NAFTA-Fieber

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Contreras als Bauernopfer der Militärs

Als das Regime von General Augusto Pinochet 1989 nach 16jähriger Herrschaft abgewählt wurde, hofften viele ChilenIn­nen auf die Auf­klärung der unzähligen Menschenrechtsverletzungen. Die erste de­mokra­tisch gewählte Re­gierung un­ter Präsident Patricio Aylwin sah sich un­ter dem Druck der Menschenrechtsorga­ni­sationen gezwun­gen, Un­tersuchungen über politisch motivierte Morde, Ver­schlep­pungen und Folterungen einzu­leiten. Die Ergeb­nisse wurden im soge­nannten Rettig-Bericht vor­ge­legt, der akribisch die Verbrechen der Militär­junta aufli­stet. Opfer finden darin massen­haft Erwähnung, die Na­men der Täter werden aller­dings verschwiegen.
Vergangenheitsbewältigung auf chilenische Art
So kamen während der Aylwin-Regie­rung nur ganz wenige Fälle von Menschenrechts­verletzungen zur Anklage, in keinem Fall wanderten die Verantwort­lichen ins Gefängnis. Die entsprechende Bilanz seines Nachfolgers Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat und seit März 1994 an der Spitze einer Ko­alition aus Mitte-Links-Parteien, wird kaum besser ausfallen. Chile sonnt sich im Glanze sei­nes Wirt­schafts­wun­ders und fiebert mehr­heitlich der bevorstehenden Auf­nahme in die NAFTA entgegen. Von Ge­rechtigkeit für die Opfer der Diktatur spricht fast niemand mehr.
Nur ab und zu führt die Menschen­rechtsproblematik vergangener Jahre zu kleinen politischen Erdbeben: Fernando Castillo war erst wenige Wochen als Gou­verneur von Santiago im Amt, als er sich offen für die Genehmigung einer Demon­stration der Hinterbliebenen der Opfer des Pinochet-Regimes am 11. März vor dem Regierungspalast aussprach. Frei ließ die Demo verbieten – zweifellos auf Druck der Militärs – und setzte seinen Par­tei­freund Castillo kurzerhand ab. Der so­zi­alistische Innenminister Germán Correa mußte seinen Hut nehmen, nachdem er sich allzu deutlich für die Entlassung von Polizeichef Rudolfo Stange ausgespro­chen hatte. Stange hatte die Unter­suchungen über die Ermordung von drei Kom­munisten im Jahre 1985 durch fal­sche Aussagen behindert und wurde vor­übergehend beurlaubt.
Der weitgehend reibungslose Abgang der Militärs wurde mit einer Reihe von Zugeständnissen erkauft. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist politisch na­hezu unmöglich. Einzige Ausnahme von der bisherigen Pra­xis, alles unter den Tep­pich zu kehren, ist jetzt die Wiederauf­nahme des Verfahrens ge­gen den langjäh­rigen Leiter des gefürchteten Ge­heimdienstes DINA, Manuel Contreras, und seinen Stellvertreter. Möglich wurde die Er­öffnung des Verfah­rens durch die Intervention der USA, wo der Mörder von Letelier, Michael Townley, zu vier Jahren verurteilt worden war. Vor Gericht er­klärte er, im Auftrag der DINA gehan­delt zu haben. Deren einst allmächtiger Chef Con­treras, der die Drecksarbeit für das Regime erledigt hatte, könnte nun das Bauernop­fer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsver­letzungen ein für alle Mal abzuhaken.
Wie unabhängig ist die Justiz?
Vor der Wiederaufnahme des Verfah­rens wurde von allen Seiten Druck auf die Richter ausgeübt. Der weiterhin als Ober­befehlshaber des Heeres amtierende Gene­ral Pinochet schickte eigens seinen Stell­vertreter zum Justizministerium, um nachdrücklich das Interesse der Armee­führung an einer Herabsetzung des Straf­maßes auf fünf Jahre zu bekunden. Die Regierung verhält sich betont neutral. Verteidigungsminister Pérez Yoma ver­wies den Ex-Diktator auf die Unabhän­gigkeit der Justiz, als dieser ihn auf die Pro­bleme ansprach, die das Urteil gegen Contreras im Heer her­vorrufen dürfte. Die Armee könne nicht einerseits global die Verantwortung für die Menschenrechts­verletzungen ablehnen und sich anderer­seits derart bedingungslos hinter jemanden stellen, der genau deswegen verurteilt worden sei.
Bedrohlicher Riß in der Armee
Das chilenische Militär ist in dieser Frage gespalten. Heereschef Augusto Pi­nochet ist enormem Druck aus den eige­nen Reihen ausgesetzt. Die Hardliner be­trachten die Verurteilung eines der ihri­gen, zudem eines Generals, für ein Sakri­leg und einen unzulässigen Eingriff der Zivilstrafrichter in die Belange der Armee. Außerdem fürchten sie, daß ein derartiges Urteil in der Frage der Vergangenheits­bewältigung bahnbrechend sein und es ih­nen ebenso an den Kragen gehen könnte. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß Contreras im Falle einer Haftstrafe in ei­ner Kaserne vor dem Zugriff des Straf­vollzugs geschützt wird.
Andererseits waren Contreras und die DINA unter den Uniformierten nie unum­stritten. Die Auflösung dieses Militärge­heimdienstes bzw. seine Umstrukturierung zur CNI entsprach nicht zuletzt der Kritik aus den eigenen Reihen, die vornehmlich in der Luftwaffe und Marine laut wurde. Im Bewußtsein des fehlenden Rückhalts in den militärischen Chefetagen haben sich die Folterer und Mörder aus den Rei­hen der DINA seit vielen Jahren dagegen verwahrt, als Sündenböcke herzuhalten. Mit dem nahenden Ende der Diktatur wuchs das Bemühen, sich von deren Ex­zessen abzusetzen. “Die moralischen Vor­stellungen von General Contreras unterschei­den sich von dem, was ich für richtig halte!” Wer das sagte, war nicht etwa ein Folteropfer oder ein ehemaliger politi­scher Gefangener, sondern niemand Geringerer als der ehema­lige Vordenker und Chefideologe des Pinochet-Regimes, Jaime Guzmán. Bereits im Juli 1989 stand Con­treras wegen des “Verschwindens” der Geschwister Andrónicos vor Gericht. Der inzwischen einem Attentat zum Opfer ge­fallene Guzmán war als Zeuge geladen und betonte den “tiefen Gegensatz”, in dem er während der Militärherrschaft zu Contreras gestanden habe. Auf die Frage nach den Methoden von General Con­treras antwortete der eloquente Guzmán damals: “Ich glaube, es waren die wir­kungsvollsten für seine Ziele, sie hielten aber wesentlich geringeren moralischen Anforderungen stand, als ich sie für erfor­derlich halte.” Folgerichtig habe er ent­scheidenden Anteil an der Auflösung der DINA gehabt.
Im Berufungsverfahren im Mordfall Letelier kann Guzmán nicht mehr aussa­gen. Der angeklagte Schlächter des Regi­mes hat ihn überlebt. Doch der einst mächtige Geheimdienstchef, der in den er­sten Jahren die Drecksarbeit für Pinochet erledigte, könnte zum Bauernopfer der Aufarbeitung der jüngeren chilenischen Geschichte werden. Wird das Urteil der ersten Instanz bestätigt, wo Contreras zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, muß er seine Strafe in ei­nem normalen Gefängnis absitzen. Der Versuch der Frei-Regierung, eigens für Verbrecher wider die Menschlichkeit ein Spezialgefängnis bauen zu lassen, hätte vielleicht die Hau­degen des Heeres beruhigt, war politisch jedoch nicht durchsetzbar. Einen mögli­chen Ausweg bietet die Verkürzung des Strafmaßes auf fünf Jahre: Nach einem Gesetz der Aylwin-Regierung könnte die Haftstrafe dann nämlich in Hausar­rest umgewandelt werden. Mit einem solchen Urteilsspruch könnte sich der überwie­gende Teil der Gesellschaft in dem süd­amerikanischen Land arrangieren. Einer­seits würde damit die Schuld des ehemali­gen DINA-Chefs festgestellt, andererseits müßte kein Militär tatsächlich ins Ge­fängsnis wandern.

