Die versprochene tiefgreifende Demokratisierung der haitianischen Gesellschaft ist nach wie vor eine Schimäre. Ist es in den Städten und vor allem in Port-au-Prince noch gelungen, einen, wenn auch sehr schleppenden, Prozeß des Aufbaus neuer Strukturen in Gang zu setzen, ist auf dem Land vielerorts noch alles so, wie es schon immer war. Zwar hat Aristide den verhaßten Chefs de section mit Wirkung zum 1. Dezember nun auch formell alle Rechte entzogen, aber de facto ist deren Macht noch allgegenwärtig; nach wie vor sind paramilitärische Kommandos unterwegs und terrorisieren die Bevölkerung.
Wie ein Damoklesschwert schwebt über allem der katastrophale Zustand der haitianischen Wirtschaft. Und die Wirtschaftspolitik gilt nicht gerade als das Steckenpferd des Jean Bertrand Aristide. So rückt ein Mann immer mehr in den Mittelpunkt der Macht: Der neue Premier Smarck Michel. Er hat sein Regierungsprogramm für die nächsten Monate ganz und gar dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes verschrieben. Wen wundert’s, gilt der smarte Smarck doch als Mann vom Fach. Auf der Insel genießt der 57jährige schon lange den Ruf eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Seit Anfang der 60er ist er einer der Großen im Handel mit Nahrungsmitteln, außerdem besitzt er im Norden des Landes eine Tankstelle. Zudem war er bereits 1991 einmal Industrie- und Handelsminister während der “ersten” Präsidentschaft Aristides. Allerdings mußte er damals der harten Kritik an seiner Politik der Preiskontrollen nach vier Monaten Tribut zollen; er trat zurück. Jetzt ist er wieder da.
Der Weltmarkt fordert seinen Preis
Mit der Ernennung Michels zum Premier ist deutlich geworden, wer in Haiti das Sagen hat. Die haitianische Industrie- und Handelskammer CCIH äußerte sich hochzufrieden mit der Ernennung Michels, schließlich sei er ja “einer der ihren”. Vor allem aber den USA ist er ein Garant dafür, daß die haitianische Wirtschaft sich den Erfordernissen des Weltmarktes unterwirft. Jetzt wird konkretisiert, was auf einem Treffen Ende August in Paris ausgedacht worden war: Damals trafen sich die Exil-Regierung Aristide, VertreterInnen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds IWF, der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) und anderer Finanzinstitutionen, um einen Wirtschaftsplan für die Zeit nach dem Militärregime zu entwickeln. Aristide und seine MitarbeiterInnen blieb nur die Rolle der Claqueure. Ein neoliberales Kernelement nach dem anderen wurde in den Plan festgeschrieben: Verkauf von Staatsbetrieben und öffentlichem Eigentum, drastische Reduzierung der Auflagen für ausländische Direktinvestitionen, Bezahlung der Auslandsschulden und tiefe Schnitte bei den Sozialleistungen.
Als Ende November Michel und seine Finanzministerin Marie-Michelle Rey den Rahmen für die Wirtschaftspolitik des nächsten Jahres absteckten, war die Handschrift der Pariser Beratungen bis ins Detail zu erkennen. Eines der ersten Vorhaben: die Halbierung des aufgeblähten Behördenapparates. Während der dreijährigen Diktatur der Militärs hatte sich dieser von knapp über 20.000 auf 43.000 Angestellte mehr als verdoppelt.
Ganz im Sinne der von der Weltbank geforderten “strukturellen Anpassung” der haitianischen Volkswirtschaft sollen Staatsbetriebe, wie die Telefon- und die Elektrizitätsgesellschaften, privatisiert, andere aber auch völlig abgewickelt werden. Es gehe darum, so Michel, Haiti in die “internationale Wirtschaft zu integrieren”. Begriffe wie “Privatisierung” oder “Demokratisierung” vermeidet Michel in diesem Zusammenhang. Viel lieber redet er von “Gleichsetzung”: “Alle sollen dieselbe Chance haben. Das bedeutet, wir werden Subventionen streichen. Wenn man ein Produkt subventioniert, sind es nur wenige, die davon profitieren – wir geben allen eine Chance.” Konkretisiert haben Michel und Rey noch wenig. Auch Schutzzölle sollen fallen. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, was mit den haitianischen Kleinbauern und -bäuerinnen passieren würde, sollten die Schutzzölle vollständig dem Diktat der Weltmarktintegration geopfert werden. Es ist kaum vorstellbar, daß sie mit ihren Produkten – Mais und Reis – gegen die Weltmarktkonkurrenz bestehen könnten.
Millionen Dollar – aber für was?
555 Millionen US-Dollar soll die Auslandshilfe für Haiti allein im ersten Jahr nach Aristides Rückkehr betragen, von denen 200 Millionen aus den Töpfen der US-Regierung kommen. Freigegeben werden die Gelder nur unter der Maßgabe, daß ein “solides wirtschaftliches Ambiente” garantiert ist. USAID, die US-amerikanische Entwicklungsorganisation, betont zwar, es sei ihr Ziel, “mehr wirtschaftliche Macht in die Hände von mehr Haitianern” zu legen. MitarbeiterInnen Aristides sehen die Rolle von USAID allerdings anders: “Alles, was passiert, geht von den USA aus. Die haitianische Regierung wird nicht gefragt.”
So sind etwa eine Million US-Dollar für einen Menschenrechtsfonds vorgesehen. Mit den Geldern sollen unter anderem auch Personen, Gruppen und Parteien unterstützt werden, um den Demokratisierungsprozeß auf Haiti nach vorn zu treiben. Welche Personen, Gruppen und Parteien das sind, entscheiden die USA.
Das seien sowohl “verantwortliche Elemente innerhalb der Volksbewegung” als auch “moderate duvalieristische Gruppen”, so USAID in einem vertraulichen Memorandum. Das ist ganz im Sinne der Funktionäre der rechtsextremen FRAPH (Front für die Förderung und den Fortschritt Haitis). Die Organisation, Handlangerin des Militärregimes und durchsetzt von den verhaßten attachés, hofft sich als politische Kraft der extremen Rechten auf Haiti etablieren zu können. Nicht wenige vermuten, die USA selbst wollten die FRAPH als politische Kraft in Haiti erhalten. Wenn die FRAPH nicht unter ihrem eigenen Namen als politische Partei auftreten wird, so wie es ihr Führer Emmanuel Constant – gefragt und ungefragt – ununterbrochen betont, dann wird sie sich eben neu erfinden. Die finanziellen Spritzen zum Aufbau einer neuen Struktur und für den Wahlkampf könnte sie dabei aus ihren traditionellen Quellen, der Armee und dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA bekommen. Nichts Neues: In El Salvador hat die CIA den Aufbau der rechtsextremen ARENA-Partei maßgeblich unterstützt. Die Zeit arbeitet für die FRAPH, denn mit der Etablierung demokratischer Strukturen wird es auf Haiti wohl noch länger dauern. Smarck Michel verschob den Zeitpunkt der für Dezember geplanten Parlamentswahlen auf einen noch nicht festgelegten Termin im Februar nächsten Jahres. Und dann wird auch klarer sein, wohin die Reise für die haitianische Wirtschaft geht, denn just Ende Januar des nächsten Jahres treffen sich die internationalen Finanzorganisationen und die Regierung des Karibikstaates noch einmal in Paris. Auf der Tagesordnung steht nur ein Punkt: die Aktualisierung der Beschlüsse vom August.
Die Linke im Aufwind
Obwohl es Kritik an der merkwürdigen Informationspolitik des Innenministeriums gab, geht kaum jemand davon aus, daß es bei den Wahlen in Uruguay zu irgendwelchen Manipulationen oder Wahlfälschungen gekommen sein könnte. Zweifel haben bislang lediglich die MLN Tupamaros angemeldet. Sie fordern eine genaue Überwachung und eine vollständige Transparenz bei der erneuten Überprüfung der Stimmzettel durch den Wahlgerichtshof. Sicher aber ist: Der Colorado Politiker Dr. Julio Maria Sanguinetti wird neuer Präsident Uruguays. Am 1. März 1995 wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen. Es ist seine zweite Amtsperiode, denn Sanguinetti war bereits von 1985 bis 1989 Präsident, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jedoch die Linke. Zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist es ihr bei diesen Wahlen endgültig gelungen das traditionelle Zweiparteiensystem in Uruguay zu knacken. Als einzige politische Kraft konnte sie landesweit kräftige Stimmengewinne verbuchen. In Montevideo, dort lebt fast die Hälfte der etwa 3,2 Millionen UruguayerInnnen, wird sie mit dem Architekt und Stadtplaner Mario Arana erneut den Bürgermeister stellen. Arana kann zwar auf eine beruhigende Mehrheit im Stadtparlament bauen, verfügt aber nur über einen äußerst mageren Haushalt.
