Mit einem nervtötenden Schrei gibt ein Hahn das Zeichen, daß die Nacht zu Ende ist. Oben am Hang antwortet ein Hund mit wüstem Gebell, dann fallen weitere Tiere in das Spektakel ein. In der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen, regen sich vor den Hütten aus Brettern oder Wellblech die ersten menschlichen Gestalten. Mit Macheten und Hacken auf den Schultern machen sich ein paar Bauern auf den Weg zu ihren oft weitab gelegenen Maisfeldern. Frauen klatschen den aus Mais, Wasser und Salz zusammengekneteten Teig auf flache Steine und formen die Masse zu handtellergroßen, runden Fladen, den Tortillas. Für die meisten Leute in Guarjila, einem Dorf in der salvadorianischen Provinz Chalatenango, beginnt der Arbeitstag schon vor dem Morgengrauen.
Auch für die sechs Mitarbeiter von Radio Sumpul, die sich um halb fünf vor dem kleinen Gebäude am Ortsrand versammelt haben. Ein kaum achtjähriger Junge schleppt einen Eimer mit Dieselöl heran und gießt den dickflüssigen Kraftstoff in den Einfüllstutzen des Motors, der in einem Bretterverschlag hinter der Hauswand untergebracht ist. Minuten später rumpelt das Aggregat, zwei an schlecht isolierten Drähten von der Decke baumelnde Glühbirnen beginnen zu flackern und tauchen den Innenraum in ein trübes Licht.
Wilfredo Zepeda, Chefredakteur und Leiter des vor einem knappen Jahr gegründeten Radios, nimmt an einem wakkeligen Holztisch Platz, gießt Kaffee in schmutzige Plastikbecher und eröffnet die Redaktionskonferenz. In einer knappen halben Stunde, um fünf Uhr, beginnt die Morgensendung. Zentrales Thema dieses Tages sind die Schwierigkeiten bei der Landübertragung an ehemalige Regierungssoldaten und Guerilleros der Befreiungsfront FMLN. Die beiden Reporterinnen haben Interviews mit Betroffenen und einem Vertreter der UN-Beobachtertruppe ONUSAL, der am Vortag Guarjila besucht hat, vorbereitet und stellen ihre Beiträge vor. Juan, der Techniker, schaltet für einen Sound-Check das Mischpult und die Verstärkeranlage ein. Radio Sumpul ging vor zehn Monaten zum ersten Mal auf Sendung. Vier Stunden täglich bestrahlt die auf einem Berg in der Nähe montierte Antenne weite Teile der nördlichen Provinz Chalatenango und einige Nachbarbezirke. Die niederländische Nichtregierungsorganisation World-Com hat die Technik installiert, ein schwedisches Hilfswerk führt seit dem Herbst ein Ausbildungsprogramm für die Journalisten und Journalistinnen durch.
“Unsere Leute hatten überhaupt keine Ahnung, wie Radio gemacht wird”, sagt Wilfredo Zepeda. Alle MitarbeiterInnen stammen aus Dörfern in Chalatenango. Einige verbrachten die Bürgerkriegsjahre mit ihren Familien im Exil in Honduras, andere gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Eine Schule haben sie, wenn überhaupt, nur für ein oder zwei Jahre besuchen können. Das Schulgebäude von Guarjila wurde 1982 bei einem Angriff der Regierungsarmee zerbombt, die beiden Lehrer flohen in die Hauptstadt. Ausgebildete Journalisten aus San Salvador oder dem Ausland zu verpflichten, kam für Radio Sumpul von Anfang an nicht in Frage. “Die hätten wir gar nicht bezahlen können,” so Zepeda. “Und das hätte auch unserem Konzept widersprochen, ein Radio für die Bevölkerung zu machen.” In Guarjila gibt es weder Zeitungen noch Fernsehen, aber in jeder Hütte steht ein batteriebetriebenes Radiogerät. In der einmal pro Woche tagenden Junta Directiva, einer Art Aufsichtsrat von Radio Sumpul, haben die Landarbeitergewerkschaft, eine Frauengruppe und andere Basisorganisationen Sitz und Stimme.
Unterbrochen von schwungvollen Rancheros läuft im Radio das Interview mit einem Vertreter des Gemeinderates von Guarjila. Etwas holperig informiert Caesar Ibarra über die Verzögerungen bei der Landübertragung. Seit Anlaufen der Agrarreform vor drei Jahren dürfen Großgrundbesitzer nur noch 245 Hektar Wirtschaftsland besitzen und müssen alles, was darüber liegt, günstig an Nichtverwandte verkaufen. Das meiste Land kauft der Staat auf und gewährt ehemaligen Guerilleros, entlassenen Regierungssoldaten und Kleinbauern, die während des Krieges in den Konfliktzonen verlassenes Land an sich genommen hatten, günstige Kredite. Bis zum April dieses Jahres soll der Prozeß der Landübergabe abgeschlossen sein – so steht es in dem im Januar 1992 unterzeichneten Friedensabkommen.
Schwierigkeiten bei der Landverteilung
Doch die Wirklichkeit in Chalatenango und den anderen früheren Konfliktregionen sieht anders aus. Bis heute haben noch nicht einmal 40 Prozent der fast 50.000 registrierten AntragstellerInnen Land erhalten, die meisten weniger als die versprochenen 2,5 Hektar. Viele Bauern haben sich nicht rechtzeitig bei den Behörden gemeldet, andere wurden nicht als Begünstigte anerkannt. In Guarjila und den umliegenden Gemeinden, die im Krieg von der FMLN kontrolliert wurden, ist die Situation noch krasser.
Hier hatten sich die meisten ehemaligen Großgrundbesitzer nach Ausbruch des bewaffneten Konfliktes ins Ausland abgesetzt und sind deshalb oft nicht mehr ausfindig zu machen. Ohne ihre rechtsgültige Unterschrift, so argumentiert die Regierung, kann das Land aber nicht verkauft werden. Eine gemeinsame Kommission der Gemeinderäte aus Chalatenango hat jetzt die ONUSAL aufgefordert, bei der Regierung auf eine Beschleunigung der Landübertragung zu drängen. “Wenn wir weiter hingehalten werden, gibt es massiven Krach,” warnt Caesar Ibarra.
Politische Absicht wähnen die Leute von Guarjila auch hinter der Tatsache, daß die im Krieg zerstörte Infrastruktur in ihrer Region noch nicht wieder intakt ist. Trinkwasser, Strom und Telefonanschlüsse hat die Regierung allen Gemeinden in ihrem von der Europäischen Union mitfinanzierten Nationalen Wiederaufbauprogramm versprochen. In Guarjila zapfen die Menschen das Wasser weiterhin aus selbstgebohrten Brunnen. Und es gibt auch noch keine elektrische Energie, obwohl eine Leitung nur wenige hundert Meter entfernt am Ort vorbeiführt. Bei einer Versammlung im Januar forderten aufgebrachte EinwohnerInnen, der Regierung eine letzte Frist für die Installierung der Kabel zu setzen. Anderenfalls werde man die Strommasten in die Luft sprengen.
Trotz der verbreiteten Unzufriedenheit in den ländlichen Regionen hat sich die politische Situation in El Salvador in den vergangenen drei Jahren spürbar entspannt. Rubén Zamora, der bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen März für eine Mitte-Links-Koalition ins Rennen ging, dabei aber dem Kandidaten der rechtsgerichteten Partei ARENA unterlag, hält den Friedensprozeß für unumkehrbar. “Die Gefahr, daß der Krieg wieder ausbricht, existiert praktisch nicht,” sagt der 52jährige Rechtsanwalt, den wir in seinem Büro am Boulevard de los Heroes im Zentrum San Salvadors treffen. “Die Entmilitarisierung hat große Fortschritte gemacht.”
In den vergangenen drei Jahren wurde die Regierungsarmee von über 60.000 auf 32.000 Mann reduziert. Die alten Sicherheitsorgane, während des bewaffneten Konfliktes für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, sind aufgelöst worden. Eine neue Polizeieinheit, die unter zivilem Kommando steht, ist inzwischen im ganzen Land präsent.
Konsens mit der Opposition in Grundfragen
Auch “Elemente einer neuen Streitkultur” hat Zamora ausgemacht. “Der alte Stil, als die Regierung befohlen hat und die Bevölkerung gehorchen mußte, existiert so nicht mehr.” In wesentlichen Fragen müsse die Regierung den Konsens mit der Opposition suchen, insbesondere mit der FMLN, der zweitstärksten Fraktion im Parlament.
Präsident Armando Calderón Sol sieht El Salvador ebenfalls “auf dem Weg in eine bessere Zukunft.” Die Abkommen seien zu neunzig Prozent erfüllt, erklärt er bei einer Kundgebung zum dritten Jahrestag des Friedensvertrages. Die Regierung werde alles tun, die noch offenen Punkte so rasch wie möglich umzusetzen. Die versammelten Minister und Botschafter nicken beifällig und wenden sich dann den von emsigen Kellnern auf silbernen Tabletts gereichten Häppchen und Getränken zu.
Frieden heißt auch soziale Gerechtigkeit
Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung kommt vor allem von der Kirche. “Für die Ärmsten ist der Frieden noch lange nicht erreicht”, sagt der Interims-Erzbischof von San Salvador, Rosa Chavez, in der Sonntagsmesse in der großen Kathedrale. Frieden bedeute mehr als das Schweigen der Waffen. “Frieden heißt auch: Mehr soziale Gerechtigkeit, mehr und besser bezahlte Arbeit, mehr Wohnungen.”
Zur selben Zeit predigt Jon Cortina in San José Las Flores, einem Nachbardorf von Guarjila. Nur weil er sich damals nicht in der Hauptstadt aufhielt, entging der Jesuiten-Pater im November 1989 dem von ranghohen Militärs befohlenen Massaker an seinen Kollegen auf dem Gelände der UCA, der Zentralamerikanischen Universität. Cortina prangert das von der Regierung erlassene Amnestiegesetz an, durch das auch die schwersten Menschenrechtsverletzungen der Bürgerkriegsjahre ungesühnt bleiben. Die Massaker und Morde könne nur das Volk vergeben, nicht aber die Politiker.
Der Gottesdienst in San José Las Flores muß an diesem Tag im Freien stattfinden. Die Kirche, die in den Kriegszeiten Beschuß und Bomben standgehalten hatte, ist vor ein paar Wochen eingestürzt. Cortinas Worte erreichen nicht nur die Menschen auf dem Dorfplatz. Radio Sumpul überträgt die Messe direkt.
Instrumentelle Demokratisierung
In seinem Eingangsaufsatz zeichnet Jochen Hippler die Bedeutung von Demokratie für die Identitätsbildung der westlichen Länder nach. Waren während des Kalten Krieges Antikommunismus und Demokratie die zentralen Elemente der Selbstdefinition und der Abgrenzung zum sozialistischen “Reich des Bösen” (Reagan) sei die Bedeutung des Demokratiebegriffs für die positive Identitätsstiftung des Westens heute “möglicherweise sogar noch wichtiger”. Indem “westlich und demokratisch zu Synonymen” erkoren werden, werde einerseits die westliche Form von Demokratie als einzig wirkliche und damit universell gültige postuliert und damit andererseits zugleich die Rechtfertigung für ihre Verbreitung in der ganzen Welt geliefert.