Eine Frau in der Hölle

Luz Arce war Sozialistin. Über eine persönliche Bekanntschaft wurde sie so etwas wie Sekretärin der Leibwache des sozia­listischen Präsidenten Salvador Allende. Nach dem Putsch 1973 ging sie in den Untergrund. Nach einigen Mo­naten einer recht ziellosen und eher schlecht als recht abgeschirmten Unter­grundarbeit wurde sie verraten und verhaftet. Der Geheimdienst fol­terte sie, und sie hielt stand. Als sie ein­mal mit verbundenen Augen über den Flur eines geheimen Folterzen­trums geführt wurde, schoß ihr ein Sol­dat in den Fuß. Die Geheimdienst­beamten wollten das Risiko nicht ein­ge­hen, sie verbluten zu lassen, denn jedeR tote Gefangene war eine ver­nichtete In­formationsquelle. Die Er­mor­dung von po­li­tischen Gefangenen mußte von höherer Stelle genehmigt wer­den. Deshalb brach­ten sie die Frau in ein Militärkrankenhaus. Sie wollte ster­ben und warf heimlich die Me­dizin weg, damit die Wunde sie ver­gifte. Die Wunde heilte von selbst zu. Ein Pfle­ger, der ihr beim Baden half, zwang sie zu perversen sexuellen Praktiken. Als sie halbwegs genesen war, fuhren Ge­heim­dienstler sie zu ihren Eltern nach Hause, überwachten sie aber weiterhin.
Sie wird zur Kollaborateurin
Einige Wochen später wurde sie zu­sammen mit ihrem Bruder ein zweites Mal verhaftet. Wieder wurde sie ge­foltert und ver­gewaltigt. Ihr Bruder hielt der Folter nicht Stand. Nach sei­nem Zusammen­bruch überredete er sie, gemeinsam mit ihm eine Liste von Unter­grundkämpfern zu­sammen­zu­stel­len. In der Sprache der Fol­ter­zentren “kollaborierten” die bei­den. Sie achte­ten sorgsam darauf, daß die Liste aus Leuten bestand, die ihrerseits kolla­bo­rierten, im Ausland waren oder eine unter­ge­ordnete Rolle in der sozia­lis­tischen Partei­hierarchie hatten. Einige Men­schen wurden auf Grundlage die­ser Liste ver­haftet; ein paar davon sind bis heute “ver­schwunden”. Da alle anderen in die of­fiziellen chilenischen Ge­fäng­nisse über­führt oder umge­bracht wurden, war Luz Arce bald die­jenige Gefan­gene, die am läng­sten ver­haftet war. Sie wußte viel über die DINA und kannte viele Geheim­dienst­ler. Das war gefährlich. Die DINA kon­nte nicht ris­kieren, sie laufen zu las­sen. Einige Male hatte sie deutliche An­zeichen dafür, daß sie auf der Liste derer stand, die zum “Verschwinden­lassen” se­lektiert wurden. Durch per­sönliche Be­ziehungen und einiges Glück über­lebte sie.
Als Kollaborateurin genoß Luz Arce einige Privilegien, die den übrigen Ge­fan­genen nicht zukamen. Sie durfte ihre Zel­lentür angelehnt lassen und duschen, wenn auch unter den Augen der Wächter, die aus Jux applaudier­ten, wenn sie sich auszog.
In der Silvesternacht 1974/75 lud der Stell­vertreter des Kommandanten des Fol­ter­zentrums sie zu einem Gläßchen in sein Büro ein, besoff sich und vergewaltigte sie. Gleichzeitig ver­gewaltig­ten die Wach­soldaten die weib­lichen Gefangenen. In­mitten der Schreie und des Stöhnens er­griff Luz Arce eines der schweren Dienst­siegel der DINA, das eine eiserne Faust zeig­te, und schlug den Offizier, der sie ver­gewaltigt hatte, damit nieder. Einen Au­genblick überlegte sie, ob sie sich aus dem offenstehenden Waffenmaga­zin eine Ma­schinenpistole nehmen und die übrigen Ge­fangenen befreien sollte, denn das Wach­personal war nackt und wehrlos. Dann ging sie zu einem Te­le­fon und rief den Kommandanten des Folter­zentrums an, der zu Hause Sil­vester feierte. Der Kom-mandant kam mit einigen Offizieren im Kampfanzug und vorgehaltener Waffe und bereitete der Vergewaltigungsorgie ein Ende. Der Vergewaltiger wurde in ei­nen der engen Kästen gesteckt, die der Fol­ter an Gefangenen dienten, und von da an bedurfte die Vergewaltigung von ge­fang­enen Frauen der Vorabgenehmi­gung. Ord­nung muß sein.
Folterer mit kleinen Schwächen
Die DINA rechnete es Luz Arce hoch an, daß sie nicht die Waffen­kam­mer ge­plündert hatte, sondern den Dienst­weg ge­gangen war. Nach und nach wurde sie zur re­gulären Beamtin des Geheimdienstes. Fünf Jahre lang arbeitete sie für die DINA und die Nach­folgeorganisation CNI. Ihr Buch “Die Hölle” berichtet von der Rou­tine dieser Geheimdienste, von Mord und Fol­ter, vom Abhören von Telefonen, dem Un­ter­richt der Agenten, dem et­was un­beholfenen Aufbau einer Computer­abteilung, dem Gehabe der führ­enden Of­fiziere, die sich wie Gott­väter vorkamen, von Intrigen und sexuel­len Beziehungen kreuz und quer. Die allmächtige DINA, die nach Gut­dünken eineinhalb tausend Men­schen ver­schwinden lassen konnte, hatte ihre sehr banale Seite. Was nach au­ßen wie die perfekte Terrormaschine wir­kte, war in Wahrheit eine schnell zusam­men­geschusterte, korrupte und mit al­len Feh­lern behaftete militärische Ein­heit. Die DINA-Beamten, deren Iden­ti­tät geknackt wurde – darunter auch Luz Arce selbst – wur­den in Publika­tionen des chilenischen Exils wie Monster dargestellt. Aber es wa­ren Men­schen, die, wenn sie vom Foltern ka­men, ein halbwegs normales Fami­lien­leben zu führen versuchten, die ihre klei­nen Schwächen hatten und sich in Liebes­beziehungen mit den Se­kretär­innen und weib­lichen Gefange­nen verstrickten. Luz Arce schildert alle Beziehungen, die sie mit Geheim­dienst­beamten hatte. Sie kann es sich heute noch nicht ganz verzeihen, daß sie in der Hölle lieben konnte.
Im Exil entsteht ihr Buch
Als 1990 die erste demokratisch ge­wähl­te Regierung nach der Pinochet­dik­tatur eine Kommission zur Doku­mentation der Menschenrechts­verletz­ungen gründe­te, rang Luz Arce sich zu einer Aussage durch. Sie erhielt Drohungen ihrer früh­eren Geheim­dienstkollegen und mußte Chile ver­lassen. Das Buch “Die Hölle” ist das Ergebnis dieses Exiljahres in Öster­reich.
Luz Arce kennt den Tod. Sie hörte mit ver­bundenen Augen, wie andere Ge­fang­ene starben, drückte erschosse­nen Gue­rilleros die Augen zu, sollte selbst er­mordet werden und war wegen ver­schie­dener Krankheiten mehrfach im Delirium. Es gibt Wochen in ihrem Leben, in denen sie kaum bei Be­wußt­sein war. Nach ihrer Ver­haftung und dem Schuß in den Fuß ver­ging bis heute kein Tag ohne starke kör­perliche Schmer­zen. Diese Erfah­rungen erspart sie den Leserinnen und Le­sern ihres Buches. Die tagelange Elektro­folter wird nur in Andeutungen erwähnt. Statt ihre Vergewaltigungen zu schil­dern, läßt sie lieber eine Lücke im Text. Durch diese Auslassungen und ein­gesprengte christ­liche Reflexionen wird das Buch er­träglich. Das gleich­zeitig in Chile er­schienene Buch ihrer Leidens­genossin Alejandra Merino “Mí Verdad” bildet den Schrecken 1:1 ab. Ob­wohl auch hier die schlim­mste Fol­ter nicht geschildert wird, wird es kaum jemand ohne Erholungs­pausen lesen können.
Anfang 1992 kehrte Arce nach Chile zu­rück und stellte sich in zahlreichen Men­schen­rechtsprozessen als Zeugin zur Ver­fügung. Diese manchmal tage­langen Ge­richts­termine und Gegen­überstellungen mit den Folterern und über­lebenden Ge­fan­genen waren eine wei­tere Aufarbeitung des Gesche­henen. “Die Hölle” beschreibt die meist auftrumpfenden, gelegentlich töl­pelhaften und nur selten reuigen Re­aktionen der DINA`Agenten, von denen der erste Teil des Buches han­delt.
Guerilleros sind keine
eisernen Helden
“Die Hölle” ist nicht nur deshalb ein un­gewöhnliches Buch, weil hier eine Ge­heim­dienstlerin ohne ghostwriter aus­kommt. In Arces Person und Buch kom­men die Perspektiven der Opfer und die der Täter über lange Passagen zur Deck­ung. Berichte über politische Haft sind fast nur aus der Perspektive der Opfer ge­schrieben und neigen dazu, die Täter und ihre Institutionen als nebulöse Monster zu über­zeichnen. Agenten­berichte wiederum sind Knül­ler, die das Leiden der Opfer al­len­falls der Sensation halber einbe­ziehen. Arce deckt eine Verstrickung von Tätern und Opfern auf, die eine dialektische Wahr­heit enthält. Ein Ap­parat wie die DINA konnte den mili­tanten Wider­stand nur zerschlagen, weil die schein­bar perfekt organisierten Unter­grundor­ga­ni­sa­tion­en triviale Fehler mach­ten, weil es In­konsequenz und Indiskretion gab und weil die Guerilleros eben nicht die eisernen Hel­den­figuren waren, für die sie sich selbst hielten. Spiegelbildlich entspricht dieser Entmythologisierung des Unter­grunds die Schwäche der Folterer, ihr Ge­stammel, wenn sie zur Rede gestellt werden, das Klappern der Teetasse in einer Verhandlungspause, das die zit­tern­den Finger eines sich selbstbewußt geben­den früheren Folterers verrät.
Luz Arce ist unfähig zum Haß. Sie weiß von ihren theologischen und thera­peutischen Freunden, daß die Buße vor der Vergebung kommt, daß sie sich ihrer Ag­gressionen gegen die Täter erst bewußt werden muß, ehe sie ihnen verzeihen kann. Sie sucht in ih­rem Buch die Ver­söhnung und bringt sie in religiösen For­meln ins Spiel, ver­gißt aber nie, daß sie sich und den Überlebenden des Terrors, vor allem aber den Angehörigen der “Ver­schwun­de­nen” statt der wohlfeilen Rede von Feindesliebe eine präzise Darstellung des Geschehenen schuldig ist.
Auch wo der autobiographische rote Fa­den des Buches subjektiv wird, bleibt die Autorin der Wahrheit treu. Sie ver­weigert den letzten Schritt, Un­ver­söhn­liches versöhnen zu wollen. Es wäre der deut­schen Ausgabe des Bu­ches gut be­kommen, wenn sie die Ob­jektivität, der sich Arce verpflichtet fühlte, gestützt hätte. Stattdessen wird das Buch in Klap­pen­text, Untertitel und Nachwort als “selbst­analytische Stu­die” und Identitäts­findung ange­boten. Die spanische Aus­gabe konnte mit einigem Recht davon aus­ge­hen, daß Orte, Personen und Ereig­nisse dem Publikum bekannt waren. Die deutsche Ausgabe hätte hier An­mer­kun­gen machen müssen. So wie das Buch nun vor­liegt, bleiben einige Pas­sagen un­verständlich. Ereignisse, die faktisch mit­einander verknüpft sind, stehen isoliert da.
Das Nachwort von Thomas Scheerer be­müht sich, einiges nachzutragen, was im Text hätte angemerkt werden müs­sen. Die Übersetzung, im ganzen ein­fühl­sam, schei­tert an einigen spezifisch chile­nischen Wendungen. Arces Text ist so ge­wichtig, daß er dieses Unge­schick ver­trägt.
Dieter Maier
Luz Arce, Die Hölle; eine Frau im chilenischen Geheimdienst – Eine Au­tobiographie. Mit einem Nach­wort von Thomas M. Scheerer. Aus dem Spani­schen von Astrid Schmitt-Böhringer. Hamburger Edition, Hamburg 1994, 405 S.