Machtverschiebungen in der Frente Amplio
Vor allem im traditionell eher konservativen Landesinneren hat das Wahlbündnis Encuentro Progresista, bestehend aus Frente Amplio, Christdemokraten und einigen Dissidenten der bislang regierenden Blancos, beachtlich dazugewonnen. Der Stimmenanteil verdoppelte sich im Vergleich zu den Wahlen von 1989. Die stärkste und die bestimmende Kraft im Encuentro ist die Frente Amplio – ein Listenbündnis verschiedenster Strömungen in der Linken Uruguays.
Innerhalb der Frente Amplio hat die Gruppe Asamblea Uruguay/Lista 2121 um den Ökonomen Danilo Astori einen sensationellen Erfolg verbuchen können. 40 Prozent der WählerInnen des Encuentros entschieden sich für die Liste von Astori, der damit zum neuen starken Mann innerhalb der Frente Amplio geworden ist. Auf den Plätzen folgen die Sozialistische Partei, das eher sozialdemokratische Vertiente Artiguista, die Rest-KP Uruguays und das Movimiento de Partizipación Popular (MPP) mit den MLN-Tupamaros.
Die Tupas werden zum ersten Mal in der Geschichte Uruguays mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Bisher hatten sie immer unabhängige Kandidaten innerhalb des MPP unterstützt. Pepe Mujica, Gründungsmitglied der Tupamaros und während der Diktatur viele Jahre unter den schlimmsten Bedingungen als Geisel der Militärs eingekerkert, zieht für die MLN ins Abgeordnetenhaus ein. Jorge Zabalza, der ebenfalls als Geisel während der Diktatur im Gefängnis saß, sitzt als erster Tupamaro im Stadtparlament von Montevideo.
ZTFrente zwischen Machtanspruch und Basistreue
Innerhalb der Frente Amplio haben jetzt eindeutig die Moderaten um Danilo Astori die Nase vorn. Sein Flügel stellt alleine 6 Senatoren und 15 Abgeordnete im neuen Parlament. Das MPP mit den MLN-Tupamaros hat nur leicht dazugewonnen. Schwer verloren haben dagegen die orthodoxen Reste der Kommunistischen Partei.
Die interne Stimmenverteilung hat auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Vollversammlung der Frente Amplio und auf die Debatten über den zukünftige Kurs der Uruguayischen Linken. Die Hälfte der Sitze wird nach errungenen Prozentpunkten bei den Wahlen vergeben, die zweite Hälfte wird von den Frente Basiskomitees gewählt. Der interne Streit scheint vorprogramiert. Schon einen Tag nach der Wahl kam die erste Kostprobe, als Astori im Fernsehen verkündete, daß er sich durchaus eine Zusammenarbeit mit der Regierung Sanguinetti, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik vorstellen könne. Viele BasisaktivistInnen der Frente sehen das etwas anders und wünschen sich eher eine starke Opposition. Nach dem ersten Frust über den heiß erträumten und knapp verfehlten Wahlsieg konnten sie dem Ergebnis aber auch durchaus positive Seiten abgewinnen: “Eine linke Regierung unter einem Präsidenten Tabare Vazquez hätte es sehr schwer gehabt gegen eine Mehrheit der traditionellen Parteien im Parlament zu regieren… “, kommentierten sie das Wahlergebnis und fügten hinzu, “es ist großartig, dass die Frente so viele Stimmen gewonnen hat, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle 5 Jahre nur auf Wahlergebnisse schielen und darüber vergessen, was wir eigentlich sein wollen: eine politische und soziale Basisbewegung.”
Innerhalb des Wahlbündnisses Encuentro Progresista hat bereits der Streit darüber begonnen, wer in Zukunft die erste Geige spielt. Ob Danilo Astori als großer Wahlgewinner oder der knapp geschlagene Präsidentschaftskandidat und ehemalige Bürgermeister von Montevideo Tabare Vazquez – mit Sicherheit kommt er aus der Frente Amplio. Vazquez wollte sich im Falle einer Wahlniederlage eigentlich vornehmlich seinem Beruf als Arzt widmen. Für einen Sitz im Parlament hatte er gar nicht erst kandidiert.
Vorläufiger Punktsieger im Richtungsstreit ist Vazquez, denn das Leitungsgremium der Frente Amplio (Organo de Conducción Politica) hat am 7. Dezember entschieden, ihn als Verhandlungsführer der Frente Amplio und als Repräsentanten des Encuentros für die Gespräche mit der neuen Regierung zu benennen. Etwas beleidigt reagierten darum auch die Vertreter der Asamblea Uruguay auf diese Personalentscheidung. Sie teilten mit, sie würden die Beschlüsse zwar mittragen, gleichzeitig kritisierten sie aber, daß Vazquez erheblichen Druck ausgeübt habe und seine weitere Mitarbeit vom Fortbestand des Encuentro Progresista abhängig gemacht habe. Für die anstehende Wahl eines neuen Präsidenten der Frente käme Tabare Vazquez ohnehin nicht in Frage. Ihr Kandidat der Wahl sei Danilo Astori.
ZTFlügel in der Frente geschwächt
Der linke Flügel innerhalb der Frente Amplio setzt jetzt vor allem auf die Delegierten der Basiskomitees in der neuen Vollversammlung. Der MPP Senator Helios Sarthou erklärte in einem Interview, der linke Flügel innerhalb der Frente werde es in Zunkunft schwer haben. Er kritisierte gleichzeitig den zukünftigen Präsidenten Sanguinetti, der sich gerne einige moderate PolitikerInnen vom Encuentro als Gesprächsspartner über die Bedingungen für eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesucht hätte . Sarthou wies solch patriarchale Anbiederungen zurück: “Die Verhandlungspartner aus der Linken bestimmen die Linken selbst”.
ZTDie Blancos im Tal der Tränen
Der ganz große Verlierer der Wahl sind die Blancos des noch amtierenden Präsidenten Dr. Luis Alberto Lacalle. Erdrutschartig verloren sie fast 10 Prozent ihrer Stimmen. In fünf Landkreisen müssen den Regierungssessel an einen Colorado Politiker abtreten.
Innerhalb der Blancos hat nun ein Richtungsstreit begonnen, der sich zu einer Frage zuspitzt: Wer wird in Zukunft an der Spitze der Partei stehen. Die Strömung, die dem Noch-Präsidenten Lacalle nahesteht, hat bei den Wahlen weniger Stimmen errungen als die, an deren Spitze dessen Widersacher Volonte steht. Volonte könnte nun mit seiner gestärkten Hausmacht die Führungsposition übernehmen
ZTWahlsieger Sanguinetti auf der Suche nach Koalitionen
Wahlsieger Sanguinetti steckt bereits in Beratungen, um sich eine tragfähige Mehrheit im Parlament aufzubauen. Er will sowohl mit den Blancos als auch mit dem Encuentro Progresista verhandeln. Denn seine Partei, die Colorados, verfügt im neu gewählten Parlament nicht einnal über eine relative Mehrheit und ist daher auf Bündnispartner und Absprachen angewiesen. Sanguinetti liess aber keinen Zweifel aufkommen, daß für ihn lediglich der moderate Flügel des Encuentro Progresista ein Gesprächspartner sein wird. Die Abgrenzungen haben bereits begonnen: Colorado Politiker beschuldigten den linken Flügel der Frente Amplio, für einige Glasschäden an Parteilokalen und Handgreiflichkeiten gegen Colorado Anhänger in der Wahlnacht verantwortlich zu sein. Man darf gespannt sein, welche Positionen die Frente Amplio in den Gesprächen mit Sanguinetti und seiner Regierungsmannschaft einnimmt.
Sanguinetti hofft auf einen reibungslosen Wechsel. Im Mittelpunkt seines Regierungsprogramms stehen die Förderung der nationalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Inflation und die sozial leicht abgefederte Integration Uruguays in den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR. Für drohende Konflikte zwischen ArbeitnehmerInnen und -arbeitgeberInnen schwebt ihm Sozialpakt vor. Sanguinetti verfügt über beste Beziehungen zum Internationalen Währungsfond und hat bereits in seiner ersten Amtszeit (1985-89) ein Strukturanpassungsprogramm mit der Weltbank unterzeichnet. Er rühmt sich, in seiner letzten Amtszeit keinen einzigen Arbeitskonflikt verloren zu haben. Auf die uruguayischen Gewerkschaften kommen schwere Zeiten zu.