Was bei rechten Ideologen in den USA, wie Samuel Huntington, einen abgrenzenden Kampf des zivilisierten Westens gegen den Rest der Welt zur Folge hat, wird bei Anthony Lake, einem außenpolitischen Vordenker der Carter-Administration, zu einem “demokratischen Kreuzzug”, mit dem die ganze Welt beglückt werden soll. Um welche Form von Demokratie es sich handelt, wird schon aus der, in der US-Administration gängigen Formulierung von den “market democracies” deutlich. Die Gewichtung ist klar, wie Jochen Hippler schreibt: “Märkte und Demokratie sind nicht gleichgewichtig, sondern Demokratie ist die nachgeordnete Kategorie, die durch wirtschaftliche Reformen erst ermöglicht wird. Demokratie ist die wünschbare Folge von Kapitalismus.”
Die zwei wichtigsten Strategien zur Durchsetzung des westlichen Modells im Süden sind seit den achtziger Jahren Aufstandsbekämpfung und Strukturanpassung. Ergebnis ist zumeist eine formale Demokratisierung, die allerdings an den herrschenden Verhältnissen nichts oder nur wenig verändert. Claude Aké nennt dies in seiner Analyse der Entwicklung in Afrika die “Demokratisierung der Machtlosigkeit”. Die Demokratisierung werde ihres emanzipatorischen Gehalts beraubt und “legitimiert die Machtlosigkeit der Menschen in Afrika, so daß es ihnen vielleicht noch schlechter als vorher geht, als ihre Machtlosigkeit wenigstens noch als ein Problem gesehen wurde. Heute ist sie verschleiert.”
Mit der Universalisierung geht für Aké auch die weitere “Trivialisierung der Demokratie” einher, so wie auf globaler Ebene die Herrschaftsverhältnisse auch innerhalb der einzelnen Staaten konserviert werden: “Demokratie ist so weit trivialisiert worden, daß sie für die Eliten nicht mehr gefährlich ist, die stolz auf ihre demokratische Überzeugung sein können, ohne daß viel von ihnen gefordert würde. Demokratie wird so in einer wesentlich entleerten Form universalisiert, die für die neuen politischen Realitäten im Westen außer als Ideologie kaum relevant ist.” Auch der Übergang von Militärdiktaturen oder Einparteienregimen zu pluralistischen Wahldemokratien ermöglicht in den meisten Fällen lediglich bisher unterlegenen oder ausgeschlossenen Fraktionen der politischen und wirtschaftlichen Eliten, an die Regierung zu kommen – die Mehrheit der Bevölkerung bleibt jedoch weiterhin von der Macht ausgeschlossen.
Wie sehr die Demokratisierung im Süden der wirtschaftlichen Rationalität untergeordnet ist, verdeutlicht Liisa Laakso, die ihre Analyse auf den beiden gängigen Interpretationen des Demokratie-Konzepts aufbaut. In der ersten Konzeption “können Gleichheit, Partizipation oder die institutionelle Gestaltung von Entscheidungen nur in einer wirklich selbstbestimmten sozialen Praxis einen Wert haben. Diese Interpretation reflektiert den substantiellen Inhalt von Demokratie, der ohne Moral unvorstellbar und radikal in seiner Möglichkeit ständiger Neudefinition von Politik ist.”
Dieser substantiellen Konzeption stehe eine zweite Interpretation entgegen, in der “die Bedeutung von Demokratie auf eine bestimmte institutionelle Gestaltung von Entscheidungsstrukturen” reduziert sei. Ihr “hervorstechendstes Merkmal (ist) nicht mehr die Emanzipation, sondern Funktionalität und Effektivität.” Deutlich dominiert heute der instrumentelle Ansatz, der es ermöglicht, von den eigentlichen Problemen der サDritten WeltDen Ideologiecharakter dieses Demokratiekonzepts zeigt auch Susan George in ihrem Aufsatz über das Weltbank-Konzept des good governance. Die Verwendung des im englischen Sprachgebrauch seltenen governance ermögliche es der Weltbank, direkter als bisher auf die Politik der Länder サDritten WeltDamit weitet die Weltbank ihren Einfluß von der ökonomischen auf die politische Sphäre aus, obwohl sie sich aufgrund ihrer eigenen Charta nicht einmischen darf, “wenn es um die Wahl einer bestimmten Regierungsform geht. Die Weltbank ist offiziell eine unpolitische eine rein wirt_schaftliche Instanz. Die Verwen_dung des Begriffs go_vernance ist der Versuch ihre tatsächli_chen Ziele in dieser Hin_sicht zu umschrei_ben.” Nach Susan George ermögliche dies in erster Linie, die Schuld für das Scheitern der bisherigen (Weltbank-) Entwicklungskonzepte den Regierungen des Südens aufzubürden. Dabei sei aber “die Weltbank selbst für viele Probleme in der dritten Welt verantwortlich. Ihr bisheriges Entwicklungskonzept schafft und verschärft geradezu die Armut und vergrößert die Kluft. Die Politik der Weltbank hat in den vergangenen 40 Jahren einerseits Eliten geschaffen, die in das Weltsystem integriert sind, andererseits viele Menschen auf der Strecke gelassen. Jetzt braucht die Weltbank die Armen viel dringender, als die Armen sie brauchen. Den Armen würde es ohne die Weltbank weitaus besser gehen, aber ohne sie würde die Bank eine wichtige Rechtfertigung ihrer Existenz verlieren. Governance ist das passende Mittel, um den nächsten Fehlschlag der Weltbank und ihrer EntwicklungIn zwölf Beiträgen wird in der “Demokratisierung der Machtlosigkeit” versucht, die politische Herrschaft des Nordens über den Süden zu analysieren. Insgesamt lohnt sich die Lektüre, auch wenn die Qualität der Aufsätze sehr unterschiedlich ist. Einige Beiträge bieten nichts Neues und hätten besser nicht Eingang in das Buch gefunden. Dazu gehört beispielsweise einer der beiden Aufsätze, die sich explizit mit Lateinamerika beschäftigen: Xabier Gorostiagas Hindernisse und Chancen für Demokratie in Mittelamerika” verharrt weitgehend in nichtssagenden Allgemeinplätzen und hätte so auch schon vor einigen Jahren geschrieben sein können. Interessanter ist da schon Niala Maharajs Aufsatz Pathologie und Macht
Die “Demokratisierung der Machtlosigkeit” und eine gleichzeitig erschienene Aufsatzsammlung über 50 Jahre IWF und Weltbank bilden den Auftakt zu einer deutsprachigen Buchreihe des Amsterdamer Transnational InstituteDritten Welt den USA und Europa, dessen Di_rektor Jochen Hippler seit einiger Zeit ist. Hoffentlich wird die Arbeit des TNI in Zu_kunft damit auch im deutsch_sprachigen Raum besser bekannt.
Jochen Hippler (Hg.): Demokratisierung der Machtlosigkeit. Politische Herrschaft in der Dritten Welt, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1994, 240 Seiten, DM 32,-
John Cavanagh/Marcos Arruda/Daphne Wysham (Hg.): Kein Grund zum Feiern. 50 Jahre Weltbank und IWF. Kritik und Alternativen, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1994, 176 Seiten, DM 28,-
Brasilien – Diagnose einer Krise
Natürlich ist es nicht einfach, auf 150 Seiten die komplexe Situation des ewigen “Schwellenlandes” Brasilien zu analysieren. Das Buch bietet eine Reihe von wichtigen Informationen, Statistiken und Daten. Wöhlcke spricht viele Faktoren an, in der Beschreibung der sozialen Situation und der politischen Kultur des Landes ist ihm weitgehend zuzustimmen. Leider entwickelt sich Wöhlcke, der in der Vergangenheit viel besseres zu Brasilien produziert hat, zu einem Prediger seiner eigenen Überzeugungen. Diese werten den Gehalt der “Diagnose” radikal ab. Ohne auf alle Einzelheiten des Buches einzugehen, will ich drei Punkte herausgreifen, in denen Wöhlcke mehr als fragwürdige Auffassungen vorträgt.
Wöhlcke – der Rufer in der Wüste?
1. Wöhlcke sieht in der demographischen Entwicklung Brasiliens einen Schlüssel für das Verständnis der Entwicklungsprobleme des Landes – und sich als Rufer in der Wüste. “Die Problematik des Bevölkerungswachstums wird in Brasilien nicht angemessen wahrgenommen. In der öffentlichen Diskussion spielt sie praktisch keine Rolle, teils wird sie ignoriert, teils tabuisiert.”(S. 47) Tabubrecher Wöhlcke weiß hingegen von der relativen Überbevölkerung in Brasilien zu berichten: “Die Bevölkerung ist zu groß im Verhältnis zur sozio-ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft, das heißt, die Art der Raum- und Ressourcennutzung verhindert eine befriedigende Versorgung der gesamten Bevölkerung”. (S.47/49) Dies treffe eben auf Brasilien zu. Warum ist aber daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht die sozio-ökonomische Leistungsfähigkeit wachsen sondern die Bevölkerung sich vermindern solle? Wöhlcke setzt weitgehend darauf, daß der common sense seine Ausführungen schon für richtig halten werde. Sein Hauptargument lautet: Die arbeitsfähige Bevölkerung wird in elf Jahren um 2,3 Millionen zunehmen, “Es erscheint völlig ausgeschlossen, daß der Arbeitsmarkt diesen Zuwachs aufnehmen kann.” (S.49) Nun, Brasilien hat trotz Bevölkerungswachstum zur Zeit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten seiner Geschichte. Wöhlcke reduziert die schwierige Entwicklung des Arbeitsmarktes auf einen Faktor. Warum erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht, daß nach offiziellen Schätzungen mindestens zehn Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in den Arbeitsmarkt integriert sind? Allein die Einhaltung aller arbeitsrechtlichen Regelungen und die Verwirklichung der Schulpflicht würde schon Platz machen für den größten Teil der zukünftig in den Arbeitsmarkt Eintretenden. Aber Wöhlcke will ja nicht differenzieren, sondern die “sich abzeichnende demographische Katastrophe” an die Wand malen. In diesem Kapitel sinken seine Aussagen auf das Niveau eines Propagandawerkes. Fast müßig zu erwähnen, daß Wöhlcke die Massensterilisationen verschweigt. Erörtert wird auch nicht, wie drastisch der Rückgang der Geburtenrate ist. Nach jüngsten Zahlen gebärt jede Frau im Durchschnitt 2,4 Kinder, nahe also der einfachen Reproduktionsrate. Ein Teil des von Wöhlcke angeführten Bevölkerungswachstums hat gar nichts mit der Geburtenrate zu tun, sondern mit dem Anwachsen der Lebenserwartung. Das heißt, in den nächsten Jahren werden sich die sozialen Probleme in Brasilien verschieben, es wird eine deutliche Entlastung im Bildungswesen geben, dafür eine Krise der Altersversorgung. Ach, es ist schon ein Kreuz, immer wieder gegen die demagogische Konstruktion der Bevölkerungsexplosion ausgerechnet in Brasilien anzuargumentieren!
Die heutigen Probleme sind “hausgemacht”
2. Wöhlcke, früher selbst ein Verfechter der Dependenztheorie, argumentiert heftig dafür, daß die heutigen Probleme im wesentlichen hausgemacht sind, also nicht auf externe Faktoren wie Verschuldung oder internationales Wirtschaftssystem zurückzuführen seien. In vielen Punkten hat Wöhlcke recht, aber hier wie im ganzen Buch ist eher die verkürzende Mischung aus Wahrheiten und Unterlassungen ärgerlich. So fehlt in diesem Zusammenhang gänzlich eine Analyse der multinationalen Konzerne, die in Brasilien zentrale Wirtschaftsbereiche, beispielsweise die Autoindustrie, monopolisieren. Die Betonung der inneren Faktoren wiederholt sich in dem Abschnitt über Umweltpolitik. Bei der Aufzählung der Umweltprobleme erwähnt Wöhlcke nie die internationale Verwicklung. So ist das katastrophale Besiedlungsprogramm in Amazonien, POLONOROESTE, mit Weltbankgeldern finanziert worden, wie auch zahlreiche Staudammprojekte. Anstatt hier die Verschränkung von nationalen und internationalen Kapital- (oder von mir aus auch Entwicklungs-) strategien zu analysieren, verfällt Wöhlcke schließlich auch noch auf die Mär, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen die Hauptverursacher für die Abholzungen im Regenwald seien.