Die PT nach der Wahlniederlage

LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müs­sen uns über die heu­tige Si­tu­ation in einem größeren Kontext klar­werden. Sie ist ge­kenn­zeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewe­gungen, auf der anderen Seite durch die Kon­solidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bour­geoisie. Angesichts dieser Situation wach­sen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT be­zeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozial­demokraten zu nennen, das wäre eine Un­gerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stär­kung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die blo­ße Teilnahme an der Regierung, die Sich­erung der Re­gier­barkeit. Natürlich gibt es an­dere Kräfte in der PT. Aber das ist die herr­schende Logik, die einen Konser­vativis­mus produziert, der nur noch die Regie­rungsbeteiligung im Auge hat. In die­ser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung auto­no­mer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt ge­sehen werden? Auch eine Regierungs­beteiligung kann dazu beitragen, die au­tonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Admini­strationen der PT, die sich über “con­selhos populares” (Volksräte) ver­ankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares ver­wirklicht worden? Die PT hat sich dar­auf ver­legt, nur eine gute Verwaltung ma­chen zu wollen. Aber das ist nur das ab­solute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Ver­wal­tung. Gut, Cristovam Buarque, der neu ge­wählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das un­ter­scheidet die PT nicht von irgendeiner demo­kratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirk­lich in die Gefüge der Macht eingreift und al­ter­native politische Erfahrungen er­möglicht. Ich meine nicht, daß eine Re­gie­rungsbeteiligung per se die Stärkung au­to­no­mer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirk­lichkeit nicht für alle regieren, son­dern sich den dominierenden Interessen unter­ordnen. Ich stehe auch den Allianzen ab­lehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundes­staaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalver­waltungen gemacht hat, sind doch viel­leicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Re­formisten sich durchgesetzt haben, son­dern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermei­ster/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle wer­de ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sich­ern, im zweiten, mit dieser Herr­schaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen In­stitutionen in Kon­frontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb die­ser In­sti­tu­tionen. Eine Partei, die Ände­rungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse för­dern. Wenn aber die Frage der Regier­barkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Par­tei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demo­kratische Partei mit sozialem Anlie­gen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der auto­nomen Subjekte in den sozialen Bewe­gungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbun­den. Wer heute entscheidet, das ist der Ap­parat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regie­rungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativi­stischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forde­rungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebig­keit, in der einfach ein Menü für alle Ge­schmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den be­treffenden Teil des Programms genom­men, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zu­sam­men­geführt worden? Den ent­schei­den­den Einfluß hatten einige In­tel­lek­tuelle, die oftmals keine historischen Ver­bin­dungen mit den sozialen Bewegun­gen ha­ben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Ge­sund­heitsversorgung, die Bildung zu ver­bes­sern. Das sagen doch alle. Ein Pro­gramm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jet­zige Programm will die Regierungsfä­higkeit untermauern und nicht eine Dy­namik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es ge­ben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung auf­grund der Vorherrschaft der institutionali­sierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die For­mierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal ha­ben selbst die PT-Mitglieder die Kampa­gne nicht als ihre angesehen. Schwerwie­gend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Nie­derlage. Politisch wurde die PT massa­kriert. Sie konnte kein alternatives politi­sches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundle­gend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundle­gende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Macht­strukturen im Weltmarkt in Erwä­gung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Par­teitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisie­rung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozi­aler Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Si­cher­heitsfragen in ihren Regierungen er­nannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Zie­le werden aufgegeben. Das ist die Kon­sequenz der Logik der Regierungsfä­higkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwind­sucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerk­schaften und die professionalisierten Po­litiker. Schwierig ist es aber, eine funk­tionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der po­litischen Repräsentation, der Stellvertre­terpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Orga­nisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsen­tation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzu­haben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergan­genen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Be­wegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialde­mokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewe­gungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwi­schen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, al­len voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am An­fang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie be­haupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen he­gemonialen Blocks? Sich an der Regie­rung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf ge­gen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokrati­scher Forderungen, wie der nach Direkt­wahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neo­liberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokra­tie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue histo­rische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokrati­schen Kampfes.

Teurer Atomstrom für Rio de Janeiro

Baubeginn für die Frucht des deutsch-brasilianischen Atomvertrags von 1975 war 1983. Dann begann eine scheinbar endlose Geschichte von Verzögerungen, Pannen und Kostenexplosionen. Waren zunächst 1,3 Milliarden US-Dollar veran­schlagt, um Brasilien sein zweites Atom­kraftwerk zu bescheren, so sind es nun 6 Milliarden US-Dollar. Von den bisher be­reits ausgegebenen 4,6 Milliarden US-Dollar entfielen 1,7 Milliarden auf Zins­zahlungen. Daß die teure Bauruine jetzt doch noch zu Ende gebaut werden soll, begründet die Regierung mit den Kosten, die Abriß oder Umwidmung verursachen würden: Die seien genau so hoch wie die Fertigstellung. Die Finanzierung der feh­lenden 1,3 Milliarden US-Dollar wurde unter anderem dadurch gesichert, daß ein Kredit eines deutschen Banken­kon­sor­tiums unter Führung der Dresdner Bank ver­geben wurde. Dieser war ursprünglich für das geplante Atom­kraftwerk Angra3 vorgesehen und wurde nun für den Wei­terbau von Angra2 um­gewidmet. Für die Fertigstellung hatten sich die wie­dererstarkte Atomlobby und Unter­nehmer aus Rio eingesetzt, die in den nächsten Jahren Stromknappheit fürchten. Nach der Fertigstellung von Angra2 wird der Bun­desstaat Rio de Janeiro 30 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken be­ziehen.
Umweltgruppen, allen voran Green­peace hatten im letzten Jahr versucht, die drohende Fertigstellung von Angra2 zu verhindern. Aber in der aktuellen po­litischen Diskussion, geprägt von neoli­be­raler Wende, Inflationsbekämp­fung und Gewalt, blieb die Frage der Atomkraft nur ein Randthema, das ledig­lich eine Hand von SpezialistInnen be­wegt. Hinzu kommt, daß in der Linken keineswegs Ei­nigkeit zu diesem Thema herrscht. In der PT gibt es starke Strö­mungen, die mit na­tionalistischen Argu­menten die Kern­kraftoption für Brasilien verteidigen. Auch der PT-Bürgermeister von Angra hat sich keineswegs als Vor­kämpfer gegen die Kraftwerke profiliert.
Im übrigen ist Angra ein gutes Beispiel für den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis im neoliberalen Diskurs. Eine Megawattstunde Strom von Angra2 soll nach bisherigen Berechnungen 120 US-Dollar kosten, dreimal mehr als die durchschnittlichen Kosten von 40 US-Dollar. Da Furnas aber nur den normalen Strompreis berechnen kann, wird der Rest von der Regierung übernommen. Für die Privatisierung von Angra2 hätten sich wohl kaum Kandidaten gefunden.
Die Projekte in Angra überbieten noch den normalen Wahnsinn der Atomenergie. Sie sind an einer der schönsten Küsten Brasiliens errichtet, mitten in einer Region voller kleiner Buchten und Inseln mit un­zähligen Traumstränden. Bisher gehen die PlanerInnen wohl zu Recht davon aus, daß den meisten TouristInnen die Nähe zum Atomkraftwerk herzlich gleichgültig ist. Aber ein Unfall schon weit unter der Schwelle eines GAUs kann eine solche Einstellung schnell ändern. Zudem haben die PlanerInnen die Kraftwerke an einer erdbebengefährdeten Stelle erbaut.
Für eingefleischte RealpoltikerInnen kann aber doch eine Erfolgsbilanz gezo­gen werden: Ursprünglich waren im deutsch-brasilianischen Atomvertrag acht Kraftwerke vorgesehen. Die Umwidmung der Kredite von Angra3 auf Angra2 deutet darauf hin, daß selbst die BetreiberInnen zur Zeit keine Möglichkeiten sehen, wei­tere Atomkraftwerke in Angriff zu neh­men. Aber immerhin, mit Angra2 halten sie die Atomenergieoption für Brasilien offen. Auch die AtomkraftgegnerInnen haben nicht ganz aufgegeben. Zur Zeit wird sondiert, wie mit juristischen Mitteln die Inbetriebnahme vielleicht doch noch verhindert werden kann. So entspricht der Katastrophenplan nicht den atomrechtli­chen Anforderungen der brasilianischen Gesetzgebung. Ein funktionierender Kata­strophenplan, so sagen die KritikerInnen, ist aber praktisch unmöglich.

