Die Integration des Musterlandes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaftliche Stabilität und steigende Wachstumsraten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsidenten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Mexiko die Süderweiterung der Freihandelszone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den gesamten Kontinent umfassen soll. Die Verhandlungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Geschäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang Dezember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheidenden Augenblick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir machen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des ganzen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handelsgemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der südamerikanischen Wirtschaftsunion (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chilenischer Regierungsvertreter am konstituierenden MERCOSUR-Treffen im brasilianischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den traditionellen Partnern im Norden weiter offen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investitionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaustausches mit den Partnerstaaten im Norden. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent erwartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete positive Auswirkung der NAFTA auf den Arbeitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die gegenläufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbedingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefälle ist auch durch das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro EinwohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskommen.
Das spüren auch diejenigen, die wahrscheinlich am heftigsten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chilenische Landwirte wittern Konkurrenz aus dem hochtechnisierten Norden und dem Billiglohnland Mexiko. Gerade die mittleren und kleinen ProduzentInnen im Süden des Landes sehen ihre inländischen Absatzmärkte in Gefahr. Während in Zentral- und in Nordchile in den vergangenen Jahren gerade in der Agrarwirtschaft diversifiziert wurde, ist das an ihnen im Süden weitgehend vorbeigegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Musterschüler der EntwicklungsstrategInnen zu werden, indem es – obwohl auf der südlichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach einer Untersuchung der Agrarwissenschaftlerin Eugenia Muschnik von der Katholischen Universität in Santiago werden durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeitsplätze in der Landwirtschaft entstehen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten wird es aber ausschließlich in den nördlichen Landesteilen in der Landwirtschaft (Wein und andere Obstsorten, Tabak, Spargel, Geflügel) und in der ebenfalls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obstkonserven, Rosinen, Tomatenmark) geben. In der überwiegend im mittleren Süden angesiedelten traditionellen Landwirtschaft gehen gleichzeitig 7.700 Arbeitsplätze verloren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den LandwirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das südlich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. Ende Dezember machten sie ihre Streikandrohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bauern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Panamericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Management der Wirtschaftspolitik auszeichnet, hat bisher wenig diplomatisches Geschick im Umgang mit denen gezeigt, die Widerstand gegen ihre ausschließlich marktorientierte Politik leisten. Der in allen Medien bejubelte NAFTA-Beitritt vertiefte den Graben zwischen Regierung und ArbeiterInnen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Auswirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chilenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiterhin wichtige Passagen des pinochetistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarifverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeitsminister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Konflikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Januar die Vorlage von Gesetzesentwürfen zur Änderung des Arbeitsrechts versprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hinblick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifelhaft. Die Erinnerungen an die letzte große Weltmarktöffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner KollegInnen noch allzu gut in Erinnerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industriezweige zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerkschaften soziale und arbeitsrechtliche Bestimmungen als integrativen Bestandteil des NAFTA-Vertrages, ähnlich wie im EG-Vertrag verankert (siehe nebenstehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bisher, und weder die chilenischen UnternehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.
Contreras als Bauernopfer der Militärs
Als das Regime von General Augusto Pinochet 1989 nach 16jähriger Herrschaft abgewählt wurde, hofften viele ChilenInnen auf die Aufklärung der unzähligen Menschenrechtsverletzungen. Die erste demokratisch gewählte Regierung unter Präsident Patricio Aylwin sah sich unter dem Druck der Menschenrechtsorganisationen gezwungen, Untersuchungen über politisch motivierte Morde, Verschleppungen und Folterungen einzuleiten. Die Ergebnisse wurden im sogenannten Rettig-Bericht vorgelegt, der akribisch die Verbrechen der Militärjunta auflistet. Opfer finden darin massenhaft Erwähnung, die Namen der Täter werden allerdings verschwiegen.
Vergangenheitsbewältigung auf chilenische Art
So kamen während der Aylwin-Regierung nur ganz wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen zur Anklage, in keinem Fall wanderten die Verantwortlichen ins Gefängnis. Die entsprechende Bilanz seines Nachfolgers Eduardo Frei, ebenfalls Christdemokrat und seit März 1994 an der Spitze einer Koalition aus Mitte-Links-Parteien, wird kaum besser ausfallen. Chile sonnt sich im Glanze seines Wirtschaftswunders und fiebert mehrheitlich der bevorstehenden Aufnahme in die NAFTA entgegen. Von Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur spricht fast niemand mehr.
Nur ab und zu führt die Menschenrechtsproblematik vergangener Jahre zu kleinen politischen Erdbeben: Fernando Castillo war erst wenige Wochen als Gouverneur von Santiago im Amt, als er sich offen für die Genehmigung einer Demonstration der Hinterbliebenen der Opfer des Pinochet-Regimes am 11. März vor dem Regierungspalast aussprach. Frei ließ die Demo verbieten – zweifellos auf Druck der Militärs – und setzte seinen Parteifreund Castillo kurzerhand ab. Der sozialistische Innenminister Germán Correa mußte seinen Hut nehmen, nachdem er sich allzu deutlich für die Entlassung von Polizeichef Rudolfo Stange ausgesprochen hatte. Stange hatte die Untersuchungen über die Ermordung von drei Kommunisten im Jahre 1985 durch falsche Aussagen behindert und wurde vorübergehend beurlaubt.
Der weitgehend reibungslose Abgang der Militärs wurde mit einer Reihe von Zugeständnissen erkauft. Die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ist politisch nahezu unmöglich. Einzige Ausnahme von der bisherigen Praxis, alles unter den Teppich zu kehren, ist jetzt die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den langjährigen Leiter des gefürchteten Geheimdienstes DINA, Manuel Contreras, und seinen Stellvertreter. Möglich wurde die Eröffnung des Verfahrens durch die Intervention der USA, wo der Mörder von Letelier, Michael Townley, zu vier Jahren verurteilt worden war. Vor Gericht erklärte er, im Auftrag der DINA gehandelt zu haben. Deren einst allmächtiger Chef Contreras, der die Drecksarbeit für das Regime erledigt hatte, könnte nun das Bauernopfer sein, um das leidige Thema der Menschenrechtsverletzungen ein für alle Mal abzuhaken.
Wie unabhängig ist die Justiz?
Vor der Wiederaufnahme des Verfahrens wurde von allen Seiten Druck auf die Richter ausgeübt. Der weiterhin als Oberbefehlshaber des Heeres amtierende General Pinochet schickte eigens seinen Stellvertreter zum Justizministerium, um nachdrücklich das Interesse der Armeeführung an einer Herabsetzung des Strafmaßes auf fünf Jahre zu bekunden. Die Regierung verhält sich betont neutral. Verteidigungsminister Pérez Yoma verwies den Ex-Diktator auf die Unabhängigkeit der Justiz, als dieser ihn auf die Probleme ansprach, die das Urteil gegen Contreras im Heer hervorrufen dürfte. Die Armee könne nicht einerseits global die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen ablehnen und sich andererseits derart bedingungslos hinter jemanden stellen, der genau deswegen verurteilt worden sei.
Bedrohlicher Riß in der Armee
Das chilenische Militär ist in dieser Frage gespalten. Heereschef Augusto Pinochet ist enormem Druck aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Die Hardliner betrachten die Verurteilung eines der ihrigen, zudem eines Generals, für ein Sakrileg und einen unzulässigen Eingriff der Zivilstrafrichter in die Belange der Armee. Außerdem fürchten sie, daß ein derartiges Urteil in der Frage der Vergangenheitsbewältigung bahnbrechend sein und es ihnen ebenso an den Kragen gehen könnte. Hartnäckig halten sich Gerüchte, daß Contreras im Falle einer Haftstrafe in einer Kaserne vor dem Zugriff des Strafvollzugs geschützt wird.
Andererseits waren Contreras und die DINA unter den Uniformierten nie unumstritten. Die Auflösung dieses Militärgeheimdienstes bzw. seine Umstrukturierung zur CNI entsprach nicht zuletzt der Kritik aus den eigenen Reihen, die vornehmlich in der Luftwaffe und Marine laut wurde. Im Bewußtsein des fehlenden Rückhalts in den militärischen Chefetagen haben sich die Folterer und Mörder aus den Reihen der DINA seit vielen Jahren dagegen verwahrt, als Sündenböcke herzuhalten. Mit dem nahenden Ende der Diktatur wuchs das Bemühen, sich von deren Exzessen abzusetzen. “Die moralischen Vorstellungen von General Contreras unterscheiden sich von dem, was ich für richtig halte!” Wer das sagte, war nicht etwa ein Folteropfer oder ein ehemaliger politischer Gefangener, sondern niemand Geringerer als der ehemalige Vordenker und Chefideologe des Pinochet-Regimes, Jaime Guzmán. Bereits im Juli 1989 stand Contreras wegen des “Verschwindens” der Geschwister Andrónicos vor Gericht. Der inzwischen einem Attentat zum Opfer gefallene Guzmán war als Zeuge geladen und betonte den “tiefen Gegensatz”, in dem er während der Militärherrschaft zu Contreras gestanden habe. Auf die Frage nach den Methoden von General Contreras antwortete der eloquente Guzmán damals: “Ich glaube, es waren die wirkungsvollsten für seine Ziele, sie hielten aber wesentlich geringeren moralischen Anforderungen stand, als ich sie für erforderlich halte.” Folgerichtig habe er entscheidenden Anteil an der Auflösung der DINA gehabt.