Einziger Beleg für diese kühne Behauptung, die den Ergebnissen der brasilianischen Forschung widerspricht, ist “eine Tischvorlage des Geographen G. Mertins” (Anmerkung 128). Mit kruden Halbwahrheiten auf völlig unzureichender Daten- und Literaturbasis wird so an einem Bild gestrickt: “Umweltzerstörung wird nicht durch die Weltwirtschaft…erzwungen, sondern sie ist das Resultat einer Mischung von Nonchalance, Unwissenheit, Korruption, destruktiver Mentalität, unzureichender Umweltpolitik und administrativer Überforderung.” (S.98) Das Strickmuster ist immer dasselbe: Die Karikatur einer Analyse (“durch Weltwirtschaft erzwungen”) wird zurecht zurückgewiesen, um sich dann dem fröhlichen Bad in den (zumeist traurigen) Phänomenen zu widmen. Hier erscheint das Buch selbst als eine Mischung von Nonchalance und Unwissenheit.
3. Das Kapitel über Zivilgesellschaft und Entwicklung ist mehr als schwach. Wer meint, nun hier irgendetwas von den sozialen Bewegungen Brasiliens zu erfahren, wird enttäuscht. Statt von dieser für das gesellschaftliche Leben so fundamentalen Entwicklung der Basisbewegungen, der Rekonstruktion authentischer Gewerkschaften, zu erfahren, müssen die LeserInnen das zum Ende des Buches immer ärgerliche werdende Lamentieren ertragen: “Man beobachtet weiterhin einen verbreiteten Verlust bzw. einen modischen Verfall der Ästhetik und einen Verfall der guten Sitten.” Ja, die drohten spätestens auf dieser Seite 102 auch dem Rezensenten abhandenzukommen. Wie die sozialen Bewegungen fehlen auch Lula und die Arbeiterpartei (PT) völlig bei der Analyse des politischen Systems. Ah nein, nicht ganz, auf S.108 können plötzlich “radikale Kräfte” – eben die PT – eine Sammlung der politischen Kräfte in der Mitte stören.
Die List mit der falschen Karte
Das Buch ist schlecht. Daß man’s noch schlechter machen kann zeigt, so vermute ich, das Lektorat. Es fügt dem Buch eine Karte bei, in der die längst nicht mehr existierenden Territorien Amapá, Rondonia und Roraima fröhliche Urstände feiern, dafür aber der 1989 eingerichtete Bundesstaat Tocantins fehlt. Die Quelle verweist auf das Jahr 1991! Oder war es eine List? Sollte die Qualität der Karte ein Hinweis auf die Qualität des Buches sein?
Manfred Wöhlcke, Brasilien Diagnose einer Krise, Becksche Reihe, München 1994
“Brudervölker” im Krieg
Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeichnung einer Friedenserklärung in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen darauf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegenüber in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewaldeten Bergen, aber viel mehr mit innenpolitischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der peruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Hauptstadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseitigen Vorteil ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen. Sollte nun ein Grenzkonflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenzverlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelanger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Inszenierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpolitischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeichnung des damals von beiden Seiten anerkannten Protokolls, in dem der Grenzverlauf festgelegt wurde. Brasilien, Argentinien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines amazonischen Tieflands sowie die Stadt Tumbes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Region. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Brasilianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem bestand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuatorianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador betrachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kontrolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt besteht. Der Vertrag sei eindeutig, völkerrechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Condor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurchführbar ist” und darüber hinaus das gesamte nördliche Amazonasgebiet des heutigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territorium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Amazonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf eigenem Territorium zu sein, und beide betrachten die jeweils gegnerischen Patrouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn haben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Territorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öffentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die verbreitete Meinung, hatte aus innenpolitischen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobilisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduktiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabilisierung ist es der gerade wiedergewonnene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwischen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzubauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht verwundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivität für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecuador. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet zielgerichtet an seinem Projekt eines kapitalistisch-modernen, von einem starken Präsidenten namens Fujimori regierten Landes. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das angesichts eines auch ohne Krieg fast sicheren Wahlsiegs. Fujimori müßte von seinem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori inszenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option diplomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler begangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwierigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecuador. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als populär. Wirtschaftliche Probleme und Korruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im November ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Konfliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Regierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flammende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der peruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatorianischen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer peruanisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkommen doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zurückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitleidenswerter Ecuador in der Rolle des Opfers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz ausgerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig betrachtet. Dazu kam die dramatische Warnung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärregimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht positiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze gekommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt diesmal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador gegen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Abschnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täglich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Eindringen ecuatorianischer Truppen in peruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegungen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstillstand und die Bekundung von Friedensabsichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.
Patriotische Parolen als Allheilmittel?
“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergangenen Jahr durch Korruptionsaffären in seiner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der sozialen Konsequenzen seiner Modernisierungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wieder in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs einer harten Strukturanpassung, die im vergangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Prozent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungsreserven. Sie wurden aber angesichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig gewürdigt. Neben der für 1995 angesetzten Privatisierung der EMETEL, dem Bereich der Telekommunikation, sorgten besonders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Angestellten ein Zwangsbeitrag ein und finanzierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisierung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstrationen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kundzutun, gibt es doch sonst kaum Instrumente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten verschiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verabschiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrsknotenpunkte des Landes und legten den gesamten Verkehr lahm. Die Regierung vertritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend verlaufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindämmung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Meinungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein können: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsänderungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines erstellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektrizität, dem Energiesektor und der Telekommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Veränderung bestehender Gewerkschaftsstrukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Verbesserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzentwurf, der Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grundsätzliche Diskussion über das Bildungssystem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verurteilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufriedenheit mit bestehenden Bildungseinrichtungen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstunden “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu ausgebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und eingestellt werden müßten, um diesem Anspruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert religiöse Gruppierungen neben dem Katholizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universitäten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultäten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhöhung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schrittweise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der gestaffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich unmittelbar auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januarwoche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßenschlachten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Woche umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Untersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr vielfach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit gegen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar ankündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril anzugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private Investoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrekkensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esmeraldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nördlich von Quito – im Gebiet des heftig diskutierten neuen Flughafens – am 13. Januar von einem mittleren Erdbeben heimgesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Katastrophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsidenten – insbesondere die Pläne zur Verstaatlichung der Ölgesellschaft Petroecuador – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Abschnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kontrollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsituation zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Monopol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Realität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Gerüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Truppenbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offizielle Version berichtete von einer vierköpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatorianischem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehenden Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Verteidigungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatorianischen Präsidenten Sixto Durán Ballén direkt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischenfall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuatorianisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein traumatischer Augenblick für das ecuatorianische Nationalbewußtsein. In Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung “Das territoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Frustration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit ungültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weiteren Scheibchen vom ecuatorianischen Gebiet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöffentlichkeit insgesamt, die das 1942 unterzeichnete Protokoll als rechtskräftig anerkennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors untereinander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichtsschreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlorenen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festgelegte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrittenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung verwehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdekkung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuatorianische Geschichtsschreibung einen zusätzlichen Anspruch auf den Amazonaszugang ab: “Den Titel des ersten Entdekkers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß dieses Thema jedoch nichts an seiner Aktualität verloren hat, war bereits vor Ausbruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signalisierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema anzugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kontroverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließlich ganz vom Tisch war. Besonders seitens des Militärs und allen voran bei Verteidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecuadors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Verfassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Draufgänger. Das von der Opposition gezeichnete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mitbekommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestätigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so brisanten Thema des Grenzkonflikts in der Öffentlichkeit als Verlierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlenken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zuspruch anderer Staaten zu bekommen scheint genauso unwahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außerdem hätte es wahrhaftig bessere Zeitpunkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg ausgelaugten Nachbarn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizulegen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsberechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des unschuldigen Opfers innenpolitischer Spannungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenzstreitigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fahnen wurden geschwenkt, Bilder von Mädchen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegenstimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfristig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia unterzeichneten beiderseitigen Friedenserklärung schienen die konkreten Auseinandersetzungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Beschuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstillstandserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasilien, Chile und die USA, unter deren Mitwirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwirken sollte. Die Organisation Amerikanischer Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation erzeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.
Schöne Frauen und sterbende Helden
Zwei Dinge sind im mexikanischen Film offenbar unverzichtbar: Eine wunderschöne Frau und ein/e sterbende/r ProtagonistIn am Schluß. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls nach dem Genuß von fünf der insgesamt sieben cineastischen Werke aus dem mittelamerikanischen Land auf, die im Rahmen des diesjährigen Berliner Filmfestivals gezeigt wurden. Von beidem können es auch mal mehrere sein, aber ganz ohne geht es offenbar nicht. Realitätsnah erscheint das häufig, aber nicht immer auftauchende Motiv “Fluchtpunkt USA”. Das Symbol für den Traum vom besseren Leben. Und Sexszenen finden, wenn sie in mexikanischen Filmen vorkommen, fast immer auf (Schreib-)Tischen oder Stühlen statt, die sich bisweilen auch eher magisch denn realistisch durch den Raum bewegen.
Verwunderliche Gasse
Um mit dem mexikanischen Wettbewerbsfilm anzufangen, hier waren gleich alle genannten Elemente anzutreffen. Ob gerade “El Callejón de los Milagros” (Die Gasse der Wunder) deshalb für den Wettstreit um den ‘Goldenen Bären’ auserkoren wurde, weil darin eine ausgesprochen attraktive Darstellerin zum Einsatz kommt oder eine besonders tragische Hauptperson am Ende aus dem Leben scheidet, läßt sich nicht hinreichend klären. Es handelt sich jedenfalls um die auf Mexiko übertragene Verfilmung des gleichnamigen Romans des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Mahfuz, der Ende vergangenen Jahres in seinem Heimatland nur knapp einen Anschlag fundamentalistischer Gruppen überlebte. Während das Original in den 40er Jahren in Kairo spielt, hat Regisseur Jorge Fons die Geschichte über das Schicksal der “einfachen” Leute” auf das moderne Mexiko übertragen. Dabei ließen sich gewisse Ungereimtheiten nicht vermeiden. Der Film besteht aus vier Teilen, wobei die ersten drei an ein und demselben Sonntagnachmittag in der ‘Gasse der Wunder’ in Mexikos Altstadt ihren Ausgang nehmen. Sie beginnen immer mit der derselben Szene eines Dominospiels von vier recht wunderlichen Gestalten und schildern die Ereignisse aus der Sicht der drei Hauptfiguren, wobei jeweils neue Aspekte hinzugefügt werden.
Im Mittelpunkt der ersten Episode steht Rutilio, der Besitzer der Bar in der ‘Wundergasse’, in der nicht nur regelmäßig Domino gespielt wird, sondern wo sich auch die Nachbarschaft trifft. Unmittelbar nach seinem 30. Hochzeitstag entdeckt er ebenso plötzlich wie unvermittelt homosexuelle Gefühle, die er überraschend offen zu leben beginnt. Eine familiäre Katastrophe bahnt sich an, der aufmüpfige Sohn wird verstoßen und landet schließlich im Wunderland USA. Auch wenn das Bemühen von Regisseur Fons löblich ist, sich dem im mexikanischen Kino stiefmütterlich behandelten Thema der Homosexualität ernsthaft zu nähern, wirkt dieser Versuch doch sehr bemüht und in einer machistischen lateinamerikanischen Gesellschaft unglaubwürdig.
