popular) weiterhin aktiv. Ihre sich verringernde Präsenz auf den Straßen und in den Mainstream-Medien, die Kriminalisierung und Unterdrückung der oppositionellen Ströme durch den Staatsapparat sowie die internationale Anerkennung des Regimes von Porfirio Lobo machen es der FNRP jedoch nicht leicht. Lobo versucht, mit einem Diskurs der nationalen Versöhnung und scheinbaren Zugeständnissen den Widerstand zu zerstreuen. Deshalb ist es essentiell wichtig, dass die Frente weiterhin durch eine klare Linie den Rückhalt der Bevölkerung aufrechterhält.
Derzeit finden hochbrisante interne Diskussionen über die möglichen Zukunftsszenarien statt: Auf welchem Weg soll eine demokratische Neugestaltung von Honduras stattfinden? Soll weiterhin an einer Nicht-Anerkennung des nach dem Putsch entstandenen Regimes festgehalten und durch Mobilisierung und Druck von unten eine neue Verfassung und Neugründung angestrebt werden? Oder ist es realistischer, über eine Teilnahme an den nächsten Wahlen 2013 Schritt für Schritt von innen und außen das stabile Gleichgewicht zu kippen? Die Qual der Wahl(en) Radikale und gemäßigte Transformation stehen einander gegenüber. Eine wichtige Entscheidung, der sich im lateinamerikanischen Kontext der ‚Neuen Linken‘ schon viele soziale Bewegungen stellen mussten und welche gleichermaßen produktive Diskussionsprozesse, oder aber schwächende Spaltungstendenzen hervorbringen kann.
Ob und wie sich die Frente auf eine gemeinsame Linie einigen wird, entscheidet sich am 26. Februar in einer großen Versammlung. In dieser werden die derzeit 56 provisorischen Delegierten auf etwa 600 erhöht, um die Repräsentanz aller Departamentos und sozialer Sektoren zu garantieren. Die LN sprachen mit Carlos H. Reyes und Sara Eliza Rosales über ihre Vorstellungen zur Zukunft der Widerstandsbewegung.

RADIKALE NEUGRÜNDUNG DES LANDES
Interview mit Carlos H. Reyes

Carlos Reyes ist Präsident der Gewerkschaft STIBYS. Noch vor dem Putsch ließ er sich als unabhängiger Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2009 aufstellen, boykottierte diese jedoch schließlich gemeinsam mit der Widerstandsbewegung. Aktuell ist er Mitglied der FNRP und setzt sich für eine Lösung abseits der „Putsch-Institutionen“ ein.

Wie ist deine Position zur Zukunft der Widerstandsbewegung in Honduras?
Dazu lese ich am besten einen Ausschnitt aus meiner Rede vor, die ich kürzlich vor dem 3. Kongress der Partei der europäischen Linken im Dezember in Paris gehalten habe: Der Weg, den wir entworfen haben, ist der des Aufrufs zu einer nationalen Verfassunggebenden Versammlung, die grundlegend ist, vom Volk ausgeht, alle Sektoren einschließt und auf die Neugründung des Staates abzielt. Diese hätte die Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten als Ergebnis eines sozialen und politischen Paktes, bestehend aus anerkannten AkteurInnen, RepräsentantInnen aller sozialen, wirtschaftlichen und politischen Sektoren, um diese mit Legitimität auszustatten. Das ist der unverzichtbare Schritt, um die politische Krise zu überwinden. Wenn dieser gelingt, können wir die Probleme der Rückständigkeit und Abhängigkeit auf friedliche Weise in Angriff nehmen. Dieser Prozess ist alles andere als einfach. Wir haben in der Frente große Debatten und Widersprüche. Derartige Widersprüche müssen, wie José Martí sagte, durch tiefgehende Diskussionen zu ideologischen Lösungen führen. Schon im 19. Jahrhundert lehrte uns Karl Marx, dass „jeder soziale Kampf politisch ist, und jeder politische Kampf sozial”. Unseren Feinden ist es gelungen, den sozialen und politischen Kampf in den meisten Ländern der Welt auseinanderzudividieren.

Ist das heute in Honduras anders?
Als Folge des Staatsstreichs haben wir in Honduras geschafft, das Soziale und das Politische in der Frente zusammenzuführen. Von der Intelligenz der HonduranerInnen, diese Aufspaltung auch weiterhin zu vermeiden, hängen die Zukunft unseres Landes und seine Neugründung ab. Wir kämpfen für die Verfassunggebende Versammlung, die Rückkehr der Exilierten, einschließlich des Koordinators der Frente, Manuel Zelaya und für den Respekt des Lebens und der Menschenrechte. Wir definieren uns als antiimperialistisch, anti-neoliberal, antipatriarchalisch und antirassistisch. All das haben wir gemeinsam gemacht. Deshalb glauben wir, dass wir HonduranerInnen nun nicht den Fehler begehen dürfen, den sozialen und politischen Kampf wieder zu trennen. Sobald wir eine neue Verfassung haben, müssen wir für ein ihr entsprechendes neues Wahlgesetz eintreten, das die Beteiligung an Wahlen nicht nur für politische Parteien und unabhängige KandidatInnen vorsieht, sondern auch für soziale und politische Zusammenschlüsse wie die Frente. Das wäre eine neue Art, Politik zu machen und eine Errungenschaft um die Demokratisierung unseres Landes.

Wogegen sich die machthabenden Schichten der Gesellschaft bisher erfolgreich zur Wehr gesetzt haben.
Die honduranische Oligarchie behauptet seit langem, dass eine Verfassunggebende Versammlung nicht verfassungskonform sei. Zelaya wurde unter dem Vorwand gestürzt, das Volk über solch eine Versammlung befragen zu wollen. Die These von Teilen der Frente, die Regierung und zwei Drittel der Abgeordneten in den nächsten Wahlen 2013 gewinnen zu können, um danach eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, wird bei der Oligarchie auf die gleiche Antwort der verfassungsmäßigen Unzulässigkeit stoßen. Abgesehen davon, wenn sich kein Wahlerfolg in diesem Ausmaß einstellen sollte, so hätten wir das Regime legitimiert.

Wie kann man sich eine selbst einberufene Verfassunggebende Versammlung konkret vorstellen?
Es handelt sich dabei nicht um eine Verfassunggebende Versammlung, die unmittelbar legal wirksam wird, die aber durch die Repräsentanz der verschiedensten Sektoren des Landes mit Legitimität ausgestattet wäre – einschließlich der UnternehmerInnen, aber logischerweise nicht der Putsch-BefürworterInnen. Dadurch kann ein neuer Sozialpakt geschlossen werden, der sehr wohl eine politische Wirkung haben wird. Wir erreichen damit bei der Bevölkerung einen Bewusstseinsbildungsprozess und eine Organisierung, um diese Verfassung zu verteidigen und um zu garantieren, dass die nächsten Wahlen 2013 scheitern. Ich sage nicht, dass das schnell und einfach ist. Wie lange hat es gedauert, die Diktaturen von Pinochet und Franco zu stürzen?

Stehen nicht alle Teile der Widerstandsbewegung hinter dieser Idee?
Nein. Einige Sektoren der Frente sind damit nicht einverstanden und setzen schon jetzt auf eine Beteiligung an den Wahlen, weil das der leichtere Weg ist. Aber damit werden sie die Probleme nicht lösen, stattdessen wird es so weitergehen wie immer. Sie glauben, dass sie eine Partei auf die Beine stellen und damit sogleich die Wahlen gewinnen könnten. Ich glaube, dass vielmehr eine Menge kleiner Parteien und kleiner Bündnisse herauskommen würde. Abgesehen davon bedeutet die Machttrennung in Partei und Frente, wieder die politischen und die sozialen Kräfte zu trennen.

PARTEI FÜR DEN WIDERSTAND GRÜNDEN
Interview mit Sara Eliza Rosales

Sara Eliza Rosales ist Delegierte in der Leitung der FNRP, Finanz-Beauftragte und Teil des politischen Komitees. Schon mit 15 Jahren engagierte sie sich bei linken Jugendbewegungen, später in Studierendenvereinigungen und schließlich in Gewerkschaften. Sie gehört zu der wachsenden Gruppe, die für die Beteiligung an Wahlen plädiert.

In der Frente gibt es unterschiedliche Positionen, was die Zukunft der Bewegung betrifft. Welche Möglichkeiten werden debattiert?
Folgende Möglichkeiten stehen zur Diskussion: Für einen Generalstreik fehlen die Voraussetzungen. Die Gewerkschaftsbewegung ist geschwächt, mit mehr als 70 Prozent zeitlich befristeten Beschäftigten, die nicht streiken werden. Es gibt in Honduras keine wirklichen Gewerkschaften im privaten Sektor außer dem STIBYS und zwei, drei weiteren. Die anderen sind Gewerkschaften der Staatsangestellten, welchen ein Streik ebenfalls den Arbeitsplatz kosten würde. Der bewaffnete Kampf oder ein Aufstand steht in Honduras nicht zur Debatte. Es gab Zeiten, in denen die Umstände dementsprechend gewesen sein mögen, heute trifft das viel weniger zu. Die honduranische Bevölkerung besitzt keine Tradition des Kampfes wie El Salvador und Nicaragua. Wir waren immer ein eher friedliches Land. Auch die Frente hat als Methode einen friedlichen Weg gewählt. Eine friedliche Aufstandsbewegung sehe ich nicht als schlecht an, aber wir werden nicht jahrelang auf der Straße sein. Die Praxis zeigt, dass unsere Bewegung schwächer wird, weil die Leute erschöpft sind. Es geht ihnen finanziell schlecht, sie wollen konkrete Ergebnisse sehen. Nach 18 Monaten machen sie sich Gedanken, wie es denn nun wirklich weitergehen kann.
Die Teilnahme an den Wahlen ist der Vorschlag, für den ich eintrete. Dabei geht es konkret um die Machtübernahme, um die Kontrolle des Staates. Das hier ist eine historische Chance, diese Dynamik dürfen wir nicht verpuffen lassen. Für Tausende von uns ist das offensichtlich. Von dort aus würden wir eine Verfassunggebende Versammlung einberufen.

Gibt es Leute, die das anders sehen?
Vergleichsweise kleine Gruppen treten für eine Parallelmacht zur staatlichen Macht und für eine eigenmächtige Einberufung einer nationalen Verfassunggebende Versammlung ein. Ich glaube, dass wir über das Thema einer eigenen Einberufung reden könnten, jedoch nicht verstanden als Parallelmacht. In der Praxis gibt es keine solche parallele Macht und wir werden nicht das erste funktionierende Beispiel sein. Die Zapatistas haben vielleicht ihre eigenen Freiräume, aber was ist mit dem Rest des Landes? Eine Parallelmacht haben bedeutet, einen Teil des Militärs auf unserer Seite zu haben, sich auf etablierte Strukturen und einen hohen Grad an Eigenfinanzierung stützen zu können, doch das alles gibt es hier nicht. Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass eine solche Verfassung weder verbindlich wäre noch Legalität hätte.

Du siehst also keinen Sinn in einer Selbsteinberufung einer Verfassunggebenden Versammlung?
Doch, aber uns muss klar sein, dass dies dann nur etwas zwischen uns sein wird. In diesem Land gibt es jedoch andere soziale, wirtschaftliche und politische Kräfte. In einer Verfassunggebende Versammlung müssen alle Sektoren vertreten sein, ob es uns gefällt oder nicht. Ein Land besteht nicht nur aus dem Widerstand, und wenn wir wollen, dass die Verfassung von allen anerkannt wird, dann braucht es mehr. Das heißt, ich befürworte eine selbstständige Einberufung einer Verfassunggebende Versammlung, verstanden als eine politische Aktion, mit der wir einen stärkeren organischen Zusammenhalt erreichen.

Wie würde die Teilnahme an Wahlen konkret aussehen?
Sollten wir die Entscheidung im Februar treffen, in die Wahlen zu gehen, müssen wir ein politisches Instrument dafür schaffen. Die Frente würde als breite diversifizierte soziale Bewegung weiterbestehen und parallel dazu gäbe es eine Partei, die dann irgendwann bei Wahlen teilnehmen könnte und dabei die Interessen der Frente vertreten würde. Neben der Möglichkeit einer Partei gibt es Leute, die zwei Monate vor der Wahl unabhängige KandidatInnen aufstellen wollen, aber das geht in diesem Falle dann nicht. Bei den vergangen Wahlen habe ich die unabhängige Kandidatur von Carlos H. Reyes unterstützt, aber diesmal würde ich das nicht tun. Es ist sinnlos, in der Exekutivgewalt vertreten zu sein, wenn wir nicht im Kongress und im Obersten Gerichtshof sind und keine BürgermeisterInnen haben. Wir müssten mindestens dreißig Abgeordnete stellen.

Glaubst du nicht, dass es Wahlbetrug geben wird?
Diese Möglichkeit besteht. An Wahlen teilnehmen bedeutet eine große organisatorische Arbeit, unter anderem, um sich vor Wahlbetrug zu schützen. Die Frente würde in eine neue Phase eintreten – statt nur im Widerstand zu sein, ginge es um positive Aktion.

Gibt es schon Vorstellungen darüber, aus welchen konkreten Personen solch eine Partei bestehen würde?
Nein, da ist nichts entschieden. Die Liberalen haben natürlich Interesse. Aber es wäre verfrüht, darüber nachzudenken, weil ja noch nichts entschieden ist. Wenn Zelaya ins Land zurückkäme, würde das die Lage vorantreiben und eine größere Dynamik entstehen. Deshalb ist die Oligarchie so sehr dagegen, dass er zurückkommt. Mit seiner Rückkehr würde er sehr schnell eine Reihe von Ereignissen auslösen. Das heißt nicht, dass er der Kandidat wäre, das kann er schließlich nicht sein.

Besteht die Möglichkeit, dass die Frente sich spaltet?
Wenn die Frente entscheidet, bei Wahlen teilzunehmen, heißt das nicht, dass sie den sozialen Kampf in der Straße aufgibt. Man kann beides miteinander verbinden. Wahrscheinlich werden sich die Personen mit sehr radikalen Positionen bei einer Wahlbeteiligung nicht anschließen, aber das werden wenige sein. Die große Mehrheit wird sich durch die Entscheidung verfestigen, schließlich handelt es sich um eine demokratische Entscheidung. Konsens wäre natürlich am besten, aber die Frente hat nun einmal keine einheitliche Ideologie. Mich interessiert nicht, dass wir alle gleich denken. Jede Person hat ihre eigene Anschauung und das wird respektiert. Die Frente charakterisiert sich durch ihre Vielfalt. Was uns wichtig ist, ist eine programmatische Einheit, das heißt gemeinsame Programme und Strategien, die uns bei der Neugründung von Honduras helfen.

// Interviews: Magdalena Heuwieser

Tod des tatic

Samuel Ruiz wurde als unermüdlicher Verfechter der Menschenrechte weltweit bekannt. Er hatte die Friedensgespräche zwischen den Zapatisten und der mexikanischen Regierung in den 1990er Jahren begleitet, sich für die guatemaltekischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den 1980er Jahren eingesetzt sowie ein eigenes Menschenrechtszentrum begründet. Mehrmals wurde er als Kandidat für den Friedensnobelpreis gehandelt. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Simón Bolivar Preis der Unesco und 2001 mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis geehrt.
Mit nur 37 Jahren wurde Samuel Ruiz zum Bischof der besonders verarmten und indigenen Diözese San Cristóbal ernannt. In Chiapas war es den Indigenen damals noch verboten, den Bürgersteig zu benutzen, viele Fincabesitzer hielten ihre ArbeiterInnen als Leibeigene. In diesem Klima begann der zunächst sehr konservative und paternalistisch agierende Bischof Samuel Ruiz seine Arbeit.
In den 1960er Jahren begann jedoch der Wandel Ruiz‘ zu einem Advokat der Befreiungstheologie und einer indigenen Pastoral. Er nahm am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) teil, sowie an den wegweisenden Bischofskonferenzen 1968 in Medellín, Kolumbien, und 1979 in Puebla, Mexiko. Bald entsandte er indigene Diakone und Nonnen mit priesterlichen Funktionen, bildete indigene KatechetInnen zu religiösen und politischen FürsprecherInnen ihrer Gemeinden aus, unterstützte politische Gruppierungen und nutzte kirchliche Strukturen und Ressourcen zur Organisation der Indigenen.
Nach dem zapatistischen Aufstand wurde ihm die Unterstützung der Guerilla vorgeworfen. Ruiz, der den gewaltsamen Weg stets abgelehnt hatte, entgegnete diesem Vorwurf: „Wenn ich 30 Jahre versucht habe, ein Bewusstsein zu schaffen und meine Katecheten immer noch nicht Wege zur Rückeroberung ihrer seit langem geschändeten Würde suchten, würde ich mich als Bischof in meiner Pastoral gescheitert fühlen.“ Die Zapatisten äußerten sich in einem Abschiedsbrief nach seinem Tod so: „Auch wenn die Differenzen, Uneinigkeiten und Distanzen weder selten noch oberflächlich waren, wollen wir heute den Weg und das Engagement nicht nur einer Person, sondern einer ganzen Strömung in der katholischen Kirche hervorheben.“
Aufgrund seines Engagements und seiner Kirchenpolitik wurde er vielfach angefeindet und Opfer von Attentaten und Verleumdungen. Der Vatikan stand seiner Arbeit offen feindlich gegenüber. Jedoch ist sein Tod für die progressive, katholische Kirche, viele Gläubige und die politische Linke gerade in der aktuellen Situation Mexikos ein schmerzlicher Verlust.