Im Berufungsverfahren im Mordfall Letelier kann Guzmán nicht mehr aussagen. Der angeklagte Schlächter des Regimes hat ihn überlebt. Doch der einst mächtige Geheimdienstchef, der in den ersten Jahren die Drecksarbeit für Pinochet erledigte, könnte zum Bauernopfer der Aufarbeitung der jüngeren chilenischen Geschichte werden. Wird das Urteil der ersten Instanz bestätigt, wo Contreras zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, muß er seine Strafe in einem normalen Gefängnis absitzen. Der Versuch der Frei-Regierung, eigens für Verbrecher wider die Menschlichkeit ein Spezialgefängnis bauen zu lassen, hätte vielleicht die Haudegen des Heeres beruhigt, war politisch jedoch nicht durchsetzbar. Einen möglichen Ausweg bietet die Verkürzung des Strafmaßes auf fünf Jahre: Nach einem Gesetz der Aylwin-Regierung könnte die Haftstrafe dann nämlich in Hausarrest umgewandelt werden. Mit einem solchen Urteilsspruch könnte sich der überwiegende Teil der Gesellschaft in dem südamerikanischen Land arrangieren. Einerseits würde damit die Schuld des ehemaligen DINA-Chefs festgestellt, andererseits müßte kein Militär tatsächlich ins Gefängsnis wandern.
Eine Frau in der Hölle
Luz Arce war Sozialistin. Über eine persönliche Bekanntschaft wurde sie so etwas wie Sekretärin der Leibwache des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Nach dem Putsch 1973 ging sie in den Untergrund. Nach einigen Monaten einer recht ziellosen und eher schlecht als recht abgeschirmten Untergrundarbeit wurde sie verraten und verhaftet. Der Geheimdienst folterte sie, und sie hielt stand. Als sie einmal mit verbundenen Augen über den Flur eines geheimen Folterzentrums geführt wurde, schoß ihr ein Soldat in den Fuß. Die Geheimdienstbeamten wollten das Risiko nicht eingehen, sie verbluten zu lassen, denn jedeR tote Gefangene war eine vernichtete Informationsquelle. Die Ermordung von politischen Gefangenen mußte von höherer Stelle genehmigt werden. Deshalb brachten sie die Frau in ein Militärkrankenhaus. Sie wollte sterben und warf heimlich die Medizin weg, damit die Wunde sie vergifte. Die Wunde heilte von selbst zu. Ein Pfleger, der ihr beim Baden half, zwang sie zu perversen sexuellen Praktiken. Als sie halbwegs genesen war, fuhren Geheimdienstler sie zu ihren Eltern nach Hause, überwachten sie aber weiterhin.
Sie wird zur Kollaborateurin
Einige Wochen später wurde sie zusammen mit ihrem Bruder ein zweites Mal verhaftet. Wieder wurde sie gefoltert und vergewaltigt. Ihr Bruder hielt der Folter nicht Stand. Nach seinem Zusammenbruch überredete er sie, gemeinsam mit ihm eine Liste von Untergrundkämpfern zusammenzustellen. In der Sprache der Folterzentren “kollaborierten” die beiden. Sie achteten sorgsam darauf, daß die Liste aus Leuten bestand, die ihrerseits kollaborierten, im Ausland waren oder eine untergeordnete Rolle in der sozialistischen Parteihierarchie hatten. Einige Menschen wurden auf Grundlage dieser Liste verhaftet; ein paar davon sind bis heute “verschwunden”. Da alle anderen in die offiziellen chilenischen Gefängnisse überführt oder umgebracht wurden, war Luz Arce bald diejenige Gefangene, die am längsten verhaftet war. Sie wußte viel über die DINA und kannte viele Geheimdienstler. Das war gefährlich. Die DINA konnte nicht riskieren, sie laufen zu lassen. Einige Male hatte sie deutliche Anzeichen dafür, daß sie auf der Liste derer stand, die zum “Verschwindenlassen” selektiert wurden. Durch persönliche Beziehungen und einiges Glück überlebte sie.
Als Kollaborateurin genoß Luz Arce einige Privilegien, die den übrigen Gefangenen nicht zukamen. Sie durfte ihre Zellentür angelehnt lassen und duschen, wenn auch unter den Augen der Wächter, die aus Jux applaudierten, wenn sie sich auszog.
In der Silvesternacht 1974/75 lud der Stellvertreter des Kommandanten des Folterzentrums sie zu einem Gläßchen in sein Büro ein, besoff sich und vergewaltigte sie. Gleichzeitig vergewaltigten die Wachsoldaten die weiblichen Gefangenen. Inmitten der Schreie und des Stöhnens ergriff Luz Arce eines der schweren Dienstsiegel der DINA, das eine eiserne Faust zeigte, und schlug den Offizier, der sie vergewaltigt hatte, damit nieder. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie sich aus dem offenstehenden Waffenmagazin eine Maschinenpistole nehmen und die übrigen Gefangenen befreien sollte, denn das Wachpersonal war nackt und wehrlos. Dann ging sie zu einem Telefon und rief den Kommandanten des Folterzentrums an, der zu Hause Silvester feierte. Der Kom-mandant kam mit einigen Offizieren im Kampfanzug und vorgehaltener Waffe und bereitete der Vergewaltigungsorgie ein Ende. Der Vergewaltiger wurde in einen der engen Kästen gesteckt, die der Folter an Gefangenen dienten, und von da an bedurfte die Vergewaltigung von gefangenen Frauen der Vorabgenehmigung. Ordnung muß sein.
Folterer mit kleinen Schwächen
Die DINA rechnete es Luz Arce hoch an, daß sie nicht die Waffenkammer geplündert hatte, sondern den Dienstweg gegangen war. Nach und nach wurde sie zur regulären Beamtin des Geheimdienstes. Fünf Jahre lang arbeitete sie für die DINA und die Nachfolgeorganisation CNI. Ihr Buch “Die Hölle” berichtet von der Routine dieser Geheimdienste, von Mord und Folter, vom Abhören von Telefonen, dem Unterricht der Agenten, dem etwas unbeholfenen Aufbau einer Computerabteilung, dem Gehabe der führenden Offiziere, die sich wie Gottväter vorkamen, von Intrigen und sexuellen Beziehungen kreuz und quer. Die allmächtige DINA, die nach Gutdünken eineinhalb tausend Menschen verschwinden lassen konnte, hatte ihre sehr banale Seite. Was nach außen wie die perfekte Terrormaschine wirkte, war in Wahrheit eine schnell zusammengeschusterte, korrupte und mit allen Fehlern behaftete militärische Einheit. Die DINA-Beamten, deren Identität geknackt wurde – darunter auch Luz Arce selbst – wurden in Publikationen des chilenischen Exils wie Monster dargestellt. Aber es waren Menschen, die, wenn sie vom Foltern kamen, ein halbwegs normales Familienleben zu führen versuchten, die ihre kleinen Schwächen hatten und sich in Liebesbeziehungen mit den Sekretärinnen und weiblichen Gefangenen verstrickten. Luz Arce schildert alle Beziehungen, die sie mit Geheimdienstbeamten hatte. Sie kann es sich heute noch nicht ganz verzeihen, daß sie in der Hölle lieben konnte.
Im Exil entsteht ihr Buch
Als 1990 die erste demokratisch gewählte Regierung nach der Pinochetdiktatur eine Kommission zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen gründete, rang Luz Arce sich zu einer Aussage durch. Sie erhielt Drohungen ihrer früheren Geheimdienstkollegen und mußte Chile verlassen. Das Buch “Die Hölle” ist das Ergebnis dieses Exiljahres in Österreich.
Luz Arce kennt den Tod. Sie hörte mit verbundenen Augen, wie andere Gefangene starben, drückte erschossenen Guerilleros die Augen zu, sollte selbst ermordet werden und war wegen verschiedener Krankheiten mehrfach im Delirium. Es gibt Wochen in ihrem Leben, in denen sie kaum bei Bewußtsein war. Nach ihrer Verhaftung und dem Schuß in den Fuß verging bis heute kein Tag ohne starke körperliche Schmerzen. Diese Erfahrungen erspart sie den Leserinnen und Lesern ihres Buches. Die tagelange Elektrofolter wird nur in Andeutungen erwähnt. Statt ihre Vergewaltigungen zu schildern, läßt sie lieber eine Lücke im Text. Durch diese Auslassungen und eingesprengte christliche Reflexionen wird das Buch erträglich. Das gleichzeitig in Chile erschienene Buch ihrer Leidensgenossin Alejandra Merino “Mí Verdad” bildet den Schrecken 1:1 ab. Obwohl auch hier die schlimmste Folter nicht geschildert wird, wird es kaum jemand ohne Erholungspausen lesen können.
Anfang 1992 kehrte Arce nach Chile zurück und stellte sich in zahlreichen Menschenrechtsprozessen als Zeugin zur Verfügung. Diese manchmal tagelangen Gerichtstermine und Gegenüberstellungen mit den Folterern und überlebenden Gefangenen waren eine weitere Aufarbeitung des Geschehenen. “Die Hölle” beschreibt die meist auftrumpfenden, gelegentlich tölpelhaften und nur selten reuigen Reaktionen der DINA`Agenten, von denen der erste Teil des Buches handelt.