Nein zur Gewalt gegen Frauen
Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) konstatiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, beobachten Menschenrechts- und Frauenorganisationen gleichzeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Diktatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Auseinandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herrschende politische und ökonomische System. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schlagen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivistinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, ermordet und zerstückelt oder – genauso sensationalistisch – vermarktet als strahlende Gewinnerin eines regionalen, nationalen oder weltweiten Schönheitswettbewerbes. Weder die Gewalt noch die Misswahlen kennen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der selben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltriges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldungen nicht. Ein für Zentralamerika einmaliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weiblichen Polizistinnen besetzt ist, registriert nur einen Bruchteil der Gewalttaten, die in der Hauptstadt begangen werden. Und obwohl viele andere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzentren wenden, ist die Zahl der tatsächlichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusammengeschlossen. Das Netz gehört damit zu den wenigen Bewegungen Nicaraguas, die noch nicht von inneren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauengesundheitszentren von Si Mujer und Ixchen, die Stiftungen Xochiquetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzentren von AMNLAE, der sandinistischen Frauenorganisation, die bisher mit den unabhängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewaltigungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zunimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden können und daß sie dieses Unrecht nicht stillschweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Erfolg unserer Kampagne”, so Paola.
Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffentlicht, die kostenlos landesweit mit Auflagen von über 50 000 Exemplaren verteilt wurden. In der leicht verständlich geschriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtliche Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwartet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch immer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chancen, dorthin wieder zurückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinamerikas, illegal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetzbuch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhandlungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Verurteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Jugendliche beiderlei Geschlechts und zeigen, wie Gewaltstrukturen entstehen und wie sie abgebaut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bildungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publikationen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen genutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zusammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominikanischen Republik und Venezuela bei der Generalversammlung der lateinamerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionierung und Vernichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfassende Konvention bietet die rechtliche Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugunsten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Gewaltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäusern und psychologischen Beratungsstellen, die Anstellung speziell geschulten Personals in den Justizapparaten, sowie die Bereitstellung staatlicher Mittel zur Zahlung von Wiedergutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Parlament ratifiziert und in die Praxis umgesetzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Gesundheitspolitik seit der Weltbevölkerungskonferenz vom Opus-Dei-Mitglied und Erziehungsminister Humberto Belli diktiert wird, gerät dadurch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, daher brauchen wir die 40 000 Unterschriften”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.
Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image
Elói Pietá referierte im Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatlicher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Totschlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mitglied zahlreicher Ausschüsse zur Untersuchung von Massakern und Folter in Brasilien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offensichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikanischen Land besondere Ausmaße angenommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasilianischen Gefängnissen ist die soziale Ungerechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Einkommensdelikten”, das ist die erste Bilanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich dabei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 gesetzeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Unterdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist dagegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vorbehaltlos hinter der Militarisierung der inneren Sicherheit standen, hinter den geschaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militärisch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Gesellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Konzepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprüche des Landes in einen Fall von Kriminologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtregierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elaborierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Armee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialeinheiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidrigen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wurden besondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politischen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Kontinuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklettert, sie befinden sich heute in der Kommando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Medien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Verantwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Bestandteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekonstruktion – ,als sie von den Maschinengewehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getroffen wurden. Verletzte wurden anschliessend exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im folgenden Jahr 1993 die Zahl der gesetzeswidrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Regierung will,” so Pietá, “kann sie die Hinrichtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Menschenrechtskampagnen gegen die gesetzeswidrigen Hinrichtungen und Folterpraktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einheiten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogenhandel. Konkurrenzkämpfe unter Drogenkartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg territorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Armee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Drogenhandel sichtbar weiter. Die Profitstrukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz verbindet Militär, Geheimdienste und Polizeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinierten. Heute heißt dieses Zentrum in Anlehnung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidigung” nun “Operationszentrum zur Inneren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheimdienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaffneten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum angekündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerInnen der Armensiedlungen von wesentlichen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durchsuchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort bleiben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen. In jeder brasilianischen Großstadt gibt es Favelas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”
Zwischen Privatisierung und Korruption
In der Tat hat die seit 1992 amtierende Regierung ihr Modernisierungsvorhaben mit zahlreichen Privatisierungen deutlich unter Beweis gestellt. Mit der Modernisierung sollen in Ecuador die Marktkräfte gestärkt werden, um das Land auf die globalen Veränderungen vorzubereiten und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
In Wirklichkeit handelt es sich hierbei nicht gerade um eine neue Strategie, wird doch lediglich der bereits 1982 initierte und seitdem von den nachfolgenden Regierungen praktizierte neoliberale Kurs beschleunigt und vertieft. Eine Verdopplung der Auslandsschulden von 6,6 Milliarden auf 12,9 Milliarden US-Dollar und ein den Verfall der Währung ausdrückender Anstieg des Wechselkurses von 49,8 auf 2118 Sucres pro US-Dollar sind die vorläufigen Ergebnisse der zweijährigen Regierungszeit.
Der Maßnahmenkatalog der ecuatorianischen Regierung, der 1994 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gebilligt wurde, betont die Notwendigkeit, Staatsvermögen in private Hände zu überführen und stellt die Inflationsbekämpfung als Sozialpolitik dar – obwohl der Regierung gerade in dieser Hinsicht jegliche Perspektive fehlt. So soll die Inflationsrate, die Anfang 1992 bei 56 Prozent pro Jahr lag, bis Ende 1994 auf 20 Prozent pro Jahr gesenkt werden. Sind diese Ziele erst einmal erreicht, bleibt die Hoffnung auf ausländische Investitionen, die dem wirtschaftlichen Wachstum den entscheidenden Impuls geben sollen.
Im Bemühen um höhere Steuereinnahmen und größere Liquidität zur Tilgung der Auslandsschulden bediente sich die Regierung eines komplizierten Systems steigender Kraftstoffpreise. In diesem System sind drei Elemente vereinigt: der Preis von auf Erdöl basierenden Produkten, der Preis des ecuatorianischen Rohöls auf dem Weltmarkt und der Wechselkurs zum US-Dollar. Im Falle, daß die ersten beiden steigen, bezahlt der ecuatorianische Konsument weniger, aber sollten sie fallen, trägt die Bevölkerung die Kosten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der Preis für Benzin seit 1992 um 432 Prozent angestiegen ist, womit er noch über den Preisen auf dem nordamerikanischen Markt liegt.
Der propagierte Modernisierungsprozeß zeichnete sich von Anfang an durch eine Reihe von Unschlüssigkeiten, Verzögerungen und Widersprüchlichkeiten seitens der Regierung aus. Dies hatte im ersten Jahr nach ihrem Amtsantritt den Konkurs einiger staatlicher und für die Privatisierung vorgesehener Betriebe zur Folge. Im zweiten Jahr kam der Prozeß besser in Gang, wurde aber von mehreren Korruptionsanschuldigungen sowie fragwürdiger Verwendung der Privatisierungserlöse stark beeinträchtigt.
Geprägt waren die letzten zwei Jahre von Mißtrauen, dem Fehlen einer einheitlichen Führung, der institutionellen Schwäche und der Unfähigkeit der Regierung breite gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung, steigende Arbeitslosigkeit und die Kürzung der Sozialausgaben fügen sich in dieses Panorama ebenso ein, wie die Nichtexistenz einer Sozialpolitik, die die Auswirkungen der neoliberalen Politik mildern könnte.
Modernisierung oder Fetischismus?
Das Projekt der Modernisierung des Staates, versuchte die Regierung den EcuatorianerInnen mittels einer geschickt aufgezogenen propagandistischen Kampagne zu verkaufen. Staatliche Institutionen wurden verleumdet und die Vortrefflichkeit von Privatbetrieben gepriesen. Sehr bald bildete sich jedoch in den unterschiedlichsten Bereichen eine Opposition. Besonders die extreme Vereinfachung des Privatisierungsansatzes wurde kritisiert. Tatsächlich weist das Gesamtprojekt starke Mängel in der Finanzierung auf.
Die Erfahrungen anderer lateinamerikanischer Länder mit Privatisierungen erlauben die Prognose, daß es besonders in drei Bereichen zu Problemen kommen wird: Bei der angemessenen Wertbestimmung des zu privatisierenden Bestands, bei der transparenten Gestaltung des Privatisierungsprozesses und bei der konkreten Verwendung der Privatisierungserlöse. Im Fall von Ecuador ist keines dieser drei Probleme gelöst worden. Ganz im Gegenteil.