Die Kirche der Armen

Die 1980er Jahre in Lateinamerika: Zu Zeiten des Kalten Krieges herrschen in zahlreichen Staaten Lateinamerikas von den USA unterstützte Militärdiktaturen. Linkes Gedankengut wird als kommunistisch und als Gefahr für die Sicherheit der USA dämonisiert. Dabei geraten Guerilla-Bewegungen und linksgerichtete Parteien ins Visier. Doch die CIA hat noch einen gefährlicheren Gegner identifiziert: die Befreiungstheologie. In den kritischen Theologen und ihren „bekannten Zellen, vertreten durch kirchliche Basisgruppen” sehen die Geheimdienste die wahre Gefahr, die sie für fähig halten, die Region zu destabilisieren. So entsteht 1980 unter Ronald Reagan das Geheimdokument „Santa Fé II“, in dem die Befreiungstheologie als „eine als Glaubensrichtung maskierte politische Lehre, papstkritisch und gegen die freie Presse gerichtet“ beschrieben wird. Und die müsse psychologisch, politisch und militärisch bekämpft werden, so die RegierungsberaterInnen.
September 2010: Die „kommunistische Gefahr” der Befreiungstheologie erscheint wieder in den US-amerikanischen Nachrichten. Wenige Tage, nachdem Glenn Beck, Nachrichtensprecher des rechten Fernsehsenders Fox News, Obama als Sozialisten und „Moslem, der die Weißen hasst” beschuldigt hatte, änderte er plötzlich seine Strategie. Obama sei zwar Christ, behauptete Beck nun, würde jedoch der „dämonischen” Lehre der (afroamerikanischen) Befreiungstheologie angehören. Und das ist in Becks Augen noch viel schlimmer: „Sie können jeden Katholiken fragen, alle würden erkennen, dass die Befreiungstheologie religiös fantasierender Marxismus ist.”
Die Befreiungstheologie, die in den 1960er Jahren durch soziales und politisches Umdenken katholischer Geistlicher in Lateinamerika entstand, ist von jeher mit dem Vorwurf konfrontiert gewesen, religiösen Marxismus zu propagieren. In der Tat enthält sie marxistische Elemente, wie beispielsweise die Kritik am Kapitalismus und an der Macht der herrschenden Klassen sowie die Unvermeidbarkeit sozialer Konflikte.
Um diese Nähe zu verstehen, muss man die Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie kennen. Sie hat ihre Wurzeln in den Basisgemeinden (CEB), die sich zuerst in Brasilien bildeten und später auch in anderen Ländern Lateinamerikas aktiv wurden. Bereits in den 1960er Jahren versammelten sich gläubige ChristInnen, vor allem in kleinen Landgemeinden oder den Armenvierteln der Großstädte und begannen, die Lehre der Bibel innerhalb ihrer Lebensbedingungen zu interpretieren. Dabei diskutierten sie das Evangelium und leiteten daraus umfassende Kritik an den bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen ab.
Seit den 1970er Jahren, als immer mehr repressive Regime in Lateinamerika die Macht ergriffen, versuchte die Befreiungstheologie eine „Kirche der Armen“ zu etablieren. Die Befreiungstheologen predigten nicht das Heil der Menschen im Jenseits, sondern setzten sich im Hier und Jetzt aktiv für Veränderungen der gesellschaftlichen Realität ein. Kritische Priester und Bischöfe, die der Befreiungstheologie angehörten, mischten sich aktiv ins politische Geschehen ein. Dabei eigneten sie sich Theorien des Marxismus an, um die durch den Kapitalismus aufgekommenen sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.
Dass die Befreiungstheologie auf so fruchtbaren Boden fallen konnte, lag aber auch am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65), während dem unter Papst Johannes XXIII. und später Papst Paul VI. eine stärkere Religionsfreiheit und Dialogbereitschaft mit Anders- und Nichtgläubigen propagiert wurde. Wie es der brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff (zu den Brüdern Boff siehe auch Kasten) beschreibt, fand eine „Enteuropäisierung und wirkliche Öffnung der Kirche“ statt. Die Bischofskonferenz von Medellín 1969 machte diese neue Ausrichtung der katholischen Kirche in Lateinamerika nochmals deutlich. Auch die historische Missionskirche, die an der Seite der Kolonialmächte den Kontinent (christlich) erobert hatte, wendete sich in der Zeit der politischen Repression und Verfolgung den Armen und Ausgegrenzten zu und rief zur Unterstützung von Basisorganisationen auf, um die ungerechten Verhältnisse zu verändern.
Doch das Engagement der Befreiungstheologie, ihre politische Einmischung, ihre Kritik am Kapitalismus und den bestehenden Machtverhältnissen und nicht zuletzt ihre Nähe zum Marxismus, gefiel weder den Machthabern noch dem Vatikan oder den USA. Seit den 1980er und 1990er Jahren wurde die befreiungstheologische Bewegung von vielen Seiten angegriffen. Der brasilianische Bischof Hélder Câmara kommentierte das mit seinem berühmten Ausspruch: „Wenn ich den Armen etwas zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen; wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, nennt man mich einen Kommunisten.“
Mit dem Amtsantritt des konservativen Papstes Johannes Paul II. (1978 bis 2005), setzte eine „Revatikanisierung“ der lateinamerikanischen Kirche ein. Die Befreiungstheologie wurde zensiert und progressiv denkende Bischöfe wurden durch konservative Pater ersetzt. Führende befreiungstheologische Priester, wie beispielsweise die Brüder Boff in Brasilien oder Ernesto Cardenal in Nicaragua (siehe Interview in diesem Dossier), erhielten Rügen oder Redeverbote aus Rom und wurden teilweise sogar von ihren Ämtern als katholische Priester suspendiert. Auch US-Präsident Ronald Reagan bekämpfte energisch die Befreiungstheologie und unterstützte gleichzeitig die Missionsbestrebungen von charismatischen Pfingstkirchen in Lateinamerika (siehe auch Artikel von Andreas Boueke in diesem Dossier).
Der Bedeutungsverlust, den die Befreiungstheologie seit den 1990er Jahren erlitt, liegt jedoch teilweise auch in ihr selbst begründet. Sie trat stets für eine Säkularisierung und die Schaffung weltlicher Organisationen ein. Befreiungstheologische Priester unterstützen die Eigenermächtigung und Organisierung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, auch wenn das im letzten Schritt mitunter die Abnabelung von den kirchlichen Strukturen mit sich brachte. Viele soziale Bewegungen wie zum Beispiel die Landlosenbewegung MST in Brasilien oder die Zapatisten in Mexiko, waren ursprünglich von der Befreiungstheologie beeinflusst und inspiriert. Die zur katholischen Kirche Brasiliens gehörende Landpastorale CPT unterstützte die LandarbeiterInnen bereits seit 1979 im Kampf um das ihnen zustehende Land. In Mexiko engagierten sich im Vorfeld des zapatistischen Aufstands Jesuiten, Dominikaner und andere Ordensgruppen in der pastoralen Bildungsarbeit und trieben die politische Bewusstseinsbildung der indigenen Bevölkerung voran, indem sie sie über ihre Rechte informierten und dazu aufriefen, für diese zu kämpfen.
Heute ist der religiöse Ursprung dieser Bewegungen stark in den Hintergrund getreten. Organisationen wie die MST entwickelten ihre Ziele, Ideologien und Arbeitsweisen fort und emanzipierten sich von der kirchlichen Basis. Doch der Geist der Befreiungstheologie lebt in ihnen fort. Die Mystik der MST beispielsweise, die in ihren Versammlungen getroffenen Entscheidungen, das alltägliche Leben in den Camps und die Motivierung zur Arbeit in kleinen Kooperativen oder Kollektiven sind weiterhin eindrucksvolle Zeichen ihres theologischen Erbes.

KASTEN
Leonardo und Clodovis – die Gebrüder Boff
Die Brüder Leonardo und Clodovis Boff sind Vertreter der katholischen Befreiungstheologie in Brasilien. Leonardo, der ältere, war Franziskanermönch, Clodovis ist Mitglied des katholischen Servitenordens. Beide einte das theologische und politische Eintreten für Menschenrechte und die Armen, wie es in der Befreiungstheologie praktiziert wurde. Clodovis verlor deswegen 1984 sowohl seinen Lehrstuhl an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro als auch die Unterrichtserlaubnis an der Päpstlichen Fakultät Marianum in Rom. Leonardo wurde vom Vatikan 1985 ein Rede- und Lehrverbot auferlegt, bevor er dann selbst im Jahre 1992 aus dem Franziskanerorden austrat und sich in den Laienstand versetzen ließ. Clodovis distanzierte sich 1986 von der Befreiungstheologie. Leonardo Boff blieb ihr treu. Auf dem Weltsozialforum 2009 in Belém sagte er: „In ein paar Jahren werden wir alle Sozialisten sein – entweder wir teilen das wenige, was wir haben, oder es wird für niemanden mehr etwas geben.“ Leonardo Boff wurde 2001 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.
Seit dem Jahre 2007 gibt es zwischen den Brüdern theologischen und politischen Zwist: Clodovis kritisierte an der Theologie der Befreiung, sie habe „gut begonnen, sich aber wegen ihrer erkenntnistheoretischen Mehrdeutigkeit verrannt: Sie hat die Armen an Stelle Christus‘ gesetzt.“ Aus dieser Umkehrung folge die „Instrumentalisierung des Glaubens“ für die „Befreiung“, die „Transformation des Glaubens in Ideologie“. Leonardo attestierte daraufhin seinem Bruder, „mit naivem Optimismus und jugendlichem Enthusiasmus“ die Linie der traditionellen Kirche zu verteidigen.
// Christian Russau