Guerilleros sind keine
eisernen Helden
“Die Hölle” ist nicht nur deshalb ein ungewöhnliches Buch, weil hier eine Geheimdienstlerin ohne ghostwriter auskommt. In Arces Person und Buch kommen die Perspektiven der Opfer und die der Täter über lange Passagen zur Deckung. Berichte über politische Haft sind fast nur aus der Perspektive der Opfer geschrieben und neigen dazu, die Täter und ihre Institutionen als nebulöse Monster zu überzeichnen. Agentenberichte wiederum sind Knüller, die das Leiden der Opfer allenfalls der Sensation halber einbeziehen. Arce deckt eine Verstrickung von Tätern und Opfern auf, die eine dialektische Wahrheit enthält. Ein Apparat wie die DINA konnte den militanten Widerstand nur zerschlagen, weil die scheinbar perfekt organisierten Untergrundorganisationen triviale Fehler machten, weil es Inkonsequenz und Indiskretion gab und weil die Guerilleros eben nicht die eisernen Heldenfiguren waren, für die sie sich selbst hielten. Spiegelbildlich entspricht dieser Entmythologisierung des Untergrunds die Schwäche der Folterer, ihr Gestammel, wenn sie zur Rede gestellt werden, das Klappern der Teetasse in einer Verhandlungspause, das die zitternden Finger eines sich selbstbewußt gebenden früheren Folterers verrät.
Luz Arce ist unfähig zum Haß. Sie weiß von ihren theologischen und therapeutischen Freunden, daß die Buße vor der Vergebung kommt, daß sie sich ihrer Aggressionen gegen die Täter erst bewußt werden muß, ehe sie ihnen verzeihen kann. Sie sucht in ihrem Buch die Versöhnung und bringt sie in religiösen Formeln ins Spiel, vergißt aber nie, daß sie sich und den Überlebenden des Terrors, vor allem aber den Angehörigen der “Verschwundenen” statt der wohlfeilen Rede von Feindesliebe eine präzise Darstellung des Geschehenen schuldig ist.
Auch wo der autobiographische rote Faden des Buches subjektiv wird, bleibt die Autorin der Wahrheit treu. Sie verweigert den letzten Schritt, Unversöhnliches versöhnen zu wollen. Es wäre der deutschen Ausgabe des Buches gut bekommen, wenn sie die Objektivität, der sich Arce verpflichtet fühlte, gestützt hätte. Stattdessen wird das Buch in Klappentext, Untertitel und Nachwort als “selbstanalytische Studie” und Identitätsfindung angeboten. Die spanische Ausgabe konnte mit einigem Recht davon ausgehen, daß Orte, Personen und Ereignisse dem Publikum bekannt waren. Die deutsche Ausgabe hätte hier Anmerkungen machen müssen. So wie das Buch nun vorliegt, bleiben einige Passagen unverständlich. Ereignisse, die faktisch miteinander verknüpft sind, stehen isoliert da.
Das Nachwort von Thomas Scheerer bemüht sich, einiges nachzutragen, was im Text hätte angemerkt werden müssen. Die Übersetzung, im ganzen einfühlsam, scheitert an einigen spezifisch chilenischen Wendungen. Arces Text ist so gewichtig, daß er dieses Ungeschick verträgt.
Dieter Maier
Luz Arce, Die Hölle; eine Frau im chilenischen Geheimdienst – Eine Autobiographie. Mit einem Nachwort von Thomas M. Scheerer. Aus dem Spanischen von Astrid Schmitt-Böhringer. Hamburger Edition, Hamburg 1994, 405 S.
Die PT nach der Wahlniederlage
LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müssen uns über die heutige Situation in einem größeren Kontext klarwerden. Sie ist gekennzeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewegungen, auf der anderen Seite durch die Konsolidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bourgeoisie. Angesichts dieser Situation wachsen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT bezeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozialdemokraten zu nennen, das wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stärkung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die bloße Teilnahme an der Regierung, die Sicherung der Regierbarkeit. Natürlich gibt es andere Kräfte in der PT. Aber das ist die herrschende Logik, die einen Konservativismus produziert, der nur noch die Regierungsbeteiligung im Auge hat. In dieser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung autonomer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt gesehen werden? Auch eine Regierungsbeteiligung kann dazu beitragen, die autonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Administrationen der PT, die sich über “conselhos populares” (Volksräte) verankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares verwirklicht worden? Die PT hat sich darauf verlegt, nur eine gute Verwaltung machen zu wollen. Aber das ist nur das absolute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Verwaltung. Gut, Cristovam Buarque, der neu gewählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das unterscheidet die PT nicht von irgendeiner demokratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirklich in die Gefüge der Macht eingreift und alternative politische Erfahrungen ermöglicht. Ich meine nicht, daß eine Regierungsbeteiligung per se die Stärkung autonomer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirklichkeit nicht für alle regieren, sondern sich den dominierenden Interessen unterordnen. Ich stehe auch den Allianzen ablehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundesstaaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalverwaltungen gemacht hat, sind doch vielleicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Reformisten sich durchgesetzt haben, sondern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermeister/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle werde ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sichern, im zweiten, mit dieser Herrschaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen Institutionen in Konfrontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb dieser Institutionen. Eine Partei, die Änderungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse fördern. Wenn aber die Frage der Regierbarkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Partei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demokratische Partei mit sozialem Anliegen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der autonomen Subjekte in den sozialen Bewegungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbunden. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regierungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativistischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forderungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebigkeit, in der einfach ein Menü für alle Geschmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den betreffenden Teil des Programms genommen, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt worden? Den entscheidenden Einfluß hatten einige Intellektuelle, die oftmals keine historischen Verbindungen mit den sozialen Bewegungen haben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Gesundheitsversorgung, die Bildung zu verbessern. Das sagen doch alle. Ein Programm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jetzige Programm will die Regierungsfähigkeit untermauern und nicht eine Dynamik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es geben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung aufgrund der Vorherrschaft der institutionalisierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die Formierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal haben selbst die PT-Mitglieder die Kampagne nicht als ihre angesehen. Schwerwiegend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Niederlage. Politisch wurde die PT massakriert. Sie konnte kein alternatives politisches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundlegend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundlegende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Machtstrukturen im Weltmarkt in Erwägung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Parteitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisierung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozialer Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Sicherheitsfragen in ihren Regierungen ernannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Ziele werden aufgegeben. Das ist die Konsequenz der Logik der Regierungsfähigkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwindsucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerkschaften und die professionalisierten Politiker. Schwierig ist es aber, eine funktionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der politischen Repräsentation, der Stellvertreterpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Organisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsentation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzuhaben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergangenen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Bewegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialdemokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewegungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwischen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, allen voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am Anfang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie behaupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen hegemonialen Blocks? Sich an der Regierung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf gegen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokratischer Forderungen, wie der nach Direktwahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neoliberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokratie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue historische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokratischen Kampfes.
Teurer Atomstrom für Rio de Janeiro
Baubeginn für die Frucht des deutsch-brasilianischen Atomvertrags von 1975 war 1983. Dann begann eine scheinbar endlose Geschichte von Verzögerungen, Pannen und Kostenexplosionen. Waren zunächst 1,3 Milliarden US-Dollar veranschlagt, um Brasilien sein zweites Atomkraftwerk zu bescheren, so sind es nun 6 Milliarden US-Dollar. Von den bisher bereits ausgegebenen 4,6 Milliarden US-Dollar entfielen 1,7 Milliarden auf Zinszahlungen. Daß die teure Bauruine jetzt doch noch zu Ende gebaut werden soll, begründet die Regierung mit den Kosten, die Abriß oder Umwidmung verursachen würden: Die seien genau so hoch wie die Fertigstellung. Die Finanzierung der fehlenden 1,3 Milliarden US-Dollar wurde unter anderem dadurch gesichert, daß ein Kredit eines deutschen Bankenkonsortiums unter Führung der Dresdner Bank vergeben wurde. Dieser war ursprünglich für das geplante Atomkraftwerk Angra3 vorgesehen und wurde nun für den Weiterbau von Angra2 umgewidmet. Für die Fertigstellung hatten sich die wiedererstarkte Atomlobby und Unternehmer aus Rio eingesetzt, die in den nächsten Jahren Stromknappheit fürchten. Nach der Fertigstellung von Angra2 wird der Bundesstaat Rio de Janeiro 30 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken beziehen.
Umweltgruppen, allen voran Greenpeace hatten im letzten Jahr versucht, die drohende Fertigstellung von Angra2 zu verhindern. Aber in der aktuellen politischen Diskussion, geprägt von neoliberaler Wende, Inflationsbekämpfung und Gewalt, blieb die Frage der Atomkraft nur ein Randthema, das lediglich eine Hand von SpezialistInnen bewegt. Hinzu kommt, daß in der Linken keineswegs Einigkeit zu diesem Thema herrscht. In der PT gibt es starke Strömungen, die mit nationalistischen Argumenten die Kernkraftoption für Brasilien verteidigen. Auch der PT-Bürgermeister von Angra hat sich keineswegs als Vorkämpfer gegen die Kraftwerke profiliert.