Die Zuckerfabrik AZTRA ist einer der bekanntesten Fälle. Sie wurde zu einem symbolischen Preis von 100.000 US-Dollar verkauft, nachdem anfangs zwischen 40 und 50 Millionen US-Dollar geboten worden waren. Um Einzelinteressen entgegenzukommen, wurde eine Krise manipulativ erzeugt, lauten diverse Anschuldigungen. Auch der Verkauf der Zementfabrik “Selva Alegre” paßt in dieses Bild, bei dem der Staat laut Aussagen von Spezialisten ungefähr 30 Millionen US-Dollar verloren hat.
Ein weiterer Skandal erschütterte das Vertrauen in den Präsidenten auf breiter Ebene. So wurde enthüllt, daß die Regierung sich mittels des Finanzministeriums heimlich hunderte Millionen von Sucres von den Konten öffentlicher und staatlicher Banken, sowie von halbstaatlichen Unternehmen angeeignet hat. Zu letzteren zählt auch die Corporación Financiera Nacional, die die Betriebe AZTRA und Cemento Selva Alegre verkauft hat. Anscheinend hat die Regierung das Geld verwendet, um den Schuldendienst zu leisten und damit den vierteljährlichen Überprüfungen des IWF standzuhalten. In jedem Fall ist der Verbleib der Privatisierungserlöse bis zum heutigen Tag von keiner einzigen Behörde offengelegt worden.
Obwohl der Direktor des Nationalen Rats für Modernisierung (CONAM) die Bereiche Sozialversicherung, die Telekommunikation, die Seehäfen, die standesamtliche Registration, die Flughäfen und Zölle zu den Bereichen äußerster Priorität in seinem weiteren Vorgehen erklärt hat, liegt dem IWF eine Absichtserklärung vor, die Wasserkraftwerke, Telekommunikation, elektrische Energie und die Sozialversicherung als Hauptobjekte für mögliche Privatisierungen definiert. Das würde die Privatisierung strategisch wichtiger Sektoren der ecuatorianischen Ökonomie bedeuten.
Was die Verringerung der Staatsquote angeht, so konzentriert sich die Regierung auf den Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor. Bis zum August dieses Jahres wurden 30.000 Stellen abgebaut. Anstelle von Kündigungen ist die Politik der erkauften “freiwilligen” Rücktritte vom Arbeitsplatz eine weitverbreitete Praxis.
Unterdrückung der Ökonomie?
Nach Auffassung vieler Sozialwissenschaftler ist die derzeitige Modernisierung in Wahrheit nichts anderes als eine “modernisierte Unterdrückung der Ökonomie”, da durch die Politik der derzeitigen Regierung die Primärgüterproduktion, insbesondere die Landwirtschaft und die Agroindustrie begünstigt wird. Die Manufakturbetriebe, plötzlich mit dem Wegfall der aus vorangehenden Dekaden gewohnten Anreize und Schutzzölle konfrontiert, sahen sich gezwungen, ihre Produktion einzuschränken und/oder umzustellen. Das einzig Moderne an der derzeitigen Situation ist der juristische und institutionelle Rahmen, sowie das Aufkommen von neuen landwirtschaftlichen Exportprodukten wie Blumen, Pflanzen und tropischen Früchten.
Alltägliche Korruption
Korruption ist in Ecuador nicht nur eine hin und wieder auftauchende Randerscheinug, sondern eine strukturelle Realität. In dieser Amtszeit erreichte sie ein besonders starkes Außmaß. Das von der Opposition immer wieder aufgebrachte Bild des Präsidenten Sixto Durán Ballén als wehrloser, alter Greis mit guten Absichten, der keinerlei Ahnung davon hat, was um ihn herum passiert, kommt der Realität tatsächlich sehr nah. So blüht um ihn herum die Korruption, angefangen in seiner eigenen Familie.
Die Beschuldigungen eines sozialdemokratischen Abgeordneten im letzten August, daß die Nichte des Präsidenten in einen Bestechungsgelderskandal verwikkelt sei, stellt dabei den Höhepunkt dar. Sixto protestierte entschieden und forderte eine sofortige Untersuchung der Angelegenheit bis zur letzten Konsequenz, damit sein Ruf und der seiner Familie gewahrt bleibe. Die Anschuldigungen erwiesen sich als gerechtfertigt. Seine Nichte hatte bewirkt, daß dem Unternehmen “Flores y Miel” seitens der Corporación Financiera Nacional (CFN) ein Kredit von 800.000 US-Dollar gewährt wurde. Und dies, obwohl “Flores y Miel” die Kriterien für einen Kredit nicht erfüllte und bereits Schulden bei privaten Banken hatte. Während der endgültigen Enthüllung aller dieser Verstrickungen befanden sich die Hauptpersonen dieser Affäre – die Nichte des Präsidenten, die Nutznießer des Kredits und der Vorsitzende der CFN – in Miami, um sich vom Streß dieser ganzen unbegründeten Anschuldigungen und anderer Wehwehchen zu erholen.
Die Policía Nacional, ebenfalls von Korruptionsvorwürfen stark bedrängt, mußte im Juli ihre gesamte Führungsspitze neu konstituieren, nachdem sieben ihrer Generäle wegen illegaler Bereicherung ausgeschieden waren. Die Hauptanklage richtete sich gegen den Exkommandanten Guido Nuñez. Die Anklage offenbarte die Ausmaße der existierenden Korruption und war der Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen, ohne daß es bisher zu konkreten Verurteilungen gekommen ist.
Mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit der verschiedenen öffentlichen Institutionen ist es nun wohl endgültig vorbei. Innerhalb des Polizeikorps kommt es jetzt auch zu ersten Prozessen hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen vor einigen Jahren, unter denen der Fall der 1988 verschwundenen Brüder Restrepo besonderes Aufsehen erregte.
Kasten 1:
Die neun Leben des Präsidenten
Im November 1994 mußte der ecuatorianische Präsident Sixto Durán Ballén, genannt “el viejito” (immerhin schon über achtzig Jahre alt) zweimal innerhalb von zwei Wochen sein eigenes Ableben, über das hartnäckige Gerüchte kursierten, dementieren. Der ehemalige Architekt bemerkte dazu nur, er habe offensichtlich die neun Leben einer Katze, und er sei froh, daß ihm auf diese Weise noch sieben Leben blieben…
Nicht gerade zur Stärkung des allgemeinen Respekts gegenüber dem Präsidenten weiß Vizepräsident Dahik, der starke Mann im Hintergrund, seine Position zu nutzen. So hat er auch ein gewisses Talent entwickelt, beim Inkrafttreten neuer von ihm propagierter Gesetze im Ausland und damit außerhalb der Schußlinie des Bevölkerungsprotests zu sein. So kommt es inzwischen beispielsweise zu grotesk langen Schlangen an Tankstellen und anderen Panikkäufen, sobald erste Gerüchte einer Staatsreise des Vizepräsidenten in der Luft liegen.
Aber auch andere reisen gerne. Das Magazin Vistazo wählte den Abgeordneten Rubén Vélez der Democrácia Popular zum meistgereisten Parlamentsvertreter des Jahres. Allerdings konnte er seinen Vorsprung gegenüber den Kandidaten aller anderen Parteien nur knapp behaupten. Was das konkrete Interesse für ecuatorianische Angelegenheiten bei Reisen nach zum Beispiel Nordkorea und Kamerun war, bleibt in der Statistik offen.
Elisabeth Schumann
Kasten 2:
Die Farbe unserer Gefängnisse
“Wenigstens lassen sie uns die Farbe unsere Gefängnisse wählen…” steht auf einer Hauswand in der Nähe der Universidad Central in Ouito. Auch wenn die Tageszeitungen die Ergebnisse des Ende August durchgeführten Plebiszits euphorisch mit “Ja zum Wechsel” und ähnlichem betitelten, so kommt das Graffiti der in der Bevölkerung vorherrschenden Meinung wohl näher.
Eine eigentlich überhaupt nicht vorhandene Informationspolitik seitens der Regierung zum Thema Volksabstimmung wirkte Mißtrauen und Nichtbeachtung nicht gerade entgegen. Bei einer Umfrage zwei Wochen vor der Befragung zeigte sich, daß zwar die meisten davon gehört hatten. Was aber genau gefragt werden sollte, war dem Großteil der Bevölkerung völlig unklar. Und immerhin besteht Wahlpflicht. Es schien, daß das an diesem Wahlwochenende verhängte Ausschankverbot mehr Diskussionen verursachte als das Plebiszit selbst.