Demokratischer Frühling in Oaxaca

„Und, wie verlaufen die Wahlen?“, fragt der stets grinsende Gouverneur Ulises Ruiz Ortíz am Nachmittag des 4. Juli, dem Tag der Bundesstaatswahlen, bei einem Rundgang im Zentrum von Oaxaca Stadt einen befreundeten Abgeordneten. „Wir gehen unter und es kommen weiter viele Leute an die Wahlurnen“, antwortet dieser, worauf Ulises Ruiz das Lächeln im Gesicht gefriert. „Wie das? Mir wurde gesagt, dass die Wahlbeteiligung runtergeht… Ruf das Wahlinstitut an, damit wir wissen, was passiert“.
Dieses Gespräch, das José Gil Olmos und Pedro Matías für die Zeitschrift Proceso dokumentierten, zeigt die Ungläubigkeit der sich stets siegessicher gebenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), als das Undenkbare doch eintraf: Nach 82 Jahren verliert die PRI die Regierungsmacht in dem südostmexikanischen Bundesstaat. Schon bei der Schließung der Wahllokale stimmten Gruppen von PRI-GegnerInnen den Schlachtruf an, den das Protestbündnis Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) bei dem Aufstand im Jahr 2006 (siehe LN 390) etabliert hatte: „Ya cayó, ya cayó, Ulises ya cayó!” („Ulises ist schon gestürzt!“).
Starken Widerhall fand die PRI-Schlappe auch Ende Juli auf dem Fest „Guelaguetza Popular“, das die APPO und die LehrerInnengewerkschaft Sektion 22, die stärkste außerparlamentarische Kraft Oaxacas, bereits zum fünften Mal in Folge organisierten. Zehntausende feierten hier ausgelassen das Ende der PRI-Regierung. Die spontanen Straßenpartys am Wahltag sowie die Stimmung auf dem Volksfest verweisen darauf, dass in erster Linie nicht die Opposition gewählt, sondern die PRI abgewählt wurde. Mit sagenhaften 10 Prozent Vorsprung hat die bunt zusammengewürfelte Oppositionsallianz die alte Macht abgehängt. Da blieb kein Spielraum mehr für technischen Wahlbetrug, zu klar war die Mehrheit dank der historisch hohen Wahlbeteiligung von 56 Prozent. Auch der von der Opposition vielfach beklagte Einsatz öffentlicher Mittel für die PRI-Kampagne konnte die PRI nicht retten. Der Volksaufstand von 2006 und dessen Nachwehen, mit seinen langen Monaten des Barrikadenkampfes, den vielen Toten und Verletzten im Widerstand gegen das alte autoritäre Regime der PRI, fand doch noch ein Echo an der Urne. Mit dem 44-jährigen Ökonomen Gabino Cué Monteagudo von der Mitte-Links-Partei Convergencia wird ab dem 1. Dezember erstmals seit 1928 ein Gouverneur sein Amt antreten, der nicht aus der PRI stammt.
Die PRI hingegen muss sich an die ihr unbekannte Oppositionsrolle gewöhnen. Obwohl sie im Parlament mit 16 Sitzen die stärkste Partei bleibt, hat sie gegen die Allianz klar die Mehrheit verloren. Die Karten werden neu gemischt, und es ist höchste Zeit dafür, betrachtet man die katastrophalen Folgen der PRI-Regierung. So ist der Bundesstaat Oaxaca in den letzten Jahren bei fast allen sozioökonomischen Indikatoren immer mehr zum Schlusslicht der Nation geworden. Zuletzt hatte die Administration des Gouverneurs Ulises Ruiz nur noch mit Repression einen unfähigen und tauben Staatsapparat aufrechterhalten können. Unzählige ungelöste Konflikte werden vor der Amtsübergabe weiterhin vor allem in der Hauptstadt ausgetragen. Unter den Organisationen, die ihrem Unmut Luft machen, befinden sich durchaus auch solche der eigenen PRI-Klientel, wie die Bauernorganisation Antorcha Campesina oder die von PRI-LehrerInnen gegründete Sektion 59. Demonstrationen und Blockaden führen tagtäglich zu einem Verkehrskollaps, den der Großteil der Bevölkerung stoisch erträgt.
Auf der Seite der Gewinner steht die Allianz aus der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Aktion (PAN, jetzt mit 11 Sitzen im Parlament), der sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD, 9 Sitze), der Mitte-Links-Partei Convergencia (3) und der linken Partei der Arbeit (PT, 2). Der frisch gewählte Gouverneur Gabino Cué von der Convergencia kann auf eine Amtszeit als Bürgermeister von Oaxaca Stadt sowie eine Legislaturperiode als Senator des Bundesstaates zurückblicken. Laut Umfragen hat er beide Ämter vergleichsweise gut geführt.
Doch außer der Gegnerschaft zur PRI hat das Links-Mitte-Rechts-Bündnis nur wenige Gemeinsamkeiten, so dass ein kohärentes Regierungsprogramm schwierig sein dürfte. Gabino Cué wird entweder einen politischen Spagat vollbringen müssen oder sich über die diversen Parteiinteressen hinwegsetzen und nach eigenem Gutdünken regieren.
Cué scheint bislang eher Zweiterem zugeneigt: „Die Leute haben Gabino gewählt, nicht die Machtgruppen“, ist seine Antwort auf die Frage, ob er sowohl Andrés Manuel López Obrador als auch Felipe Calderón gerecht werden könne. Sowohl der populäre linke Ex-Präsidentschaftskandidat López Obrador als auch der mexikanische Präsident Calderón von der PAN hatten Cué im Wahlkampf massiv unterstützt. Die ideologische Breite der Allianz wirft in Oaxaca ihre Schatten voraus: Gewisse Themen, so erklärt die eben gegründete Regierungs-Plattform „Für einen effizienten, transparenten und gerechten Pluralismus“ sollen im Parlament explizit nicht angegangen werden; zum Beispiel die Frage nach der Kriminalisierung von Abtreibung, da sich BefürworterInnen als auch GegnerInnen in der Koalition befinden.
Der Nachbarstaat Chiapas, in dem eine ähnliche politische Konstellation herrscht, bietet Anschauungsunterricht, wohin ein auf Personenkult setzender Regierungsstil führen kann. Dort haben die Gouverneure Salazar und Sabines der Alle-gegen-die-PRI-Allianz in den letzten zehn Jahren eine Vetternwirtschaft betrieben, die letztlich der der PRI in nichts nachsteht. Als Resultat hat das Parteiensystem jegliche Legitimität verloren.
Erst einmal gilt es in Oaxaca jedoch die letzten Monate der PRI-Herrschaft zu überstehen.Die lange Übergangsfrist zwischen Wahlen und Amtsübergabe ist eine mexikanische Spezialität. In diesen langen fünf Monaten bis Ende November sind Zersetzungsprozesse der politischen Macht im Gange, ohne dass die neue Administration schon Verantwortung tragen kann. PRI-Kadern wird nachgesagt, sie plünderten Staatseigentum und öffentliche Kassen. Auch gibt es Versuche, der Administration Ruiz Straflosigkeit für ihre Verbrechen zu garantieren. So fand im Juli ein in Mexiko bisher noch nie praktizierter „politischer Prozess“ statt: Die noch von der PRI dominierte Abgeordnetenkammer Oaxacas „untersuchte“ die Verantwortlichkeit von Ulises Ruiz für die schweren Menschenrechtsverletzungen von 2006. Innerhalb von nur zwei Wochen kam sie zu dem Urteil, dass er von alle Vorwürfen freigesprochen werden müsse. Dabei hatte der Oberste Gerichtshof Mexikos noch im Oktober letzten Jahres Ruiz als verantwortlich für eben jene Menschenrechtsverletzungen bezeichnet, die Umsetzung des Urteils aber den Institutionen in Oaxaca überlassen.
Neben diesem Theater, das einmal mehr beweist, wie die Legislative der Regierung im bisherigen autoritären System Oaxacas unterworfen ist, sind interne Abrechnungen im PRI-Apparat im Gange. Beispielsweise wurde ein der PRI nahe stehender Gewerkschafter erschossen. Der Strippenzieher der Repression von 2006, der damalige Innenminister Jorge Franco alias „El Chucky“, ist seit Wochen untergetaucht. Wie sich Machtgruppierungen wie UnternehmerInnenzirkel und lokale Kaziken bis hin zu den in Oaxaca operierenden Drogenkartellen mit dem neuen Regime arrangieren werden, ist noch völlig offen. Klar ist, dass sich die politische Kultur der Gewalt und Korruption, die von der PRI über 80 Jahre geprägt wurde, nicht kurzfristig entwurzeln lässt.
Inzwischen verschärft sich das Unsicherheitsgefühl breiter Bevölkerungskreise. Die Selbstjustiz nimmt zu. Mehrere, teilweise minderjährige „Kriminelle“ wurden in der ersten Jahreshälfte gelyncht, wöchentlich werden neue Lynchversuche bekannt. Auch ungelöste Landkonflikte schwelen weiter vor sich hin und fordern immer wieder Todesopfer. Der Soziologe Eduardo Bautista von der Universität Benito Juárez beschreibt die gefährliche Situation zwischen Wahltag und Machtwechsel als „schwarzes Loch der Unregierbarkeit und der Abrechnung zwischen Machtgruppierungen“.
Exemplarisch für diese explosive Mischung ist San Juan Copala. Die Triqui-Indigenen, welche versuchen, einen autonomen Bezirk nach Vorbild der Zapatistas zu organisieren, befinden sich seit Ende 2009 in einer blutigen Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn, welche offen oder indirekt mit der PRI zusammenarbeiten (s. LN 432). Ende Juli eskalierte die Situation einmal mehr: Anastasio Juárez Hernández, der Chef der paramilitärischen UBISORT in San Juan Copala, kam in der Nacht auf den 29. Juli unter unklaren Umständen ums Leben. Am 30. Juli drangen mehrere hundert Polizisten in Begleitung von bewaffneten UBISORT-Anhängern in das Dorf ein, um die Leiche von Juárez’ zu bergen. Dabei besetzte die UBISORT das Regierungsgebäude von San Juan Copala. Laut den Sprechern des autonomen Bezirks sei Juárez’ Leiche aber erst bei der Polizeioperation nach San Juan Copala gebracht worden. In Wahrheit sei der Paramilitär in der Bezirkshauptstadt Juxtlahuaca bei einer Streitigkeit um Taxi-Lizenzen zwischen PRI-Leuten erschossen worden. Der Mord an Juárez „wurde geplant, um den autonomen Bezirk zum Verschwinden zu bringen“, so Ramiro Martínez von der zapatistischen Anderen Kampagne. Er sieht die Aktion in Verbindung mit dem Versuch, eine parteiunabhängige indigene Autonomie zu ersticken, bevor die neue Regierung ihr Amt antritt.
Mitglieder der Gruppe Frauen des Widerstands des Autonomen Bezirks San Juan Copala versuchten mit einer Menschenkette, die Besetzung des Regierungsgebäudes zu verhindern. Es fielen Schüsse. Zwei Frauen wurden verletzt, die 14-jährige Adela Ramírez López so schwer, dass sie wohl ihr Leben lang gelähmt bleiben wird. Auch wenn die Hintergründe um den Tod des UBISORT-Chefs vorerst ungeklärt bleiben, beweist die Aktion von Polizei und Paramilitärs, dass die offiziell behauptete Neutralität der Staatsmacht in dem Konflikt nicht zutreffend ist. Im August gab es weitere Überfälle in Copala, die drei Tote und mehrere Verletzte forderten. Dabei ist die ausufernde Gewalt in der Triqui-Region nur eines der zahlreichen ungelösten Probleme, bei denen die sozialen Bewegungen Oaxacas die neue Administration in die Pflicht nehmen müssen.
Eine der wohl entscheidenden Weichenstellungen für eine Verbesserung der Situation in Oaxaca wäre eine Aufarbeitung der traumatischen Jahre der Repression unter Ulises Ruiz. Dafür will sich insbesondere der ehemalige APPO-Sprecher und politische Gefangene Flavio Sosa einsetzen, der für die PT ins Parlament gewählt wurde. Er will neben juristischen Schritten gegen Ruiz auch eine Wahrheitskommission zu den Ereignissen von 2006 ins Leben rufen. Wie auch immer sich diese Initiativen dann gestalten werden, klar ist: Erst mit dem Durchbrechen der Spirale der Straflosigkeit wäre ein Neuanfang möglich. Genau dies ist auf nationaler Ebene mit den PAN-Regierungen nicht gelungen. Und spätestens bei den ökonomischen Interessen der InvestorInnen und UnternehmerInnen wird sich weisen, welche Spielräume sich die sozialen Bewegungen werden erkämpfen können. Denn Gabino Cué hat bereits eine bessere Zusammenarbeit mit der neoliberalen Regierung Calderón angekündigt, um die „Entwicklung“ Oaxacas zu fördern. Zudem haben spanische InvestorInnengruppen für 2011 einen massiven Ausbau der Windenergie-Parks in der Isthmus-Region angekündigt, gegen die zahlreiche lokale Basisgruppen seit langem protestieren.
Diese Signale sind für Teile der sozialen Bewegung wie die städtischen Libertären Basis für ihre Annahme, dass mit Cué kein wirklicher Wandel zu erwarten sei. „Mit dem Wahlsieg Gabinos gewinnt der Staat, der es schafft, das Volk zu demobilisieren, es gewinnt die kapitalistische Oligarchie, die nur ihre Marionette auswechselt“, meint Ruben Valencia vom Kollektiv VOCAL. Bis dato scheint bezüglich der demobilisierenden Wirkung allerdings eher das Gegenteil der Fall zu sein: die Demonstrationen und Vernetzungen der sozialen Bewegungen haben einen zweiten Atem erhalten. Der überwiegende Teil der Basisgruppen sieht mit kämpferischem Optimismus in die Zukunft. Carlos Beas, Mitgründer der indigenen Organisation UCIZONI, fasst die Stimmung zusammen: „Wir bleiben wachsam in diesem unruhigen, jetzt aber fröhlichen Oaxaca.“

Nie wieder Acteal

Wie entstand die Idee, einen Film über das Massaker zu machen?
Das war Anfang 2007, als zehn Jahre seit dem Massaker vergangen waren. Zu dem Zeitpunkt war es uns wichtig, an die Öffentlichkeit zu treten, weil Anwälte der Paramilitärs eine Kampagne in Gang gesetzt hatten, die Geschichte des Massakers von Acteal umzuschreiben. Einerseits forderten sie die Freilassung der Paramilitärs, andererseits versuchten sie, das staatliche Verbrechen zu vertuschen. Wir wollten nicht zulassen, dass die Wahrheit der Überlebenden manipuliert würde.

Inwiefern unterscheidet sich dieser Dokumentarfilm von anderen Filmen?
Es gab bereits mehrere Dokumentarfilme über das Verbrechen, aber niemand aus unserer eigenen Organisation hatte bisher einen Film darüber gemacht. Ich bin zwar der Verantwortliche für den Film, aber er ist auch ein Gemeinschaftswerk von den Überlebenden, den Vorsitzenden von Las Abejas und allen, die dem Film Inhalt geben. In den anderen Dokus kommen Zeugen und Überlebende zu Wort, aber meistens wurden sie auf Spanisch interviewt oder die Fragen wurden aus dem Spanischen in Tzotzil übersetzt. Die Fragen und der ganze Film wurden nicht so strukturiert, wie ein Tzotzil den Fall sieht. In meinem Film wurden die Interviews auf Tzotzil von einem Tzotzil geführt, das macht den Hauptunterschied aus. Mir haben viele Zuschauer von den Abejas, aber auch von außerhalb gesagt, dass mein Film ganz anders wirkt, weil man die Vision der Tzotzil dahinter sieht.

Zum Beispiel beginnt und endet der Film mit einer Legende der Tzotzil.
Genau, mit dem Mythos aus dem Popol Vuh. Man kann die Geschichte der Maya mit der der verstorbenen Kameraden in Acteal verbinden, denn auch sie starben gewissermaßen für den Kampf gegen das System. Im heiligen Mythos des Popol Vuh geht es um Zwillinge, die Söhne von Göttern sind, die für ein freies Leben kämpften, da die unterdrückenden Mächte aus der Unterwelt sie nicht in Frieden leben ließen. Zuerst ließen sie sich von ihren Feinden töten, um sie dann in wiedergeborener Gestalt hereinzulegen. Davon sprechen wir in dem Dokumentarfilm, wie die Zwillinge am Anfang in die Unterwelt hinabsteigen, um die Herren dort zu bekämpfen, sie zum Schluss besiegen und so den Frieden in der Welt herstellen. Auch die Verstorbenen von Acteal sehen wir als Opfer dafür, dass neues Leben aufkeimen kann.

Waren Sie selbst am 22. Dezember 1997, dem Tag des Massakers, in der Gemeinde?
Nein, wir waren schon einen Monat vorher vertrieben worden und lebten in einem Lager zwanzig Kilometer von Acteal entfernt. Die Paramilitarisierung war schon seit Mai 1997, sieben Monate vor dem Massaker in Chenalhó, sichtbar geworden. Die ganze Zeit lang versuchten wir, auf die Lage aufmerksam zu machen und baten die Regierung, diese Leute zu entwaffnen, die uns bedrohten und beraubten.

Gab es in Mexiko Verurteilungen der Verantwortlichen?
Zuerst wurden 88 Paramilitärs festgenommen, darunter auch der damalige Gemeindevorsitzende von Chenalhó. Mehr als 30 von ihnen wurden zu 25 bis 40 Jahren Haft verurteilt. Man hat auch 15 Beamte verurteilt, aber nur die auf niedrigster Ebene. Die haben ihre etwa zweijährigen Haftstrafen schon abgesessen. Dabei ging es natürlich darum, die nationale und internationale Gesellschaft zu beruhigen. Sie wurden aber immer als Einzeltäter behandelt. Niemand wurde wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Keiner fragte, wer sie mit Waffen ausgestattet hatte. Die Rolle der Regierung und des Militärs sollte vertuscht werden.

Wie ist die Situation in Acteal im Moment, nachdem einige der am Massaker beteiligten Paramilitärs aus dem Gefängnis entlassen wurden (vgl. LN 423/424)?
Seit der mexikanische Oberste Gerichtshof letztes Jahr 29 Paramilitärs wegen angeblicher Verfahrensfehler freigelassen hat, ging unter den Überlebenden natürlich die Angst um, besonders unter den Zeugen, die ausgesagt hatten. Während der Gegenüberstellungen mit den Paramilitärs hatten diese die Zeugen bedroht. Der Gouverneur von Chiapas versprach den Paramilitärs, ihnen Land in der Nähe der chiapanekischen Hauptstadt, Häuser und Geld zu geben, damit sie dort ein neues Leben anfingen. Er könne die Freilassung der Paramilitärs nicht verhindern, wolle aber zumindest dafür sorgen, dass sie nicht in ihre alten Gemeinden zurückkehrten. Das war natürlich eine Täuschung, das übliche Theater der Politiker. Weniger als einen Monat später sah man die Paramilitärs wieder in der Nähe von Acteal, und die Überlebenden haben sich große Sorgen gemacht.

Sind die Strategien der Regierung denn dieselben geblieben?
Die Strategie der Regierung gegen die Aufständischen ist vielleicht nicht mehr, den Paramilitärs einfach ihre Waffen zurück zu geben. Eher bietet man den Überlebenden des Massakers Geld an. Der Gouverneur von Chiapas ließ in von der Regierung kontrollierten Medien verbreiten, er lade die Überlebenden und Vorsitzenden von Las Abejas zu einem Dialog ein. Und dass er ihnen Stipendien und Pensionen anbiete. Gerechtigkeit könne man nicht nur durch Gefängnisstrafen erreichen, sondern auch durch andere Dinge. Implizit meinte er, wenn ihr schweigt, dann geben wir euch Geld. Vor einem Monat kamen Funktionäre der Regierung nach Acteal und gingen von Haus zu Haus. Sie nahmen die Namen der Verstorbenen des Massakers auf und überprüften die Sterbeurkunden. Den Familien wurden 5000 Pesos monatlich angeboten. Damit will man offensichtlich die Überlebenden zum Schweigen bringen. Denn bis jetzt prangern sie das Massaker an und machen die Straflosigkeit publik. Das ist für die Regierung und die beteiligten Politiker natürlich ungemütlich. Sie wollen den Fall abschließen. Die größte Bedrohung im Moment geht nicht von Waffen aus, sondern vom Geld. Die Regierung nutzt die Not der Menschen aus.

Wurden die Angebote der Regierung angenommen?
Die Überlebenden haben ihre Reaktion abgestimmt. Sie wollen kein Geld annehmen, mit dem das Blut ihrer Verstorbenen bezahlt werden soll. Stattdessen werden wir weiterhin Gerechtigkeit fordern, gegen die Straflosigkeit kämpfen und an das Geschehene erinnern. Wir werden nicht schweigen.
Las Abejas und das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas haben den Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission gebracht. Wie ist der Stand dort?
Die Kommission erhält natürlich viele Anfragen. Im Fall von Acteal warten wir noch auf eine Antwort, obwohl er schon vor fünf Jahren dort eingereicht wurde. Irgendwann wird die mexikanische Regierung vor der Kommission geradestehen müssen.

Welche Art der Unterstützung erhoffen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft?
Uns ist wichtig, dass die Ereignisse bekannt werden, damit ein Massaker wie das in Acteal nicht wieder passiert. Es soll Druck auf die mexikanische Regierung ausgeübt werden, damit sie ihre eigenen Gesetze und internationale Abkommen über Menschenrechte einhält. Mexiko stellt sich gerne als Verteidiger der Menschenrechte und der Rechte indigener Völker dar, aber was in Mexiko gemacht wird, ist genau das Gegenteil. Wir werden dieses Jahr im Dezember den 13. Jahrestag des Massakers begehen und bitten die internationale Gemeinschaft, uns mit Aktionen zu unterstützen.

Wie sehen Sie die Kampagne von Las Abejas gegen die Straflosigkeit in Verbindung mit den jüngsten paramilitärischen Aggressionen in Oaxaca (vgl. LN 432)?
Die Situation der Menschenrechte in San Juan Copala in Oaxaca erinnert an die Erfahrungen in Acteal in der Zeit vor dem Massaker. Da die Regierung Oaxacas und die mexikanische Bundesregierung die Paramilitärs nicht entwaffnen und keine Justiz walten lassen, kann es dort zu einem neuen Massaker kommen. Darum schließt unsere Kampagne gegen die Straflosigkeit nicht nur den Fall von Acteal ein. Im letzten Jahr haben wir ein Forum für eine andere Justiz organisiert, an dem Leute aus Oaxaca teilgenommen haben: Die Versammlung der Völker Oaxacas (APPO), Repräsentanten der Volksfront für die Verteidigung der Erde aus San Salvador Atenco und andere Organisationen, wie die Gewerkschaft der Elektriker (SME). Wir müssen einander unterstützen. Las Abejas hat sich bereits zu den Ereignissen geäußert: Wir fordern Gerechtigkeit. Es dürfen nicht noch mehr Männer und Frauen in Oaxaca und Mexiko leiden.