Im übrigen ist Angra ein gutes Beispiel für den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis im neoliberalen Diskurs. Eine Megawattstunde Strom von Angra2 soll nach bisherigen Berechnungen 120 US-Dollar kosten, dreimal mehr als die durchschnittlichen Kosten von 40 US-Dollar. Da Furnas aber nur den normalen Strompreis berechnen kann, wird der Rest von der Regierung übernommen. Für die Privatisierung von Angra2 hätten sich wohl kaum Kandidaten gefunden.
Die Projekte in Angra überbieten noch den normalen Wahnsinn der Atomenergie. Sie sind an einer der schönsten Küsten Brasiliens errichtet, mitten in einer Region voller kleiner Buchten und Inseln mit unzähligen Traumstränden. Bisher gehen die PlanerInnen wohl zu Recht davon aus, daß den meisten TouristInnen die Nähe zum Atomkraftwerk herzlich gleichgültig ist. Aber ein Unfall schon weit unter der Schwelle eines GAUs kann eine solche Einstellung schnell ändern. Zudem haben die PlanerInnen die Kraftwerke an einer erdbebengefährdeten Stelle erbaut.
Für eingefleischte RealpoltikerInnen kann aber doch eine Erfolgsbilanz gezogen werden: Ursprünglich waren im deutsch-brasilianischen Atomvertrag acht Kraftwerke vorgesehen. Die Umwidmung der Kredite von Angra3 auf Angra2 deutet darauf hin, daß selbst die BetreiberInnen zur Zeit keine Möglichkeiten sehen, weitere Atomkraftwerke in Angriff zu nehmen. Aber immerhin, mit Angra2 halten sie die Atomenergieoption für Brasilien offen. Auch die AtomkraftgegnerInnen haben nicht ganz aufgegeben. Zur Zeit wird sondiert, wie mit juristischen Mitteln die Inbetriebnahme vielleicht doch noch verhindert werden kann. So entspricht der Katastrophenplan nicht den atomrechtlichen Anforderungen der brasilianischen Gesetzgebung. Ein funktionierender Katastrophenplan, so sagen die KritikerInnen, ist aber praktisch unmöglich.
(Zahlenangaben nach Jornal do Brasil vom 13.12.1994)
Wasmosy in Bedrängnis
In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Parteiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, vertrieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: Demokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes gewählt, der Ingenieur Juan Carlos Wasmosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenossen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrieben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Staudammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich unglaubwürdig, wenn es um die Demokratisierung des Staates und die Reform des Justizwesens geht. Wasmosy ist sicherlich der falsche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lippenbekenntnisse verhallen unbeachtet.
Positive Veränderungen gibt es dennoch: Neben der Justiz- und Verfassungsreform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogenhandel ein Thema: Dutzende von kokainbeladenen Flugzeugen, die von den Andenländern nach Rio und Sâo Paulo unterwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transaktionen unermeßliche Reichtümer angehäuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten bewacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständlicherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Transformation der ungleichen paraguayischen Gesellschaft wird von vielen wissentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staatsbetriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöffnet. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Bruttosozialpodukt der vier Länder nur ein Prozent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkriminalisierung des Schmuggels und zur Verringerung des Autodiebstahls in den Mitgliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich verantwortlich war, und der generalstabsmäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die industrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industrieller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Realität nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen konstant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen verunsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maßstäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermordeten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu seinem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tradition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internationalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.
Kasten:
Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Südamerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, besonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhenunterschiedes zu ermöglichen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. Anscheinend waren tausende Surubís, Dorados und andere Tropenfische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Einweihung des Staudammes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Dreizehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insgesamt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, erwachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der bereits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Vertrag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich gelassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung solcher gewaltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Aufstauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinandergebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhunderts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vorausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauchbar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies früher, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leishmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeblich schönsten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayischen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Menschen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Paraguay umgesiedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encarnación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlungen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorgegangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbezahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohnehin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit seinen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Paraguay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatriotischen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wunder der hydroelektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staatsmann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fertigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen beiden Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies
Como sempre
Wenn es um Eigentumstitel für Ländereien geht, sitzen die Brasilianischen Großgrundbesitzer bekanntlich am längeren Hebel. Da nutzt es nichts, wenn der Boden seit Jahrhunderten indianisches Gebiet ist. Daß selbst die Indianerbehörde FUNAI (FUNDACAO NACIONAL DO INDIO) nicht gegen die Lokalmatadoren und Provinzfürsten ankommt, zeigen die jüngsten Beispiele im Bundesstaat Maranhao in Nordbrasilien.
Per Dekret vom 8.7.1992 wurde ein 147.000 Hektar großes Gebiet rund um die Stadt Montes Altos zur “área indigena” – zu indianischem Gebiet – erklärt. Als Mitte Dezember 1994 die Landvermesser kamen, um das Territorium der Krikati zu sichern, kam es nicht nur zu Protesten der Großgrundbesitzer, sondern auch zu Sabotageakten, direkter Behinderung, Handgreiflichkeiten und Morddrohungen. Die Fazendeiros können dabei auf die Unterstützung der Lokalpolitiker zählen. Sogar die Landarbeitergewerkschaft steht auf der Seite der Eindringlinge – schließlich müßten die Landarbeiter sich im Falle der Abgrenzung eine neue Parzelle suchen.
Ähnliches ereignet sich in den unabhängigen Gebieten der Awá in der Gegend von Igarapé. Bundessoldaten, die zum Schutz der Markierungsarbeiter geschickt wurden, zogen nach einiger Zeit wieder ab, ohne daß die Vermessungstrupps ihre Arbeit abgeschlossen hatten. Die Großgrundbesitzer sehen sich als rechtmäßige Eigentümer der 120.000 Hektar großen Ländereien, die sie seit mehreren Generationen kontrollieren. Ihre Eigentumstitel wurden zwar gerichtlich für nichtig erklärt, was die Großgrundbesitzer jedoch nicht davon abhält, sich als rechtmäßige Eigentümer zu betrachten. Der Widerstand der Fazendeiros gegen die Abgrenzung der indianischen Gebiete war vorprogrammiert. Hatte die FUNAI wirklich erwartet, daß sie sich einfach zurückziehen? Solange die Aufgabe der Indianerbehörde nur darin besteht, indianisches Land auszuweisen und abzumessen, ohne garantieren zu können, daß die Gebiete respektiert werden, ist sie noch weit davon entfernt, die Rechte der IndianerInnen zu stärken.
“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”
Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir warnen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Zedillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir sehen auch, daß er zur gleichen Zeit die Linie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaffneten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und seinen tatsächlichen Ursachen nicht entgegentrat, sondern stattdessen die Zeit verstreichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen gehaßten Gouverneuren stand. Auf der anderen Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mobilisierung herbeiführen und die Stimmung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Interesse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisierung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drängen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Geschichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was passiert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlassen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Distanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schiefgeht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entnehmen, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Januar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politische Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie waren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und trugen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müssen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waffen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu machen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zurückkehren. Wir können die KämpferInnen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesselung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhalten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillusionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die gleichen sozialen Klassenstrukturen, der gleiche Rassismus, die gleiche Regierungsstruktur und die gleichen radikalen Diskurse neben reaktionären Praktiken. Deshalb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebrochen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur zapatistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewegung. Die sozialen Strukturen im mexikanischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Modernisierung Mexikos müßten zwei Sektoren geopfert werden: Entweder die indigene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hinsicht ein Hindernis für jedwede Reformentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen begleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammengefaßt, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für alle MexikanerInnen. Das forderten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs verändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlangen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regierung der PRI noch koexistieren und verhandeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rechnungen, die auf vielen Ebenen zu kassieren sind. In Chiapas schafft sie die Verbindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik erhalten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnungen auf allen Ebenen, die es in der Regierung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwingen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejercito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Aktion zu machen. Wenn wir dies so bewertet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht einmal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Absurdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dialog.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhaltensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß jemand anderes kommt. Dann reden wir.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisierung des nationalen Lebens kämpfen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREIUNG auf, die die Nationale Demokratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unabhängig von religiöser Überzeugung, Abstammung oder politischer Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Übergangsregierung, für eine neue Verfassunsversammlung, für eine neue Verfassung und für die Zerstörung des Systems der Staatspartei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konvention und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die LehrerInnen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konsequenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organisationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokratischen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei angehören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vaterland entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Legalität, die Legitimität und die Souveränität im gesamten nationalen Territorium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Gesetze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Regionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversammlung zusammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Anerkennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die verschiedenen Gemeinden, sozialen und politischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Erklärung zu den Menschenrechten festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzt, muß als Asylgrund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaubwürdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, regionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Übergangsregierung soll zu neuen allgemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungsversammlung für die Schaffung einer neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verändert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt werden. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die HauptproduzentInnen des Reichtums sind, den sich jedoch andere aneignen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”
Die Seifenblase ist geplatzt
Salinas de Gortari, der erst im Dezember das Präsidentenamt an Zedillo abgegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte abwerten sollen. Seine Regierung habe jedoch im Vorfeld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgründen nicht von ihrer Wechselkurspolitik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezember immer noch ihre ökonomische Erfolgsbilanz, die sich ebenfalls auf Stabilität gründete: Geringe Inflation, die allerdings nur wegen eines immer größer werdenden Kapitalbilanzdefizites möglich war, machte die Staatspartei, im Bewußtsein der Wähler, zum einzigen Garanten der Stabilität und sicherte ihr bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN werfen dem Ex-Präsidenten Salinas inzwischen persönliche Bereicherung vor. Doch die USA, deren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbeschränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne entsprechende Pesoabwertungen lobte, fördern die Kandidatur Salinas zum Vorsitzenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welthandelsorganisation) weiterhin. Salinas zeige hervorragende Führungsqualitäten, erklärte US-Handelsminister Ron Brown. Der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei bekannt gewesen, daß der Wechselkurs des Peso korrigiert werden mußte. Die Regierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomischen Daten gut nach außen habe darstellen können. Diese Seifenblase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wieder einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schockprogramm Zedillos wird natürlich vom Internationalen Währungsfond (IWF) unterstützt, in der Bevölkerung dürfte der Rückhalt allerdings nicht groß sein. Im Notstandsprogramm sind innerhalb der nächsten zwei Jahre lediglich Lohnsteigerungen von sieben Prozent vorgesehen. Die Unternehmen konnten nur zu dem Versprechen gebracht werden, die Preise nicht “ungerechtfertigt” zu erhöhen. Dieses “Abkommen für die Einheit”, das Anfang Januar von der Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband und den Unternehmen ausgehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vorgesehen, die Staatsausgaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu verhindern.