Nach der Auszählung der sieben zum Teil unklar formulierten Fragen interpretierte die Regierung Durán Ballén diese Folgerungen:
Erstens: Das Volk hat sich klar für eine Reformierung der Konstitution entschlossen. Zweitens: Die Wiederwahl eines Präsidenten wird prinzipiell befürwortet. Bisher bedeutete in Ecuador jede Wahl automatisch einen neuen Präsidenten. Diese Änderung könnte bei den in zwei Jahren anstehenden Wahlen interessante Folgen haben, da sämtliche Präsidenten der letzten Jahrzehnte – angefangen mit Osvaldo Hurtado über León Febres Cordero und Rodrígo Borja bis hin zu Sixto persönlich – theoretisch eine Wiederwahl anstreben könnten. Und drittens können in Zukunft auch Parteilose im politischen Geschehen mitwirken.
So weit, so gut. Böse Stimmen behaupten, die Regierung hätte nun endlich eine konkrete Aufgabe für die nächsten zwei Jahre: die Auslegung und Wiederneuauslegung der Volksabstimmung…
Elisabeth Schumann
Die Ästhetik der Herrschaft
Eine Untersuchung der verblüffend leicht erreichten Veränderungen während der Amtszeit Menems muß zwei Aspekte berücksichtigen: Zum einen haben die konkreten Auswirkungen der sozioökonomischen Krisensituation weite Teile der argentinischen Bevölkerung dazu gebracht, ein stark geschwächtes Parlament, eine bis in die Reihen des Obersten Gerichts der Regierung untertänige Justiz, sowie eine immer machtvollere Exekutive zu akzeptieren. Zum anderen ändert sich das Wahrnehmungsverhalten von Politik durch “postmoderne” oder “post-politische” Betrachtungsweisen, die eng mit dem Aufstieg des Fernsehens als politischem Medium verbunden sind.
Innenpolitische Befriedung
Menems Vorgänger Raúl Alfonsín war es weder gelungen, dem sich ständig verschlechternden Verhältnis zwischen Zivilregierung und Militär entgegenzuwirken, noch die teilweise galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Trotzdem schon unter Alfonsín die meisten Verfahren gegen die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärregierung eingestellt worden waren, stellte erst Menem eine innenpolitische Befriedung her, indem er auch die im Gefängnis sitzenden ehemaligen Junta-Mitglieder begnadigte. Die Strafverfolgung und die Verurteilung von denjenigen, die verantwortlich für die brutalste Repression waren, die Argentinien je erlebt hat, war ein überaus bedeutsamer Moment in der Wiederherstellung eines Gerechtigkeitsideals und des kollektiven Erinnerungsvermögens an die Ereignisse unter der Diktatur gewesen. Der plötzliche Abbruch von Hunderten von Gerichtsverhandlungen und vor allem die Begnadigung von verurteilten und inhaftierten Militärs aber machten Menschenrechte zu einem Thema von gestern, einer Vergangenheit, die Menem hinter sich bringen wollte. Somit leitete er einen Kurs des “Vergessens” ein, von dem das Militär profitierte. Durch das von der Regierung betriebene Zuschlagen der Aktendeckel – die so mit jeder Form von Gerechtigkeitsempfinden brach – wurde die Instabilität des Verhältnisses zwischen Regierung und Militär deutlich verringert. Aber anderseits wurde damit auch die Erinnerung an die Ereignisse des letzten Jahrzehnts stark geschwächt. Die Begnadigungen beenden ein Thema, das nicht nur politisch oder rechtlich bedeutsam ist, sondern auch eine herausragende moralische und kulturelle Relevanz hat.
Preisstabilität geht vor Sozialpolitik
Die Hyperinflation wurde erst einige Monate nach Menems Amtsantritt durch Maßnahmen des Wirtschaftsministers Domingo Cavallo unter Kontrolle gebracht. Die wiederkehrenden Wellen von sprunghafter Geldentwertung hinterließen tiefe Eindrücke politischer wie auch kultureller Art in der argentinischen Bevölkerung. Diese haben mittlerweile den Charakter einer Besessenheit gewonnen, so daß öffentlich und privat fortlaufend wiederholt wird, alles sei besser als eine Wiederkehr der Inflation. Somit kam es unter weiten Teilen der Bevölkerung zur unausgesprochenen Übereinkunft, der Regierung Menem einen “Blankoscheck” unter der Bedingung auszustellen, daß eine minimale Stabilität gewährleistet werde.
Auch heute sind die kulturellen Stempel der Inflation deutlich zu sehen. Zunächst setzte sich die Haltung durch, daß alle anderen ökonomischen und sozialen Forderungen hinter der Erlangung von Preisstabilität zurückstehen müßten, was sogar von den Hauptbetroffenen der neuen Wirtschaftspolitik geteilt wurde. Die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit war bereit, den Preis zu zahlen, der von der Regierung als notwendig dargestellt wurde, um ein erneutes Abgleiten in eine chaotische wirtschaftliche und soziale Lage zu verhindern. Somit wurden die Ausführungen von Menem und Cavallo über die Vorzüge des freien Spiels der Marktkräfte und über die negativen Auswirkungen von Staatseingriffen als Beschreibung einer Realität angenommen, die man zu akzeptieren habe. Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Ausdruck veränderbarer sozialer Verhältnisse gesehen, sondern wurde zu einem Naturereignis, dessen Auswirkungen man eben ertragen müsse.
Außerdem wurde der Bevölkerung eingeredet, man könne zur schnellen Wiederherstellung von wirtschaftlicher Stabilität nicht alle institutionellen Formalitäten einhalten. Um die Inflation zu überwinden, müsse man die Entscheidungsbefugnisse in der Exekutive und nicht im Parlament konzentrieren. Da man schnell und einheitlich handeln müsse, seien Debatten im Kongreß zu vermeiden, da sonst kostbare Zeit zur Erlangung wirtschaftlicher Ordnung verloren ginge. So wurde die Rolle des Parlaments im politischen Prozeß als ein Hindernis für das Gemeinwohl dargestellt.
In diesem Zusammenhang bot sich Präsident Menem der Rückgriff auf zwei Handlungsweisen. Zum einen konnte und kann er das Parlament durch das verfassungsrechtlich bedenkliche Mittel des Erlassens von Dekreten übergehen. Diese Vorgehensweise hat die Exekutive zu einer legislativen Kraft gemacht und die Funktionen des Parlaments geschwächt. Zum anderen haben sich Menem wie auch Cavallo zu Vermittlern ihrer Politik in den Massenmedien gemacht und ein demagogisches Verhältnis zur Öffentlichkeit hergestellt. Der eine wurde so zum charismatischen Retter und der andere zum unfehlbaren Technokraten.
Populismus im nationalistischen Stil
Eine neue Form der Herrschaftsstrategie bildet sich heraus, in der sich Wirtschaftliberalismus mit dem politischen Stil vermischt, den Präsident Menem bei den Peronisten gelernt hat. 1989 erwarteten die Menschen vom neugewählten Menem, daß er ein populistisches Programm im nationalistischen Stil durchführen würde. Innerhalb einiger Monate allerdings überzeugte er viele seiner Anhänger von der Notwendigkeit, einen scharfen Kurswechsel hin zu einer neoliberalen und monetaristischen Politik zu verfolgen, die von Peronisten bisher stets als Ausdruck oligarchischer und anti-nationaler Haltung angesehen worden war. Diese ideologische Wandlung durchzog sowohl die Handlungen, als auch das Auftreten der Regierung.
Es ist erhellend, das öffentliche Auftreten Menems als populistischer Führer während der Präsidentschaftskampagne 1988 mit seiner Präsenz bei einer Militärparade zwei Jahre später zu vergleichen, um Zeichen einer einschneidenden kulturellen Neugestaltung zu verfolgen. Ein Wechsel wird deutlich, von Menem, dem Retter und der Hoffnung der Verarmten zu Menem, dem Garanten der Wiedereinsetzung der Mächtigen. Während des ersten Ereignisses stellte Menem alle Attribute eines plebejischen, massenmedialen Populismus zur Schau, während die Symbole der Aussöhnung von Militär und Zivilregierung bei der Parade das Militär erhöhten und somit die “Operationen” krönten, die mit der Begnadigung begonnen hatten.