Der zweite Teil des Films dreht sich um Alma, jene im mexikanischen Film unvermeidliche Schönheit, die von der populären Seriendarstellerin Salma Hayek gespielt wird. Sie ist hin- und hergerissen zwischen drei Männer(stereotype)n: Da gibt es den jugendlichen Liebhaber, den Friseur Abel, einen alternden lüsternen Ladenbesitzer, auf den eigentlich ihre Mutter ein Auge geworfen hatte, und einen Zuhälter im schicken roten Sportcoupé, der Reichtum und ein anderes Leben verspricht. Abel zieht mit seinem verstoßenen Freund in die USA, um mit viel Geld zurückzukommen, der ältere Herr erliegt rechtzeitig vor der geplanten Hochzeit dem plötzlichen Herztod und Alma landet nach anfänglichem Zögern im Edelpuff. Die dritte Episode schildert das Leben aus der Sicht der Hausbesitzerin Susanita, einer ältlichen Jungfer, die sich regelmäßig die Karten legen läßt und in unverkennbarer Torschlußpanik den unheilbar kleptomanischen Angestellten aus Rutilios Bar ehelicht.
Der vierte und letzte Aufzug führt die Schicksale der Hauptfiguren schließlich zusammen. Abel und der Sohn Rutilios kehren aus den USA zurück – allerdings ohne den erhofften Reichtum – und das Schicksal nimmt unweigerlich seinen Lauf. Der fast zweistündige Streifen lebt dabei von der Sympathie für die einzelnen Figuren, und das mit unverkennbarem sozialem Anspruch. Es ist auch ein Film über die trostlosen Aussichten der heranwachsenden Generation im NAFTA-Land Mexiko, gemischt mit der nötigen Dosis Romantik und verklärter Illusion. Das Potpourri von so unterschiedlichen Schicksalen liefert dabei viel eher den Stoff, aus dem üblicherweise Telenovelas gestrickt werden. Ausgedehnt auf 25-30 halbstündige Folgen hätte die “Gasse der Wunder” Millionen Fernsehzuschauer in Lateinamerika in ihren Bann ziehen können, anstatt das Berlinale-Publikum mit recht trivialer Romantik zu traktieren. Dann hätte sich auch die Hauptdarstellerin Hayek die von mäßigem Erfolg gekrönten Versuche ersparen können, zum Genre des Spielfilms zu wechseln.
Los vuelcos del corazón
Dem komplexen Thema von Dogmatismus, Parteidisziplin und Gewissen widmet sich der Film des Drehbuchautors und Regisseurs Mitl Valdez aus dem Jahre 1993. Im Unterschied zu den meisten anderen mexikanischen Filmen spielt die Geschichte in der Vergangenheit, mitten im Zweiten Weltkrieg irgendwo in Mexiko. Auf der Grundlage der Erzählung “Resurrección sin vida” (Auferstehung ohne Leben) von José Revueltas beschreibt Valdez das Leben des Romanautors José Antelmo Cruz. Als politischer Aktivist verübte dieser Attentate auf US-amerikanische Waffentransporte durch mexikanisches Territorium, bis die Parteileitung nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion derartige Aktionen aufgrund der neu entstandenen Allianz zwischen Rußland und den USA umgehend untersagt. José verliebt sich in die unvermeidliche attraktive Frau des Films und wird mit dem Wunsch konfrontiert, aus der Parteiarbeit auszusteigen. Da verlangt die Führung eine Aktion, die nicht nur seine uneingeschränkte Loyalität erfordert, sondern den Romanautor in unüberwindliche Gewissenskonflikte stößt.
Der einzige Ausweg liegt in der allzeitig präsenten und nie vollen Tequila-Flasche. José findet bei der frustrierten Prostituierten Raquel Unterschlupf und schreibt sich, sofern es der Alkoholspiegel ermöglicht, seine Probleme mit der Partei und ihren dogmatischen Vorstellungen von der hochgradig geschädigten Leber. Ein Selbstmordversuch wird von Raquel vereitelt, doch das Schicksal nimmt in Form ihres früherem Zuhälters, dem Drogenhändler Nereidas, seinen unaufhaltsamen Lauf.
Insgesamt ein gut gemeinter, redlicher und sehenswerter Film über ein wichtiges Thema, der allerdings einige Fragen offen läßt und um schwer nachvollziehbare Konstruktionen offenbar nicht herumkommt. Die Verbindung zwischen dem aus dem Gefängnis ausgebrochenen Drogenhändler und Zuhälter und der Hauptfigur José entsteht gänzlich unvermittelt und wirkt künstlich. Eine Nebenhandlung, die aus allzu sichtbaren dramaturgischen Gründen in das Drehbuch eingearbeitet wurde. Unglücklich erscheint die deutsche Übersetzung des Filmtitels. Zwar ist ‘Herzflimmern’ eine denkbare Todesursache im alkoholisierten Zustand, aber José stirbt offensichtlich nicht daran, sondern an einer Kugel im Bauch. Und das nicht mit dem Leben vereinbare ‘Kammerflimmern’ ist ja ohnehin nicht gemeint, so daß entweder ‘Überschläge des Herzens’ oder aber auch ‘Herzstiche’ zutreffender wäre, sofern auf der wörtlichen Übertragung des Titels bestanden wird.
Hasta morir
Bei diesem Film von Fernando Sariña, der ebenso wie die folgenden auf der Suche nach hiesigen Verleihern auf dem Film-Markt gezeigt wurden, enthält bereits der Titel unübersehbare Hinweise auf das typisch mexikanische Ende. Zwei Kindheitsfreunde, die irgendwann ihre Blutsbrüderschaft besiegelt hatten, treffen sich wieder, nachdem der ältere in Tijuana an der US-Grenze die Grundzüge des kriminellen Handels und Überlebens gelernt hatte. Mit kleinen Überfällen wollen sie Geld zusammenbekommen, um ihren großen Coup, die Entführung eines Geschäftsmanns in Tijuana, ausführen zu können. Mit dem Lösegeld wollen sie sich in Los Angeles ein schönes Leben machen. Durch einen Affekt des Jüngeren wird bei einem Überfall auf einen Supermarkt ein Wachmann erschossen, er muß aus der Stadt fliehen und zieht nach Tijuana. Dort erfährt er Dinge, die ihn an der Zuverlässigkeit seines älteren Blutsbruders zweifeln lassen. Dieser erliegt währenddessen bei dem Versuch, sich als sein Intimfreund auszugeben und so an ein Erbe heranzukommen, dem Charme von dessen Cousine, des unvermeidlichen wunderschönen Geschöpfs. Die Gefühle zu ihr vermögen es nicht nur, den als Unterlage beim Sex benutzten Stuhl gar wunderlich durch die Wohnung zu bewegen, sondern läutern ihn derart, daß er seine kriminellen Pläne begräbt. In den Augen seines Freundes ist das der letzte Beweis dafür, daß er verraten wurde. Das Ende ist nicht schwer zu erraten, wenn auch durch einige dramaturgische Tricks recht spannend gestaltet. Ein mäßig unterhaltsamer Film, irgendwo im Niemandsland zwischen spanischem Pundonor-Roman, Action-Story und Geschichte über die Generation X.
Dos crímenes
Zwei Verbrechen kündigt der Titel dieses Streifens von Regisseur Roberto Sneider an, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jorge Ibarguen Goita. Deren vier sind jedoch im Verlauf der 107 Minuten zu beobachten. Zwei davon zeichnen sich allerdings dadurch aus, daß die Hauptfigur Marcos fälschlicherweise als Täter verdächtigt wird. Nach einem Überfall auf die staatliche Behörde, in der er arbeitet und ohne es zu wissen an der Aktion teilnimmt, kann er in letzter Sekunde fliehen, getrennt von seiner Ehefrau. Die bei ihnen zu Hause versammelten Freunde werden verhaftet und in den Massenmedien als Terroristen vorgeführt. Marcos flieht zu einem wohlhabenden Onkel aufs Land, der von drei seiner Cousins in kaum kaschierter erbschleicherischer Devotheit umgarnt wird. Alle sehen in Marcos einen Konkurrenten, so daß er zunächst von allen geschnitten wird. Nur der halbseitig gelähmte Onkel selber findet Gefallen an seinem neu aufgetauchten Neffen und gibt ihm trotz aller Skepsis Geld für ein fingiertes Minenprojekt. Derweil verliebt sich Marcos in eine ebenfalls im Hause lebende Nichte, eine wunderbar geheimnisvolle und kindliche Schönheit. Vorübergehend landet er bei deren Mutter – ausnahmsweise nicht auf dem Tisch, sondern im Bett. Vollends zwischen den Stühlen sitzt er, als seine Ehefrau unverhofft auftaucht. Trotz der Komplikationen wohl der Traum eines jeden Machos! Plötzlich stirbt der reiche Onkel, die Arsenvergiftung ist nicht zu kaschieren. Wieder wird Marcos des Mordes bezichtigt. Es folgt ein heilloses Durcheinander, das in einem großen Familienpicknick seinen Höhepunkt findet. Denn hier gibt es noch einmal Mordversuche und den tragischen Tod einer Hauptdarstellerin. Insgesamt ein phasenweise witzig inszenierter Film mit reichlich Situationskomik, schönen Bildern, einem Schuß Realsatire und Gesellschaftskritik, also gute, wenn auch nicht besonders anspruchsvolle Unterhaltung.
Jonás y la ballena rosada
Eher ärgerlich weil verworren und unklar ist der Streifen ‘Jonas und der rosa Wal’ von Juan Carlos Valdivia, dem fraglos der Preis für das sexistischste Filmplakat zugestanden hätte, sofern es ihn gäbe. Die Geschichte spielt in Bolivien Mitte der 80er Jahre. Im Mittelpunkt steht, wie sollte es anders sein, eine ausgesprochen attraktive junge Frau, deren wohlgeformten Körper der/ die ZuschauerIn nicht nur auf dem Werbeplakat, sondern auch in vielen Szenen bewundern darf. Sie ist die Schwägerin von Jonás und verliebt sich in ihn, als er sich in einem skurril ausgestatteten Kellerraum im Haus der Verwandtschaft seiner Ehefrau ein Fotolabor einrichtet. Dort werden nicht nur unschuldige Fotos von der Schönen vergrößert und zu einem Abbild in Originalgröße montiert, sondern der einzige Stuhl muß das eine oder andere Mal für Sexszenen herhalten. Und plötzlich kippt zunächst der Stuhl und dann das Ganze, völlig unmotiviert tritt die Drogenmafia auf den Plan. Was in Bolivien zwar nicht so ungewöhnlich, aus dem Drehbuch jedoch nicht nachvollziehbar ist. Der Zuschauerin oder dem Zuschauer bleibt zudem völlig unverständlich, warum sich die Schwägerin mit dem Sohn des örtlichen Drogenbosses liiert, ihr Vater nach anfänglichem Sträuben gemeinsame Sache mit ihm macht und Jonás ziemlich blöd aus der Wäsche guckt. Bei diesen chaotischen und unmotivierten Verstrickungen bleibt nur die Lösung à la mexicaine: Diesmal macht’s eine Überdosis Kokain.