Doch inzwischen meldete die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter den Anspruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Angestellten der staatlichen Presseagentur Notimex verlangen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Nationale Kammer der Weiterverarbeitenden Industrie (Canacintra), die 85 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in Mexiko repräsentiert, forderte ein sechsmonatiges Schuldenmoratorium und die Stundung von Steuerrückständen. Außerdem forderte der Verband Hilfe für Unternehmen, die vor der Abwertung Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten. Alle Importprodukte sind wesentlich teurer geworden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölgesellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungsvertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu privatisieren, wächst. Immerhin war die mexikanische Regierung erstmals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu verwenden. Denn die Kapitalflucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeblich bis zu zehn Milliarden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko geworben werden. Zwar sind diese Summen überwiegend im nichtproduktiven Bereich eingesetzt worden, denn Spekulation verspricht höhere Gewinne, doch die Sicherung ausländischer Kapitalanlagen in Mexiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikanischen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vorzüge des Standortes Mexiko. Enrique Vilatela, Präsident der Banco Nacional de Comercio Exterior und Leiter der vom mexikanischen Finanzministerium nach Europa entsandten Delegation, verkündete in Frankfurt, daß über konkrete Finanzarrangements nicht gesprochen worden sei. Doch mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, beteiligten sich zwei deutsche Großbanken an einem Stützungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über dessen Modalitäten nichts bekannt wurde und der Teil eines 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind insgesamt 30 internationale Geldinstitute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kreditbürgschaften von bis zu 40 Milliarden Dollar bereitstellen, um Mexikos kurzfristige Zahlungsverpflichtungen auf einen längeren Zeitraum umschulden zu können.
Durch diese offene Unterstützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Prozent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dollar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Autoproduktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexikanische Inlandsnachfrage zusammengebrochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Arbeitsrechte Halbfertigprodukte aus den USA zusammengefügt und wieder in die USA re-importiert. Jede Lohnsenkung erhöht die Profite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexikanischen Krise auf ganz Lateinamerika ist währenddessen unübersehbar. Mexiko als eines der größten und entwickeltsten Länder des Subkontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbunden ist, symbolisierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf diese Weise den gesamten Kontinent stabilisieren wollen, beginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neugeschaffene Währung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird abgewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Börsenkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für den Nachbarstaat Argentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinnehmen. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Ausweitung des Freihandelsabkommens NAFTA auf den gesamten Kontinent auf Schwierigkeiten stoßen. Der extrem ungleich verteilte Reichtum in Lateinamerika erscheint zwar in den Handelsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung gefährden.
Kasten:
Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.
Ya basta!
Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand markierte zugleich den Beginn der “ersten Revolution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeindelandes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das Todesurteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses Todesurteil wollen die Indígenas nicht hinnehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr geduldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, weggenommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das widerspricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indianischen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum gerechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Nationalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdekken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der ZapatistInnen-Aufstand auch die “erste Revolution des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die soweit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-militärisches Avantegardekonzept und blieben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wachsen, sondern in eine Explosion münden, die ein festgefügtes, hartes, gewaltiges, monströses Land bis in seine Grundfesten erschütterte – Mexiko. Sie vermochte dies, weil sie entgegen aller Regeln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Denken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskollektiv aus mehreren Lateinamerika-Solidaritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu erstellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Interviews, Reportagen, Analysen und einem Fotoessay. Ebenso werden Widersprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen als “Paradoxon” charakterisiert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Analysen der mexikanischen Realität, die Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volksorganisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde gelebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen sterben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”
Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM
Eine neue Literaturgeschichte
Das Vorhaben, eine Literaturgeschichte des noch nicht zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu schreiben, bringt einige Probleme mit sich. Da ist zunächst die Unmenge an AutorInnen und Büchern, aus der irgendwie ausgewählt werden muß, mit dem Ziel, den Rahmen eines Taschenbuchs nicht zu sprengen. Sodann stellt sich die Frage, wie diese Auswahl zu ordnen, weiter, wie mit den “Rändern” umzugehen sei, man denke an AutorInnen, die in Nordamerika oder Europa leben und teilweise in anderen Sprachen schreiben. Und nicht zuletzt ist es heikel, die persönlichen Vorlieben und Vorbehalte zugunsten einer halbwegs objektiven Darstellung zurückzuhalten, die den LeserInnen möglichst viele Freiräume bei der eigenen Lektüre läßt.
In seinem Vorwort geht Strosetzki auf diese Probleme ein und stellt die Prinzipien dar, nach denen er das Buch geschrieben und an die er sich durchgängig gehalten hat.
Die Auswahl der SchriftstellerInnen folgte dem Grundsatz, daß ihre Bedeutung in der Literaturwissenschaft Lateinamerikas und Europas weitgehend unumstritten sein soll. Die Verkaufszahlen in deutschen Buchläden spielen dabei keine Rolle, denn viele AutorInnen gerade der ersten Jahrhunderthälfte wurden und werden hier – im Gegensatz zu Amerika – kaum gelesen. Andererseits geht Strosetzki nur vorsichtig auf Werke des letzten Drittels des Jahrhunderts ein, da ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft oft noch nicht abzusehen ist. So ist zwar Isabel Allende ausführlich, Gioconda Belli jedoch nur knapp erwähnt, und der hierzulande häufiger gespielte chilenische Dramatiker Ariel Dorfman fehlt ganz. Das bedeutet auch, daß unbekanntere Autoren vor allem Mittelamerikas und der Karibik keine Aufnahme fanden. Aber vielleicht ist das die Aufgabe einer Literaturgeschichte, die in 20 Jahren geschrieben wird.
Strosetzki geht länderweise von Nord nach Süd vor, stellt jedoch Nicaragua (mit dem modernismo bei Rubén Darío) und Guatemala (mit dem magischen Realismus bei Miguel Angel Asturias) an den Anfang. Tatsächlich macht die Einteilung nach Ländern hier mehr Sinn als die traditionelle chronologische. Besonders deutlich wird das dadurch, daß Strosetzki jedem Kapitel einen knappen, ein- bis zweiseitigen Geschichtsabriß voranstellt. Die Themenwahl vieler AutorInnen wird dadurch verständlicher, etwa die mexikanische Revolutionsliteratur oder die argentinische Gaucho-Literatur. Wo die Themen sich nicht auf die Ländergeschichte beziehen lassen, erzwingt er nichts, und die vielfältigen Verflechtungen innerhalb Lateinamerikas wie auch die Beziehungen zu Europa bleiben nicht unberücksichtigt.
Bei den erwähnten “Rändern” gilt – mit Ausnahmen – die Regel, daß diejenigen AutorInnen erwähnt werden, die auf Spanisch beziehungsweise Portugiesisch schreiben. Genauso bleiben europäische Autoren völlig unberücksichtigt, die in Lateinamerika lebten und über lateinamerikanische Themen schrieben, wie Anna Seghers oder B. Traven. In formaler Hinsicht findet die testimonio-Literatur eines Miguel Barnet genauso Platz wie die Essayistin Elena Poniatowska und die dezidiert historiographischen Werke Eduardo Galeanos.
Wichtig zu erwähnen ist noch der Anhang. Zunächst werden fremdsprachige Zitate übersetzt, wobei leider einige fehlen; für das Verständnis mancher Passagen ist das eine empfindliche Lücke. Daran schließt sich eine Liste besonderer Art: In alphabetischer Reihenfolge hat Strosetzki alle erwähnten Werke aufgeführt und die Titel übersetzt. Ist das Buch auf Deutsch erschienen, steht der entsprechende deutsche Titel. Wenn der jeweilige Titel jedoch nicht wörtlich übersetzt wurde, fügt er eine entsprechende Übersetzung an. Beispielsweise heißt es da: “El siglo de las luces (Alejo Carpentier); in deutscher Fassung: Explosion in der Kathedrale; deutsch wörtl. [Das Zeitalter der Aufklärung]”.