(Zahlenangaben nach Jornal do Brasil vom 13.12.1994)

Wasmosy in Bedrängnis

In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Par­teiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, ver­trieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: De­mokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes ge­wählt, der Ingenieur Juan Carlos Was­mosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenos­sen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrie­ben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Stau­dammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich un­glaub­würdig, wenn es um die Demokrati­sierung des Staates und die Reform des Jus­tiz­wesens geht. Wasmosy ist sicherlich der fal­sche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lip­pen­bekenntnisse verhallen un­be­ach­tet.
Positive Veränderungen gibt es den­noch: Neben der Justiz- und Verfassungs­reform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogen­handel ein Thema: Dutzende von kokain­beladenen Flugzeugen, die von den An­denländern nach Rio und Sâo Paulo un­terwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transak­tionen unermeßliche Reichtümer ange­häuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten be­wacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständli­cherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Trans­formation der ungleichen paraguayi­schen Gesellschaft wird von vielen wis­sentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staats­betriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöff­net. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Brutto­sozialpodukt der vier Länder nur ein Pro­zent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkrimi­nalisierung des Schmuggels und zur Ver­ringerung des Autodiebstahls in den Mit­gliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich ver­antwortlich war, und der generalstabs­mäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die in­dustrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industri­eller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Reali­tät nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen kon­stant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen ver­unsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maß­stäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermorde­ten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu sei­nem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tra­dition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internatio­nalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.

Kasten:

Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Süd­amerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, be­sonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhen­unterschiedes zu ermögli­chen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. An­scheinend waren tau­sende Surubís, Dorados und andere Tropen­fische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Ein­weihung des Staudam­mes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Drei­zehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insge­samt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, er­wachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der be­reits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Ver­trag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich ge­lassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung sol­cher ge­waltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Auf­stauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinander­gebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhun­derts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vor­ausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauch­bar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies frü­her, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leis­hmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeb­lich schön­sten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayi­schen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Men­schen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Para­guay umge­siedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encar­nación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlun­gen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorge­gangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbe­zahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohne­hin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit sei­nen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Para­guay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatrioti­schen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wun­der der hydro­elektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staats­mann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fer­tigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen bei­den Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies

Como sempre

Wenn es um Eigentumstitel für Lände­reien geht, sitzen die Brasilianischen Großgrundbesitzer bekanntlich am länge­ren Hebel. Da nutzt es nichts, wenn der Boden seit Jahrhunderten indianisches Gebiet ist. Daß selbst die Indianerbehörde FUNAI (FUNDACAO NACIONAL DO INDIO) nicht gegen die Lokalmatadoren und Provinz­fürsten ankommt, zeigen die jüngsten Beispiele im Bundesstaat Maran­hao in Nordbra­silien.
Per Dekret vom 8.7.1992 wurde ein 147.000 Hektar großes Gebiet rund um die Stadt Montes Altos zur “área indi­gena” – zu indianischem Gebiet – erklärt. Als Mitte Dezember 1994 die Landver­messer kamen, um das Territorium der Krikati zu sichern, kam es nicht nur zu Protesten der Großgrundbesitzer, sondern auch zu Sabotageakten, direkter Behinde­rung, Handgreiflichkeiten und Morddro­hungen. Die Fazendeiros können dabei auf die Unterstützung der Lokalpolitiker zählen. Sogar die Landarbeitergewerk­schaft steht auf der Seite der Eindringlinge – schließlich müßten die Landarbeiter sich im Falle der Abgrenzung eine neue Par­zelle suchen.
Ähnliches ereignet sich in den unab­hängigen Gebieten der Awá in der Gegend von Igarapé. Bundessoldaten, die zum Schutz der Markierungsarbeiter ge­schickt wurden, zogen nach einiger Zeit wieder ab, ohne daß die Vermessungs­trupps ihre Arbeit abgeschlossen hatten. Die Groß­grundbesitzer sehen sich als rechtmäßige Eigentümer der 120.000 Hektar großen Ländereien, die sie seit mehreren Genera­tionen kontrollieren. Ihre Eigentumstitel wurden zwar gerichtlich für nichtig er­klärt, was die Großgrundbe­sitzer jedoch nicht davon abhält, sich als rechtmäßige Eigentümer zu betrachten. Der Wider­stand der Fazendeiros gegen die Abgren­zung der indianischen Gebiete war vor­programmiert. Hatte die FUNAI wirklich erwartet, daß sie sich einfach zu­rückziehen? Solange die Aufgabe der In­dianerbehörde nur darin besteht, indiani­sches Land auszuweisen und abzumessen, ohne garantieren zu können, daß die Ge­biete respektiert werden, ist sie noch weit davon entfernt, die Rechte der IndianerIn­nen zu stärken.

“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”

Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir war­nen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Ze­dillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir se­hen auch, daß er zur gleichen Zeit die Li­nie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaff­neten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und sei­nen tatsächlichen Ursachen nicht entge­gentrat, sondern stattdessen die Zeit ver­streichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen ge­haßten Gouverneuren stand. Auf der ande­ren Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mo­bilisierung herbeiführen und die Stim­mung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Inter­esse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisie­rung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drän­gen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Ge­schichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was pas­siert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlas­sen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Di­stanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schief­geht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entneh­men, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Ja­nuar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politi­sche Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie wa­ren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und tru­gen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müs­sen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waf­fen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu ma­chen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zu­rückkehren. Wir können die Kämpfer­Innen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesse­lung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhal­ten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillu­sionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die glei­chen sozialen Klassenstrukturen, der glei­che Rassismus, die gleiche Regierungs­struktur und die gleichen radikalen Dis­kurse neben reaktionären Praktiken. Des­halb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebro­chen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur za­patistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewe­gung. Die sozialen Strukturen im mexika­nischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Mo­dernisierung Mexikos müßten zwei Sekto­ren geopfert werden: Entweder die indi­gene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hin­sicht ein Hindernis für jedwede Refor­mentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen be­gleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammen­ge­faßt, Freiheit, Demokratie und Gerech­tig­keit für alle MexikanerInnen. Das for­der­ten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs ver­ändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlan­gen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regie­rung der PRI noch koexistieren und ver­handeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rech­nungen, die auf vielen Ebenen zu kassie­ren sind. In Chiapas schafft sie die Ver­bindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik er­halten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnun­gen auf allen Ebenen, die es in der Regie­rung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwin­gen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejer­cito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Ak­tion zu machen. Wenn wir dies so bewer­tet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht ein­mal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Ab­surdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dia­log.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhal­tensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß je­mand anderes kommt. Dann reden wir.

Aus den Bergen des mexikanischen Südostens

Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisie­rung des nationalen Lebens kämp­fen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREI­UNG auf, die die Nationale Demo­kratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unab­hängig von reli­giöser Überzeugung, Abstammung oder politi­scher Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Über­gangsregie­rung, für eine neue Verfas­sunsversammlung, für eine neue Verfas­sung und für die Zerstörung des Systems der Staats­partei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konven­tion und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die Lehrer­Innen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konse­quenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organi­sationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokrati­schen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei ange­hören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vater­land entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Le­galität, die Legitimität und die Sou­veränität im gesamten natio­nalen Terri­torium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Ver­fas­sung der Verei­nigten Mexi­kanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Ge­setze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Re­gionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversamm­lung zu­sammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Aner­kennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die ver­schiedenen Gemeinden, sozialen und poli­tischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie auf­grund von Krieg und Bürgerkrieg müs­sen das Recht auf Asyl begründen. Flucht auf­grund von Armut, welche die in der All­ge­mei­nen Erklärung zu den Menschen­rech­ten festgeschriebenen Mindeststan­dards ei­nes menschenwürdigen Lebens ver­letzt, muß als Asyl­grund anerkannt werden.

4. Deserteure und Kriegsdienstver­wei­gerer aus Kriegs- oder Bürger­kriegs­gebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.

5. Die Länder Europas werden auf­ge­for­dert, Flüchtlinge und Asylsu­chende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaub­würdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, re­gionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Über­gangsregierung soll zu neuen all­gemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungs­versammlung für die Schaffung ei­ner neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verän­dert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt wer­den. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die Hauptprodu­zentInnen des Reich­tums sind, den sich jedoch andere aneig­nen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”

Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.