Acteal, 10 años de impunidad y ¿cuántos más?
(Acteal. 10 Jahre Straflosigkeit, und wie viele noch?) // Dokumentarfilm von José Alfredo Jiménez Pérez //
Mexiko 2007/08 // 45 Min. // Tzotzil/Spanisch mit englischen Untertiteln
Zum Herunterladen unter: http://acteal.blogspot.com/

Kasten:
Das Massaker von Acteal
Am 22. Dezember 1997 töteten Paramilitärs in Acteal 45 Mitglieder der den ZapatistInnen nahe stehenden gewaltfreien Organisation Las Abejas, die meisten davon Frauen und Kinder (siehe LN 284, Februar 1998). Inzwischen wurden einige Einzeltäter verurteilt, jedoch wurden die Drahtzieher des Verbrechens, die in den höchsten Ebenen der mexikanischen Politik und des Militärs zu finden sind, nie zur Rechenschaft gezogen. Dabei organisierten sie die Paramilitarisierung in Chiapas und den Krieg niedriger Intensität gegen die Aufständischen. Mit ihrer Kampagne gegen die Straflosigkeit kämpfen Las Abejas bis heute für die Aufklärung des staatlichen Verbrechens. Der Dokumentarfilm von José Alfredo Jiménez entstand im Rahmen der Kampagne.

Asche auf den Zócalo

Monsiváis war der wohl einflussreichste zeitgenössische Publizist der mexikanischen Linken. Es fällt schwer, ein Thema des politischen, kulturellen oder alltäglichen Lebens in Mexiko zu finden, dem er sich nicht gewidmet hat. Er begann seine Karriere 1956 als Mitarbeiter diverser Zeitungen und des Senders Radio UNAM, 1966 veröffentlichte der Literatur-, Sprach- und Wirtschaftswissenschaftler bereits seine Anthologie Die mexikanische Poesie des 20. Jahrhunderts. 22 Jahre später beschäftigte er sich in Szenen der Scham und der Geilheit mit dem Liebesleben der MexikanerInnen.
Konsequent zog Monsiváis gegen die autoritäre und korrupte Staatspartei PRI ins Gericht. Monsiváis, selbst ein „68er“, forderte er über Jahrzehnte die Aufklärung des Massakers, das Soldaten 1968 an Studierenden angerichtet hatten. Lange bevor die indigenen RebellInnen vom zapatistischen Befreiungsheer EZLN 1994 mit einem Aufstand auf sich aufmerksam machten, beschäftigte er sich mit der Situation der mexikanischen UreinwohnerInnen. Und er zählt zu den wenigen Journalisten, die den EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos mehrmals persönlich interviewt haben. Freilich nicht, ohne seinen großen Respekt gegenüber den Aufständischen mit einer deutlichen Kritik etwa an deren Märtyrer-Inszenierungen zu verbinden. Das kam nicht überall gut an, genauso wenig wie seine kritische Haltung gegenüber dem kubanischen Regime und sein Bemühen, die Fehler der zusammengebrochenen sozialistischen Welt radikal aufzuarbeiten.
Monsiváis war nicht engstirnig, wenn es galt, seine Meinung auszudrücken. Das zeigt nicht zuletzt die Spannbreite der Medien, für die er arbeitete: Seine oft mit beißendem Humor geschriebenen Essays und Kommentare sind in der konservativ-liberalen Tageszeitung Reforma ebenso zu lesen wie in der linken La Jornada. Er hinterlässt über ein Dutzend Bücher sowie unzählige Artikel in Zeitungen, von denen er einige selbst mit gegründet hat. Und es gibt keine Bühne in Mexiko-Stadt, auf der Monsiváis nicht zu hören war. Das gefiel ihm ganz gut, und wohl deshalb erklärte er einmal mit Blick auf den größten Platz und wichtigsten politischen Ort der Stadt: „Verteilt meine Asche auf dem Zócalo, damit ich mit einem mehr oder weniger zentralen Begräbnis protzen kann.“

Nachdruck aus der taz vom 22.06.2010

Das Drama von San Juan Copala

„Ein Kugelhagel deckte uns ein“, erinnert sich eine Überlebende. Mit Schrecken denkt sie an die Umstände des Überfalls vom 27. April zurück. An jenem Tag befand sich eine deutlich als „Friedenskarawane“ gekennzeichnete Fahrzeugkolonne auf dem Weg in die von Paramilitärs belagerte Gemeinde San Juan Copala, um Lebensmittel und Medikamente zu bringen. Kurz vor ihrem Ziel geriet sie in einen Hinterhalt der paramilitärischen Gruppe UBISORT (Einheit für das Soziale Wohl der Region Triqui). Allein 21 Einschüsse wurden im vordersten Geländewagen gezählt, in dem Beatriz Cariño, 37-jährige Leiterin der lokalen sozialen Organisation CACTUS, und der 33-jährige finnische Menschenrechtsaktivist Jyri Jaakkola getötet wurden. Die zwanzig Überlebenden, darunter MenschenrechtsbeobachterInnen aus Deutschland, Belgien, Italien und Finnland, standen nach der kaltblütigen Attacke unter Schock, mehrere erlitten Schussverletzungen. Die meisten der TeilnehmerInnen gerieten auf der Flucht in die Fänge der Angreifer. „Die Paramilitärs prahlten, sie hätten die Rückendeckung des Gouverneurs Ulises Ruiz Ortiz (von der Revolutionären Institutionellen Partei PRI, Anm. d. Red.), luden ihre Gewehre durch und bedrohten uns“, erzählt die Augenzeugin weiter. Schließlich hätten sie die Gefangenen mit der Bemerkung, dass sie ihnen „für dieses Mal das Leben schenkten“ freigelassen.
Ein Krankenwagen, der sich in das Gebiet wagte, musste unter Beschuss umkehren. Die im Hauptort Santiago Juxtlahuaca stationierte Polizei wagte sich erst 24 Stunden nach dem Überfall kurz in die Region, um die Leichen zu bergen. Vier Vermisste harrten tagelang im Wald versteckt aus. Zwei Aktivisten des libertären Kollektivs VOCAL gelang schließlich die Flucht. Ihr Handy-Video mit Aufnahmen der beiden anderen Vermissten setzte die Behörden, die sich durch völlige Untätigkeit auszeichnen, unter Druck, doch noch eine Suchaktion zu unternehmen. Nach langen 60 Stunden ohne Nahrung wurden der verletzte Fotoreporter und die Journalistin von Contralínea gerettet. Fotos derselben Zeitschrift bezeugen, dass der Suchaktion Absprachen der Polizei mit dem Anführer der Paramilitärs vorausgegangen waren.
Seit Ende 2009 befindet sich die Region, Stammgebiet der indigenen Triquis, im Würgegriff der Paramilitärs. Der Versuch einer indigenen Selbstverwaltung, gestartet 2007, wurde damals durch die paramilitärische Besetzung des Gemeindesitzes von San Juan Copala abgewürgt. Am schlimmsten ist die Situation in der Gemeinde San Juan Copala selbst. „Strom und Wasserzufuhr wurden gekappt, weder LehrerInnen noch medizinisches Personal sind noch im Dorf, und wenn die Frauen auf der Suche nach Wasser und Essen sich trauen, die Häuser zu verlassen, werden sie bedroht”, erzählt Jorge Albino Ortíz, Sprecher des autonomen Bezirks. Die mit schweren Waffen ausgestatteten Paramilitärs der UBISORT und der MULT (Bewegung der Vereinigung und des Kampfes Triqui) kontrollieren seitdem den Zugang zu der Gemeinde. Über 20 politische Morde, auch an Frauen und Kindern, wurden seit Ende des letzten Jahres verübt. Opfer haben alle Konfliktparteien zu beklagen. Die Karawane wollte diese unhaltbare Situation dokumentieren, den eingeschlossenen DorfbewohnerInnen helfen und auch die LehrerInnen an ihren Arbeitsplatz zurück begleiten. Noch am Vortag der Ankunft kündigte der Sprecher der UBISORT an, sie würden die Karawane stoppen. Er machte seine Drohung war – mit tödlichen Konsequenzen. Doch wie konnte die Situation überhaupt so eskalieren?
Es ist kein leichtes Unterfangen, die historischen Wurzeln der Auseinandersetzung sowie das aktuelle Konfliktfeld zu verstehen. Nur wenige Quellen sind einigermaßen zuverlässig, zudem handelt es sich meist um Beschreibungen von Außenstehenden. Tatsache ist, dass die politische Gewalt in der Triqui-Region bereits seit Jahrzehnten andauert. Die Triquis, wie auch die anderen indigenen Völker Mexikos, litten in den Jahrzehnten vor und nach der mexikanischen Revolution (1910 bis 1917) unter systematischer Landenteignung durch GroßgrundbesitzerInnen und mestizische Gemeinden. Die letzte größere Konfrontation der Triquis mit dem Staat datiert aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Militärs und Händler ein blühendes Tauschgeschäft Kaffeebohnen gegen Schnaps, Waffen und Munition betrieben. Militäreinheiten beschlagnahmten die Waffen, nur um sie dann den Indigenen erneut zu verkaufen. Eines Tages ermordeten erzürnte BewohnerInnen von San Juan Copala mehrere Soldaten. Als Antwort beschossen Militärflugzeuge die Hütten von Copala und der mexikanische Staat entzog Copala den Status des Bezirks. Seither sind alle Triqui-Indigenen auf die drei umliegenden mestizischen Bezirke aufgeteilt und nicht als eigenständige Verwaltungseinheit anerkannt. Die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte mit den zentralen Konfliktparteien MULT, UBISORT und MULTI (Bewegung der Vereinigung und des Kampfes Triqui Independiente), und deren Kampf um politische Macht sowie der Verteilung von staatlichen Unterstützungsgeldern ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.
Die MULT entstand 1981 aus einer quasi informellen Kaffeekooperative, der einzigen Organisationsform, welche den Triquis zu dieser Zeit erlaubt war. Die MULT führt zwar einen linken Diskurs, fordert indigene Rechte und Landtitel ein, doch ist sie auch mit der in Oaxaca seit 81 Jahren autoritär herrschenden PRI verbunden. Aus ihren Reihen gründete sich 2004 die Partei der Volkseinheit PUP, die als eine Art simulierte Opposition der PRI half, bei den Gouverneurswahlen 2004 der Oppositionsallianz wichtige Stimmen abzunehmen. Der doppelbödige Charakter der MULT-PUP zeigt sich auch dadurch, dass sie sich 2006 zwar der „anderen Kampagne“ der Zapatistas anschloss, nicht aber der Volksversammlung der Völker Oaxacas APPO. Bei den diesjährigen Gouverneurswahlen ist die Spitzenkandidatin der PUP, die sich selbst als indigene Partei bezeichnet, eine Weiße, die früher der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN angehörte. Nach dem Aderlass durch die Abspaltung der MULTI im Jahre 2006 konsolidierte die MULT ihre Basis und verfügt heute über rund 7.000 Mitglieder in 22 Gemeinden.
Die UBISORT ging 1994 aus einer PRI-Fraktion mit dem strategischen Ziel hervor, den zaptistischen Einfluss in der Triqui-Bevölkerung zu schwächen. Die Hauptforderung von UBISORT ist die erneute Militarisierung der Gegend. Inzwischen hat die Gruppe an Unterstützung verloren, hält sich aber in drei Gemeinden mit circa 300 UnterstützerInnen. Trotz ihrer geringen Größe ist sie einflussreich, da sie am besten bewaffnet ist und volle Rückendeckung der PRI genießt. So war ihr Anführer ein Schüler des derzeitigen Innenministers von Oaxaca an der Rechtsfakultät. Seit November 2009 scheint sich die UBISORT mit der MULT verbündet zu haben, um den autonomen Bezirk San Juan Copala zu belagern, was MULT jedoch bestreitet.
Die MULTI entstand während des Konflikts 2006 (siehe LN 427) aus Sektoren von MULT und UBISORT, die sich nicht länger vor den Karren der PRI spannen lassen, sondern als indigene Bewegung unabhängig sein wollten. Sie ist sowohl Teil der „anderen Kampagne“ als auch der APPO. Gemeinsam mit Teilen der UBISORT erklärte die MULTI im Januar 2007 San Juan Copala zum autonomen Bezirk. Der daraus resultierende blutige Konflikt mit der MULT konnte auch nicht durch verschiedene Vermittlungsbemühungen von außen beigelegt werden. Die Allianz der dissidenten UBISORT-Familien mit MULTI war allerdings stets instabil und zerbrach im Oktober 2009. Während Schätzungen davon ausgehen, dass sich zu Beginn rund die Hälfte der gesamten Triqui-Bevölkerung (15.000 in der Region, gleich viele in der Migration) dem autonomen Projekt angeschlossen hätten, schwanken die Zahlen zur aktuellen Unterstützung sehr. Je nach Quelle ist die Rede von einigen Hundert bis zu 3.500 UnterstützerInnen der MULTI, verteilt auf sechs Gemeinden.
Allen drei Organisationen ist gemein, dass sie eine Gruppe von Bewaffneten angestellt haben, was in Gemeinden Südmexikos keine Seltenheit ist. Die Organisationen beschuldigen sich gegenseitig, schwere Verbrechen begangen zu haben, unter anderen auch der Ermordung von Frauen und Kindern. Gerade die Gewalt an Frauen ist ein Thema für sich, beklagen doch Triqui-Frauen aller Gruppierungen, dass sie als Kriegsbeute behandelt würden. So sind zwei Frauen der MULT seit 2007 verschwunden, zwei junge Radiomacherinnen der MULTI wurden 2008 ermordet. Eine Delegation von mutigen Frauen aus dem belagerten San Juan Copala, die die Gemeinde verließen, um Lebensmittel zu beschaffen, wurde von UBISORT überfallen. 13 Frauen und Kinder befanden sich eine Nacht lang in der Gewalt der Paramilitärs und mussten Übergriffe erdulden.
Die Gründe, warum sich die einzelnen Gemeindemitglieder der einen oder der anderen Organisation anschließen, sind nicht unbedingt strikt politischer Natur. So äußert der universitäre Forscher Francisco López Bárcenas (dessen Buch San Juan Copala: Dominación política y resistencia popular unter www.desinformemonos.org erhältlich ist): „Der ideologische Diskurs existiert schon, aber er ist dem Klanwesen untergeordnet. Wenn ein Familienoberhaupt entscheidet, sich einer Organisation anzuschließen, dann macht er das zusammen mit den Familien seiner Söhne und sogar seiner Brüder. Deshalb schließen sich ganze Dörfer der einen oder anderen Organisation an.“ Laut den Aussagen von Angehörigen der MULTI hatte die Führungsschicht der MULT neue, junge Autoritäten ignoriert und so wichtige Familien von den Machtpositionen ferngehalten, was mit zur Abspaltung und des bis heute andauernden Konflikts beitrug. Eine der zentralen Forderungen der neuen Generation war die transparente Verteilung der föderalen Unterstützungsgelder, welche in den südlichen Bundesstaaten Oaxaca, Chiapas und Guerrero von enormer Bedeutung für die verarmten Gemeinden sind.
Die Eskalation des Machtkampfs um San Juan Copala, dem historischen Kern der Triqui-Nation, begann schließlich im November 2009. Nachdem MULTI die Allianz mit UBISORT aufgekündigt hatte, wollte eine Karawane der „anderen Kampagne“ in jenem Monat dem autonomen Bezirk San Juan Copala einen Solidaritätsbesuch abstatten. Doch UBISORT verhinderte die Ankunft der Karawane, gleichzeitig attackierten Militante der MULT San Juan Copala, wobei ein Schulkind erschossen wurde. Seither wird San Juan Copala von UBISORT und MULT belagert, während die Mehrheit der AnwohnerInnen der MULTI zuzuordnen ist. Als am 8. Dezember ein UBISORT-Anhänger ermordet wurde, eroberte die Gruppe den Gemeindesitz mit Waffengewalt. Im März 2010 schaffte es eine Frauendemonstration von MULTI zwar, den Gemeindesitz zurückzuerobern, doch können die politischen RepräsentantInnen das Gebäude nicht mehr verlassen, ohne unter Beschuss zu geraten. Eine Reportage von drei Reportern der Zeitschrift Contralínea, die Mitte Mai auf abenteuerlichen Wegen den Belagerungsring durchbrechen konnten, zeigt, wie unmöglich das Leben in der Gemeinde ist. Kaum jemand traut sich auf die Straße, denn von den Hügeln und aus dem verlassenen Militärcamp gleich hinter dem Gemeindesitz beschießen die Paramilitärs die Gemeinde nach Belieben.
Lange Zeit schien es, die schwersten Auseinandersetzungen beschränkten sich auf die Gemeinde San Juan Copala, während andere Gemeinden, die sich ebenfalls in dem autonom Bezirk befinden, relativ in Ruhe gelassen wurden. San Juan Copala hat offenbar ein zu hohes politisches Gewicht, als dass die PRI-Regierung hinnehmen will, durch eine zapatistisch inspirierte indigene Autonomie die Kontrolle zu verlieren. So setzt sie die Zahlung von staatlichen Geldern aus, und setzt so die paramilitärischen Gruppen unter Druck, gegen die autonomen Autoritäten vorzugehen. Eine ähnliche Argumentation war auch schon in Chiapas zu hören, wo staatliche Institutionen in der Region der Montes Azules den Mitgliedern der paramilitärischen Opddic drohten, es gäbe keine Unterstützung, solange der Widerstand der Dörfer der „anderen Kampagne“ nicht gebrochen sei.
Inzwischen hat die Gewaltwelle jedoch auch andere Dörfer erfasst. Am 20. Mai wurden in der Gemeinde Yosoyuxi Timoteo Alejandro Ramírez und dessen Ehefrau Cleriberta Castro erschossen. Ramírez galt als „natürliche Autorität“ seiner Gemeinde sowie als Gründer und „politisches Hirn“ des autonomen Bezirks San Juan Copala. Laut Augenzeugen handelt es sich bei den Tätern, denen die Flucht gelang, um nicht-indigene Auftragsmörder aus dem Nachbarbezirk. Laut Aussage des Sprechers von MULTI, verkehrten die als Händler getarnten Mörder bereits seit eineinhalb Monaten in der Gemeinde, um Waren zu verkaufen. Dies lässt vermuten, dass der Mord schon vor der Karawane vom 27. April geplant wurde. Die MULTI bezeichnete die MULT als verantwortlich für den Doppelmord. Andere Stimmen wie Miguel Badillo, Chefredakteur von Contralínea, sehen darin ein klares „Staatsverbrechen“, um mit einer Person abzurechnen, welche sich als zu gefährlich für das PRI-System herausstellte: „Er kämpfte für den Frieden in der Region, forderte das Recht auf indigene Autonomie ein; bat dass die Politiker und Kaziken aufhörten, die öffentlichen Gelder zu stehlen und dass diese stattdessen den Gemeinden zugute kämen“. Der Mord an Ramírez lässt befürchten, dass die Gewaltspirale nochmals an Dynamik gewinnt.
Der Fall Ramírez zeigt, dass das unsägliche Gerede der Regierung, welche die Gewalt in der Region als Teil der Triqui-Kultur darstellen will, eine rassistische Ausrede ist. „Wir Triquis sind nicht von Natur aus gewalttätig, wie dies Ulises Ruiz Ortiz sagt“, meint Jesús Martínez Flores, der aktuelle Präsident des autonomen Bezirks. „Die Gewalt kommt von außen“, betonte auch ein Mitglied eines Triqui-Ältestenrates im Interview.
Der Zeitpunkt der Eskalation der letzten Wochen ist kein Zufall. Oaxaca befindet sich derzeit in der heißen Phase des Gouverneurswahlkampfs. Gabino Cué, charismatischer Kandidat einer parteipolitisch äußerst zweifelhaften Links-Rechts-Allianz, liegt laut Umfragen klar vor dem PRI-Kandidaten Eviel Pérez Magaña. Die Destabilisierung der Region liegt im Interesse der Regierung. So befürchtet die Plattform der lokalen NRO eine „Wahl der Angst“, was der PRI mit ihrer starken Stammwählerschaft zugute käme. Die Wahlen am 4. Juli in Oaxaca und in acht weiteren Bundesstaaten gelten als Testlauf für die gesamtmexikanischen Präsidentschaftswahlen von 2012, wobei der PRI derzeit die besten Chancen eingeräumt werden. Kein anderer als der eigentlich vollkommen diskreditierte Ulises Ruiz Ortiz will die Rückeroberung der Macht orchestrieren: Er kündigte an, nach dem Ende seiner Amtszeit als Gouverneur den Parteivorsitz übernehmen zu wollen.
Die Menschenrechtsarbeit sieht sich derweil vor größte Probleme gestellt. Für sie bedeutet der mörderische Angriff auf die Friedenskarawane am 27. April den GAU. Das bisherige Konzept, durch die Teilnahme internationaler BeobachterInnen den lokalen Menschenrechtsorganisationen einen größeren Spielraum und Schutz zu verschaffen, muss neu überdacht werden. Auf Unterstützung durch die Regierung kann die Menschenrechtsarbeit jedenfalls nicht hoffen. Während die Regierung Oaxacas durch ihre Unterstützung von UBISORT und MULT eine direkte Verantwortlichkeit für die ausufernde Gewalt trägt, zeichnen sich bundesstaatliche Stellen durch Untätigkeit und Ignoranz aus. Beispielhaft dafür ist, dass die mexikanische Botschafterin in Brüssel den Überfall als „Unfall“ bezeichnete. Präsident Felipe Calderón, der sich auf seiner Europareise mit zahlreichen Protesten von Solidaritätsgruppen konfrontiert sah, äußerte sich nach drei Wochen erstmals zu den Ereignissen. Gegenüber der finnischen Präsidentin versprach er, den Mord an Jyri Jaakkola aufzuklären, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch Calderóns tatsächlicher Aufklärungswille ist höchst fraglich. So befinden sich auch die Mörder des US-Amerikaners Brad Will, der 2006 in Oaxaca erschossen wurde, weiterhin auf freiem Fuß (siehe LN 429). Von der Aufklärung der zahlreichen Morde an mexikanischen Menschenrechtsaktivistinnen erst gar nicht zu reden.
Die MULTI und mit ihr solidarische Organisationen wollen mit einer neuen, dritten Karawane am 8. Juni die paramilitärische Belagerung durchbrechen. Doch was als politisches Druckmittel Sinn macht, stellt die Verantwortlichen der Initiative gleichzeitig vor ein unlösbares Dilemma: An den lokalen Machtverhältnissen hat sich nichts geändert. Das bedeutet, entweder werden sie erneut beschossen, oder sie reisen mit dem Einverständnis oder gar in Begleitung von Paramilitärs und Regierung. Letzteres würde wiederum der Regierung eine gewisse Anerkennung als neutralem Akteur verleihen. Tatsächlich war nach medialem Sperrfeuer von UBISORT und Innenminister gegen den neuen Karawanenaufruf plötzlich zu vernehmen, dass der Gouverneur Ulises Ruiz die Karawane „willkommen heiße“. Auch dass sich hohe Politiker der linkszentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) wie Alejandro Encino, Koordinator der PRD im Bundesparlament, plötzlich „an die Spitze der Karawane“ stellen wollen, lässt befürchten, dass die Triquis endgültig zum Spielball des Wahlkampfs werden.
Wie auch immer das Drama um San Juan Copala weitergeht, die in Mexiko aktiven Menschenrechtsorganisationen müssen unter den aktuellen Rahmenbedingungen ihre Strategien neu überdenken. San Juan Copala ist ein Fall, der ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde, aber längst nicht der einzige. Andere Gemeinden in Südmexiko leben unter ähnlichen Umständen, die Gewalt und der Unwillen der Institutionen, dieser ein Ende zu setzen, sind symptomatisch für das Mexiko von heute. „Die paramilitärischen Angriffe auf widerständige Gemeinden in Oaxaca, Guerrero und in Chiapas haben dasselbe Grundmuster“, betont Raymundo Díaz vom Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit in Acapulco. Menschenrechtsarbeit in extrem konfliktreichen Regionen muss umsichtig und mit allen gebotenen Sicherheitsmaßnahmen geschehen. Vereinzelte, spontane Aktionen bringen keine grundlegende Verbesserung der Situation und der Preis ermordeter AktivistInnen ist fraglos zu hoch.
Im Fall der Karawanen der „anderen Kampagne“ in die Triqui-Region hat eine einseitige Solidarität mit dem autonomen Bezirk sicher mehr zur Zuspitzung denn zur Lösung des Konflikts beigetragen. Wichtiger als solche überhasteten Aktionen wäre das Sichtbarmachen der Interessen hinter dem de facto Kriegszustand sowie der Verantwortung der mexikanischen Behörden für die endemische Gewalt gegen soziale Organisationen. Dass auch europäische Interessen in der Region eine große Rolle spielen, zeigt die „Adelung“ Mexikos als zehnter „strategischer Partner“ der EU am Rande des Lateinamerika-Gipfels Mitte Mai. Das unkritische bis komplizenhafte Engagement europäischer Unternehmen in Bundesstaaten, in denen systematisch die Menschenrechte verletzt werden, könnte einer neu justierten Menschenrechtsarbeit einen zentralen Ansatz bieten.