Was für ein Buch liegt uns nun vor? Strosetzki schrieb eine “kleine” Literaturgeschichte. Sie reicht nicht aus, wenn es um Details im Werk eines Autors geht und kann die übrige Sekundärliteratur nicht ersetzen. Wenn er “Hundert Jahre Einsamkeit” zwei thesenartige Seiten widmet, kann das nicht befriedigend über den Roman Auskunft geben, und das Fehlen von Carlos Fuentes’ frühem Meisterwerk “Aura” mag schmerzen.
Was das Buch leistet, und zwar in vorbildlicher Weise, ist ein gut lesbarer Überblick. Die AutorInnen werden nicht lexikonartig aufgelistet, sondern ihre thematischen und stilistischen Zusammenhänge werden – manchmal artistisch – benutzt, um einen fortlaufenden Text zu schreiben, der von Laien und Fachleuten gleichermaßen zum Nachschlagen wie zur Bettlektüre verwendet werden kann.
Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20.Jahrhundert, Beck’sche Reihe, München 1994, 360 S., 24.- DM.
Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. “Tierra”: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die “Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes”, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-
“Nenn nie Chiquita nur Banane!”
“Profanes und Heiliges, Geschmackloses und Hintergründiges, Albernes und Gewitztes in einem wunderlichen Bananengarten vereint”, verspricht das Haus der Kulturen der Welt in seinem Programmheft. Gemeinsam mit einem Frankfurter Journalisten und Bananen-Sammler namens Wulf Goebel sind rund 600 Kunstbananen und Bananenkunst-Objekte zusammengetragen worden. Ziel sei, so Goebel, “der Banane das zurückzugeben, was sie seit alters her hat: KULTUR.”
Um die Spur der Banane durch Zeiten und Kontinente aufzuzeigen, reiht sich Objekt an Objekt: Bananenstauden auf jahrhundertealten Seidenmalereien aus China und Südkorea, Radierungen europäischer Forscher aus dem 18. Jahrhundert, die die kuriose gelbe Frucht minutiös abbilden, kolorierte Postkarten von kolonialen Bananenplantagen und -märkten, Werbetafeln aus Emaille und Bananenimitate aus Pappmaché und Wachs, die Anfang dieses Jahrhunderts europäische “Kolonialwarenläden” zierten. – Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Banane in einigen Gebieten der Welt vom exotischen Luxusartikel zum weit verbreiteten Nahrungsmittel wurde.
Früchte, die die Welt verändern…
Viele unserer Landsleute halten die Kartoffel für ein sehr deutsches Gewächs, obwohl diese erst vor wenigen Jahrhunderten aus Amerika nach Europa gebracht wurde. Ähnlich geht es wahrscheinlich vielen LateinamerikanerInnen mit einem ihrer alltäglichen Nahrungsmittel, der Banane. Ursprünglich aus Asien stammend, gelangte die gelbe Frucht durch arabische Kaufleute zunächst nach Afrika, bevor sie nach einem Umweg über die Kanarischen Inseln erst Anfang des 16. Jahrhunderts von den portugiesischen Eroberern nach Panama gebracht wurde. Mittlerweile zählen insbesondere die zahlreichen Kochbananenarten in Lateinamerika zu den wichtigsten Nahrungsmitteln. Die riesigen Monokulturen mit Süßbananen für den Export entwickelten sich in diesem Jahrhundert in einigen Ländern zum dominierenden Faktor in Wirtschaft und Politik, was einigen mittelamerikanischen Staaten das berüchtigte Etikett “Bananenrepublik” aufdrückte.
Als Ende des 19. Jahrhunderts die US-amerikanische “United Fruit Company” in Panama ihre erste große Bananenplantage gründete, war die gelbe Frucht sowohl in Nordamerika als auch in Europa noch ziemlich unbekannt. Eine winzige Ladung von zwölf Büscheln Bananen, die 1902 in Bremen eintraf, konnte nur schwer verkauft werden. Einer der Gründe, die lange Zeit den Import erschwerten, waren die mangelnden technischen Möglichkeiten, die Früchte beim Transport zu kühlen. Daran scheiterten auch Bemühungen der Deutschen, aus ihren eigenen Kolonien – insbesondere aus Kamerun – Bananen einzuführen. Erst 1910 verkehrten die ersten Dampfer mit Kühlmaschinen zwischen den Kanarischen Inseln und Europa. Von da an stiegen die Bananenimporte aus den südlichen Ländern nach Europa in rasantem Tempo: 1937 wurden 146 800 Tonnen Bananen ins Deutsche Reich exportiert, 1973 bezog die Bundesrepublik bereits mehr als das Vierfache, nämlich 700.000 Tonnen. Im Gegensatz zu anderen exotischen Früchten ist die Banane mit extrem niedrigen Zöllen belegt und sogar billiger als viele einheimische Produkte. Nach und nach vertrieb das krumme Früchtchen den Apfel vom Rang als Lieblingsobst im bundesdeutschen Wohlstandsparadies.
“Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Aber damit war der Höhepunkt noch nicht erreicht. Der kam erst mit dem Fall der Mauer, als die Banane nicht nur zum lang entbehrten Gaumenschmaus der Ostdeutschen wurde, sondern zum Kultobjekt, zum verheißungsvollen Fetisch des hemmungslosen Konsums. Die Ausstellung dokumentiert die Auswüchse der damaligen Bananeneuphorie, die auch zum billigen geistigen Nährstoff für satirische Ergüsse westdeutscher Spötter wurde. So posierte eine fiktive “Zonen-Gaby (17) im Glück”, nämlich “mit ihrer ersten Banane”, auf dem Titelbild der Zeitschrift “Titanic”. “Birne zaubert” als Bananenjongleur im handlichen Daumenkino, der “geheime Stasi-Schatz” ist natürlich als riesiges Bananendepot dargestellt. “Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört”, höhnte Klaus Staeck und zeichnete eine Bananenschale, aus der eine fette Fleischwurst quillt.
Die Banane wurde als Inbegriff neudeutschen Spießertums verwurstet, als inflationäres Symbol der Wiedervereinigung als deutsch-deutsche Bananenrepublik. Den absurden Widerspruch zwischen Bananenkult und Ausländerhaß bringt ein Graffiti auf den Punkt: “Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Auf den “Schlachtfeldern” des brasilianischen Malers Antonio Henrique do Amaral wird die Banane auf ganz andere Art und Weise zur politischen Metapher: Seine Serie von sieben hyperrealistischen Ölbildern, die während der brasilianischen Militärdiktatur entstand, zeigt von Gabeln durchbohrte und zerquetschte, von Strikken strangulierte Bananen. Das in den Farben Brasiliens gemalte gelbe, grüne und zuweilen blutrote Fruchtfleisch, die bajonett- oder gitterartigen Metallforken erwecken Assoziationen an Gefängnis und Folter.
Das obskure Objekt der Begierde
Warum regt ausgerechnet die Banane die Phantasie von Kunst- und Kommerzschaffenden an? Allein am exotischen Image kann es kaum liegen, denn dann hätten ja auch die Zitrone oder die Ananas recht gute Chancen. Den heimischen Apfel hat sie ja, wie bereits erwähnt, schon längst in vielerlei Hinsicht ausgestochen. Zwar nannten immerhin noch die Beatles ihre Plattenfirma “Apple”. Doch hatte dieses Symbol, wenn wir der Ausstellung glauben, längst nicht so weitreichende Wirkungen wie die Banane, die Andy Warhol für das Plattencover seiner Freunde von “Velvet Underground” entwarf. Seitdem wimmelt es von Bananen und Bananenschalen auf den LP-Hüllen und Tourneeplakaten von Leonard Cohen, Chris Rea, “Banana Rama” und wie sie auch heißen mögen. – Aber eigentlich fing ja alles schon viel früher an, nämlich in den zwanziger Jahren mit Josephine Bakers neckischen Bananenröckchen oder später mit Harry Belafontes “Banana Boat”-Song.
“Wenn wir die Banane richtig betrachten, wird sie schnell zu einem mysteriösen, fast beunruhigenden Objekt”, meint Vilem Flusser, der im Programmheft als “namhafter Philosoph unserer Zeit” ausgewiesen wird. Liegt vielleicht in der phallischen Form der geheimnisvollen Frucht der Schlüssel zum tieferen Verständnis des Bananenkultes? – Die Ausstellung präsentiert das Pin-Up für Schwule – Bananenbüschel als provokatives Feigenblatt über kräftigen Lenden – das Werbeplakat für “Hot Rubber-Kondome”, deren Funktion am Objekt einer wehrlosen Banane demonstriert wird, und Erotikbüchlein mit geschmackvollen Titeln wie “Die Kunst, Bananen zu schälen”.
Bananeneintopf – Genuß ohne Reue?