Ya basta!

Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unter­drückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand mar­kier­te zugleich den Beginn der “ersten Revo­lution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeinde­landes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das To­des­urteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses To­desurteil wollen die Indígenas nicht hin­nehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr ge­duldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbst­ver­sorgung mit Grundnahrungsmitteln, weg­genommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das wider­spricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indiani­schen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum ge­rechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Natio­nalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Be­we­gungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Han­deln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdek­ken. Sie sind nicht mehr anonyme Zu­schauer, sondern werden so mutige Ak­teure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist auf­gebrochen in die­sem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Ver­gessen des Vaterlandes gegen­über seinen ursprünglichen Be­wohn­ern, auch das ri­gide Schema einer Linken, die darin ver­haftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der Zapati­stInnen-Aufstand auch die “erste Revolu­tion des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die so­weit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-mi­litärisches Avantegardekonzept und blie­ben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wach­sen, sondern in eine Explosion mün­den, die ein festgefügtes, hartes, gewalti­ges, monströses Land bis in seine Grund­festen erschütterte – Mexiko. Sie ver­mochte dies, weil sie entgegen aller Re­geln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Den­ken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskol­lektiv aus mehreren Lateinamerika-Solida­ritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu er­stellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Inter­views, Reportagen, Analysen und ei­nem Fotoessay. Ebenso werden Wider­sprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der me­xi­kanische Journalist Hermann Bel­linghausen als “Paradoxon” charakteri­siert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Ana­lysen der mexikanischen Realität, die Anek­doten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volks­organisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde ge­lebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen ster­ben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Bri­se, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Ge­schichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”

Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM

Eine neue Literaturgeschichte

Das Vorhaben, eine Literaturgeschichte des noch nicht zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu schreiben, bringt einige Pro­bleme mit sich. Da ist zunächst die Unmenge an AutorInnen und Büchern, aus der irgendwie ausgewählt werden muß, mit dem Ziel, den Rahmen eines Ta­schenbuchs nicht zu sprengen. So­dann stellt sich die Frage, wie diese Auswahl zu ordnen, wei­ter, wie mit den “Rändern” umzugehen sei, man denke an Autor­Innen, die in Nordamerika oder Europa leben und teilweise in anderen Sprachen schreiben. Und nicht zuletzt ist es heikel, die persönlichen Vorlieben und Vorbe­halte zugunsten einer halb­wegs objektiven Darstellung zurückzuhalten, die den Le­serInnen möglichst viele Freiräume bei der eigenen Lektüre läßt.
In seinem Vorwort geht Strosetzki auf diese Probleme ein und stellt die Prinzi­pien dar, nach denen er das Buch ge­schrie­ben und an die er sich durchgängig gehalten hat.
Die Auswahl der SchriftstellerInnen folgte dem Grundsatz, daß ihre Bedeutung in der Literaturwissenschaft Lateinameri­kas und Europas weitgehend unumstritten sein soll. Die Verkaufs­zahlen in deutschen Buchläden spielen dabei keine Rolle, denn viele AutorInnen gerade der ersten Jahr­hunderthälfte wurden und werden hier – im Gegensatz zu Amerika – kaum gelesen. Ander­er­seits geht Strosetzki nur vorsichtig auf Werke des letzten Drittels des Jahr­hunderts ein, da ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft oft noch nicht abzu­sehen ist. So ist zwar Isabel Allende aus­führlich, Gioconda Belli jedoch nur knapp erwähnt, und der hierzulande häufiger ge­spielte chile­nische Dramatiker Ariel Dorf­man fehlt ganz. Das bedeutet auch, daß un­bekanntere Autoren vor allem Mit­tel­amerikas und der Kari­bik keine Auf­nahme fan­den. Aber vielleicht ist das die Auf­gabe einer Literaturgeschichte, die in 20 Jah­ren geschrieben wird.
Strosetzki geht länderweise von Nord nach Süd vor, stellt je­doch Nicaragua (mit dem modernismo bei Rubén Darío) und Guate­mala (mit dem magischen Realis­mus bei Miguel Angel Asturias) an den An­fang. Tatsächlich macht die Einteilung nach Län­dern hier mehr Sinn als die tradi­tion­elle chronologische. Beson­ders deut­lich wird das dadurch, daß Strosetzki je­dem Kapitel einen knappen, ein- bis zwei­sei­tigen Geschichtsabriß voranstellt. Die The­menwahl vieler AutorInnen wird da­durch verständlicher, etwa die mexikani­sche Revolutionsliteratur oder die argenti­nische Gaucho-Literatur. Wo die Themen sich nicht auf die Ländergeschichte bezie­hen lassen, erzwingt er nichts, und die viel­fältigen Verflechtungen innerhalb La­tein­amerikas wie auch die Beziehungen zu Eu­ropa bleiben nicht unberücksichtigt.
Bei den erwähnten “Rändern” gilt – mit Aus­nahmen – die Regel, daß diejenigen AutorInnen erwähnt werden, die auf Spa­nisch beziehungsweise Portugiesisch schreiben. Genauso bleiben europäische Autoren völlig unberücksichtigt, die in Lateinamerika lebten und über lateiname­rikanische Themen schrieben, wie Anna Seghers oder B. Traven. In formaler Hin­sicht findet die testimonio-Literatur eines Miguel Barnet genauso Platz wie die Es­sayistin Elena Poniatowska und die dezi­diert historiographischen Werke Eduardo Galeanos.
Wichtig zu erwähnen ist noch der An­hang. Zunächst werden fremdsprachige Zi­tate übersetzt, wobei leider einige feh­len; für das Verständnis mancher Passa­gen ist das eine empfindliche Lücke. Da­ran schließt sich eine Liste besonderer Art: In alphabetischer Reihenfolge hat Strosetzki alle erwähnten Werke aufge­führt und die Titel übersetzt. Ist das Buch auf Deutsch erschienen, steht der entspre­chende deutsche Titel. Wenn der jeweilige Ti­tel jedoch nicht wörtlich übersetzt wurde, fügt er eine entsprechende Über­set­zung an. Beispielsweise heißt es da: “El siglo de las luces (Alejo Carpentier); in deutscher Fassung: Explosion in der Ka­thedrale; deutsch wörtl. [Das Zeitalter der Aufklärung]”.
Was für ein Buch liegt uns nun vor? Strosetzki schrieb eine “kleine” Literatur­geschichte. Sie reicht nicht aus, wenn es um Details im Werk eines Autors geht und kann die übrige Sekundärliteratur nicht ersetzen. Wenn er “Hundert Jahre Ein­samkeit” zwei thesenartige Seiten wid­met, kann das nicht befriedigend über den Rom­an Auskunft geben, und das Fehlen von Carlos Fuentes’ frühem Mei­sterwerk “Aura” mag schmerzen.
Was das Buch leistet, und zwar in vor­bildlicher Weise, ist ein gut lesbarer Überblick. Die AutorInnen werden nicht lexikon­ar­tig aufgelistet, sondern ihre the­matischen und stilistischen Zusam­men­hänge werden – manchmal artistisch – be­nutzt, um einen fortlaufenden Text zu schreiben, der von Lai­en und Fachleuten glei­chermaßen zum Nachschlagen wie zur Bett­lektüre verwendet werden kann.

Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der la­teinamerikanischen Literatur im 20.Jahrhundert, Beck’sche Reihe, München 1994, 360 S., 24.- DM.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

“Nenn nie Chiquita nur Banane!”