ZapatistInnen unter Mehrfachbeschuss

„Marcos demaskiert“ titelte die konservative mexikanische Tageszeitung Reforma in ihrer Ausgabe vom 27. März. Als Beweis diente ein unscharfes Foto eines bärtigen Mannes, das neben einem der bekannteren Fotos des Subcomandante mit der gewohnten Maskierung und Pfeife abgedruckt wurde. Im dazugehörigen Artikel präsentierte die Zeitung einen angeblichen Deserteur des bewaffneten Teils der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), welcher der Reforma ein 83-seitiges Dokument mit einer Auflistung von Namen, Fotos und Telefonnummern verschiedener Verantwortlicher innerhalb der zapatistischen Strukturen zugespielt habe. Zudem behauptet der Informant, über Belege für eine Finanzierung der EZLN durch die baskische Untergrundorganisation ETA zu verfügen. Verschiedene mexikanische und europäische Medien reproduzierten diese vermeintliche Sensation unkritisch. Schon seit Jahren werfen einige der EZLN eine Verbindung zur ETA vor, ohne dies jemals mit konkreten Beweisen zu unterfüttern. Die ZapatistInnen selbst hatten bereits 2005 öffentlich erklärt, keine Beziehungen zu anderen bewaffneten Gruppen in Mexiko oder anderswo zu unterhalten und sich von den Methoden der ETA distanziert.
Die Demaskierung Marcos’ entpuppte sich auch bald als Ente. Bei dem Abgebildeten handelte es sich um einen italienischen Menschenrechtsbeobachter namens Leuccio Rizzo, der die Reforma prompt zu einer Gegendarstellung aufforderte und mögliche rechtliche Schritte gegen die Zeitung ankündigte. Verschiedene italienische Solidaritätsgruppen verurteilten die Falschmeldung als offensichtlich beabsichtigt, die im Zusammenhang mit der „Kriminalisierung der zapatistischen Bewegung“ stehe. Ähnlich äußerten sich mehrere mexikanische sowie internationale Organisationen und AktivistInnen in der Erklärung „Die Solidarität ist unser Recht“. In dieser stellten sie eine aktuelle Kampagne in Mexiko und Lateinamerika fest, die versuche, „den Akt der Solidarität mit den sozialen Bewegungen, und in diesem Fall speziell mit den zapatistischen Gemeinden, zu stigmatisieren, zu delegitimieren und letztlich zu kriminalisieren“.
Das Hervorheben der Solidarität mit den ZapatistInnen kommt nicht von ungefähr: Die Kommentatorin Magdalena Gómez erinnerte in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada daran, dass auch die letzte militärische Großoffensive der mexikanischen Armee gegen die zapatistische Guerilla im Februar 1995 von Meldungen über die vermeintliche Identität des militärischen Chefs der EZLN sowie weiterer Mitglieder ihrer Führungsstruktur begleitet worden war. Damals waren es die massenhaften Proteste der mexikanischen Zivilgesellschaft, die ein Ende des Angriffs erreichten.
Die Falschmeldung in der Reforma ist der jüngste Vorfall in einer Reihe von Berichterstattungen über indigene Bewegungen in Chiapas, bei denen Tatsachen verdreht oder Meldungen einfach erfunden werden. Bedenklich stimmt, dass es sich dabei keineswegs nur um regierungsnahe Medien handelt. So behauptete die als links und bewegungsnah geltende La Jornada am 25. November 2009, der chiapanekische Kongress hätte auf Bitte von VertreterInnen der zapatistischen Räte der Guten Regierung, den regionalen Entscheidungsinstanzen der zapatistischen Autonomie, einen Aufruf zur Anerkennung der zapatistischen Strukturen an den Gouverneur des Bundesstaates weitergeleitet. Am nächsten Tag dementierten alle fünf zapatistischen Räte die Meldung in jeweils eigenen Erklärungen. Hinzu kommen in der Jornada immer wieder Artikel, in denen indigene Bewegungen betreffende Initiativen der Bundesstaatsregierung gelobt werden, ohne die Betroffenen zu konsultieren. Mitunter werden gar soziale Proteste diffamiert und deren AnführerInnen kriminalisiert. Ein generelles Problem der mexikanischen Tageszeitungen ist, dass sie finanziell auf den Abdruck von Regierungsanzeigen angewiesen sind, die oft erst auf den zweiten Blick oder gar nicht als solche zu erkennen sind. So begründete Luis Hernández Navarro, Leiter der Meinungssektion der Jornada, auf einer Konferenz diese Praxis seiner Zeitung bezüglich Anzeigen der chiapanekischen Regierung mit der „wirtschaftlichen Notwendigkeit“. Zwar bleibe laut Hernández Navarro die redaktionelle Freiheit davon unberührt. Doch drängt sich bisweilen der Verdacht auf, dass es sich die Jornada sich mit ihren Anzeigenkunden nicht verscherzen will.
Die medialen Schüsse gegen die ZapatistInnen und andere oppositionelle indigene Gemeinden gehen mit realer Repression und Konfrontationen einher, die in den vergangenen Monaten zugenommen haben. Deren Ursache ist der Widerstand der Dörfer gegen wirtschaftliche und infrastrukturelle Projekte, die ihnen ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage entziehen würden. Häufig werden dabei regierungstreue Organisationen und Gemeinden gegen die Aufständischen instrumentalisiert.
Dies ist Fall der indigenen Gemeinde Bolom Ajaw, die am 6. Februar Schauplatz eines Übergriffes von Mitgliedern der teilweise paramilitärisch agierenden Organisation zur Verteidigung der Rechte der Indigenen und Kleinbauern (OPDDIC) aus dem Nachbardorf Agua Azul auf zapatistische Gemeindemitglieder war. Laut dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas war der Auslöser der Konfrontation die Kontrolle über noch unberührte Wasserfälle nahe dem zapatistischen Dorf, neben denen nach Regierungsplänen eine luxuriöse Hotelanlage gebaut werden soll. Im entsprechenden Bericht des Menschenrechtszentrums zu dem Vorfall heißt es, die Unterlassungen und mangelnde Untersuchung des Übergriffs seitens der staatlichen Stellen „lassen die Annahme zu, dass die bewaffneten Handlungen der Bewohner von Agua Azul von den mexikanischen Behörden toleriert und gestützt werden, wobei das große touristisch-kommerzielle Interesse an der Region, in der sich die zapatistische Gemeinde befindet, und hier unter anderem die Realisierung des Centro Integralemente Planeado Palenque [ein Infrastrukturprojekt zur Förderung des Tourismus‘ in der Region um Palenque und Agua Azul; Anm. des Autors] als Indiz gelten“.
Bolom Ajaw steht dabei in einer Reihe ähnlicher Vorfälle. So erklärt Marina Pages vom Internationalen Friedensdienst (SIPAZ): „Verschiedene Ökotourismusprojekte, die von der chiapanekischen Regierung gefördert werden, befinden sich auf indigenem Gebiet. Aber die betroffenen Gemeinden werden meist nicht konsultiert und bei Widerstand gegen diese Projekte Opfer von Repression.“ Die Koordinatorin des internationalen Programmes, das seit 15 Jahren in Chiapas im Bereich der Konfliktschlichtung und der punktuellen Begleitung von sozialen Prozessen arbeitet, weist auf ein generelles Klima der Spannung in Chiapas sowie im ganzen Land hin. „Wir befinden uns in einer Situation extremer Verwundbarkeit in Mexiko. Dies betrifft nicht nur die sozialen und indigenen Bewegungen, sondern auch die Arbeit von MenschenrechtsverteidigerInnen“, so Pages, die bereits seit 13 Jahren in Chiapas arbeitet.
Denn nicht nur die indigenen Widerstandsbewegungen sind Zielscheibe der Regierung und Objekt tendenziöser Berichterstattung. Zunehmend werden auch die Organisationen und Personen, die soziale Prozesse begleiten, Opfer von Diffamierung, Drohungen und direkten Angriffen. Mitte 2009 war das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas wochenlang einer Diffamierungskampagne diverser lokaler Zeitungen ausgesetzt unter dem Vorwurf, sie würden Kriminelle verteidigen. Hinzu kam, dass verschiedene MitarbeiterInnen der Organisation im selben Zeitraum von Unbekannten überwacht wurden, die sie dem mexikanischen Geheimdienst zurechneten. Dieses Klima hat dann auch dazu beigetragen, dass einer der Anwälte des Zentrums, Ricardo Lagunes, nach einem Aufenthalt in einem indigenen Dorf am 18. September 2009 in einen Hinterhalt gelockt und tätlich angegriffen wurde. Zwischenzeitlich waren mehrere Personen, die an dem Angriff auf Lagunes beteiligt waren und der OPDDIC zugerechnet werden, inhaftiert worden. Sie kamen aber alle recht bald wieder auf freien Fuß, eine Aufklärung des Falles steht bis heute aus.
Der Angriff auf Ricardo Lagunes ist kein Einzelfall. Drohungen und Gewaltanwendung scheinen auch ein Mittel zu sein, wenn die Polizei in die Situation gerät, sich für Amtsmissbrauch rechtfertigen zu müssen. So im Falle der Familie von Adolfo Guzmán, Mitarbeiter der mit Kleinbauern und -bäuerinnen arbeitenden Organisation namens Verbindung, Kommunikation und Befähigung in der Gemeinde Comitán, die am 8. November 2009 Opfer einer gewaltsam durchgeführten Hausdurchsuchung der Polizei wurde. Nachdem Guzmán und seine Frau Margarita Martínez dagegen Anzeige erstatten hatten, erhielten sie mehrfach Morddrohungen mit der Aufforderung, die Anzeige zurückzuziehen. Am 25. Februar, einen Tag vor der Aufnahme ihrer Aussagen durch die Sonderstaatsanwaltschaft für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern, wurde Margarita Martínez von Unbekannten um die Mittagszeit entführt und gefoltert, kurz darauf aber wieder freigelassen. Allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz machte die Familie am nächsten Tag ihre Aussagen.
Die jüngsten Entwicklungen in Chiapas stehen in starkem Kontrast zu den offiziellen Feierlichkeiten der mexikanischen Regierung anlässlich des hundertsten Jahrestages der Revolution (1910-1919). Paradox mag es anmuten, dass in dieser Zeit der Erinnerung an die letzte landesweite soziale Umwälzung der tolerierte Rahmen für friedliche soziale Veränderungen von unten mehr und mehr beschnitten wird. Selbst der Vertreter des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen bezeichnete die Diffamierung von MenschenrechtsverteidigerInnen als „VerteidigerInnen von Kriminellen“ durch staatliche Stellen als inakzeptabel. Klar ist, dass sich AktivistInnen in Mexiko derzeit in einer äußert schwierigen Situation befinden. Viele MexikanerInnen hoffen, dass dieses symbolträchtige Jahr der Startschuss für einen erneuten Massenaufstand für sozialen Wandel wird. Umgekehrt erklärt sich die jüngste Steigerung der Repressionspolitik der Regierung als Präventionsmaßnahme gegen einen solchen.