“El callejón de los milagros”
Mexiko 1994, 140 Min, Regie: Jorge Fons
“Los vuelcos del corazón”
Mexiko 1993, 130 Min, Regie: Mitl Valdez
“Hasta morir”
Mexiko 1994, 100 Min., Regie: Fernando Sariñara
“Dos crímines”
Mexiko 1994, 107 Min, Regie: Roberto Sneider
“Jonás y la ballena rosada”
Mexiko 1994, 94 Min, Regie: Juan Carlos Valdivia
Die Suche nach den verschwundenen Kindern
Die Flugzeuge kamen kurz nach Sonnenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges eingegangenen Militäroperation bombardierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dutzende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewegung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Belloso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämtliche Männer wurden ohne weitere Umstände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusammengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hubschrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erinnert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschlagen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Boden.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magdalena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünfzig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regierung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie anschließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich herum”, sagt sie, “lagen hunderte von Toten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager verbrachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Salvador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnislos. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft verweigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, berichtet Frau Ramos. Das zuständige Bezirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche politische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensabkommens im Januar 1992 ermöglichte genauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aníbal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salvadorianischen SOS-Kinderdörfern leben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, erzählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Gemeinsam mit anderen Geistlichen und einigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes hätten sich erinnert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dutzend Kinder übergaben. Sie seien von ihren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern aufgefunden worden, habe der kommandierende Offizier damals mitgeteilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinderdörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die hauptberuflich als Chefsekretärin in der Deutschen Botschaft arbeitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mutmaßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns gebracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszeitung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kindern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Untergrundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kinderdorf stimmte daraufhin einer Gegenüberstellung der “Jugendlichen ungeklärter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachtermission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß unabhängiger Persönlichkeiten zur Untersuchung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ramos war sich ganz sicher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast genauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkindes feststellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Boston ansässigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das komplizierte Verfahren, bei dem zentrale Bausteine des Erbinformationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus weißen Blutkörperchen der untersuchten Personen extrahiert und miteinander verglichen werden, sei “zu 99,81 Prozent” sicher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissenschaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten entnommenen Blutproben in die USA geschickt. In einem Laboratorium in Chicago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewertet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg gewaltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befinden sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wissen, in denen die Jugendlichen bei Adoptiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht darauf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Militär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkaufen versuchte oder im Auftrag der Regierung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht ausschließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinderhandel beteiligt und dabei viel Geld verdient haben.” Beweisen läßt sich das bislang allerdings nicht. Doch scheint zumindest sicher, daß die zuständigen Ministerien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müssen. Einer Adoption, zumal durch ausländische Paare, haben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in keinem der betreffenden Fälle gegeben. Deshalb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Alfredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Friedensschluß durchgedrückte Amnestiegesetz, das vor allem Offiziere der Regierungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entführungen. Frau Anaya ist deshalb zuversichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufgeklärt, sondern auch strafrechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu besteht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Medien und Menschenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck gesetzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdörfer “eine unpolitische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrauten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müttern und Vätern gar nicht angezweifelt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut versorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kontaktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magdalena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zurückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”
Mexiko nach dem Kollaps
Das “Wirtschaftswunder” Mexikos schien die neoliberale Doktrin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank endlich einmal in der Praxis zu bestätigen. Privatisierungen, Subventions- und Sozialabbau wurden seit Jahren mit einer Konsolidierung der Wirtschaft und traumhaften Wachstumsraten belohnt. Die seit 65 Jahren regierende Staatspartei PRI garantierte die Durchsetzung dieser neuen Politik. Der Bevölkerung wurde versprochen, daß die Oberschicht reicher würde, um die Massenarmut effektiver bekämpfen zu können. Wo der Regierung dennoch die Folgschaft versagt blieb, verhielfen ihr Wahlbetrug und Repression zur Legitimation, zuletzt in Chiapas.
Boom auf Pump
Wie wenig ausgereift die in den achtziger Jahren durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitete Wachstumspolitik war, zeigt jetzt die Krise. Sie erinnert an einen zweiten Aufguß von alten Fehlern. Denn der “Boom” lebte auf Pump. Die Modernisierung der Wirtschaft wurde durch Auslandskredite und eine maßlose Überbewertung des Pesos finanziert. Was die Binnenindustrie ruinierte, war dem NAFTA-Partner im Norden gerade recht: Die mexikanischen Exportprodukte waren überteuert und wenig konkurrenzfähig, Importe aus den USA dagegen künstlich verbilligt und absetzbar. Die resultierenden Importüberschüsse Mexikos ließen das Leistungsbilanzdefizit bedrohlich anschwellen und konnten nur durch Kredite bezahlt werden. Kreditgeber war der Exporteur USA selbst, zu lukrativen Zinsen selbstverständlich: Mexiko muß allein in diesem Jahr kurzfristige Schulden in Höhe von 28 Milliarden bedienen, zu Zinssätzen um 40 Prozent.
Der IWF und die Weltbank wollten die wachsenden Probleme ihres “Musterlandes” nicht registrieren. So platzte die Illusion vom neoliberalen Entwicklungsweg über Nacht wie eine Seifenblase: Nachdem die Stützung des überbewerteten Pesos die Devisenreserven Mexikos zum Jahresende ganz zu verschlingen drohte, zog die Regierung die Notbremse und gab am 20. Dezember den Wechselkurs frei. Der Peso stürzte in den Keller und wurde in einem Tag um 40 Prozent abgewertet, um in Folge weiter an Wert zu verlieren. Die AuslandsanlegerInnen von mexikanischen Wertpapieren verloren auf einen Schlag 10 Milliarden. US-Dollar, und der darauf folgende Rückzug von Investitionen machte den 10. Januar 1995 zum “schwarzen Dienstag” des Kontinents: Die Börsen von Mexiko bis Buenos Aires verzeichneten extreme Kurseinbrüche. Mexiko stand vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Gewitterwolken über den internationalen Finanzmärkten verhießen Sturm. Erst als Präsident Clinton am nächsten Tag sein Schatzamt anwies, alles zu unternehmen, um “diese kurzfristige Finanzkrise” beizulegen, war das weitere Vorgehen sowie die entsprechende Sprachregelung geklärt. Schnelle Stützungskredite des IWF und der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) von 18 Milliarden US-Dollar verhinderten den Zusammenbruch des mexikanischen Wirtschaftssystems. Das Gespenst der Krise wurde kurzerhand eingekauft und als Normalität gehandelt. Ein am 21. Februar verabschiedetes Hilfspaket der USA in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar soll Mexiko nun endgültig aus der Finanzkrise helfen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Der Peso verlor am nächsten Tag flugs wieder an Wert. Ein Dollar kostete 6,2 Pesos, satte 35 Centavos mehr als am Vortag.
Neuauflage gescheiterter Konzepte
An Mexikos Rückkehr in die Wirklichkeit ist nicht überraschend, daß, sondern wie sie stattfand. Schon einmal mußte das Land seine Zahlungsunfähigkeit und damit das Scheitern einer entwicklungspolitischen Strategie verkünden: Nachdem das Konzept der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), das auf eine Abkopplung vom Weltmarkt und eine Binnenindustrialisierung setzte, zu Beginn der siebziger Jahre in die Stagnation mündete, orientierten sich die neuen als “cepalismo” bekannten Konzepte an einer Grundbedürfnisbefriedigung und keynesianischen Lenkungsmechanismen. Um die Stagnation zu überwinden, wurde der Aufbau einheimischen Gewerbes und sozialer Sektoren gefördert. Im bescheidenen Maße konnten die krassen Einkommensunterschiede auf dem Kontinent verringert werden. Dabei wurde bei den Umstrukturierungen ebenfalls auf eine Finanzierung durch Auslandskredite und die Überwertung der Landeswährungen gesetzt. Als aber die Schuldenlast die Länder zu erdrücken begann und 1982 eine mit der jetztigen vergleichbare Finanzkrise auslöste, war dies gleichzeitig eine Krise der Strategie: Bedürfnis- und nachfrageorientierte Entwicklungstheorien galten als von der Realität widerlegt.
Für die Überwindung der Krise wurde die Abkehr von den eigenen Entwicklungsideen verlangt: Vorbereitet durch die berüchtigten Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF mußte sich Lateinamerika dem Weltmarkt öffnen. Die Neuorientierung endete in den achtziger Jahren mit einer sozialen Polarisierung und einer existenziellen Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Nach Angaben einer Studie der staatlichen Hilfsorganisation Pronasol (Programma nacional de solidaridad) lebte 1990 “die Hälfte der MexikanerInnen (42 Millionen) in Armut und 18 Millionen litten unter den Bedingungen extremer Armut”. Über den Beitritt zur NAFTA versuchte das Schwellenland Mexiko, sich an den reichen Norden anzukoppeln. Die erfolgreiche Modernisierung der Exportsektoren, ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum sowie die gelungene Bekämpfung der Inflation und ein ausgeglichener Staatshaushalt übermalten das Auseinanderklaffen der Einkommensschere und verhießen als letzte Hoffnung, daß die wirtschaftliche Stabilität letztendlich auch den Massen zugute kommen wird. Erst im August wurde die mexikanische Regierung durch Wahlen bestätigt, als sie der Bevölkerung “wachsenden Wohlstand jedes einzelnen und seiner Familie” versprach.
Katerstimmung
Seitdem diese Hoffnung verpuffte, zeichnet eine nüchterne Bestandsaufnahme ein düsteres Bild von der Hochburg neoliberaler Entwicklung: Die Bevölkerung ist verarmt, die einheimische Binnenindustrie chronisch geschwächt, das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr gegen Null tendieren, die Verschuldung ist massiv gestiegen und von einer makroökonomischen Stabilität redet niemand mehr.
Doch was vor zwölf Jahren zum Paradigmen- und Systemwechsel führte, ist heute nur ein “Sommergewitter”. Statt umzudenken, ist eine neuerliche Strukturanpassung angesagt: Mexiko mußte für die Milliardenhilfe mit einem beschleunigten Privatisierungsprogramm bürgen, das rasch auf die strategisch wichtigen Staatsmonopole der Eisenbahnen/Häfen und der Telekommunikation ausgeweitet wird. International wird die Krise heruntergespielt. Die Erfolge der auf den Weltmarkt ausgerichteten wirtschaftlichen Anpassung Mexikos sollen nicht infrage gestellt werden. Die erworbene Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ist jetzt durch die Peso-Abwertung noch größer geworden, denn sie degradiert Mexiko noch stärker zum Billiglohnland.
Krisengewinnler
NutznießerInnen dieser Abwertung sitzen auch vor unserer Haustür: Während Deutsche und Dresdner Bank noch über die Höhe ihrer Kredithilfen an Mexiko verhandelten, äußerten sich deutsche Unternehmen in der FAZ “sehr gelassen, und sehen auch die möglichen Chancen der Abwertung”. Und das Handelsblatt verweist darauf, daß “industrienahe Kreise…ihren lokalen Zulieferern Härte zeigen wollen” und abwertungsbedingte Preiserhöhungen ablehnen. Nicht nur die mexikanische Arbeiterschaft muß um die Kaufkraft ihrer Löhne fürchten: Auch auf den einheimischen Mittelstand sollen die teureren Dollar-Importe abgewälzt werden.
Somit stehen die VerliererInnen der Krise schon fest. Der neoliberale Traum, den Kuchen solange wachsen zu lassen, bis für jeden mehr als Krümel übrigbleiben, wird jetzt zum Alptraum.
Die hochschnellende Teuerungsrate überspringt Existenzgrenzen: Dort, wo es um das blanke Überleben geht, können die erwarteten vier Prozent weniger Konsum tödlich sein. Und von einem Staat, der sich verpflichtet hat, seine Ausgaben in diesem Jahr um ein Viertel zu reduzieren, ist wenig Hilfe zu erwarten.