“Profanes und Heiliges, Ge­schmack­loses und Hintergründiges, Albernes und Gewitztes in einem wun­derlichen Bana­nengarten vereint”, verspricht das Haus der Kulturen der Welt in seinem Programm­heft. Ge­meinsam mit einem Frank­furter Jour­nalisten und Bananen-Samm­ler namens Wulf Goebel sind rund 600 Kunstba­nanen und Bananenkunst-Objekte zusammenge­tra­gen worden. Ziel sei, so Goebel, “der Banane das zurück­zuge­ben, was sie seit alters her hat: KULTUR.”
Um die Spur der Banane durch Zei­ten und Kontinente aufzuzeigen, reiht sich Objekt an Objekt: Bananenstau­den auf jahrhundertealten Seidenma­lereien aus China und Südkorea, Ra­dierungen euro­päischer Forscher aus dem 18. Jahr­hundert, die die kuriose gelbe Frucht minutiös abbilden, kolo­rierte Postkarten von kolonialen Bana­nenplantagen und -märk­ten, Werbeta­feln aus Emaille und Bana­nenimitate aus Pappmaché und Wachs, die An­fang dieses Jahrhunderts euro­päische “Kolonialwarenläden” zier­ten. – Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Banane in einigen Ge­bie­ten der Welt vom exotischen Luxus­artikel zum weit verbreiteten Nahrungs­mittel wurde.
Früchte, die die Welt verän­dern…
Viele unserer Landsleute halten die Kartoffel für ein sehr deutsches Ge­wächs, obwohl diese erst vor wenigen Jahr­hunderten aus Amerika nach Eu­ropa ge­bracht wurde. Ähnlich geht es wahr­scheinlich vielen Lateinamerika­ner­Innen mit einem ihrer alltäglichen Nah­rungs­mittel, der Banane. Ur­sprüng­lich aus Asien stammend, ge­langte die gelbe Frucht durch arabi­sche Kaufleute zunächst nach Afrika, bevor sie nach einem Um­weg über die Kanarischen Inseln erst An­fang des 16. Jahrhunderts von den portu­giesi­schen Eroberern nach Panama ge­bracht wurde. Mittlerweile zählen ins­be­sondere die zahlreichen Kochbana­nen­arten in Lateinamerika zu den wich­tigsten Nah­rungsmitteln. Die riesigen Monokul­turen mit Süßbananen für den Export ent­wickelten sich in diesem Jahrhun­dert in ei­nigen Ländern zum dominie­renden Fak­tor in Wirt­schaft und Politik, was einigen mittel­amerikani­schen Staaten das berüch­tigte Etikett “Bananen­republik” auf­drückte.
Als Ende des 19. Jahrhunderts die US-amerikanische “United Fruit Com­pany” in Pa­nama ihre erste große Ba­nanenplantage gründete, war die gelbe Frucht sowohl in Nord­amerika als auch in Europa noch ziem­lich unbe­kannt. Eine winzige Ladung von zwölf Büscheln Bananen, die 1902 in Bre­men eintraf, konnte nur schwer ver­kauft werden. Einer der Gründe, die lange Zeit den Import erschwerten, waren die man­gelnden technischen Möglich­keiten, die Früchte beim Transport zu kühlen. Daran scheiterten auch Be­mühungen der Deutschen, aus ihren eigenen Kolonien – ins­besondere aus Kamerun – Bananen ein­zuführen. Erst 1910 verkehrten die ersten Dam­pfer mit Kühlmaschinen zwischen den Ka­na­rischen Inseln und Europa. Von da an stiegen die Bananenimporte aus den süd­lichen Ländern nach Europa in ra­san­tem Tempo: 1937 wurden 146 800 Ton­nen Bananen ins Deutsche Reich expor­tiert, 1973 bezog die Bundesre­publik be­reits mehr als das Vierfache, nämlich 700.000 Tonnen. Im Gegen­satz zu an­deren exoti­schen Früchten ist die Banane mit extrem nie­drigen Zöllen belegt und so­gar billiger als viele einheimische Pro­dukte. Nach und nach vertrieb das krum­me Frücht­chen den Apfel vom Rang als Lieb­lingsobst im bundesdeutschen Wohl­stands­paradies.
“Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Aber damit war der Höhepunkt noch nicht erreicht. Der kam erst mit dem Fall der Mauer, als die Banane nicht nur zum lang entbehrten Gau­menschmaus der Ost­deutschen wurde, sondern zum Kult­objekt, zum verhei­ßungsvollen Fetisch des hem­mungslo­sen Konsums. Die Ausstel­lung doku­mentiert die Auswüchse der da­ma­ligen Bananeneuphorie, die auch zum bil­ligen geistigen Nährstoff für satirische Er­güsse westdeutscher Spöt­ter wurde. So po­sierte eine fiktive “Zonen-Gaby (17) im Glück”, nämlich “mit ihrer ersten Ba­nane”, auf dem Titelbild der Zeitschrift “Titanic”. “Birne zaubert” als Bananen­jongleur im handlichen Daumen­kino, der “ge­heime Stasi-Schatz” ist natürlich als rie­siges Bananen­depot dar­gestellt. “Jetzt wächst zusammen, was zusam­men­gehört”, höhnte Klaus Staeck und zeichnete eine Ba­na­nenschale, aus der eine fette Fleisch­wurst quillt.
Die Banane wurde als Inbegriff neu­deutschen Spießertums verwurstet, als infla­tionäres Symbol der Wiederverei­nigung als deutsch-deutsche Bana­nen­re­publik. Den absurden Wider­spruch zwi­schen Bananenkult und Ausländer­haß bringt ein Graffiti auf den Punkt: “Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Auf den “Schlachtfeldern” des brasi­lianischen Malers Antonio Henrique do Ama­ral wird die Banane auf ganz andere Art und Weise zur politischen Metapher: Seine Serie von sieben hy­per­realistischen Öl­bildern, die während der brasilianischen Mili­tärdiktatur ent­stand, zeigt von Gabeln durch­bohrte und zerquetschte, von Strik­ken stran­gulierte Bananen. Das in den Far­ben Brasiliens gemalte gelbe, grüne und zuweilen blutrote Fruchtfleisch, die bajonett- oder gitterartigen Metallfor­ken er­weck­en Assoziationen an Ge­fängnis und Folter.
Das obskure Objekt der Begierde
Warum regt ausgerechnet die Ba­nane die Phantasie von Kunst- und Kommerz­schaf­fenden an? Allein am exo­tischen Image kann es kaum liegen, denn dann hät­ten ja auch die Zitrone oder die Ananas recht gute Chancen. Den heimischen Ap­fel hat sie ja, wie bereits erwähnt, schon längst in vieler­lei Hinsicht aus­gestochen. Zwar nann­ten immerhin noch die Beatles ihre Plattenfirma “Apple”. Doch hatte die­ses Symbol, wenn wir der Aus­stellung glauben, längst nicht so weit­reichende Wirkungen wie die Banane, die Andy Warhol für das Plattencover seiner Freun­de von “Velvet Underground” ent­warf. Seit­dem wimmelt es von Ba­nanen und Bana­nenschalen auf den LP-Hüllen und Tourneeplakaten von Leonard Cohen, Chris Rea, “Banana Rama” und wie sie auch heißen mö­gen. – Aber eigentlich fing ja alles schon viel früher an, nämlich in den zwanziger Jahren mit Josephine Bakers neckischen Bananenröckchen oder später mit Harry Belafontes “Banana Boat”-Song.
“Wenn wir die Banane richtig be­trach­ten, wird sie schnell zu einem mysteri­ösen, fast beunruhigenden Ob­jekt”, meint Vilem Flusser, der im Pro­grammheft als “nam­hafter Philosoph unserer Zeit” aus­gewiesen wird. Liegt vielleicht in der phal­lischen Form der geheimnisvollen Frucht der Schlüssel zum tieferen Ver­ständnis des Bananen­kultes? – Die Aus­stellung präsentiert das Pin-Up für Schwule – Bananen­büschel als provoka­ti­ves Feigenblatt über kräftigen Lenden – das Werbe­plakat für “Hot Rubber-Kon­do­me”, deren Funktion am Objekt einer wehr­losen Banane demonstriert wird, und Ero­tik­büchlein mit geschmack­vol­len Titeln wie “Die Kunst, Bananen zu schälen”.
Bananeneintopf – Genuß ohne Reue?
Der schwarze Transvestit, die dicke schwar­ze Frau, das junge schwarze Mo­dell auf der Chiquita-Reklame – sie alle tra­gen auf den Fotos exotische Bananen­röck­chen und lächeln uns freund­lich und zu­traulich an. Wir lächeln zurück und gehen weiter zu den anderen Ausstel­lungsgegenstän­den, den unzähligen Ku­scheltieren, Scherz­artikeln, Schlüssel­an­hängern, Aschen­bechern, Haarspangen und Lampenschirmen – alles Banane. Für jeden modernen Geschmack ist etwas da­bei. Eine Ausstellung für die ganze Familie. Die Kinder drücken sich stau­nend die Nasen platt an den Vitrinen mit den süßen, poppigen Gegenstän­den oder kön­nen sich noch mal auf Video High­lights aus Walt Disney`s Dschungelbuch rein­ziehen. Für wis­sens­hungrige Erwachs­ene gibt es in ei­ner Ecke zumindest ein paar kritische Videos zu den Anbaubedingungen von Bananen.
“Die Ausstellung dient dem Lachen, dem Lernen, dem Genießen und manch­mal auch dem Wundern”, so die Organi­satorInnen vom Haus der Kul­turen der Welt. Bewußt wurde, laut Anna Jacobi, zu­ständig für Öffentlich­keitsarbeit, auf Tafeln mit detaillierten Hinter­grund­informationen oder gar Kom­men­taren ver­zich­tet. Wenn sich gesellschaftliche Be­züge nicht gerade aufdrängten, wie etwa bei dem Thema Wiedervereinigung, wur­de gar nicht erst versucht, Zusammen­hän­ge herzu­stellen. Dabei wäre es bei­spiels­weise interessant gewesen, das Ver­hältnis zwischen Bananenkult, Exotis­mus und ras­sistischen Stereotypen et­was genau­er unter die Lupe zu neh­men. Wie kommt denn die schwarze Frau im Bana­nen­röckchen auf die Chiquita-Reklame?
Sollte derart schwere Kost dem Aus­stel­lungspublikum nicht zugemutet wer­den? – Auch wenn die Bananen­speise in reich­haltigen aufeinanderfol­genden Gän­gen serviert wurde – Geschichte, Kunst, Pop, Kitsch usw. – kam ich aus der Aus­stel­lung mit dem Grundgeschmack heraus, einen etwas undefinierbaren Eintopf im Magen zu haben.