Chronist des Untergründigen

Carlos Montemayor wurde am 13. Juni 1947 in Parral im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua geboren. Er studierte Jura und iberoamerikanische Literatur in Mexiko-Stadt, lernte Griechisch und Latein und übersetzte Vergil, Catull, Sappho und andere Dichter des klassischen Altertums ins Spanische. Er begeisterte sich für die prähispanischen und indigenen Sprachen, gab Anthologien oaxaquenischer Poesie heraus und veröffentlichte ein Nahuatl-Spanisch-Wörterbuch. Ein Sprachbesessener, der auch noch Dänisch lernte, um Kierkegaard im Original lesen zu können. In der Musik galt seine Leidenschaft der Oper und er war selbst ein begabter Tenor. Die Grande Dame der mexikanischen Literatur, Elena Poniatowska, nannte ihn „einen modernen Renaissance-Menschen“. Seine eigene literarische Produktion setzte mit Gedichtsammlungen wie Las armas del viento (Die Waffen des Windes, 1977) ein. Unter seinen Prosawerken ragen Guerra en el Paraíso (Krieg im Paradies,1991), Los informes secretos (Die geheimen Berichte, 1999), ein Roman über den staatlichen Infiltrations- und Ausspähungswahn gegenüber der Linken, sowie Las armas del alba (die Waffen der Seele, 2003) hervor.
Die größte Resonanz erfuhr zweifellos sein Roman Krieg im Paradies, der 1998 auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Der Roman thematisiert ein bis heute tabuisiertes historisches Ereignis: die unter dem Namen Partei der Armen von dem Dorfschullehrer Lucio Cabañas geführte Bauernguerilla, die zwischen 1971 und 1974 in den Bergen von Guerrero aktiv war und erst durch einen „schmutzigen Krieg“ des mexikanischen Militärs zerschlagen werden konnte. Der Roman ist über seinen zeitgeschichtlichen Bezug hinaus zugleich eine Parabel auf die Lebensverhältnisse der arm gehaltenen und in den Hintergrund der geschichtlichen Bühne gedrängten lateinamerikanischen Landbevölkerung und ihrer niedergeschlagenen, aber aufgrund ihrer unveränderten sozialen Lage immer wieder aufflammenden Aufstände, die bei der städtischen Linken so häufig kein Gehör finden. Aufgrund seiner dichten und rhythmischen Prosa erreichte der „Guerillaroman“ in diesem Werk höchsten literarischen Rang.
Viele Beobachter halten Krieg im Paradies für eines der wichtigsten Werke der mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Roman hat eine Vorgeschichte, die Carlos Montemayor zeitlebens geprägt hat. Während seines Studiums an der Universität von Chihuahua war er mit einer Gruppe von Gleichaltrigen befreundet, die sich als Agrarrevolutionäre verstanden und später die erste mexikanische Guerilla nach der kubanischen Revolution gründeten. Am 23. September 1965 versuchten sie nach dem Vorbild der Erstürmung der Moncada eine Militärkaserne in Ciudad de Madera einzunehmen. Bei der Aktion kamen fünf Soldaten und acht Guerilleros ums Leben, unter ihnen Arturo Gámiz und Pablo Gómez. Carlos Montemayor studierte zu diesem Zeitpunkt bereits in Mexiko-Stadt und erfuhr von ihrem Tod über eine Wandzeitung an der Universität.
Ihn empörte die Darstellung seiner Jugendfreunde in der Presse, in der sie als „Delinquenten, Pistoleros, Viehdiebe und Banditen“ dargestellt wurden. Seither empfand er es als eine Verpflichtung, über sie zu schreiben, um sie von den Entstellungen zu befreien, die über sie verbreitet wurden. In dem Roman Las armas del alba hat er dieses Versprechen schließlich eingelöst. Besonders verbunden war Carlos Montemayor den Campesino- und Indígena-Bewegungen. Die zapatistische Bewegung im Süden Mexikos, der er das Buch Chiapas, la rebelión indígena de México (Chiapas, die indigene Rebellion Mexikos) widmete, begleitete er mit Sympathie, aber auch Sorge angesichts der staatlichen Repression, deren Mechanismen er in analytischer Schärfe beschrieben hat.
Montemayor blieb stets ein unbeirrbarer Verteidiger der Menschenrechte, ein Anwalt der Ärmsten der Armen, der Verfolgten und Opfer der Staatsgewalt. Zuletzt war er Mitglied einer Vermittlungskommission zwischen der Bundesregierung und der in Guerrero aktiven Guerilla EPR (Revolutionäres Volksheer), um das Schicksal zweier Verschwundener aufzuklären. Ein Kommissionsmitglied beschrieb den Moment, als in der Vermittlungskommission eine heftige Kontroverse über den einzuschlagenden Weg ausgebrochen war: „Als der Streit seinen Höhepunkt erreichte, erhob sich Carlos plötzlich von seinem Stuhl, bat um das Wort und stimmte zur Verwunderung aller mit seiner Tenorstimme eine Arie an. Die Szene endete mit Applaus und alle Uneinigkeit war verflogen.“ Die Kommission löste sich später auf, als auf Regierungsseite kein Einlenken erkennbar war. Ein letztes Mal bestätigte Carlos Montemayor seine Rolle als scharfzüngiger Kritiker staatlicher Gewalt, als kurz vor seinem Tod das Buch La violencia de Estado en México (Die Gewalt des Staates in Mexiko) veröffentlicht wurde.
Carlos Montemayor verkörperte den Typus des engagierten Intellektuellen, wie ihn in Europa Jean-Paul Sartre geprägt hat und der hierzulande im Aussterben begriffen zu sein scheint. Sein Tod löste in der mexikanischen Öffentlichkeit ein überwältigendes Echo aus. SchriftstellerkollegInnen, EPR-Guerilleros, ParteienvertreterInnen, ElektrizitätsgewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen beklagten das Verschwinden der „klarsten Stimme des aufständischen Mexikos“.
Ein mexikanischer Freund, Paco Ignacio Taibo II, schrieb in diesen Tagen in Erinnerung an Carlos Montemayor: „Irgendwann einmal habe ich dir gesagt, dass alt gewordene ‚Rote‘, alte Rockmusiker, alte Romanschriftsteller niemals sterben, und du hast mir vorgeschlagen, dieser Liste die Opernsänger hinzuzufügen. Ich muss dir gestehen, dass ich es nie getan habe … Immer bleibt mir noch etwas zu sagen. Immer komme ich zu allem zu spät: zu den Würdigungen, zum Gedenken, zum Schmerz über den Verlust, zu den Erinnerungen. So ist es auch diesmal. Aber sei beruhigt, ich werde die Opernsänger doch noch in die Liste derjenigen aufnehmen, die niemals sterben, und ich werde dich weiterhin lesen … Und ich werde mit Dir in den Nächten reden, so wie ich es mit vielen anderen tue.“ Da wir seit Juan Rulfos „Pedro Páramo“ wissen, dass sich in Mexiko die Toten unter die Lebenden mischen, schließen wir uns Paco Taibos Worten an: „Wir bleiben im Gespräch, Don Carlos.“

Kohlendreck an den Stiefeln

¡Atención! Auch wenn es martialisch klingt, in den Wiener Lateinamerika-Jahrbüchern werden keine Kommandos gebellt, sondern wird analytische Qualität geliefert. So widmet sich das Jahrbuch 2008 dem Thema Geschichtspolitik. Diesem Begriff, der durch den bundesdeutschen Historikerstreit in den 1980er Jahren gängig wurde, hängt nach wie vor etwas Abschätziges an. „Geschichtspolitik“ betreibt nach landläufigem Verständnis, wer politische Ziele verfolgt und in seiner Argumentation dabei missbräuchlich mit historischen Referenzen arbeitet. Hinter der Kritik am Begriff steckt zum einen die Auffassung, Menschen könnten Geschichte betreiben, ohne damit zugleich etwas in der Gegenwart erreichen zu wollen – und zum anderen der Anspruch, politischer Streit solle gefälligst ausgetragen werden, ohne auf Geschichte zuzugreifen. Das erste ist illusorisch, das zweite unrealistisch, denn selbstverständlich legitimiert sich politisches Handeln immer auch durch historische Erfahrung.
Dieser Überzeugung, die sich – anders als in der Öffentlichkeit – in der Geschichtswissenschaft längst durchgesetzt hat, hängen auch die Herausgeber des Bandes Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika an. Berthold Molden unternimmt in seinem Beitrag diesbezüglich eine sorgfältige Begriffsbestimmung, die auch über den Lateinamerika-Bezug hinaus von Interesse ist. Geschichtspolitik definiert Molden als „jedes gesellschaftliche Handeln, das sich wesentlich auf historische Referenzpunkte stützt und/oder die Deutung von Geschichte zu beeinflussen sucht“. So allgemein gefasst, unterscheidet er sich damit von der konkreteren „Vergangenheitspolitik“ (die staatliches Handeln in Bezug auf überstandene Großkrisen wie Kriege oder Diktaturen bezeichnet) und von der „Erinnerungspolitik“ (dem Kampf um Meistererzählungen, der zwischen Gemeinschaften, auch und gerade nicht-staatlichen, ausgetragen wird).
Gerade für das Lateinamerika-Gedenkjahr 2010 (mit mehreren 200. Jahrestagen der ersten Unabhängigkeitserklärungen und dem 100. Jahrestag der Mexikanischen Revolution) lohnt es, sich mit einem gewissen Rüstzeug auszustatten. Dafür hält der Band anregende Beiträge bereit, zum Beispiel die Überblicksuntersuchungen zur Geschichtspolitik der Linken (David Mayer) wie der Rechten (Mario Sznajder). Mayer stellt die gängigen Marksteine linker Geschichtspolitik von den ersten sozialemanzipatorischen Ansätzen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum zapatistischen Aufstand in den 1990er Jahren in einen plausiblen Zusammenhang. Ob nun kommunistische Strömungen in den 30er Jahren, die sich auf die Inkas berufen, ob die Erinnerungen des salvadorianischen Aufständischen Miguel Mármol, die der Schriftsteller Roque Dalton Anfang der 1970er Jahre aufzeichnete, oder die Selbstbezeichnungen lateinamerikanischer Guerilla-Formationen wie Tupamaros, SandinistInnen, oder ZapatistInnen – allen ist gemein, dass sie sich durch ihre geschichtspolitischen Bezüge nicht so sehr als Opfer, sondern als aktiv Handelnde beschreiben. Sie deuten sich als ErbInnen von Vorbildern, die für gesellschaftlichen Wandel, für aktiven Selbst-Einsatz standen. Und unterstreichen damit, dass sie solchen Wandel grundsätzlich für wünschenswert halten, was sie von den Konservativen deutlich unterscheidet.
Auf drei der 13 Beiträge sei gesondert hingewiesen. Der in Köln lehrende Lateinamerikahistoriker Michael Zeuske, der sich in seinen Publikationen stets durch stupende Detail- und Quellenkenntnis auszeichnet, hat einen Beitrag zum Kult um Simón Bolívar geliefert. Wie ist es zu erklären, dass sich dieser Kult schon so lange hält, dass auch heute noch Venezuelas Präsident Hugo Chávez mühelos daran anknüpfen kann? Sicherlich spielt es eine Rolle, dass Bolívar zur Selbstverherrlichung neigte und dass ihm ergebene Zeitgenossen fleißig am Mythos zu stricken begannen. Die Haltbarkeit erklärt sich nach Zeuske jedoch weniger durch die „diskursive Eigenständigkeit von Texten, Mythen, Ritualen, Worten und Bildern, sondern eher in der extremen Persistenz sozialer und struktureller Probleme …“ Würde sich an diesen etwas ändern, so lässt sich schlussfolgern, dann hätte auch der Bolívar-Mythos (dessen realen Kern Zeuske zuvor ordentlich eingedampft hat) endlich einmal ausgedient.
Der in Wien und Münster lehrende Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner untersucht in seinem Beitrag „Kunst als erinnerungspolitisches Medium“. Kastner führt eine lebendige und zutiefst politische Kunstszene vor Augen, die auch international Resonanz erzeugt. So war die Aktion des guatemaltekischen Künstlers Aníbal Asdrubal López Juárez „30. Juni“ auch auf der 49. Biennale von Venedig sowie einer Wiener Ausstellung mit Fotos dokumentiert. López Juárez hatte am Vorabend des guatemaltekischen Nationalfeiertags im Jahr 2000 sechs Säcke mit Kohle quer über die 6. Avenida verschüttet, jene Promenade, über die unweigerlich die Paraden marschieren würden. Zwar wurde die Kohle vor dem Aufmarsch wieder eingesammelt – der von den Soldaten breitgetretene Staub jedoch erinnerte die ZuschauerInnen an die verkohlten Reste dessen, was das Militär während des Bürgerkriegs oft von den überfallenen Siedlungen übrig gelassen hatte.
In einem analytischen Beitrag geht der Zürcher Lateinamerikahistoriker Stephan Scheuzger der Frage nach, wie die zahlreichen Wahrheitskommissionen – Chile, Argentinien, El Salvador, Guatemala und andere – dadurch geprägt wurden, dass zeitgleich zu ihrer Arbeit sich eine Expertengemeinschaft herausgebildet hat, deren Wissen an der Kommissionsarbeit beteiligt war. Scheuzger kommt zu einem ambivalenten Ergebnis. Zum einen unterstützen die Experten die Entstehung neuer „Erinnerungsgemeinschaften“, zum anderen sorgten sie aber auch für eine Standardisierungstendenz beim Umgang mit belasteter Geschichte – worüber sich, so Scheuzger, die Experten selbst kaum bewusst seien.
Auch das Jahrbuch 2009 beschäftigt sich mit geschichtlichen Themen. Herausgegeben von Jens Kastner und Tom Waibel, untersucht es soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken im Zusammenhang. Wie eng beides tatsächlich zusammengehört, zeigen die Herausgeber gleich am Beginn: Dass Hernán Cortés (und auch Kolumbus!) sich selbst gegenüber den Indigenen als Götter ausgaben, gelang ihnen durch kulturelle Techniken, über die ihr Gegenüber jeweils nicht verfügte – was zu ihrem Sieg ganz entscheidend beitrug. Kultur als Prozess unterscheidet sich so verstanden kaum vom Sozialen, sondern beinhaltet nur eine andere Perspektive auf dasselbe Phänomen. Von ganz unterschiedlicher Seite nähern sich die Beiträge diesem Anliegen: Film, Literatur, Kunst, Stadtteilbewegungen, Telenovelas, Karneval und das Internet sind einige der untersuchten Medien, derer sich Menschen bedienen, die an ihrer sozialen Lage etwas ändern wollen.