Die Arbeiterschaft, die schon vorher deutlich niedrigere Reallöhne als 1980 erhielt, muß jetzt weitere Einbußen hinnehmen. Von den Milliardenkrediten, die zwecks Umschuldung gleich bei den Gläubigern bleiben, wird sie nur wenig spüren.
Auch das einheimische Kleingewerbe und der Mittelstand geraten unter massiven Druck. Die aus dem Ausland heranrollende Kostenwelle können nicht alle verkraften. Viele der kleinen und mittelständischen Betriebe, die 80 Prozent der ländlichen Arbeitskraft Mexikos beschäftigen, stehen vor dem Aus. Eine Kreditaufnahme bei realen Zinssätzen von rund 24 Prozent lassen jede Investition zum existenziellen Wagnis werden. Ohne Investitionen droht jedoch der Verlust an Konkurrenzfähigkeit. Die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit steigt in beiden Fällen, ob zu hohe Ausgaben oder zu geringe Einnahmen: Beide erhöhen das Konkursriskiko – der Ruin droht.
Der “pacto social”, die mexikanische Variante von Sozialpartnerschaft, ist jetzt vor seine größte Belastungsprobe gestellt. Denn Mexiko nähert sich einer sozialen Katastrophe und /oder einer politischen Explosion.
Ein Feldzug auf Wall Streets Geheiß?
Die Chase Bank gibt sich nicht der Illusion hin, daß die ZapatistInnen die alleinige Ursache für den Peso-Crash vom Dezember sind. Der Zusammenbruch der mexikanischen Wirtschaft wurde durch die Überbewertung des Pesos verursacht, und dies hatte es US-InvestorInnen – wie z.B. der Chase Bank selbst – ermöglicht, mexikanische Schatzbriefe totzuspekulieren und dann in sichere US-Dollars anzulegen.
Ein Jahr NAFTA – Wall Street ist verschnupft
Die gesamte US-Finanz und das Lager der PolitstrategInnen befürchten jetzt, daß eine von dem Neuling Ernesto Zedillo geführte mexikanische Regierung – anders als der alte Vertraute Washingtons, Ex-Präsident Carlos Salinas – ins Wanken geraten wird, im Konflikt mit den Zapatistas Zeit gewinnen will und versuchen wird, die Unzufriedenen im Lande zu besänftigen. Aber jede Art von Beschwichtigungspolitik gegenüber einer schäumenden Öffentlichkeit wird den InvestorInnen sicherlich nicht gefallen. Die ökonomische Sicherheit, die ihnen gewährt wurde, war ein Eckpfeiler der NAFTA-Vereinbarungen.
Für die Regierung besteht die Notwendigkeit, mit Subcommandante Marcos und seinen GenossInnen Schluß zu machen. Die Chase Bank drückt dies so aus: “Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politischen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von InvestorInnen wahrgenommen”.
Die Option einer Lösung des Chiapas-Konfliktes am Verhandlungstisch wird von der Chase Bank heruntergespielt: “Es ist schwer vorstellbar, daß die gegenwärtigen Umstände eine friedliche Lösung zulassen würden”. Zedillo wird nicht in der Lage sein, das Vertrauen der ZapatistInnen und ihrer AnhängerInnen zu erlangen, da “die Währungskrise alle verfügbaren Ressourcen für ökonomische und soziale Reformen begrenzt”. Mit anderen Worten: Die ausländischen InvestorInnen haben ein Vorrecht auf die schwindenden Reserven der mexikanischen Staatskasse; für die Anti-Armut Programme, die Zedillo für Chiapas versprochen hatte, bleibt dann nichts mehr übrig.
Riordan Roett – ein Mann sieht Krieg
Autor des Memos, das aus der Markterschließungsabteilung der Chase Bank stammt, ist ihr Berater Riordan Roett. Als ehemaliger Leiter der Lateinamerika-Studien an der John Hopkins School of Advanced International Studies, ist er beurlaubt. Roett soll besonders verbittert über die Vorfälle südlich des Rio Grande gewesen sein: hatte er doch leitenden Beamten der Chase Bank versichert, daß auf Zedillo – seinem langjährigen Gesprächspartner – Verlaß sei, wenn es um die Interessen der ausländischen InvestorInnen gehe. Beruhigt hatte die Chase Bank daraufhin ihre Investitionen in Mexiko erhöht. Als ein riesiges Handelsdefizit Zedillo zwang, den Peso abzuwerten, erwischte es die Chase eiskalt.
Eine harte Gangart der mexikanischen Regierung fordert Roett auch bei anderen Schwierigkeiten, die dieser Regierung ins Haus stehen. Bei den in fünf Bundesstaaten für dieses Jahr vorgesehenen Wahlen hat die in Mexiko regierende PRI nur düstere Aussichten. Roett schlägt vor, die PRI solle sich Wahlerfolge auf anderem Wege sichern. “Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.” Weiter schreibt er: “Korrekt erzielte Wahlerfolge der Opposition nicht anzuerkennen, wäre ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strategie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko einer Spaltung der Partei in sich bergen.”
Roett hat in Washington an allen Lobby-Fäden gezogen, um Unterstützung für seine Politik der “verbrannten Erde” in Mexiko zu erhalten. Er forderte den Kongreß auf, Clintons 40 Milliarden Spritze aus Geldern der Chase Bank und anderen InvestorInnen schnellstens zu bewilligen. Clinton selbst griff angesichts einer sicheren Niederlage im Kongreß zur Präsidialmacht und drückte sein Paket gegen den Willen des Kongresses durch.
Roett’s Strategie ist die des Lobbyisten: Er versorgte Bob Dole, den einflußreichen Sprecher der Republikaner im Senat mit ausgewählten Informationen, sprach vor dem Richtlinienausschuß des Senats und er beriet Beamte des Außenministeriums. Am 11. Januar 1995 sprach er vor mehreren hundert Führungskräften aus Politik und Wirtschaft auf einem vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) organisierten Seminar.
Ein Seminar wird zum Fanfarenstoß
Bei dieser Gelegenheit soll Roett am Rande der Hysterie gewesen sein. Kunden würden ihn permanent fragen – so Roett -, warum die mexikanische Regierung die ZapatistInnen nicht unter Kontrolle bekommt. Roett meinte, aus der Sicht der InvestorInnen sei es wichtig, das Thema Chiapas so schnell wie möglich abzuhaken. Er räumte dabei ein, sein Aufruf zum Krieg, sollte Zedillo sich danach richten, könne negative internationale Auswirkungen haben. Aber bei kühnen Taten fielen immer politische Kosten an.
Die Ausführungen von Roett fanden geneigte ZuhörerInnen. Die Kolumnistin Georgie Anne Geyer schrieb wenige Tage später in einem Artikel: “Niemand auf diesem Seminar hat die mexikanische Situation besser erklärt als Roett.” Die anwesenden Fachleute und FinanzmanagerInnen – so die Kolumnistin – schienen sich einig, daß die ZapatistInnen zwar nicht für eine breite Revolte in ganz Mexiko stünden, sie aber der entscheidende Indikator, der Lackmustest für die Stabilität in Mexiko seien.
Dalal Baer, der Moderator der Veranstaltung, dankte Roett für seine Ausführungen und beklagte das “mexikanische Dilemma” zutiefst. Die mexikanische Regierung stehe unter dem Druck, daß politische System öffnen zu müssen. Die Finanzmärkte reagierten auf eine solche Zunahme der Demokratie nicht unbedingt positiv, da diese oft auch eine Zunahme an Instabilität nach sich ziehe, so Baer.
Auf dem Seminar forderte David Malpass, Direktor eines großen Finanzunternehmens, von Zedillo im Austausch für die von der US-Regierung organisierte Milliardenhilfe, eine Beruhigung der ausländischen InvestorInnen durch eine “gigantische Wiederherstellung des Vertrauens”. So schlugen Malpass und andere zum Beispiel weitere Privatisierungen vor, AusländerInnen sollten auch zu 100 Prozent Banken besitzen dürfen. Die Öffnung der mexikanischen Ölindustrie war ein weiterer Vorschlag.
Zedillo und die Mehrheit der PRI lehnten die “finale” Lösung des Riordan Roett zu diesem Zeitpunkt offiziell noch ab. Ein Beamter des mexikanischen Innenministeriums, der auch am Seminar teilnahm, bezeichnete den Kriegsaufruf Roetts als “nicht statthaft”.
Aber mexikanischen Finanzlobbyisten dürfte es bei Roett’s Analyse wahrscheinlich warm ums Herz geworden sein. Denn am 18.Dezember des vergangenen Jahres hatten sich schon mexikanische Geschäftsleute mit Zedillo getroffen, um von der neuen Regierung eine Offensive in Chiapas zu fordern.
Originaltitel: “Major U.S. Bank Urges Zapatista Wipe-Out: ‘A Litmus Test for Mexico’s Stability’, in:”Counterpunch”, Vol. 2. Nr. 3 vom 1. Februar 1995.
Memo der Chase Manhattan’s Emerging Markets Group
Zusammenfassung:
Die größte Bedrohung für die politische Stabilität Mexikos ist unseres Erachtens nach die augenblickliche Finanzkrise. So- lange die Regierung von Staatspräsident Ernesto Zedillo nicht geeignete Maßnahmen ergreift, den Peso zu stabilisieren und eine unkontrollierte Inflation zu vermeiden, wird es fast unmöglich sein, sich Themen wie Chiapas oder der Justiz- und Wahlreform zu widmen. Eine Verlängerung der Krise mit ihren negativen Auswirkungen auf den allgemeinen Lebensstandard wird vielmehr Arbeitskämpfe und soziale Unzufriedenheit provozieren.
Die Regierung Zedillo
Als Zedillo am 1. Dezember 1994 das Amt des mexikanischen Präsidenten antrat, schien dies ein neues Kapitel auf dem Weg zur Modernisierung der mexikanischen Politik einzuläuten… Der neue Präsident forderte eine Reform des Justiz- und Wahlrecht und eine friedliche Lösung des ein Jahr alten Aufstandes im südlichen Bundesstaat Chiapas. Er betonte, wie wichtig die Transparenz von Regierungsgeschäften und die Erziehung und Ausbildung der mexikanischen Bevölkerung sei. Zedillos Kabinett, das sich aus denselben Kreisen zusammensetzt wie das seines Vorgängers Salinas de Gortari, vermittelte den Eindruck von Kompetenz und Engagement… ( Chronologie der Peso-Krise) … Nur wenn die Regierung erfolgreich den Peso stabilisiert, ein sprunghaftes Ansteigen der Inflation verhindert und das Vertrauen der Investoren zurückgewinnt, wird es unserer Meinung nach für Zedillo möglich sein, sich der Agenda von Reformen zu widmen, die er am 1. Dezember aufgestellt hatte. Es gibt drei Felder auf denen die augenblickliche Währungskrise die politische Stabilität in Mexiko untergraben kann. Das erste ist Chiapas, das zweite sind die kommenden Wahlen in den Bundesstaaten und das dritte die Gewerkschaften, ihr Verhältnis zur Regierung und zur PRI.