Hoffnungsträger der Armen
Die kulturelle Bedeutung des Wechsels von Kulisse und Aussage ist unschätzbar. Die Veranstaltung 1988 im Fußballstadion griff zurück auf die reichhaltigen Symbole der Geschichte des Peronismus. Menem erschien, ganz in weiß gekleidet, als Hoffnungsträger, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, als Anwalt der Niederen, als Politiker, der, aus dem Inneren des Landes kommend und verwurzelt im Herzen der Massenbewegung, die Bedürfnisse und Sorgen der Menschen verstehen könne. Er versprach Umverteilung, Vollbeschäftigung und hohe Löhne in nächster Zukunft. Er benutzte Worte, die zur ideologischen Tradition seiner Zuhörerschaft paßten: Arbeit, Respekt, Würde, Zufriedenheit, Gerechtigkeit. Unter Verwendung von populistischer Rhetorik versuchte er, den Platz einzunehmen, der seit dem Tod Perons verwaist ist: ein charismatischer Staatschef; eine Führungspersönlichkeit außerhalb des bürokratischen Apparates; ein Mann aus dem Landesinneren unter Politikern aus Buenos Aires; jemand mit Ehrfurcht vor den historischen Traditionen der peronistischen Bewegung.
Auf dieses Erscheinungsbild, das durch seine körperliche Präsenz im offenen Wahlkampfwagen “menemóvil” noch unterstrichen wurde, gründete Menem seine Kandidatur und seine Wahlkampagne. Er bot dem politischen Theater seinen Körper an, der als fleischgewordene Versprechung seiner Botschaft sichtbar und berührbar war. Im Fußballstadion stieg er von Scheinwerferlicht umfangen in sein “menemóvil” – wie ein wahrer Held der volkstümlichen Erlösung, der mit der Ästhetik von Pop und Rock umzugehen weiß. In fluoreszierendem Weiß und von einem einzelnen Lichtstrahl erleuchtet, bewegte sich Menem durch das Stadion auf die Rednerbühne zu. In seiner Kampagne vermittelte Menem ständig das Gefühl von Nähe: man konnte ihn ankommen oder vorbeigehen sehen; man konnte ihm folgen.
Aufwertung der Militärs
Während der Militärparade vom 9. Juli 1990 zeigte der neue Menem, nunmehr Präsident, daß sein kulturelles Zitieren des Peronismus der 50er Jahre nicht mehr war als eben ein Zitat, ein fragmentarisches Ereignis, welches in Anführungszeichen gesetzt werden muß.
Der Anblick der Militärparade war bemerkenswert: Die Streitkräfte breiteten sich durch die Straßen der Stadt aus, und auf einem Podium, umgeben vom gesamten Kabinett, überschaute der Präsident, unbeweglich, das Vorbeimarschieren der Truppeneinheiten. Auch wenn die Streitkräfte formell den Repräsentanten der Republik salutierten, so legitimierten eben jene Vertreter, mit starren Blicken die Parade fixierend, die umstrittenste Institution Argentiniens. Menem, der weiß, wie man kulturelle Ereignisse aufbauen muß, wandelte diese Parade in eine Aussage zugunsten der Wiederbegründung des Paktes zwischen Gesellschaft und Armee um.
Menem war sich bewußt, daß die Begnadigung alleine nicht ausreichte, da sie sich auf zunächst juristischem und nicht auf kulturellem Gebiet bewegte. Deswegen trug er dafür Sorge, daß die Aufwertung des Militärs in einem innerstädtischen, bedeutsamen Rahmen stattfand. Der noch immer bestehende Konflikt zwischen Gesellschaft und Militär benötigte eine allegorische Auflösung in Form einer fünfstündigen Parade, die in einer langen und ermüdenden Übertragung die Fernsehbildschirme entlangrollte. Die stete visuelle Wiederholung von Panzern, Flugzeugen und marschierenden Einheiten hatte eine tiefgreifende ideologische Bedeutung, da durch die immer gleichen Bilder nur eine Aussage wahrzunehmen war: Die Zeit des Debattierens über die Diktatur ist vorbei. Gleichzeitig wurde zudem deutlich, daß jedwede Diskussion über eine Zukunft, deren Gestalt bereits in ihren Umrissen feststand, ebenfalls nicht erwünscht ist. Die Versöhnung der Regierung Menem mit den Streitkräften nahm andere Allianzen sowohl mit einheimischen Wirtschaftskräften wie auch mit den USA vorweg, was sich in der Zusammenkunft von Truppenverbänden, Mitgliedern der Zivilregierung und ausländischen Botschaftern deutlich widerspiegelte.
Einfache Lösungen gesucht
In einem Land mit einer starken Präsidentschaft wie Argentinien spielt der Staatschef eine bedeutsame Rolle bezüglich der Diskursbestimmung. Menems Stil ist auf die Massenmedien zugeschnitten: er verachtet Ideen; er klammert komplexere Fragen häufig aus; er folgt den Rezepten für einfache Lösungen; er sieht auf nachdenkliche und beratschlagende Arten der politischen Entscheidungsfindung herab und er weist zynisch alle Werte der peronistischen Tradition zurück, die auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft abzielen. Dieser Stil hat bedeutendes Gewicht in der gegenwärtigen kulturell-politischen Krise.
Die Konsequenzen sind deshalb so bedenklich, weil heutzutage nur vorsichtig abwägende Politikgestaltung, die Unabhängigkeit der drei Regierungsgewalten sowie das vollständige Funktionieren der politischen Institutionen einem präsidentialen Willen Paroli bieten könnten, der ganz und gar an den Interessen der Mächtigen ausgerichtet ist. Durch massenmediale Moral, Ästhetik und Kultur wurden die Grundwerte einer gerechten und kooperativen Gesellschaft durch einen Wirtschaftdarwinismus ersetzt, der prägend für eine neue, individualistische Ellenbogenkultur wirkt.
Audiovisuelle Hegemonie
Ein Aspekt der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Politik und Gesellschaft ist die Schwächung der öffentlichen Kultur. Als politische Diskussionen, parlamentarische Vertretung und andere Formen kollektiver Partizipation weniger bedeutsam wurden, besetzten die Medien und insbesondere das Fernsehen einen entscheidenden Platz zur Herstellung von Öffentlichkeit.
Heute ist es unmöglich, an Politik ohne Fernsehen zu denken. Diese Entwicklung gilt zwar für alle westlichen Länder, hat aber in Argentinien eine andere Bedeutung, da eine Bildungskrise sowie steigende Analphabetenraten mit einer audiovisuellen Hegemonie über die symbolische Dimension des Sozialgefüges zusammentreffen. Dieser Prozeß wird von privaten Fernsehkanälen vorangetrieben, die sich einzig an Profitmaximierung ausrichten. Im argentinischen Fernsehen gibt es kein starkes Gegengewicht zum Kapitalismus: Der einzige Staatssender befindet sich fest in Regierungshand, und es gibt keinerlei sonstige öffentliche Kanäle. Der Markt entscheidet derzeit alleine über Beschaffenheit, Ästhetik und Ideologie der audiovisuellen Sphäre.
In diesem Raum werden Politik und politische Kultur geformt, lediglich in Reaktion auf Verschiebungen und Interessen des kapitalistischen Marktes der symbolischen Güter, ohne daß es Gegengewichte oder Ausgleichsmechanismen gäbe. Eine gemeinsame Kultur wird vorgespiegelt, die Darsteller verbindet, deren symbolische und tatsächliche Macht sehr unterschiedlich sind. Dies mag zwar ein Minimum von kulturellem Zusammenhalt garantieren, ist aber nicht im Sinne einer Gemeischaft verbindend.
Politik nach Mediendiktat
Der Diskurs der Massenmedien komprimiert die Gesellschaft und gibt das Bild einer einheitlichen kulturellen Landschaft vor, in der Widersprüche in einem weitläufigen Raum vieler Stimmen aufgelöst werden, die sich nicht unbedingt aufeinander beziehen. Es ist nicht so, daß die Medien besonders demokratisch wären, sondern sie müssen einfach alle Diskurse mit einbeziehen, um einen umfassenden, universalen Raum präsentieren zu können. Dieser Medienästhetik gibt die Politik nach. Die Medien werden als Vertreter der Allgemeinheit akzeptiert. Die Politik nimmt sogar die formalen und rhetorischen Limitierungen an, die ihnen die Medien auferlegen: Geschwindigkeit, Vielfalt, Redefluß – Eigenschaften, die häufig an eine politische Show oder an akustische Bruchstücke aus den USA erinnern.