“Alles Banane” noch bis zum 20. Februar im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Tel. 030/ 397870

Basso-Tribunal verurteilt Asylpolitik der europäischen Staaten

Die internationale Jury, der unter an­derem der türkische Schriftsteller Aziz Nesin, die israelische Rechstan­wältin Fe­licia Langer, die malawische Menschen­recht­lerin Vera M. Chirwa und Günther Wall­raff angehörten, sprach die europäi­schen Staaten schul­dig, “durch ihre Asyl­politik die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen (…) systematisch und wie­derholt ver­letzt zu haben”. Dieses Urteil war die konse­quente Schlußfolgerung und der dra­maturgische Abschluß der viertägi­gen umfassenden Auseinandersetzung mit der europäischen Asylpolitik.
Daß eine Kritik an der offiziellen Asyl­politik nicht erwünscht ist, war im Vorfeld des Tribunals deutlich gewor­den. Ähnlich wie das Bundesinnenmi­nisterium lehnten auch das Bundesju­stizministerium, meh­rere Länderin­nenministerien, die EU-Kom­mission und die Parteien, die hinter der Grund­gesetzänderung stehen, die Ent­sen­dung eines Verteidigers ab. Der kon­ser­vative Asylrechtsexperte Kay Hail­bronner ließ gar wissen, daß er für einen “Schauprozeß” à la Ostblock nicht zur Ver­fügung stehe.
Die Bundesregierung verhindert Un­terstützung
Auch bei der Finanzierung durch den Grünen-nahen Stiftungsverband Regenbo­gen/Buntstift machte die Re­gierung von ihrem Vetorecht Ge­brauch. Nachdem Bunt­stift am Jahres­anfang bereits einen Zu­schuß gewährt hatte, verhinderte das Aus­wärtige Amt (AA) eine weitere Förde­rung des Tri­bunals aus einem Finanztopf, dessen Mittelvergabe der Zustimmung des Ministeriums bedarf. Unter Hinweis auf 23 der Bundeshaushaltsordnung heißt es in einem Brief des AA vom 3.11.1994: “Es liegt nicht im Interesse des Bundes, eine Veranstaltung zu fördern, bei der die Bundesrepublik Deutschland und be­freundete europä­ische Länder in einer auf große Öf­fentlichkeitswirkung angelegten, ein­seitigen (von einer Vorverurteilung ausgehenden) gespielten Gerichtsver­hand­lung wegen ihrer Asylpolitik auf die An­kla­ge­bank gesetzt werden.”
Der Ablauf des Tribunals zeigte dann, daß es keineswegs um eine pau­schale und undifferenzierte Kritik der herrschenden Asylpolitik, sondern um eine umfassende und detaillierte Be­gutachtung der europäischen Asylpo­litik ging. Von einer Vorverurteilung könne keine Rede sein, sagte die öster­reichische Publizistin Freda Meissner-Blau als Jury-Mitglied vor der Eröff­nung des Tribunals. Allerdings sei “das Tribunal insoweit parteilich, daß es sich den Rechten von Flüchtlingen und ei­ner humanen Asylpolitik ver­pflichtet” fühle, und nicht die Erwä­gungen von Re­gierungen übernehme, die eine Abschot­tungspolitik betrei­ben. Die britische Rechtsanwältin Frances Webber, die die Anklageseite vertrat, warf den europäi­schen Staaten vor, mit ihrer Abschot­tungspolitik die humanitären Ideale preis­zugeben, die der Genfer Flüchtlingskon­vention und der Allgemeinen Menschen­rechts­er­klärung zugrundeliegen. Damit be­gin­gen sie “nicht nur Verrat an den Flücht­lingen, sondern auch an den Völkern Europas und der Welt – und an der Demokratie selbst”. Im Rahmen von Länder­berichten (zu Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz) und den Aus­sagen von Be­troffenen, die im Zuge ihres Asylver­fahrens oder durch die Ab­leh­nung ihres Asylantrags in ihren Rech­ten verletzt wurden, entstand auf dem Tri­bunal ein breites und facettenreiches Bild der vielfältigen Negativfolgen der euro­päischen Asylpolitik für Flücht­linge. Neben den häufig unüberwind­baren Hür­den, zu einem Asylverfahren Zugang zu be­kommen und den oft menschenunwür­digen Bedingungen, denen Flüchtlinge in den europäischen Aufnahmeländern un­terworfen sind, stand bei den Zeugenaus­sagen auch die Situation in den Her­kunftsländern im Vordergrund.
In Spanien zusammengeschlagen
Die Lage in den lateinamerikani­schen Staaten kam in den Aussagen der beiden ZeugInnen aus Spanien zur Sprache. Die kolumbianische Rechts­anwältin Clara Eu­genia Valencia war in ihrem Heimatland für eine Men­schenrechtsorganisation tätig, die sich um die Aufklärung des Schicksals po­litisch Verfolgter und “Ver­schwun­de­ner” kümmert. Auf­grund ihrer Arbeit er­hielt sie Mord­drohungen. 1989 verließ sie Ko­lum­bien und bean­tragte in Spanien Asyl. Im Asylverfahren erfuhr sie die büro­kratischen und rechtli­chen Hürden der spanischen Asylpraxis, da von ihr verlangt wurde, ihre gesamte politi­sche Arbeit und die erhaltenen Dro­hungen nach­zuweisen. Der zweite spani­sche Zeu­ge, Miguel Inocente Ro­das, war An­ge­hö­ri­ger der peruanischen Streitkräfte. Er de­ser­tierte, nachdem er Drohungen von Sen­dero Luminoso er­hielt und in seinem Stadt­teil mehrere Regierungssoldaten von Sendero um­gebracht wurden. Als Deser­teur wurde er daraufhin von staatlicher Seite ver­folgt und floh 1987 nach Spanien. Während sein Asylverfahren noch lief, wurde er gemeinsam mit seinem Bru­der bei einer “routinemäßigen” Aus­weis­kon­trol­le von spanischen Polizi­sten zusam­men­geschlagen und festge­nommen. Auf der Polizeiwache wurde er so schwer miß­handelt, daß er län­gere Zeit im Kran­kenhaus lag. Doch obwohl sein Fall von den spanischen Medien und von amnesty in­ternational aufgegriffen wurde, sind die Polizi­sten, die ihn mißhandelten, bis heute nicht verurteilt.
Fluchtursachen in den Herkunftslän­dern
In ihren Gutachten hatten der Öko­nom Elmar Altvater ausführlich die ökonomi­schen und sozialen Fluchtur­sachen darge­stellt, und der Soziologe Oskar Negt über die Einschränkung der sozialen Rechte von Flüchtlingen in den Aufnahmeländern und den Mißbrauch der Fremden als Sün­denböcke für die gesellschaftli­chen Pro­bleme in Westeuropa kritisert. “Von drei­ßig Möglichkeiten, einer Ge­fahr zu ent­kommen, ist Wegrennen die beste”, zi­tierte der Sozialwissen­schaftler Kum’a Ndumbe aus Kame­run, der über die Ursa­chen von Ar­mutsflucht und Süd-Nord-Mi­gration referierte, ein chinesisches Sprich­wort. Dabei wies er darauf hin, daß von denen, die diesem Satz folgend bei­spielsweise aus Afrika “wegrennen”, nur die allerwenigsten in Westeuropa ankom­men. Der größte Teil der Flücht­linge blie­ben in den ärmeren Weltre­gionen. An den Ursachen der Flucht und an der Mitver­ant­wortung der europäischen Staaten än­dere indes die Abschottungspolitik Euro­pas nichts.
Die Verteidiger im Rollenkonflikt
Der linke Kieler Rechtsanwalt Thomas Jung, der sich als Pflichtver­teidiger zur Ver­fügung gestellt hatte, fand sich im Ver­lauf des Tribunals immer mehr in seine Rolle hinein. Während er anfangs im­mer wieder – entschuldigend – darauf hin­gewiesen hatte, daß er persönlich nicht die regie­rungsoffiziellen Positionen teile, ge­lang es ihm in seinem Abschlußplä­doyer durchaus profiliert, die Argu­mentation der europäischen Staaten deut­lich zu machen. Die nachgewiese­nen Men­schenrechtsverletzungen in den ver­schiedenen Bereichen der europäischen Asyl­politik bezeichnete er als Einzelfälle. Eine “systematische Verletzung von Men­schen­rechten” wollte er für seine Man­danten nicht gelten lassen. Die europäi­schen Staa­ten würden vielmehr die Ver­pflich­tun­gen der Genfer Konvention be­jahen. Gezielte Zugangsbeschränkun­gen be­zeichnete er aus der Sicht der ange­klagten Regierungen als notwendige Maßnahmen, “um politisch Verfolgten wei­terhin Schutz gewähren zu kön­nen”.
Einundzwanzig Forderungen für eine humane Asylpolitik
Das Urteil wurde schließlich in zwei Nachtschichten fertiggestellt und am 12. Dezember 1994 im Schöneberger Rathaus verkündet. Es beschränkt sich nicht dar­auf, die europäischen Staaten für die Ver­letzung der Rechte der Flüchtlinge zu ver­urteilen, sondern macht die Regierungen auch für die Rechtsverletzungen durch nachgeord­nete Behörden und Vollzugsor­gane verantwortlich. Für die aus solchen Rechts­verletzungen entstandenen Schäden wird den Asylsuchenden und Flüchtlingen im Urteil ein Anspruch auf Entschädigung zuerkannt. Die 21 Forderungen für eine humane Asylpo­litik reichen, so Wallraff, von ganz praktischen Forderungen bis hin zu utopischen Fernzielen. Beides ist für die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau von Bedeutung. Eine Be­schränkung auf tagespolitische Nahziele lehnte sie in der abschließen­den Presse­konferenz ab. “Die Utopie von heute” sagte sie, “wird hoffentlich die Realität von morgen sein”.