1. Chiapas
Der Aufstand im südlichen Bundesstaat Chiapas ist jetzt ein Jahr alt und offensichtlich ist man noch immer keiner Lösung näher gekommen … Zwar neigt Zedillo zu einer friedlichen Lösung des Patts in Chiapas auf dem diplomatischen Weg, aber es ist schwer vorstellbar, daß die augenblicklichen Umstände eine friedliche Lösung zulassen. Mehr noch: je mehr die Währungskrise die Regierung in ihren Vorhaben sozio-ökonomischer Reformen beschränkt, desto schwieriger wird es für sie werden, breite Unterstützung für ihre Vorhaben in Chiapas zu gewinnen. Noch wichtiger: Marcos und seine Anhänger könnten beschließen, die Regierung mit einem Anstieg lokal begrenzter, gewalttätiger Aktionen in Verlegenheit zu bringen und die Regierung zu zwingen, den zapatistischen Forderungen nachzugeben, die eine politische Niederlage, die sie völlig bloßstellen würde mit, sich brächte.
Die Alternative ist eine militärische Offensive zur Niederschlagung des Aufstands. Das hätte einen internationalen Aufschrei zur Folge: Protest gegen den Einsatz von Gewalt und die Unterdrückung indígener Rechte. Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politischen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von Investoren wahrgenommen.
Die Regierung wird die Zapatisten ausschalten (eliminate) müssen, um zu demonstrieren, wie wirksam ihre Kontrolle über nationales Territorium und nationale Sicherheit ist.
2. Wahlen in den Bundesstaaten
Präsident Zedillo bekannte sich in seiner Ansprache zur Amtseinführung noch einmal zur Öffnung des parlamentarischen Systems auch für Oppositionsparteien. Das war in den vergangenen Jahren eines der Hauptthemen zwischen der PRI-dominierten Regierung einerseits und der PAN und der PRD andererseits. Der konservative Flügel der PRI bezog gegen eine politische Liberalisierung Position, während der Flügel um Zedillo die Öffnung als unvermeidlich und auch gerechtfertigt betrachtete. Die augenblickliche Währungskrise wirft die Frage auf, ob Zedillo und die Reformer die Stärke haben werden, die Ergebnisse der Wahlen von 1995 zu respektieren. Die Konservativen werden behaupten, die Krise rechtfertige eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft, selbst wenn dies nur durch Wahlbetrug möglich sei. Die Opposition, die ohnehin die Wahlsiege der PRI generell anzweifelt, … wird ermutigt werden, dies weiter zu tun. Zedillo wird vor einer schwierigen Situation stehen: Er muß die Konservativen seiner eigenen Partei neutralisieren und gleichzeitig sein Bekenntnis aufrechterhalten, die Opposition auch gewinnen zu lassen, wenn sie das legitim getan hat…
Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.
Korrekt erzielte Wahlerfolge der Opposition nicht anzuerkennen, wäre zwar ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strategie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko einer Spaltung der Partei in sich bergen.
Wir glauben, daß die Fähigkeit der Regierung Zedillo, die inhärenten Konflikte in der Agenda der Wahlen von 1995 zu lösen, letztendlich entscheidend sein wird. Nämlich, ob es der Regierung gelingt, ihr Versprechen zu halten, die mexikanische Politik zu liberalisieren.
3. Die Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung war über Jahrzehnte das Rückgrat der PRI. Die Bereitschaft der Arbeiterführung sich nach der PRI zu richten, war ein fundamentaler Bestandteil der Stabilität in Mexiko seit den 30er Jahren. Die augenblickliche Währungskrise droht diese Unterstützung wegen den negativen Auswirkungen auf Lebensstandard und Löhne zu unterlaufen. Der Wertverfall des Peso macht sich für den durchschnittlichen mexikanischen Arbeiter schon beim Erwerb der Güter für den alltäglichen Bedarf heftig bemerkbar …Die starken, strukturellen Verknüpfungen zwischen Regierung und Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren abgeschwächt. Die Regierung hat zwar noch Einfluß, aber keine völlige Kontrolle mehr. Wenn sich die Krise fortsetzen sollte, wären zwei Optionen für die Regierung denkbar: 1. sie weist die Forderung der Arbeiter nach mehr Lohn zurück – mit der Möglichkeit von Demonstrationen oder 2. sie gibt den Forderungen der Arbeiter nach und verschärft damit die ökonomische Krisensituation.
Schlußfolgerungen
Die mexikanische Währungskrise hat das Bekenntnis der Regierung Zedillos zu einer neuen Welle von Reformen überschattet – Reformen, die politische Verhandlungen zur Lösung der Chiapas-Krise und die Garantie fairer Wahlen auf Bundesstaats- und Gemeindeebene einschlossen. Offen bleibt, ob die mexikanische Arbeiterklasse eine länger anhaltende Periode von Lohnverlust und sinkendem Lebensstandard akzeptieren wird. Diese sozialen und politischen Fragen, die für den Präsidenten eine hohe Priorität haben, werden unvermeidlich zurückgestellt werden, solange bis die ökonomische Situation geklärt ist. Solange die Regierung Zedillos unfähig ist, den Peso zu stabilisieren und Inflation zu vermeiden, läuft sie Gefahr mit sozialen und politischen Unruhen konfrontiert zu werden.
…und wieder herrscht Krieg
4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Konvent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wurde der Beschluß gefaßt, die Organisationsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Befreiungsbewegung” zu bilden, die einer politischen Oppositionsbewegung gleichkommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Übergangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals bekräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waffenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinengewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschiedenen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcommandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa erklärte später, sie sei unter Drohungen gezwungen worden, ein vorgefertigtes Geständnis zu unterschreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedillos, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Sebastian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs gegen die Zapatisten; in einem Kommunique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogangebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee marschieren in die von Zapatisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Militärfahrzeuge und Lufteinheiten. Ungefähr zwölf Orte werden durch Panzereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzugängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Personen teil. Unter der Parole: “Wir sind alle Marcos”, forderten sie ein sofortiges Ende des Krieges, die Freilassung aller bisherigen Gefangenen und eine friedliche Lösung des chiapanekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein getöteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regierungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Morelia und Las Guarrachas von vier Kampfhubschraubern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das Innenministerium bekannt, daß alle wichtigen Positionen in Chiapas wiedererobert seien. Militärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommunalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung seiner Person durch die Regierung. Er behauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indígenas auf der Flucht: Nationale Menschenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Einreise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gouverneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistellung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indígena-Organisationen, daß es keine weiteren Offensiven gegen die zapatistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Patrouillen gegen Gewalttaten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Erklärung, in der der mexikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien willkürlich verhaftet und gefoltert worden, einige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundgebung in einer Woche findet diesmal vor dem Nationalpalast in Mexiko-Stadt statt. Wieder nehmen mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rückzug der Bundesarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befinden sich immer mehr Menschen aus chiapanekischen Dörfern auf der Flucht (siehe ausführlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zurückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grundvoraussetzung für den Dialog.
Exodus in der Selva Lacandona
Die BewohnerInnen von Morelia, einem Dorf unmittelbar hinter der letzten Militärsperre, wurden von einem Angriff im Morgengrauen überrascht. Alle 1300 BewohnerInnen und dort arbeitende Ärzte und LehrerInnen flohen vor den vorrükkenden Panzern. Ohne ausreichende Kleidung und nicht genügenden Nahrungsmitteln versuchten sie Schutz vor den Bomben und MP-Salven in den Bergen zu suchen.
Die Erinnerungen an den Überfall der Bundesarmee am 7. Januar 1994 sind noch präsent. Damals sind EinwohnerInnen gefoltert und verschleppt worden, ein Dorfmitglied ist seitdem verschwunden.
Um das nackte Leben zu retten verstekken sich inzwischen über 6000 Menschen in den Wäldern. Ohne Kleidung und Dekken, der Kälte ausgeliefert, ohne Nahrungsmittel, durch Unterernährung geschwächt und durch verschmutztes Wasser erkrankt, harren sie aus, eingeschüchtert durch Tiefflüge der Luftwaffe. Ihre Dörfer wurden von den Armeen geplündert, die Schule und Bibliothek in Morelia abgebrannt. In Lazare Cardenas, einem anderen Dorf aus dem die Menschen flohen, blieben drei Menschen zurück, die drei Tage von der Armee gefesselt und ohne Nahrung verhört wurden.
Unter den Flüchtlingen grassieren Durchfallerkrankungen, Tuberkulose, Fieber und Cholera. Medizinische Versorgung gibt es nicht.
In der Nähe von Guadalupe Tepeyac sind ebenfalls nur noch verwaiste, von der Armee besetzte Orte zu finden. Das Dorf ist am 9. Februar von 2300 Fallschirmjägern überfallen worden. Die Dörfer sind von der Armee zu Festungen ausgebaut worden. In Morelia sind Inzwischen 800 Soldaten mit Panzern vor Ort.
Die Flüchtlinge rufen in einem Appell zu sofortigen internationalen Hilfsmaßnahmen auf. Die Offensive geht weiter. Allen Versprechungen zum trotz rückt die Armee, vor allem mit Panzereinheiten, weiter vor. Die EZLN soll in Kämpfe verwickelt werden. Bisher hat sie ihre Truppen allerdings angewiesen, diese zu vermeiden und sich zurückzuziehen.
Insgesamt liegen 2700 Haftbefehle gegen vermeintliche Zapatisten vor.
“Wir schaffen eine neue Realität”
In dieser Zone, in der die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisationen verschiedenster politischer Richtungen zahlreiche Ländereien von Großgrundbesitzern besetzt, um dem historischen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Geltung zu verschaffen. Eine dieser Organisationen ist die “Unión de Campesinos y Popular Francisco Villa”, die in 14 Gemeinden der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer bewaffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldnertruppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem internationalen Journalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jahres besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbewaffneten Kampf für ein menschenwürdiges Leben auf eigenem Land führt”, erklärte Eduardo, Führungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidigungen ist jetzt Schluß.” Unser erster Weg führt uns in das Verwaltungsgebäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethnologen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexikanern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn abholten, prangt ein Aufkleber, der zynischer kaum sein kann: “Dinero en manos del pobre”, übersetzt: “Geld in Händen der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfassende Kaffeeplantage, steht das Haus der Ex-BesitzerInnen. Die Villa “der Reichen”, wie die deutschen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres angesichts der rebellierenden Campesinos/as fluchtartig Liquidambar verließen. “Wenn die Reichen in ihr Haus wollen, können sie kommen und mit uns leben. Aber sie werden nicht mehr Land erhalten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Gebäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Besetzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bodybuilding-Center, Hausbar, Weinkeller. “Die Getränke, vor allem Champagner und französische Weine, wurden nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alkoholverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausgegeben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herrschaftssitz und betreten die Siedlung der Finca. Während in den wenigen Steinhäusern die Verwalter lebten, waren die KaffeepflückerInnen, in der Erntezeit etwa 2000 Personen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr waren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Gehenkten” beschreibt. Neben der kleinen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem Laden konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die geleistete Arbeit ausgegebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billigen Fusel eintauschen. Für den Arbeitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die KaffeearbeiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Essen – Tortillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizinische Versorgung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten diejenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-BesitzerInnen aufnehmen. Als Gegenleistung mußten den Deutschen die Besitztitel überlassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Liquidambar gelegenen Ortes Nueva Palestina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” verfügten, läßt ein im Wald der Finca angelegter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisieren das Ende der Leidenswege zerschundener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Familien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salvadorianer. Diesen illegalen Wanderarbeitern wurden bei Arbeitsbeginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzahlungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhältnisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonntag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff ertränkten, wurden sie von Aufpassern in das Gefängnis der Finca geworfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die KaffeepflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiten die Menschen in Liquidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis gestiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflückter Menge Kaffee. Da die Produktionsanlage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-BesitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Trocknungsvorgang relativ reibungslos. Auch beim Verkauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Großgrundbesitzer sind in dieser Region gescheitert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Geschäft nicht entgehen lassen wollen. Allerdings werden die Villistas in Liquidambar höchstens die Hälfte des reifen Kaffees ernten können. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Lebensformen unterschiedlich. Hier in Liquidambar wird alles kollektiv verwaltet und bearbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir bezahlen uns, Männern und Frauen, die gleichen Löhne, das Essen ist für alle umsonst, und die Häuser – die Baracken werden nicht bewohnt – stehen den Familien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organisiert, überwiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist jedoch erst bei den Besetzungen von Liquidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Unsere ersten Aktionen waren die Besetzungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Reifung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räumungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wiederbesetzungen wechselten einander ab. In dieser Region ist die Repression gegen sich organisierende Campesinos/as durch die traditionell enge Verflechtung von GroßgrundbesitzerInnen, PolitikerInnen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders ausgeprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Paniagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-getretener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mitglied der UCPFV von Pistoleros der Finqueros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, gegen die Unterdrükkung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die unbewaffnete Organisierung, vertrauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Villistas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierungen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes Angebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Landkreis zur Verfügung zu stellen, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sollen. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzunehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV besetzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehandelten Waffenstillstandes durch die mexikanische Regierung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Großgrundbesitzervereinigungen haben die Existenz einer 700 Mann starken Armee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der regionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die besetzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergreifen. Unsere Aktionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Frente Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem Anführer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. Angesichts dieser Bedrohungen ist es verständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichtsschutz fotografieren lassen.