Überzeugt von der Bedeutung der Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit, akzeptieren Politiker die Auffassung, daß Ideenaustausch, längere Debatten, komplizierte Ausführungen und die Darstellung tiefgründiger Positionen nicht fernsehgerecht seien. Sie pflegen eine mediale Selbstdarstellung, die sowohl auf der Vereinfachung ihrer Aussagen, wie auch auf der Illusion von Nähe und Vertrautheit basiert: “Wir sind nicht anders als ihr; wir repräsentieren euch und umgeben uns gleichzeitig mit Fernseh-Berühmtheiten. Wir vertreten die Menschen durch das, was ihnen am nächsten ist: der Fernseher im Wohnzimmer oder in der Küche.” Dadurch entsteht eine Armut an Meinungen, ein Ausdünnen immer komplexerer Probleme und ein Bilderfluß, in dem das “hier und jetzt” auf Vergeßlichkeit baut. Um zu existieren, brauchen Politiker – die klassischen Vermittler zwischen Bürgern und Institutionen – das Fernsehen, um zum Großen Allumfassenden Vermittler zu werden. Sie sind Gefangene der Massenmedien.
Dieser Wechselwirkung ist schwer zu widerstehen. Politik wird durch den Nachrichtensprecher aufgebaut, die Nachrichtensendungen gewichten die eingehenden Meldungen. Die Glaubwürdigkeit wird den politischen Köpfen genommen und nunmehr von den Chefetagen der Massenmedien aus verwaltet. Streitkultur wurde durch ein politisches Trugbild verdrängt, welches nicht in politischen Institutionen gedeiht, sondern in der Welt des Fernsehens beheimatet ist. Politik in den Massenmedien wird den Gesetzen untergeordnet, die den audiovisuellen Fluß steuern: starker Eindruck, große Mengen undifferenzierter visueller Information und eine künstliche Schwarz/Weiß-Malerei, die eher an eine Seifenoper als an ein öffentliches Forum erinnert.
Präsident Menem ist fraglos ein Meister der audiovisuellen Kommunikation. Sein Stil hat sich nahtlos dem Stil des Fernsehens angepaßt. Er hat sein Image nicht durch Darlegung von Ideen begründet, was eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Werte und Interessen erlaubt hätte, sondern durch eindrucksvolle Kurzauftritte, die vorsichtig aufeinander abgestimmt sind und in denen ein simples Freund/Feind-Schema präsentiert wird.
Politik braucht Ideen und Bilder
Obwohl es nicht realistisch ist, nostalgisch von der Rückkehr der Politikformen zu träumen, die vor der Kulturrevolution der Massenmedien existierten, ist es doch schwer zu akzeptieren, daß Politik nur in dem von den Medien erlaubten Rahmen besteht. Man kann sich Veränderungen in der Politik der Medien vorstellen. Zweifellos sind Fernsehnachrichten nicht überall so schlecht wie in Argentinien, und müssen nicht alle Korrespondenten sensationssüchtige Agitatoren sein. Es gibt kein mit dem Fernsehen verbundenes Schicksal, dem man nicht entkommen könnte.
Das Erscheinungsbild der Politiker entsteht nicht nur in den Medien. Wir können hoffen, daß Politiker ihrem Auftrag gerecht werden: einem Bedürfnis Ausdruck zu geben, das über das eigene hinausgeht und an deren Ausformung sie mitarbeiten. Politik braucht heute sowohl intellektuelle Perfektion wie auch mediale Vermittlung. Sie braucht Ideen ebenso wie Bilder. Die Ästhetik der audiovisuellen Medien neigt zum Ausschluß von Diskursen mit einem intellektuellen Anstrich. Dieser Konflikt drückt ein tief verwurzeltes Verhältnis aus, das von Intellektuellen und Politikern gleichermaßen angenommen wurde.
Politiker, Intellektuelle und Fernsehkommentatoren beziehen zumeist eine neutrale und “beschreibende” Haltung, wenn sie sich mit den Konsequenzen der Hegemonie der Massenmedien über die symbolische Dimension des gesellschaftlichen Lebens befassen. Einige bezweifeln die negativen Auswirkungen des Fernsehens, da die Öffentlichkeit Nachrichten umdeute und so neue Inhalte produziere. Sie vergessen dabei allerdings, daß die Bevölkerung sich nur begrenzt neue Inhalte schaffen kann, da sie mit dem begrenzten Material arbeiten muß, das ihnen das Fernsehen anbietet. Natürlich werden von dieser Seite keine größeren Veränderungen im Umgang mit den Medien vorgeschlagen und auch nicht befürchtet, daß die Privatinteressen der Medienmogule ausschlaggebend bei der Bildung der öffentlichen Meinung sind.
Reformperspektiven
Dieser Meinung, die durch ihren Optimismus bezüglich der Ergebnisse des kapitalistischen Marktes gekennzeichnet ist, kann man kritische und reformerische Perspektiven entgegensetzen. Intellektuelle – besonders linke Intellektuelle – können eine entscheidende Rolle spielen, indem sie neue Denkanstöße geben, wie Medien auf eine demokratische, nachdenkliche, phantasievolle und durchschaubare Weise genutzt werden können. Sicher, diese neuen Ideen würden auf eine enorm konzentrierte Macht treffen. Doch neue ideologisch-kulturelle Perspektiven können ein befriedigendes Echo in den Medien finden, gerade weil diese verplichtet sind, alles von einer gewissen öffentlichen Bedeutung einzubeziehen.
Die jüngsten Wahlen in Argentinien vom April dieses Jahres haben gezeigt, daß man sich Elemente einer politischen Kultur vorstellen kann, die nicht zwangsläufig zu Gefangenen der audiovisuellen Ideologie und Ästhetik werden. Die Mitte-Links-Partei Frente Grande wurde in diesen Wahlen zur drittstärksten Kraft. Die Kandidaten benutzten die Medien mit dem Ziel, vielschichtigere Diskussionen einzuführen. Die Frente Grande wurde auf soziale Bedürfnisse aufmerksam, die weder vom Peronismus noch vom Radikalismus vertreten wurden, und verstanden es, aus den zunehmenden Rufen nach Transparenz, Ehrlichkeit und Fähigkeit im politischen Leben Vorteile zu ziehen.
Die Situation ist besonders lehrreich. Einerseits bemerkten diese neuen politischen Akteure – einige kamen aus der Menschenrechtsbewegung, andere aus künstlerischen und intellektuellen Bereichen – die Macht der audiovisuellen Medien in der Herstellung von Öffentlichkeit. Gleichzeitig aber lernten sie, mit dem Fernsehen umzugehen, ohne sich allen seinen Ritualen zu unterwerfen. Sie schlugen sogar eine neue Art des politischen Diskurses im Fernsehen vor.
Ein anderer politischer Stil, ein bewußt kritischer Umgang mit den Medien ist somit möglich. Grundlage dafür muß die Erkenntnis sein, daß die bedingungslose Akzeptanz der schlechtesten Aspekte der jetzigen massenmedialen Kultur das Hervortreten neuer Ideen verhindert.
Ein neues Kapitel der Vergangenheitsbewältigung
Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineoffiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an systematischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang November aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterrorismus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsident Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjenigen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unübersehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffengewalt, die die Diktatur als System etablierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land regierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politischen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Menems. “Damit hat er uns ins Gesicht gespuckt. Das ist wirklich sehr schwerwiegend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen gegen die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorganisation Böswilligkeit und bewußte Falschinterpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter gerechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Praktiken” angewendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Verschwundene und Verletzte verursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subversion aufgrund des Entschlusses der Präsidentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gouverneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Guerilleros/as, speziell der Montoneros gehört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestanden, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiterhin als “Subversiver” bezeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach seinem Amtsantritt 1989 versucht, das Verhältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestierung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsminister Cavallo sich dem hartnäckig widersetzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufgeräumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück geschaut habe.
Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?
Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppelzüngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppungen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies bedeutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ihrer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiterhin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschenrechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten darüber informierte, daß sie sich weigern dürfen, Befehle zu verfolgen, die die Menschenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein ständiges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty international, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisationen und der Besuch von UNO-Sonderberichterstattern Anfang Oktober in Kolumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der internationalen Öffentlichkeit wächst das Bewußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhältnisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräften, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäische Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der kolumbianischen Regierung, die sich in Anwesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Menschenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper angekündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position seines liberalen Parteifreundes und Amtsvorgängers Gaviria ab, der nach dem Scheitern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Guerillera Simón Bolívar” zusammengeschlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ihrer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regierung Samper lehnte ein direktes Dialogangebot der FARC jedoch mit dem Argument ab, die Guerilla müsse klare Beweise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse allerdings langsam und schrittweise vorgehen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Militär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesellschaftliche Druck nicht nur die Kriegsparteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ursachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeitplan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.