Der schwarze Transvestit, die dicke schwarze Frau, das junge schwarze Modell auf der Chiquita-Reklame – sie alle tragen auf den Fotos exotische Bananenröckchen und lächeln uns freundlich und zutraulich an. Wir lächeln zurück und gehen weiter zu den anderen Ausstellungsgegenständen, den unzähligen Kuscheltieren, Scherzartikeln, Schlüsselanhängern, Aschenbechern, Haarspangen und Lampenschirmen – alles Banane. Für jeden modernen Geschmack ist etwas dabei. Eine Ausstellung für die ganze Familie. Die Kinder drücken sich staunend die Nasen platt an den Vitrinen mit den süßen, poppigen Gegenständen oder können sich noch mal auf Video Highlights aus Walt Disney`s Dschungelbuch reinziehen. Für wissenshungrige Erwachsene gibt es in einer Ecke zumindest ein paar kritische Videos zu den Anbaubedingungen von Bananen.
“Die Ausstellung dient dem Lachen, dem Lernen, dem Genießen und manchmal auch dem Wundern”, so die OrganisatorInnen vom Haus der Kulturen der Welt. Bewußt wurde, laut Anna Jacobi, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, auf Tafeln mit detaillierten Hintergrundinformationen oder gar Kommentaren verzichtet. Wenn sich gesellschaftliche Bezüge nicht gerade aufdrängten, wie etwa bei dem Thema Wiedervereinigung, wurde gar nicht erst versucht, Zusammenhänge herzustellen. Dabei wäre es beispielsweise interessant gewesen, das Verhältnis zwischen Bananenkult, Exotismus und rassistischen Stereotypen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie kommt denn die schwarze Frau im Bananenröckchen auf die Chiquita-Reklame?
Sollte derart schwere Kost dem Ausstellungspublikum nicht zugemutet werden? – Auch wenn die Bananenspeise in reichhaltigen aufeinanderfolgenden Gängen serviert wurde – Geschichte, Kunst, Pop, Kitsch usw. – kam ich aus der Ausstellung mit dem Grundgeschmack heraus, einen etwas undefinierbaren Eintopf im Magen zu haben.
“Alles Banane” noch bis zum 20. Februar im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Tel. 030/ 397870
Basso-Tribunal verurteilt Asylpolitik der europäischen Staaten
Die internationale Jury, der unter anderem der türkische Schriftsteller Aziz Nesin, die israelische Rechstanwältin Felicia Langer, die malawische Menschenrechtlerin Vera M. Chirwa und Günther Wallraff angehörten, sprach die europäischen Staaten schuldig, “durch ihre Asylpolitik die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen (…) systematisch und wiederholt verletzt zu haben”. Dieses Urteil war die konsequente Schlußfolgerung und der dramaturgische Abschluß der viertägigen umfassenden Auseinandersetzung mit der europäischen Asylpolitik.
Daß eine Kritik an der offiziellen Asylpolitik nicht erwünscht ist, war im Vorfeld des Tribunals deutlich geworden. Ähnlich wie das Bundesinnenministerium lehnten auch das Bundesjustizministerium, mehrere Länderinnenministerien, die EU-Kommission und die Parteien, die hinter der Grundgesetzänderung stehen, die Entsendung eines Verteidigers ab. Der konservative Asylrechtsexperte Kay Hailbronner ließ gar wissen, daß er für einen “Schauprozeß” à la Ostblock nicht zur Verfügung stehe.
Die Bundesregierung verhindert Unterstützung
Auch bei der Finanzierung durch den Grünen-nahen Stiftungsverband Regenbogen/Buntstift machte die Regierung von ihrem Vetorecht Gebrauch. Nachdem Buntstift am Jahresanfang bereits einen Zuschuß gewährt hatte, verhinderte das Auswärtige Amt (AA) eine weitere Förderung des Tribunals aus einem Finanztopf, dessen Mittelvergabe der Zustimmung des Ministeriums bedarf. Unter Hinweis auf 23 der Bundeshaushaltsordnung heißt es in einem Brief des AA vom 3.11.1994: “Es liegt nicht im Interesse des Bundes, eine Veranstaltung zu fördern, bei der die Bundesrepublik Deutschland und befreundete europäische Länder in einer auf große Öffentlichkeitswirkung angelegten, einseitigen (von einer Vorverurteilung ausgehenden) gespielten Gerichtsverhandlung wegen ihrer Asylpolitik auf die Anklagebank gesetzt werden.”
Der Ablauf des Tribunals zeigte dann, daß es keineswegs um eine pauschale und undifferenzierte Kritik der herrschenden Asylpolitik, sondern um eine umfassende und detaillierte Begutachtung der europäischen Asylpolitik ging. Von einer Vorverurteilung könne keine Rede sein, sagte die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau als Jury-Mitglied vor der Eröffnung des Tribunals. Allerdings sei “das Tribunal insoweit parteilich, daß es sich den Rechten von Flüchtlingen und einer humanen Asylpolitik verpflichtet” fühle, und nicht die Erwägungen von Regierungen übernehme, die eine Abschottungspolitik betreiben. Die britische Rechtsanwältin Frances Webber, die die Anklageseite vertrat, warf den europäischen Staaten vor, mit ihrer Abschottungspolitik die humanitären Ideale preiszugeben, die der Genfer Flüchtlingskonvention und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung zugrundeliegen. Damit begingen sie “nicht nur Verrat an den Flüchtlingen, sondern auch an den Völkern Europas und der Welt – und an der Demokratie selbst”. Im Rahmen von Länderberichten (zu Frankreich, Spanien, Deutschland und der Schweiz) und den Aussagen von Betroffenen, die im Zuge ihres Asylverfahrens oder durch die Ablehnung ihres Asylantrags in ihren Rechten verletzt wurden, entstand auf dem Tribunal ein breites und facettenreiches Bild der vielfältigen Negativfolgen der europäischen Asylpolitik für Flüchtlinge. Neben den häufig unüberwindbaren Hürden, zu einem Asylverfahren Zugang zu bekommen und den oft menschenunwürdigen Bedingungen, denen Flüchtlinge in den europäischen Aufnahmeländern unterworfen sind, stand bei den Zeugenaussagen auch die Situation in den Herkunftsländern im Vordergrund.
In Spanien zusammengeschlagen
Die Lage in den lateinamerikanischen Staaten kam in den Aussagen der beiden ZeugInnen aus Spanien zur Sprache. Die kolumbianische Rechtsanwältin Clara Eugenia Valencia war in ihrem Heimatland für eine Menschenrechtsorganisation tätig, die sich um die Aufklärung des Schicksals politisch Verfolgter und “Verschwundener” kümmert. Aufgrund ihrer Arbeit erhielt sie Morddrohungen. 1989 verließ sie Kolumbien und beantragte in Spanien Asyl. Im Asylverfahren erfuhr sie die bürokratischen und rechtlichen Hürden der spanischen Asylpraxis, da von ihr verlangt wurde, ihre gesamte politische Arbeit und die erhaltenen Drohungen nachzuweisen. Der zweite spanische Zeuge, Miguel Inocente Rodas, war Angehöriger der peruanischen Streitkräfte. Er desertierte, nachdem er Drohungen von Sendero Luminoso erhielt und in seinem Stadtteil mehrere Regierungssoldaten von Sendero umgebracht wurden. Als Deserteur wurde er daraufhin von staatlicher Seite verfolgt und floh 1987 nach Spanien. Während sein Asylverfahren noch lief, wurde er gemeinsam mit seinem Bruder bei einer “routinemäßigen” Ausweiskontrolle von spanischen Polizisten zusammengeschlagen und festgenommen. Auf der Polizeiwache wurde er so schwer mißhandelt, daß er längere Zeit im Krankenhaus lag. Doch obwohl sein Fall von den spanischen Medien und von amnesty international aufgegriffen wurde, sind die Polizisten, die ihn mißhandelten, bis heute nicht verurteilt.
Fluchtursachen in den Herkunftsländern
In ihren Gutachten hatten der Ökonom Elmar Altvater ausführlich die ökonomischen und sozialen Fluchtursachen dargestellt, und der Soziologe Oskar Negt über die Einschränkung der sozialen Rechte von Flüchtlingen in den Aufnahmeländern und den Mißbrauch der Fremden als Sündenböcke für die gesellschaftlichen Probleme in Westeuropa kritisert. “Von dreißig Möglichkeiten, einer Gefahr zu entkommen, ist Wegrennen die beste”, zitierte der Sozialwissenschaftler Kum’a Ndumbe aus Kamerun, der über die Ursachen von Armutsflucht und Süd-Nord-Migration referierte, ein chinesisches Sprichwort. Dabei wies er darauf hin, daß von denen, die diesem Satz folgend beispielsweise aus Afrika “wegrennen”, nur die allerwenigsten in Westeuropa ankommen. Der größte Teil der Flüchtlinge blieben in den ärmeren Weltregionen. An den Ursachen der Flucht und an der Mitverantwortung der europäischen Staaten ändere indes die Abschottungspolitik Europas nichts.