Jenseits von Chiapas…?
Während diesseits und jenseits des “gran charco” mit einer gewissen Euphorie über die Möglichkeit der Bildung eines mexikoweiten zapatistisch-cardenistischen Bündnisses namens Movimiento de Liberación Nacional (MLN) angeregt debattiert wurde, beraten UnterhändlerInnen zwischen Weißem Haus, Wall Street und Los Pinos (dem Amtssitz des Präsidenten Zedillo) ebenfalls zeitgleich die letzten Bedingungen und Details. Dabei ging es nicht nur um den milliardenschweren transnationalen Dollarkredit für Mexiko, sondern auch um den Frontalangriff auf das EZLN und die mit ihm “sympathisierende” Zivilgesellschaft.
Im Nachhinein gesehen liegt die Bedeutung des Hamburger Treffens dennoch darin, zum einen ein Resümee der politischen und wirtschaftlichen Situation Mexikos zu ziehen, ein Jahr nach dem “Wiedereintritt der Gesichtslosen, der ewig Toten in die Geschichte”, dem öffentlichen Erscheinen des EZLN. Und zum anderen bot das Wochenende die Gelegenheit, das eigene Engagement und die eigene Solidarität mit einer neuartigen, zumindest ungewöhnlichen und vielfach mittels “Marcos-Folklore” schon wieder refunktionalisierten Bewegung zu reflektieren. Dem Europa-Vertreter der CND, Alejandro de la Paz, gelang es im Verlauf des Treffens, die beiden Diskussionsstränge – das schlichte Bedürfnis zu begreifen, “qué chingaos está pasando en México”, und den Wunsch nach einer eigenen Standortbestimmung gegenüber dem “Phänomen EZLN” – aufeinander zu beziehen. Denn wie Alejandro aus eigener Erfahrung zeigte, steht die von den zentralamerikanischen Guerrillabewegungen der siebziger und achtziger Jahre stark geprägte bundesdeutsche Soliszene ähnlich wie die mexikanische Zivilgesellschaft zunächst perplex vor einer bewaffneten Campesino-Bewegung, die weder Avantgarde-Ansprüche hat noch bereit ist, einen heroischen Stellvertreterkrieg für ganz Mexiko zu führen. Stattdessen zwingt sie die vielfältigsten Bewegungen, Organisationen, Parteien und Grüppchen dazu, ihre Einzelforderungen, Alternativen und Utopien in ein gemeinsames, aber plurales “neues Projekt der Nation” einzubringen.
Wie soll die Unterstützung einer Bewegung aussehen, die versucht, sich jeglicher Form von Globalisierung zu entziehen? Was heißt “internationale Solidarität” im Kontext von Regionalautonomie, von Anerkennung kommunaler Souveränität? Auf dem Hamburger Treffen gab es nur zaghafte Andeutungen möglicher Antworten: Auf die Globalisierung und Transnationalisierung von Machtstrukturen soll mit dem Aufbau eines transnationalen Austausches vergangener und gegenwärtig praktizierter Erfahrungen, mit Strategien des Widerstands, der “Demokratisierung von unten”, des Er-Lebens von Autonomie reagiert werden. Jenseits des Scheiterns oder Erfolgs der CND beginnt Alejandro zufolge ein derartiger, spannungsreicher und auch widersprüchlicher Austausch im Rahmen der verschiedensten lokalen, regionalen und mexikoweiten Treffen. Der Austausch von MitgliederInnen der Frauenbewegung, der Slum- und Stadtteilinitiativen, der LehrerInnen- und StudentInnenbewegungen sowie nicht zuletzt der Campesino- und Indígena-Organisationen ist nun eingeleitet worden. Das Engagement bundesdeutscher Gruppen sollte seiner Ansicht nach diese Art der Zusammenarbeit aufgreifen durch unterschiedlichste Lernformen der Stiftung von Partnerschaften zwischen Gemeinden, Schulen, Organisationen etc. sowie durch das wechselseitige Schaffen von Gegenöffentlichkeiten bereichern. Dies würde es den verschiedenen sozialen Bewegungen gestatten, mittels Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand die eigene Isolation zu überwinden und ihren spezifischen Kampf in einen allgemeineren Kontext zu stellen.
Ein konkretes Ergebnis des Hamburger Mexiko-Treffens ist der Aufbau eines direkten Kontakts zwischen den bundesdeutschen Gruppen und der CND sowie der oppositionellen, von Amado Avendaño koordinierten chiapanekischen “Übergangsregierung im Widerstand”. Über dieses neue Netz sollen unterschiedliche Aktionen in verschiedenen Städten organisiert werden, bei denen vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den hier (noch existierenden) sozialen Bewegungen gesucht wird. Begünstigt wird diese Zusammenarbeit durch die Heterogenität der in Hamburg anwesenden Gruppen: Zu routinierten “Profis” der internationalistischen Szene und Gruppen, die aus kirchenbewegten oder akademischen Kontexten stammen und oft zu eher theoretischem Debattieren neigen, treten eher stadtteilbezogene und aus der eigenen konkreten Lebenswelt heraus engagierte Gruppen. Für diese sind Konzepte wie Autonomie nicht bloßer Diskussionsstoff, sondern vielmehr Alltagspraxis. Ob sich aus einem derart heterogenen Spektrum von Gruppen neue und effektive Aktionsformen entwickeln lassen, muß jetzt der Kampf gegen die von den Gläubigerbanken “transnationalisierte” militärische Repression der mexikanischen Demokratiebewegung zeigen.
Hart an der Grenze
Wieder einmal sorgt der Londoner Verlag Latin America Bureau dafür, daß ein vernachlässigtes Thema, gründlich und interessant geschrieben, einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird. Die Rede ist von der US-mexikanischen Grenzregion im allgemeinen und den vielen MexikanerInnen, die dort leben, im besonderen. Augusta Dwyer durchstreift in “On the Line” eine Region, die sie prosaisch mit “verloren zwischen zwei Nationen” beschreibt.
Matamoros, Reynosa, Eagle Pass, Ciudad Juárez, Nogales, Douglas, Ciudad Acuna, Tijuana – klangvolle Namen, aber die Realität in diesen rasant wachsenden Städten in der Grenzregion ist hart. Der phänomenale Aufstieg der Maquiladoraindustrie hat sie genauso geprägt wie die daraus entstandenen negativen Folgeerscheinungen in der Umwelt: Flüsse voll mit Schwermetallen, miserable Luft und vergiftete Böden. In dieser Region war Dwyer unterwegs, auf der Suche nach Schicksalen hinter den eingezäunten Maquiladorafabriken, nach Schicksalen hinter den dünnen Wellblechen der Armensiedlungen, wo die Hoffnung immer die Himmelsrichtung Nord hat. Und es ist ihr gelungen. Dwyers Buch überzeugt immer dann, wenn sie das ausgiebig macht, was sie kann: journalistisch gut aufbereitet einzelne menschliche Schicksale als Folie für die Zwänge und Nöte zu benutzen, denen mehr oder weniger alle MexikanerInnen in dieser Region ausgesetzt sind. Etwa, wenn sie die Geschichte der schwangeren Petra erzählt, die wegen der aufgeblasenen Unnachgiebigkeit des Schichtleiters einer Maquiladorafabrik ihr Kind verliert. In diesem Sinn ist ihr Buch pathetisch und mitunter auch ein wenig missionarisch. Es versucht Verständnis für die Situation der MexikanerInnen zu wecken und ist auch eine Reaktion auf die antimexikanischen Polemiken in den USA im Zusammenhang mit den NAFTA-Verhandlungen. Und es proklamiert die internationale Gemeinschaft. Immer dann, wenn Dwyer die Mühsal bei der gewerkschaftlichen Organisierung der mexikanischen ArbeiterInnen beschreibt, spritzt die Tinte auch nach Norden. Ihre Hoffnung ist der Zusammenschluß über die Grenze hinweg. “Eine Grenze, vollgepackt mit Widersprüchen, geografisch und kulturell entfernt von ihren jeweiligen Machtzentren, trotzt einfachen Versuchen von Charakterzuweisungen. Feucht und subtropisch am einen Ende, wüstentrocken und gebirgig auf der anderen schneidet sie eine Linie quer durch zwei verschiedene Welten. Die eine ist das Zuhause. Die andere ist die ‘andere Seite’. Doch nach einer eingehenderen Untersuchung beginnen die Unterschiede zu verschwimmen, es entfaltet sich das Bild einer Region, die auf ihre Art einzigartig ist, sie ist weder USA noch Mexiko”, schreibt Dwyer über diese Region. Aber auch wenn die Grenze in den Köpfen nicht mehr da sein mag (was bezweifelt werden muß), so gibt es die Mauer am Rio Grande unbestritten immer noch. Diesen Aspekt hat Dwyer nicht außer Acht gelassen. Ihr Kapitel über die US-amerikanische Grenzpolizei, die Border Patrol ist einer der Höhepunkte ihres Buches.
Nur ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Im Eifer der Recherche ist Dwyer mitunter der Sinn für das Ganze flöten gegangen. Anfangs beeindruckt die vorgelegte Datenmasse, aber mit voranschreitender Seitenzahl droht mensch in der Flut der eindrucksvoll vielen Zahlen den Überblick zu verlieren, was nicht weiter schlimm wäre, hätte ihn die Autorin nicht auch selbst ein wenig verloren. In bester Stimmung reiht sie ein Zahlenpaket ans nächste. Jede Episode wird, noch bevor sie zu Ende ist, abstrahiert, indem Dwyer sie mit eifrig zusammengestelltem Zahlenmaterial füttert; so lange, bis der Inhalt bricht. Das Ganze, so abgedroschen muß auch mal rezensiert werden, ist halt immer noch mehr als die Summe seiner Teile – auch wenn die Teile für sich doch alle wieder etwas Ganzes sind. Deshalb der LN-Serviervorschlag: Häppchenweise!
Martin Ziegele
Augusta Dwyer: On the Line. Life on the US-Mexican Border, London 1994, zu beziehen (wie übrigens alle Bücher des Latin America Bureau) über die Lateinamerika Nachrichten. Gneisenaustraße 2a. 10961 Berlin. 29,80 DM.