Berthold Molden, David Mayer (Hg.) // Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika. ¡Atención! Bd. 12 // 322 Seiten // Berlin Münster Wien 2008 // 24,90 Euro

Jens Kastner, Tom Waibel (Hg.) // … mit Hilfe der Zeichen / por medio de signos … Transnationalismus, soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken in Lateinamerika. ¡Atención! Bd. 13 // 281 Seiten // Berlin Münster Wien 2009 // 24,90 Euro

Schule nachholen für den sozialen Wandel

Bachillerato nennt sich der allgemeine argentinische Schulabschluss, der nach zwölf vollendeten Schuljahren vergeben wird. Anders als in Deutschland gibt es in Argentinien kein mehrgliedriges Schulsystem – die Entscheidung zwischen Hauptschule oder Gymnasium ist nicht nötig. Nach erfolgreicher Vollendung der Schullaufbahn haben alle den gleichen Abschluss in der Tasche, so dass im Kindesalter keine Selektion mit lebenslangen Konsequenzen stattfindet. Diese scheinbar gleichberechtigte Ausgangslage ist aber nur die Fassade der Bildungslandschaft. Die gesellschaftliche Realität offenbart ein anderes Bild. Neben der sich verschärfenden sozialen Schieflage durch die immer größer werdende Anzahl von Privatschulen existieren in den öffentlichen Schulen ernsthafte Schulabbruch-Probleme.
Das sozialpolitische Forschungsinstitut Barómetro de la Deuda Social hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass insgesamt 35 Prozent der Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren ein Bildungsdefizit haben. Das bedeutet, sie nehmen entweder nicht am Schulunterricht teil oder sie liegen weit hinter den ihrem Alter entsprechenden Schulklassen zurück. Die Quote der Schuldesertion, also des vorzeitigen Schulabbruchs, ist besonders in den letzten drei Jahren der Schullaufbahn alarmierend. Aktuell liegt sie in diesem Zeitraum bei 17 Prozent – das sind 900.000 Jugendliche. Deswegen wird nicht zu Unrecht im Hinblick auf die Bildung von einer „verlorenen Generation“ gesprochen.
Zurückzuführen sind die Abbrüche vor allen Dingen auf die ökonomische Ausgangslage der SchülerInnen – die Korrelation zwischen Armut und Schulabbruch ist sehr deutlich. Staatliche Stellen geben an, dass 6,5 Prozent oder 200.000 der Kinder zwischen fünf und 13 Jahren arbeiten. Ungefähr die Hälfte dieser Kinder besucht keine Schule. Bei den Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren liegt die Zahl der Erwerbstätigen bereits bei 20 Prozent und in ländlichen Regionen ist der Anteil um weitere zehn Prozent höher. Angesichts dieser offiziellen Zahlen, deren Dunkelziffer mit Sicherheit weitaus höher liegt, scheint es nicht verwunderlich, dass Millionen von ArgentinierInnen niemals das bachillerato erlangen.
Neben den zugrunde liegenden individuellen Aspekten trägt der neoliberale Umbau des Schulsystems in den 1990er Jahren auf negative Weise seine Früchte. Im Zuge der marktwirtschaftlichen Umorientierung und Deregulierung des Bildungssystems wurden die Lehrpläne und -formen dahingehend verändert, dass sich die Ausbildung der Heranwachsenden stark am Erlernen von partiellen und praktischen Fähigkeiten einer fordistischen Arbeitswelt orientiert. „Lernen, um zu machen“ bezeichnet Roberto Elisalde, einer der Gründer des bachillerato popular in der selbstverwalteten Metallfabrik IMPA und Forscher im CEIP, einem Zusammenschluss von kritischen BildungsforscherInnen, die Formel der offiziellen Bildung. „Anstelle eines fundamentalen Rechts auf Bildung hat die veränderte Konzeption dem Wissen einen zunehmend marktorientierten Charakter im Sinne einer Dienstleistung verliehen“, analysiert Elisalde die Verschiebungen auf diesem Gebiet. Jener Schulform, die durch Exklusion geprägt ist, setzen die bachilleratos populares eine offene Konzeption des „Lernens zum Sein“ entgegen, betont der Lehrer. Er führt aus, dass es dabei vor allem darum geht, die Lernenden zum autodidaktischen Selbsterlernen zu befähigen und verweist auf die lange Tradition der educación popular, welche sich gegen die weit verbreitete Vorstellung der linearen und als hierarchischer Prozess verlaufenden Wissensübertragung stellt. Ziel dieser „befreienden“ Volksbildung ist es, durch eigenständige Erarbeitung von Problemen und Aneignung von Lösungsmöglichkeiten kritische Individuen zu schaffen. Diese Form der emanzipatorischen Bildung wird seit vielen Jahrzehnten auf verschiedene Weise von linken Organisationen, Stadtteilgruppen und Bildungskollektiven betrieben und bildet den Hintergrund für das Phänomen bachillerato popular.
In einem dieser Bildungskollektive ist Diana Hernández organisiert. Die 27-jährige Aktivistin engagiert sich zum einen in der Frente Popular Darío Santillán (FPDS), welche bundesweit neben Arbeitslosengruppen auch Stadtteilinitiativen und Organisationen von ArbeiterInnen sowie Studierenden vereint. Gleichzeitig unterrichtet die Literaturstudentin Kunst und Literatur im Bachillerato Popular Roca Negra, welches sich in Lanús, einem der einwohnerreichsten und gleichzeitig ärmsten Vororten von Buenos Aires, befindet. Dort teilt die Schule sich ein drei Wohnblocks umfassendes, zunächst besetztes und jetzt legalisiertes Grundstück mit vielen anderen Projekten der FPDS.
Hernández erzählt, wie seit der Gründung ihrer Organisation diverse wöchentliche Workshops auf verschiedenen Gebieten, darunter Kunst, Handwerk oder Kommunikation, durchgeführt wurden. „In diesem Rahmen tauschten sich die Leute aus der Nachbarschaft aus und eigneten sich gemeinsam Wissen an“, betont sie. „Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, so etwas wie eine Schule für diejenigen Organisationsmitglieder aufzubauen, die keinen Schulabschluss gemacht haben. Für sie, für ihre Verwandten und ihre Nachbarn.“ Hernandez macht eine kurze Pause und fährt fort: „Eigentlich ist es wie so oft im Leben gewesen: Die Lust hat sich da mit der Notwendigkeit gepaart.“ Das „Bachi“, wie es von vielen liebevoll genannt wird, existiert seit dem Jahr 2007 und ist eines von vielen alternativen Erwachsenenbildungszentren, die in den letzten Jahren vor allem im Großstadtgebiet Buenos Aires entstanden sind. Gemeinsam ist ihnen trotz aller Unterschiede die Formalisierung der früheren Volksbildungsansätze. Aus unregelmäßigen Workshops und Gesprächskreisen ist somit eine verbindliche Schule entstanden. Das Ziel ist aber das gleiche geblieben, betont Hernández: „Wir versuchen einen anderen Bildungsvorschlag zu entwickeln, der auf ein Subjekt abzielt, das aus seiner Alltäglichkeit heraus widerständig ist und das sich aktiv, nicht passiv, den tagtäglichen Problemen stellt.“
Zurzeit gibt es in Argentinien über 30 solcher alternativer Schulen mit mehr als 3.000 SchülerInnen und 350 LehrerInnen – Tendenz steigend. Alle sind durch die Initiative sozialer Bewegungen entstanden und nutzen oft die Räumlichkeiten von selbstverwalteten Projekten. Der Unterricht findet zumeist an vier Wochentagen zwischen 18 und 22 Uhr statt. Die ehrenamtlichen LehrerInnen sind größtenteils Studierende oder Graduierte der lokalen Universitäten. Sie bilden immer Zweierteams, welche die Unterrichtseinheiten leiten. Die Arbeit im Team ist, ebenso wie der horizontale und gleichberechtigte Austausch aller Teilnehmenden, zentraler Bestandteil des Bildungskonzepts. Die SchülerInnen, die meistens schon mehrere Nachholversuche hinter sich haben, sind zwischen 16 und 75 Jahren alt und in der Mehrzahl Frauen, nicht selten Mütter. Im Fall von Roca Negra werden „Philosophie für Kinder“ und andere Themen zur Kinderbetreuung angeboten, wodurch der regelmäßige Schulbesuch für viele Schülerinnen erst möglich wird.
Die Unterrichtsfächer gleichen denen von herkömmlichen Schulen, es werden unter anderem Naturwissenschaften und Mathematik, Literatur, Sozialwissenschaften und Kunst unterrichtet. Da die meisten bachilleratos populares von Stadtteilaktiven gegründet wurden, fokussieren sie sich auf den berufsbildenden Schwerpunkt Gemeindeorganisation.
Ein wesentlicher Unterschied zu den staatlichen Schulen ist die Gestaltung des Lehrplans, welcher zwar durch die Lehrenden vorgeschlagen wird, aber letztlich von allen debattiert, verändert und ergänzt werden kann. Inhaltlich setzen die alternativen Bildungszentren vor allem bei den sogenannten weichen Wissenschaften eigene Akzente: Hier wird etwa Sarmientos Gaucho-Roman „Facundo“ oder ähnliche argentinische Gründungsliteratur durch die Erzählungen des zapatistischen Subcomandante Marcos ersetzt. In den Naturwissenschaften wird der Versuch unternommen, praktischere und stärker alltagsrelevante Fragen zu behandeln, wobei sich auf diesen Gebieten das Ausbrechen aus den traditionellen Bildungsinhalten in der Regel schwieriger gestaltet.
Aktuell werden lediglich die Titel von elf Schulen staatlich anerkannt und berechtigen wie die an formellen Schulen erworbenen Abschlüsse zum Universitätsstudium. Staatliche Subventionen existieren anders als in vielen Privatschulen nicht. Stattdessen müssen SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam für die laufenden Kosten aufkommen. Dies stellt ebenso wie die Bewältigung der Instandhaltungs- und Reinigungsaufgaben einen zusätzlichen Aufwand für die TeilnehmerInnen dar. Viele der Klassenräume befinden sich in einem prekären Zustand, besonders die kalten Wintermonate sind eine Herausforderung. Allen Beteiligten ist klar, dass weder die Zahlung der laufenden Kosten, noch die ehrenamtliche Arbeit, die neben der Lohnarbeit zu einer ermüdenden Doppelbelastung wird, eine langfristige Perspektive darstellen.
Um sich gemeinsam für ihre Ziele einzusetzen, sind die meisten der Schulen in der Koordination „Bachilleratos Populares im Kampf“ zusammengeschlossen. In unregelmäßigen Abständen veranstaltet das Bündnis Demonstrationen, an denen die „Bachis“ geschlossen teilnehmen, um den Verhandlungen mit dem Bildungsministerium Nachdruck zu verleihen. Den spektakulärsten Protest des Zusammenschlusses gab es im vergangenen Jahr bei der Eröffnung der Buchmesse in Buenos Aires, als SchülerInnen und LehrerInnen durch Rufe und mit Transparenten die Eröffnungsfeier störten. Ihre vier zentralen Forderungen waren die Anerkennung aller Schulen, die Finanzierung von Gehältern für die LehrerInnen, die Vergabe von Stipendien für SchülerInnen und die Bereitstellung und Instandhaltung der Infrastruktur sowie des täglichen Lehrmittelbedarfs. Ihre zentrale Bedingung ist dabei die Beibehaltung der Autonomie der Projekte durch vollkommene organisatorische, politische und pädagogische Unabhängigkeit vom Staat.
Das Eindringen des Bachilleratos in staatliches Terrain ist mit der Hoffnung verbunden, dem Gegenentwurf zur offiziellen Bildung Legitimität zu verleihen. Die Idee ist, somit in der Lage zu sein, als Bildungsalternative in Konkurrenz zu treten und „die traditionellen Praktiken der öffentlichen Schulen zu überschwemmen“ (aus einem Diskussionspapier der FPDS). Mit Hilfe der educación popular geht es darum, den Staat und dessen Monopolstellung herauszufordern, die schulische Bildung zu reglementieren und deren Formen und Inhalte zu bestimmen.
Dass der eingeschlagene Weg kein leichter ist, erscheint allen klar. Ein Blick in die jüngere Geschichte offenbart die Fallstricke herrschaftlicher Vereinnahmungsversuche und den daraus resultierenden Unabhängigkeitsverlust sozialpolitischer Organisationen. Warnendes Beispiel ist die Instrumentalisierung von einigen Arbeitslosenorganisationen durch die linksperonistische Regierung, der es durch politische Anerkennung und finanzielle Unterstützung dieser Vereinigungen gelingt Wahlklientel zu sichern. Dennoch bewegen sich die AktivistInnen bewusst mit der Forderung nach staatlicher Anerkennung und Subventionen in das komplexe Konfliktfeld zwischen Staat und sozialer Bewegung. Laut dem Grundsatzpapier des Bachillerato im IMPA haben sie dabei ein großes Ziel vor Augen: „Die Schaffung einer selbstverwalteten Gesellschaft, deren Institutionen, wie die Schule, die individuelle und kollektive Autonomie begünstigen und ermöglichen sollen.“