Die Verteidiger im Rollenkonflikt
Der linke Kieler Rechtsanwalt Thomas Jung, der sich als Pflichtverteidiger zur Verfügung gestellt hatte, fand sich im Verlauf des Tribunals immer mehr in seine Rolle hinein. Während er anfangs immer wieder – entschuldigend – darauf hingewiesen hatte, daß er persönlich nicht die regierungsoffiziellen Positionen teile, gelang es ihm in seinem Abschlußplädoyer durchaus profiliert, die Argumentation der europäischen Staaten deutlich zu machen. Die nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen in den verschiedenen Bereichen der europäischen Asylpolitik bezeichnete er als Einzelfälle. Eine “systematische Verletzung von Menschenrechten” wollte er für seine Mandanten nicht gelten lassen. Die europäischen Staaten würden vielmehr die Verpflichtungen der Genfer Konvention bejahen. Gezielte Zugangsbeschränkungen bezeichnete er aus der Sicht der angeklagten Regierungen als notwendige Maßnahmen, “um politisch Verfolgten weiterhin Schutz gewähren zu können”.
Einundzwanzig Forderungen für eine humane Asylpolitik
Das Urteil wurde schließlich in zwei Nachtschichten fertiggestellt und am 12. Dezember 1994 im Schöneberger Rathaus verkündet. Es beschränkt sich nicht darauf, die europäischen Staaten für die Verletzung der Rechte der Flüchtlinge zu verurteilen, sondern macht die Regierungen auch für die Rechtsverletzungen durch nachgeordnete Behörden und Vollzugsorgane verantwortlich. Für die aus solchen Rechtsverletzungen entstandenen Schäden wird den Asylsuchenden und Flüchtlingen im Urteil ein Anspruch auf Entschädigung zuerkannt. Die 21 Forderungen für eine humane Asylpolitik reichen, so Wallraff, von ganz praktischen Forderungen bis hin zu utopischen Fernzielen. Beides ist für die österreichische Publizistin Freda Meissner-Blau von Bedeutung. Eine Beschränkung auf tagespolitische Nahziele lehnte sie in der abschließenden Pressekonferenz ab. “Die Utopie von heute” sagte sie, “wird hoffentlich die Realität von morgen sein”.
Johannes Zerger
Vorschläge und Forderungen des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa
Vorbemerkung: Euphemistische Begriffe wie “Harmonisierung” sollen darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei der Asylpolitik der europäischen Staaten in Wirklichkeit um eine Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik handelt. Diese sogenannte “Harmonisierung” des Asylrechts auf europäischer Ebene führt zu einer Vereinheitlichung auf niedrigstem Niveau, d.h. die Gesetze des Landes, das am wenigsten Menschen aufnimmt und die strengsten Bestimmungen hat, werden Maßstab für die anderen. So verwandelt sich das Prinzip des “Schutzes für Flüchtlinge”, dem sich die demokratischen und reichen Staaten Europas verpflichtet haben, in das Prinzip des “Schutzes vor Flüchtlingen”. Begründet wird diese Politik der Abschreckung mit steigenden Flüchtlingszahlen. Verschwiegen wird, daß Europa nur einen Bruchteil der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, aufnimmt: nur ca. 5 Prozent von ca. 15-20 Millionen. Diese Flüchtlinge machen hier kaum das Elend sichtbar, das von den reichen Staaten in Vergangenheit (Kolonialismus, Zerstörung gewachsener Strukturen) und Gegenwart (Imperialismus, Unterstützung von Diktaturen) mitverursacht wurde. Der größte Teil der Flüchtlinge findet in den Nachbarstaaten ihrer Heimat Aufnahme, in Ländern, die nicht einmal die Ernährung ihrer eigenen Bevölkerung sicherstellen können. (Im Sudan etwa, einem der ärmsten Länder der Erde, haben über 2 Millionen Menschen Zuflucht gefunden.) Die Abkapselung Europas löst das Problem der weltweiten Fluchtbewegung nicht. Generelles Umdenken ist erforderlich. Statt die “Festung Europa” immer weiter auszubauen, müssen die wohlhabenden Staaten lernen, zu teilen, zu entschulden und sich damit auch zu entschuldigen.
Um den im Urteil festgestellten Rechtsverletzungen abzuhelfen und die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen umfassend zu schützen, erhebt das Tribunal folgende Forderungen:
1. Fluchtursachen müssen ernsthaft bekämpft werden: Unabdingbar ist eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die die internationale soziale Ungleichheit überwindet. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Regimen, die Menschenrechte verletzen, dürfen deren Regierungen nicht unterstützen; insbesondere dürfen an solche Staaten wie den Iran, Irak oder die Türkei keine Waffen geliefert werden.
2. Die Bedingungen, Regelungen und Verfahren, welche von den Staaten Europas zur Erteilung des Asylrechts erlassen werden, müssen zur strikten Einhaltung internationaler Abkommen wie der Genfer Konvention und aller anderen internationalen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten. Dasselbe gilt für Regelungen und Verfahren im Rahmen der Europäischen Union und der EFTA.
3. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist den (welt)politischen Entwicklungen anzupassen und muß ausgeweitet werden. Geschlechtsspezifische Fluchtgründe, Verfolgung wegen sexueller Orientierung müssen als Asylgründe gelten. Flucht vor nicht-staatlicher Verfolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Erklärung zu den Menschenrechten festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzt, muß als Asylgrund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang zu befreien.
6. Beförderungsgesellschaften dürfen nicht mit Sanktionen bedroht werden, wenn sie Flüchtlinge ohne Visum transportieren.
7. Die sogenannte “Drittstaatenregelung” muß aufgehoben werden, um die “Kettenabschiebungen” zu beenden.
8. Jeder Staat hat für sorgfältige und faire Asylverfahren zu sorgen, mit dem Recht des Asylsuchenden auf Einspruch (Berufung), Überprüfung durch unabhängige Gerichte und der Garantie des vollständigen Rechtsschutzes. Die Asylsuchenden müssen ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, ihre Einsprüche einzulegen. Diese müssen aufschiebende Wirkung haben.
9. Auch bei als “offensichtlich unbegründet” eingestuften Asylgesuchen müssen die Asylsuchenden ein Recht auf Einreise und einen Zugang zum Asylverfahren haben; wie vom Exekutivkomitee des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) empfohlen, dürfen lediglich die Rechtsmittelverfahren beschleunigt durchgeführt werden. Asylgesuche, die als “offensichtlich begründet” einzustufen sind, müssen in einem verkürzten Verfahren zur Asylgewährung führen.
10. Es ist zu gewährleisten, daß Asylsuchende über ihre Rechte in einer für sie verständlichen Sprache und Form unterrichtet werden. Es müssen ihnen Hilfsorganisationen genannt und Rechtsanwälte und Dolmetscher ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden.
11. Asylverfahren müssen die besondere Situation von Frauen berücksichtigen und sicherstellen, daß Frauen ausschließlich von Frauen befragt werden.
12. Kein Staat darf Asylsuchende in Lagern festhalten. Ferner dürfen Asylsuchende nur in Fällen krimineller Vergehen inhaftiert werden. Minderjährige sind grundsätzlich nicht in Haft oder haftähnlichen Bedingungen festzuhalten. Insbesondere sind ‘exterritoriale Räume’ an den Ankunftsorten der Flüchtlinge und Asylsuchenden abzuschaffen.
13. Asylsuchende dürfen während des laufenden Asylverfahrens nicht abgeschoben werden. Es muß ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht für die Dauer des Verfahrens gewährt werden.
14. Ist ein Asylverfahren innerhalb eines Jahres nicht abgeschlossen, erhält der Asylsuchende aus humanitären Gründen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.
15. Zentralregierungen haben den Regionalbehörden und Gemeindeverwaltungen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um menschengerechte Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung sowie Sprachkurse für Asylsuchende und Flüchtlinge zu ermöglichen.
16. Das Menschenrecht auf Familienleben und das Übereinkommen über die Rechte von Kindern (insbesondere das Recht auf den Besuch von Schulen und Kindergärten) müssen zu jeder Zeit gewahrt werden. Während des Asylverfahrens ist das Recht auf Arbeit und Freizügigkeit sicherzustellen.
17. Die Anerkennung als Flüchtling muß automatisch das Wohn- und Arbeitsrecht im Gastland einschließen.
18. Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt werden und die seit Jahren in der Illegalität leben und Opfer moderner Formen von Sklavenarbeit wurden, sind durch eine Amnestie zu legalisieren.
19. Die erkennungsdienstliche Behandlung von Flüchtlingen darf nicht vorgenommen werden.
20. Der Datenschutz ist sicherzustellen; insbesondere darf es keinen Datenaustausch mit Verfolgerstaaten geben.
21. Eine Gesamtreform des europäischen Asyl- und Ausländerrechts im Sinne einer Rückbesinnung auf die völkerrechtlichen und humanitären Verpflichtungen Europas, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit, die uneingeschränkt auch für Flüchtlinge, Asylsuchende und Zuwanderer Gültigkeit haben müssen, ist überfällig.
Das Urteil des Basso-Tribunals kann bestellt werden bei: BASSO-Tribunal, c/o AStA TU Berlin, Marchstr. 6 10587 Berlin, tel.: 030/314-24437.
Eine ausführliche Dokumentation des Tribunals mit allen Redebeiträgen, dem Urteil und einem Überblick über das europäische Asylrecht wird derzeit erstellt. Die Publikation ist voraussichtlich ab April 1995 erhältlich bei: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V., Inlandreferat, Auguststr. 80, 10117 Berlin, Tel.: 030/2886-203.