Johannes Zerger
Vorschläge und Forderungen des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa
Vorbemerkung: Euphemistische Be­griffe wie “Harmonisierung” sollen dar­über hinwegtäuschen, daß es sich bei der Asylpolitik der europäischen Staaten in Wirklichkeit um eine Ab­schottungs- und Ausgrenzungspolitik handelt. Diese soge­nannte “Harmonisierung” des Asylrechts auf europäischer Ebene führt zu einer Vereinheitlichung auf niedrigstem Ni­veau, d.h. die Gesetze des Landes, das am we­nigsten Menschen aufnimmt und die streng­sten Bestimmungen hat, werden Maß­stab für die anderen. So verwandelt sich das Prinzip des “Schutzes für Flücht­linge”, dem sich die demokratischen und reichen Staaten Europas verpflichtet ha­ben, in das Prinzip des “Schutzes vor Flücht­lingen”. Begründet wird diese Poli­tik der Abschreckung mit steigenden Flücht­lingszahlen. Verschwiegen wird, daß Europa nur einen Bruchteil der Men­schen, die weltweit auf der Flucht sind, aufnimmt: nur ca. 5 Prozent von ca. 15-20 Millionen. Diese Flüchtlinge machen hier kaum das Elend sichtbar, das von den rei­chen Staaten in Ver­gangenheit (Kolonia­lis­mus, Zerstörung gewachsener Struk­turen) und Gegen­wart (Imperialismus, Un­ter­stützung von Dik­taturen) mitverursacht wur­de. Der größte Teil der Flüchtlinge fin­det in den Nachbarstaaten ihrer Heimat Aufnahme, in Ländern, die nicht ein­mal die Ernäh­rung ihrer eigenen Be­völkerung sicher­stellen können. (Im Sudan etwa, einem der ärmsten Länder der Erde, haben über 2 Millionen Menschen Zuflucht gefunden.) Die Abkapselung Europas löst das Pro­blem der weltweiten Flucht­be­we­gung nicht. Generelles Umdenken ist er­for­derlich. Statt die “Festung Europa” im­mer weiter auszubauen, müssen die wohl­ha­benden Staaten lernen, zu tei­len, zu ent­schulden und sich damit auch zu entschul­digen.
Um den im Urteil festgestellten Rechts­verletzungen abzuhelfen und die Rechte von Asylsuchen­den und Flüchtlingen um­fas­send zu schützen, erhebt das Tribunal folgende Forde­rungen:
1. Fluchtursachen müssen ernsthaft be­kämpft werden: Unabdingbar ist eine ge­rechte Weltwirt­schaftsordnung, die die in­ternationale soziale Un­gleichheit über­win­det. Die politischen und wirt­schaftlichen Be­ziehungen zu den Regi­men, die Men­schen­rechte verletzen, dür­fen deren Re­gie­rungen nicht unterstützen; ins­besondere dür­fen an solche Staaten wie den Iran, Irak oder die Türkei keine Waf­fen ge­liefert werden.
2. Die Bedingungen, Regelungen und Verfahren, welche von den Staa­ten Euro­pas zur Ertei­lung des Asyl­rechts erlassen werden, müssen zur strikten Einhaltung internationaler Abkommen wie der Genfer Konven­tion und aller anderen internatio­na­len Instrumente zum Schutz der Men­schen­rechte und Grundfreiheiten ver­pflichten. Dasselbe gilt für Regelun­gen und Verfahren im Rahmen der Eu­ro­pä­ischen Union und der EFTA.
3. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist den (welt)­politischen Entwick­lungen an­zupassen und muß ausgeweitet wer­den. Ge­schlechts­spezifische Flucht­gründe, Ver­fol­gung wegen sexueller Orientierung müs­sen als Asylgründe gelten. Flucht vor nicht-staatlicher Verfolgung sowie auf­grund von Krieg und Bürgerkrieg müs­sen das Recht auf Asyl begründen. Flucht auf­grund von Armut, welche die in der All­ge­mei­nen Erklärung zu den Menschen­rech­ten festgeschriebenen Mindeststan­dards ei­nes menschenwürdigen Lebens ver­letzt, muß als Asyl­grund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstver­wei­gerer aus Kriegs- oder Bürger­kriegs­gebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden auf­ge­for­dert, Flüchtlinge und Asylsu­chende vom Visumzwang zu befreien.
6. Beförderungsgesellschaften dür­fen nicht mit Sanktionen bedroht wer­den, wenn sie Flücht­linge ohne Visum trans­por­tieren.
7. Die sogenannte “Drittstaaten­rege­lung” muß aufgeho­ben werden, um die “Ket­ten­abschiebungen” zu beenden.
8. Jeder Staat hat für sorgfältige und faire Asylverfahren zu sorgen, mit dem Recht des Asylsuchenden auf Einspruch (Berufung), Überprüfung durch unabhän­gige Gerichte und der Garantie des voll­ständigen Rechts­schutzes. Die Asylsu­chenden müssen ausreichend Zeit und Gelegenheit ha­ben, ihre Einsprüche ein­zulegen. Diese müssen aufschiebende Wir­kung haben.
9. Auch bei als “offensichtlich un­begründet” eingestuften Asylgesuchen müs­sen die Asylsu­chenden ein Recht auf Ein­reise und einen Zugang zum Asylver­fahren haben; wie vom Exekutiv­komitee des UNHCR (United Nations High Com­missioner for Refugees) empfohlen, dür­fen lediglich die Rechtsmittelverfahren beschleunigt durchgeführt werden. Asyl­ge­suche, die als “offensichtlich begründet” einzu­stufen sind, müssen in einem ver­kürz­ten Verfahren zur Asylgewährung füh­ren.
10. Es ist zu gewährleisten, daß Asyl­suchende über ihre Rechte in einer für sie verständlichen Sprache und Form unter­richtet werden. Es müssen ihnen Hilfs­orga­nisationen ge­nannt und Rechts­anwälte und Dolmet­scher ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden.
11. Asylverfahren müssen die be­son­dere Situation von Frauen berück­sichtigen und sicherstellen, daß Frauen aus­schließ­lich von Frauen befragt werden.
12. Kein Staat darf Asylsuchende in La­gern festhalten. Ferner dürfen Asyl­suchende nur in Fällen krimineller Verge­hen inhaftiert werden. Minder­jährige sind grund­sätzlich nicht in Haft oder haftähnli­chen Bedingungen festzuhalten. Insbeson­dere sind ‘exterritoriale Räume’ an den An­kunftsorten der Flüchtlinge und Asyl­suchenden abzuschaffen.
13. Asylsuchende dürfen während des laufenden Asylverfahrens nicht abgescho­ben werden. Es muß ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht für die Dauer des Ver­fahrens gewährt werden.
14. Ist ein Asylverfahren innerhalb ei­nes Jahres nicht abgeschlossen, er­hält der Asylsuchende aus humanitä­ren Gründen ein dauerhaftes Aufent­haltsrecht.
15. Zentralregierungen haben den Re­gionalbehörden und Gemeindever­wal­tungen die notwendi­gen Mittel zur Ver­fügung zu stellen, um menschenge­rechte Wohn­verhältnisse, Gesundheitsver­sorgung sowie Sprach­kurse für Asylsu­chende und Flücht­linge zu ermöglichen.
16. Das Menschenrecht auf Famili­en­leben und das Übereinkommen über die Rechte von Kin­dern (insbesondere das Recht auf den Besuch von Schulen und Kinder­gärten) müssen zu jeder Zeit ge­wahrt werden. Während des Asylverfah­rens ist das Recht auf Ar­beit und Freizü­gigkeit sicher­zustellen.
17. Die Anerkennung als Flüchtling muß automatisch das Wohn- und Ar­beits­recht im Gastland einschließen.
18. Asylsuchende, deren Anträge ab­ge­lehnt werden und die seit Jahren in der Illegalität leben und Opfer mo­derner For­men von Sklavenarbeit wurden, sind durch eine Amnestie zu legalisieren.
19. Die erkennungsdienstliche Be­hand­lung von Flüchtlingen darf nicht vor­ge­nom­men werden.
20. Der Datenschutz ist sicherzu­stellen; ins­besondere darf es keinen Datenaus­tausch mit Verfol­gerstaaten geben.
21. Eine Gesamtreform des europäi­schen Asyl- und Ausländerrechts im Sinne einer Rückbesin­nung auf die völkerrecht­lichen und humanitären Verpflichtungen Europas, die Grund­sätze der Rechtsstaat­lichkeit und der Rechtssicherheit, die un­ein­geschränkt auch für Flüchtlinge, Asyl­su­chende und Zuwanderer Gültigkeit haben müssen, ist überfällig.
Das Urteil des Basso-Tribunals kann be­stellt werden bei: BASSO-Tribunal, c/o AStA TU Berlin, Marchstr. 6 10587 Berlin, tel.: 030/314-24437.
Eine ausführliche Dokumentation des Tribunals mit allen Redebeiträgen, dem Urteil und einem Überblick über das eu­ropäische Asylrecht wird derzeit erstellt. Die Publikation ist voraus­sichtlich ab April 1995 erhältlich bei: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V., In­landreferat, Auguststr. 80, 10117 Berlin, Tel.: 030/2886-203.

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