Hand in Hand gegen rebellische Dörfer

Die BewohnerInnen der Gemeinde La Morena in der Sierra Petatlán im südostmexikanischen Bundesstaat Guerrero arbeiteten gerade auf dem Felde, als sich am 16. Februar der Überfall ereignete. Eine Militäreinheit des 19. Bataillons der mexikanischen Armee fiel über die BewohnerInnen her und eröffnete das Feuer. Angeführt wurden die Soldaten von Personen in Zivil, welche die Dorfbevölkerung als Paramilitärs identifizierte, die im Dienst des Lokalfürsten Rogaciano Alba Álvarez stehen. In einem dramatischen Anruf informierte der Ökobauer Javier Torres Cruz die nächst gelegenen Menschenrechtsorganisationen: „Mein Onkel Isaias Torres Quiróz wurde durch einen Durchschuss am Oberkörper schwer verletzt“, er sei dringend auf medizinische Hilfe angewiesen. Die DorfbewohnerInnen hatten auch das mexikanische Rote Kreuz um Hilfe angefragt, doch dieses verweigerte die Entsendung einer Ambulanz, da die Sicherheit in dieser Region nicht gewährleistet sei. Zudem hätten sich die Militärs in zwei nahe gelegenen Gemeinden stationiert, woher ebenfalls sporadisch Schüsse zu hören seien.
Weder Ort noch Zeitpunkt des Überfalls waren zufällig gewählt. Vielmehr handelte es sich um einen Racheakt. Denn eine Woche zuvor war Rogaciano Alba Álvarez, „El Roga“ genannt, in Guadalajara von der Bundespolizei verhaftet worden. Alba gilt seit längerem als einer der größeren Fische im Sumpf von Politik, Drogenhandel und anderen Geschäften. Seine kriminelle Karriere begann er mit Marihuana-Großhandel in den 70er Jahren. Als jahrelanger Bürgermeister von Petatlán im Dienste der Revolutionären Institutionellen Partei PRI nutzte er sein Amt in den 1990er Jahren für die massive Abholzung der Sierra im Auftrag einer US-Firma. Dies brachte die lokale Bevölkerung auf den Plan, sich gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlage zu organisieren. So waren die als „Ecologistas de la Sierra de Petatlán“ bekannten Gemeinden denn auch die erklärten Feinde von „El Roga“. Über 30 Morde an widerständigen Bauern und Bäuerinnen sollen auf sein Konto gehen.
Als seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón die Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Drogenmafias eskalierten, musste er im Mai 2008 untertauchen: Eine gegnerische Mörderbande hatte eine Sitzung der Viehzüchtervereinigung, deren Präsident Alba war, unter Beschuss genommen und tags darauf dessen Familie überfallen. Resultat: 17 Tote.
Seinen Einfluss in der Region bewahrte er als Statthalter des mächtigen Kartells von Sinaloa dennoch. Im Volksmund war bekannt, dass Rogaciano Alba weiter mit der lokalen Militärführung gute Geschäfte machte. Die Militärs überfallen die Gemeinden regelmäßig mit Hurra-Rufen auf „El Roga“ und in Begleitung von Mördern der Drogenmafia.
Ein zweiter Grund für den kürzlichen Überfall auf La Morena findet sich darin, dass sich die mutigen Dorfbewohner Javier Torres Cruz und dessen Onkel Isaias Torres Quiróz zu einer Aussage gegen Alba entschlossen hatten. Dieser soll demnach der Auftraggeber des Mordes an Digna Ochoa sein.
Digna, eine bekannte Menschenrechtsanwältin, wurde 2001 in ihrem Büro in Mexiko Stadt durch zwei Schüsse ermordet. Kurz zuvor hatte sie die Ökobauern und -bäuerinnen von Petatlán besucht und sich für deren Verteidigung engagiert. Der Fall wurde damals von den Behörden mit dem skandalösen Untersuchungsresultat ad acta gelegt, sie habe Selbstmord begangen (siehe LN 353). Erst die neuen Zeugenaussagen aus La Morena führten zu einer zögerlichen Wiederaufnahme der Untersuchungen.
Javier Torres Cruz war nach seiner Aussage gegen Alba bereits im Dezember 2008 von Militärs verhaftet und den Paramilitärs übergeben worden. Zehn Tage lang wurde er gefoltert und verhört, schaffte es aber schließlich auf abenteuerliche Weise, seinen Häschern zu entfliehen. Das Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit CCTI hatte die Entführung damals sofort öffentlich gemacht und die Folter dokumentiert. Seither fanden in La Morena mehrere Kurse statt, um die Bevölkerung im Umgang mit Repression und Folter möglichst gut zu wappnen. Die vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Schutzmaßnahmen für Javier Torres Cruz wurden jedoch bis heute von den Behörden nicht umgesetzt.
In den frühen Morgenstunden nach dem Überfall im Februar hatte sich eine ad hoc gebildete Beobachtungsmission aus den Menschenrechtsorganisationen CCTI, Tadeco und der Coddehum auf den mehrstündigen Weg in die abgelegene Region der Sierra gemacht. Dort musste sie feststellen, dass die Militärs offenbar gezielt Jagd auf Javier Torres Cruz und dessen Angehörige gemacht hatten. Javier selbst konnte fliehen, doch Javiers Großvater Anselmo sowie Huber Vega Coria waren von den Militärs verhaftet und per Helikopter ausgeflogen worden. Aufenthaltsort und Gesundheitszustand der beiden sind weiterhin unbekannt.
Außerdem ist seit dem Überfall Alfonso Torres Cruz, ein weiterer Onkel von Javier, verschwunden. Laut Aussagen der DorfbewohnerInnen wurde dieser ebenfalls durch die Kugeln getroffen, konnte aber zunächst in die Berge entfliehen. Doch bereits am Tag darauf wurde Alfonso tot aufgefunden; die genauen Umstände seines Todes sind ungeklärt.
Um den Aufenthaltsort des untergetauchten Javier Torres Cruz zu erfahren, habe laut CCTI ein Soldat mit einem Funkgerät der Gemeinde mit Javier kommuniziert, „ihn bedroht und angeschrieen, dass sie hinter ihm her seien und seine Familie in ihrer Gewalt hätten“.
Die Menschenrechtsorganisationen fordern nun vom mexikanischen Staat, dass der Überfall auf La Morena strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müsse. Zudem müssten „die vom Interamerikanischen Menschenrechtshof angeordneten Schutzmaßnahmen für die Familie Torres endlich umgesetzt werden.“
Notwendig wäre aber vor allem ein Ende der Kollaboration von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit der organisierten Kriminalität. Sogar die mexikanischen Untersuchungsbehörden geben auf ihrer Homepage zu: „Die Stärke des organisierten Verbrechens wurzelt in der Erstellung von Allianzen und Verbindungen auf allen Ebenen, inklusive der politischen und der militärischen. Mit Hilfe von Korruption erreichen die Verbrecher ihre Straflosigkeit.“ Doch dagegen handeln mag die mexikanische Regierung kaum.
Einzelne, spektakulär inszenierte Verhaftungsaktionen wie diejenige von Rogaciano Alba dienen vielmehr der Simulierung von Handlungsentschlossenheit und sollen die Öffentlichkeit über die weit reichenden politisch-militärischen Verstrickungen mit dem Drogenhandel hinwegtäuschen. So ist es wenig verwunderlich, dass Rogaciano Alba erst mal „wegen fehlender Beweise“ nur in Untersuchungshaft sitzt. Von Untersuchungen bezüglich der Ermordung von Digna Ochoa und den Morden in Guerrero ist bisher gar nicht die Rede.
Der kürzliche Überfall auf La Morena zeigt vielmehr, dass die Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen mit dem organisieren Verbrechen weiter an der Tagesordnung ist.

Kasten:

Präventivkrieg in Guerrero
Die zugespitzte Situation in Guerrero erklärt sich auch vor dem Hintergrund der verstärkten Aktivitäten der Guerilla Revolutionäre Armee des Aufständigen Volkes ERPI insbesondere in der bergigen Region der Sierra. Die Guerilla bedeutet für die lokalen Machtinteressen ein Hindernis. Die ERPI denunzierte explizit die Zusammenarbeit von Drogenbanden mit dem Militär in Sachen Aufstandsbekämpfung.
Ende Oktober 2009 kamen Jacobo Silva Nogales und Gloria Arenas, zwei Gründungsmitglieder der ERPI, nach über zehn Jahren Haft frei. Sie verstehen sich inzwischen als Teil der „Anderen Kampagne“ der Zapatistas und arbeiten seit ihrer Freilassung auf zivilem Weg für die anderen politischen Gefangenen. Kaum ein Zufall, dass wenige Tage nach ihrer Freilassung der regionale Anführer der ERPI, Omar Guerrero Solís alias Comandante Ramiro, von einem „Narcoparamilitär“, so die Guerilla, ermordet wurde. Die Militarisierung des Bundesstaates Guerrero hat ihren historischen Höchststand erreicht, wie auch der erfahrene soziale Aktivist Bertoldo Martínez Cruz im Gespräch bestätigt: „Die Militärs sind präsenter als in den Zeiten des schmutzigen Krieges in den 1970er Jahren. Das Hauptproblem für das Militär ist jedoch nicht der Drogenhandel, sondern die soziale Bewegung.“

Kasten:

Ein Jahr nach den Morden an Raúl und Manuel
Diesen Februar jährte sich das Verschwindenlassen mit anschließender Folter und Errmordung der beiden indigenen Aktivisten Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas von der Organisation für die Zukunft des Volks der Mixtecos (OPFM) in Ayutla. An einer Pressekonferenz am Jahrestag des Doppelmords bedauerten die Mixtecos, dass keinerlei Fortschritte in der Aufklärung des international viel beachteten Doppelmordes vorliegen. Instanzen wie die EU und die UNO waren vor Ort, hunderte Menschenrechtsorganisationen protestierten, doch die lokalen Behörden der PRI stellen sich taub – und werden vom PRD-Gouverneur und von der PAN-Regierung gedeckt.
In den letzten zwölf Jahren seien in dieser Region Nahe der Grenze zu Oaxaca rund 20 indigene Anführer der Mixtecos ums Leben gekommen, so ihr Sprecher Arturo Campos. Die selektiven Morde durch Paramilitärs begannen nach dem Massaker von El Charco vom Juni 1998, als dem Militär erstmals Dokumente über die Guerilla ERPI in die Hände fielen.
Die Mixtecos leben seit der Ermordung des Präsidenten und des Sekretärs ihrer indigenen Organisation vor einem Jahr in Angst, kündigten aber nun doch die Gründung einer neuen sozialen Organisation namens Völker für die Regionale Entwicklung (Poder) an, welche den Faden der Organisierung wieder aufnehmen und den Gemeinden aus ihrer Marginalisierung helfen soll.

Mörder auf freiem Fuß

Wut und Entrüstung bestimmten die Worte der Abejas, der Organisation der Opfer und Überlebenden von Acteal. In ihrem Kommuniqué vom 17. August dieses Jahres äußern sie: „Wenn du Geschenke und Unterstützung für dein Haus und Land willst, bring’ Kinder und schwangere Frauen um, und du bekommst, was immer du willst“. So fassten sie die Entscheidung der chiapanekischen Regierung zusammen, den nun freigelassenen Paramilitärs die Rückkehr in ihre Dörfer zu verweigern, ihnen aber Land in einem anderen Landkreis zur Verfügung zu stellen. Dazu muss man wissen, dass die Landknappheit wenigstens seit den 1980er Jahren ein großes Problem für die Menschen im Hochland von Chiapas darstellt, dort wo sich kurz vor Weihnachten 1997 das Massaker in dem zapatistischen Dorf ereignete. 45 Menschen wurden damals ermordet, darunter 16 Minderjährige und 20 Frauen, von denen sieben schwanger waren.
Die Entscheidung der chiapanekischen Regierung war allerdings auch eine einseitig getroffene Maßnahme. Denn die Freigelassenen äußerten laut späteren Presseberichten schon den Wunsch, wieder in ihre Dörfer in der Region Acteal zurückkehren zu wollen. Bereits im Vorfeld der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Mexikos (SCJN) äußerte Las Abejas ihre Sorge, dass die von ihnen als Paramilitärs identifizierten Gefangenen sich rächen könnten, sollten sie freigelassen werden und wieder in ihre Dörfer zurückkehren.
Ende 2006 hatte das Zentrum für Ökonomische Forschung und Lehre (CIDE) auf Vorschlag des Gastdozenten Hugo Eric Flores Cervantes die Verteidigung mehrerer für das Massaker von Acteal Verurteilter übernommen. Es erreichte, dass der Oberste Gerichtshof Mitte Juli 2007 den Fall annahm. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Rechte der Angeklagten im Laufe des Prozesses gewahrt worden waren. Pikant daran ist, dass Flores Cervantes 1999 im engeren Umfeld von Ex-Präsident Zedillo tätig war und 2006 einen Pakt mit dem jetzigen Präsidenten Calderón schloss, damit dieser, als Gegenleistung für Wählerstimmen, auf eine Revision des Falles hinwirken würde. Flores Cervantes hat das CIDE allerdings Ende 2006 verlassen.
Am 12. August dieses Jahres entschied nun der Oberste Gerichtshof, dass in dem damaligen Prozess auf unzulässige Weise erlangte Beweise verwendet worden waren und die Staatsanwaltschaft Beweismaterial manipuliert hatte, was einen fairen Prozess für die Angeklagten verhindert habe. 20 von ihnen wurden am darauf folgenden Tag freigelassen, bei zwei Angeklagten wird der Prozess neu aufgerollt. Eine Entscheidung über einen Revisionsantrag für 37 weitere Verurteilte im selben Fall steht noch aus und könnte möglicherweise die gleiche Wendung nehmen.
Selbst die Verteidigung der Familienangehörigen der Opfer und der Überlebenden, das Menschenrechtszentrum „Fray Bartolomé de Las Casas“ (Frayba), hatte öffentlich erklärt, dass die Prozessrechte der Angeklagten nicht gewahrt worden waren. Jedoch warnte die Nichtregierungsorganisation davor, dies als ausreichenden Grund für ihre Freilassung anzuerkennen. Entsprechend entrüstet äußerte sich das Menschenrechtszentrum dann schließlich auch über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, 20 Paramilitärs freizulassen: „Die Entscheidung des SCJN fördert die Straffreiheit und gefährdet die Sicherheit und das Leben der Überlebenden des Massakers. Damit wird der Oberste Gerichtshof zu einem weiteren Täter des Massakers von Acteal, der die Strategie der Aufstandsbekämpfung in Chiapas verfolgt und der absichtlichen Fehldarstellung der Ereignisse vom 22. Dezember 1997 die Tore öffnet.“ Im Zusammenhang dieser Missachtung gegenüber den Überlebenden ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der Delegation der Abejas, die am Tag der Entscheidung in Mexiko-Stadt weilten, der Zugang zum Obersten Gerichtshof verweigert wurde, um ihre Anwesenheit bei der Urteilsverkündung zu verhindern.
Die Freilassung der zwanzig Verurteilten löste ein großes Echo in der mexikanischen Öffentlichkeit aus. In mehreren Kommentaren liberaler und konservativer Zeitungen wurde die Entscheidung begrüßt. Dabei wurde die Freilassung der 20 Paramilitärs als Akt der Gerechtigkeit bezeichnet, weil ihre Rechte während des Prozesses verletzt worden seien.
Die linke Presse hingegen verurteilte die Entscheidung. So schrieb der Verantwortliche der Meinungsseite der Tageszeitung La Jornada, Luis Hernández Navarro: „Das Massaker von Acteal ist ein Staatsverbrechen, begangen von der Regierung des Präsidenten Ernesto Zedillo. Die Freilassung der Mörder von Acteal und der Vorsatz, die Geschichte des Massakers umzuschreiben, sind kein Akt der Gerechtigkeit, sondern die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ Der Kommentator bezog sich dabei auch auf die jüngste Entwicklung. Denn eine Woche nach der Freilassung der Paramilitärs wurde von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation National Security Archive (NSA) zwei kürzlich freigegebene Telegramme des US-Militärgeheimdienstes DIA veröffentlicht. Diese belegen unter anderem die Autorisierung zur Schaffung und Unterstützung paramilitärischer Gruppen in Chiapas nach dem zapatistischen Aufstand durch die Präsidenten Salinas de Gortari (1988 – 1994) und Ernesto Zedillo (1994 – 2000). Damit bestätigen sie, was Frayba seit mehreren Jahren betont: Das Massaker von Acteal war Teil einer Aufstandsbekämpfungsstrategie, die von höchster Stelle abgesegnet wurde (siehe LN 408). Das Menschenrechtszentrum beruft sich dabei auf ein Dokument des mexikanischen Militärs, welches seit Jahren bekannt ist und als Grundlage des Kriegs „niederer Intensität“ in Chiapas diente, der so genannte „Plan de Campaña Chiapas 1994“. Zudem belegt der Fund der NSA erstmals, dass das US-Militär über die Verbindung zwischen der mexikanischen Armee und paramilitärischen Gruppen informiert war, auch über deren Zusammenarbeit unmittelbar vor dem Massaker.
Infolge der Freilassung der 20 Paramilitärs und der Erklärung des Obersten Gerichtshofs, dass nicht über ihre Schuld entschieden wurde, wurde die Forderung nach einer erneuten Untersuchung laut. Die mexikanische Bundesstaatsanwaltschaft ließ verlauten, dass diese Möglichkeit weiterhin bestehe.
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen, die eine Fortsetzung der Straffreiheit durch das Urteil beklagten, forderten erneut, auch die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, darunter den Ex-Präsidenten Zedillo sowie weitere hochrangige Funktionäre, die in der Zeit des Massakers im Amt waren. Allerdings werden die Telegramme des Pentagon dabei nicht viel nützen. Nach Aussage von JuristInnen haben sie vor mexikanischen Gerichten als Dokumente aus dem Nachbarland keine Beweiskraft. Die Organisation der Opfer und Überlebenden, Las Abejas, hat allerdings erklärt, dass sie kein Vertrauen in die mexikanische Justiz habe. So scheint sich ein neues Kapitel in der unendlichen Geschichte der Straflosigkeit in Mexiko abzuzeichnen. Und die Angst der Opfer, dass sich die Situation in der Region von Acteal erneut zuspitzt, hat aufgrund der Gerichtsentscheidung neue Nahrung bekomme

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