“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”
LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Guerilla gehen unvermindert weiter. Stehen die Friedensbemühungen vor einem erneuten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, beginnen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung gegeben hatte. Im Gegenteil hatte die Regierung Gaviria nach dem Scheitern der Verhandlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und militärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhandlungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestreben der Regierung, der Gewalt und den Verletzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Beispiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dynamischere, entschiedenere Haltung als die vorhergehende. So hat sie beispielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Regierung und den Menschenrechtsorganisationen, damit diese im Senat eine klarere Position bezöge. Die Regierung distanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mittlerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versuchen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger geworden. Neue repräsentative Umfragen haben ergeben, daß trotz einiger Guerillaaktionen, die öffentliche Ablehnung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Verhandlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstützung haben wie zu anderen Zeiten. Offenbar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche beginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem bestimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zunahme der Aktivitäten von Todesschwadronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kommunistische Parlamentsabgeordnete, ermordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitäten ist wohl die bevorzugte Form der Militärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathisanten der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an einigen Gewerkschaftsführern in Antioquia oder Todesdrohungen gegenüber politischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit regierungskritischen Positionen an den Diskussionen beteiligen wollen. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Faktor bei zukünftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpedieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argumenten wurde schon die ehemalige Guerilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht erpressen lassen, sondern muß die Regierung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Paramilitärs als ihre Verantwortlichkeit anzuerkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwahlen im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blieben allerdings intakt. Politisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Einfluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahrzehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wissen, daß sie ohne bestimmte Übereinkünfte mit ihr nicht regieren können. Dies wurde von der Rechten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen anerkennen, daß die Guerilla keine Kriminellenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die linken Parteien in der Lage, den erforderlichen Druck auf die Regierung auszuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es gegenwärtig in der Gesellschaft ein eindeutiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla verlangten, haben heute die realistische Einschätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Abwesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position vollständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedingungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Einige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozessen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesellschaftlichen Gruppen bei den Friedensgesprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoliberale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausgaben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar darüber im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Bewegungen und die Guerilla müssen verstehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich geschaffen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungsschichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen VertreterInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Um unnötige Risiken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Bewegungen von der Regierung konkrete Sicherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien politischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusammenarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtigkeit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu akzeptieren. Eine internationale Kontrollkommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde allerdings noch keine vollen Sicherheitsgarantien gewährleisten. Auch in diesem Bereich muß man Schritt für Schritt vorgehen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr präzise Antwort. In der Zeit, als das Medellín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Drogenkartell und der Aufstandsbekämpfungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und paramilitärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhandel zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Castano versuchen werden, sich in die Verhandlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß integriert werden. Die Regierung hat angekündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräften in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Vergangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist geschwächt, das Cali-Kartell ist an Verhandlungen interessiert, weil sie wissen, daß sich in Zukunft der Druck auf sie erhöhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbianischen Regierung oder der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA, da diese sich auf das Medellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zusammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsorganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechtsgruppen sind der Meinung, daß eine Legalisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist allerdings nicht akzeptabel, daß die Menschenrechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbekämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu akzeptieren, daß die Strafe für diese Verbrechen zwischen ihnen, der Staatsanwaltschaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Telefongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft verurteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfahren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisieren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhandels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Geschäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Drogenhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einhergeht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt allerdings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkriminalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschenrechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstützung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internationalen Kampagne von “amnesty international” und der Vorlage des Berichtes der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, befindet sich die kolumbianische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unternimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschenrechte im Verteidigungsministerium einrichtet.
Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, daß sie anfängt, die kolumbianische Regierung nicht mehr als ohnmächtiges Opfer, sondern als Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsverletzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die internationale Gemeinschaft sich mit der Situation in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien ernannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regierung enorme Angst, durch ihre Verletzungen der Menschenrechte einige ökonomische Vorzugsbedingungen im Exportbereich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäischen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Regierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öffentlichkeit ausgeht, ist daher von entscheidender Bedeutung.
Die Stimme der Vernunft
Die Herausforderung steht klar vor Augen: Die Temperaturen steigen global, die Ozeane nagen jedes Jahr mehr an Inseln wie Tuvalu und Sylt, und die Gletscher in den Alpen sind so mickrig wie seit Jahrtausenden nicht mehr. Von Dürrekatastrophen in Australien und dem heißesten Juli seit Menschengedenken in Deutschland ganz zu schweigen.
Die Gefahr hat einen Namen: Klimakatastrophe. Und sie hat eine Hauptursache: Den weltweit ungebremsten Verbrauch fossiler Brennstoffe und die dabei entstehenden Kohlendioxid-Emissionen. Sie sind allein für die Hälfte des bedrohlichen, von Menschen gemachten, Treibhauseffektes verantwortlich. Doch die Gefahr ist erkannt. Mehr noch: Die internationale Staatengemeinschaft hat einen Mechanismus etabliert, um die Gefahr zu bannen: Die Klimakonvention und die in ihr vorgesehenen jährlichen Klimagipfel. Wie die Gefahrenabwehr praktisch aussehen soll, können DiplomatInnen aus 150 Ländern auf dem ersten dieser Klimagipfel im kommenden März in Berlin zeigen. Wenn die Klimakatastrophe abgewendet werden soll, kommen die Industriestaaten nach Ansicht der großen Mehrheit der WissenschaftlerInnen nicht umhin, völkerrechtlich verbindlich zu erklären, daß sie ihre Kohlendioxid-Emissionen sowie die der anderen wichtigen Treibhausgase Methan, Lachgas und Ozon verringern wollen. Mit anderen Worten: Sie müsssen EnergieverschwenderInnen in den Industrieländern die Daumenschrauben anlegen und die in Rio 1992 verabschiedete Klimarahmenkonvention deutlich verschärfen.
Verzicht auf fossile Energien
Die härteste Vorgabe für die Klimakonvention wurde in Rio gleich mitbeschlossen; sie findet sich in Artikel 2 der Klimarahmenkonvention, in dem es unmißverständlich heißt, daß die Konzentration der schädlichen Kohlendioxidmoleküle in der Atmosphäre stabilisiert werden muß – auf einem Niveau, das unschädlich ist
Was die Stabilisierung der Konzentration des Kohlendioxids bedeutet, können WissenschaftlerInnen leicht ausrechnen: Es darf “einfach” nicht mehr so viel Kohlendioxid in die Luft geblasen werden. Wenn aber die Menschheit, und das heißt immer noch vor allem in den Industrieländern, auch nur auf dem heutigen Niveau weitermacht, würde die Zahl der Kohlendioxid-Moleküle in der Atmosphäre für weitere hundert Jahre steigen.
Die 20 Prozent – ein Ziel
für alle Industrieländer
Eine Trendwende ist also dringend erforderlich. Wie diese aussehen könnte, hat das internationale WissenschaftlerInnengremium der UN, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), schon 1990 ausgerechnet. Weltweit muß die Emission von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 um 60 Prozent zurückgehen. Und die Industrieländer müssen ihre heutigen Emissionen sogar um 80 Prozent verringern. “Praktisch heißt das, wir müssen bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts auf fossile Energien verzichten”, versucht Hartmut Graßl, Professor für Meteorologie, die Dimension der Aufgabe deutlich zu machen.
Deutsche und internationale Umwelt- und Entwicklungshilfeorganisationen haben im vergangenen Jahr vor dem Hintergrund dieser Riesenaufgabe für den Gipfel in Berlin nach einem ersten Schritt gesucht. Was lag näher als ein Blick in die bisherige Klimapolitik fortschrittlicher Industrieländer. Das Ergebnis: Acht OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und die Slowakische Republik haben sich bereits das Ziel gesetzt, auf nationaler Ebene die heimischen Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahr 2005 um rund 20 Prozent zu verringern.
Chance für eine ökologische
Steuerreform in Deutschland?
Die im Klimaforum ’95 zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen gehen vor dem Gipfel noch einen Schritt weiter. Sie geben sich nicht nur damit zufrieden, eine Meßlatte aufzulegen, über die die Regierungen in Berlin springen sollen, sondern sie sparen auch nicht mit Hinweisen und Ratschlägen, wie die Höhe zu meistern sei. Zum Beispiel eine ökologische Steuerreform. Sie macht den Verbrauch von Energie teuer und dämmt ihn somit ein. Sie schützt damit zum einen das Klima, gleichzeitig kann sie, wenn die eingenommenen Gelder über die Sozialversicherungen den BürgerInnen zurückgegeben werden, hunderttausende neuer Arbeitsplätze schaffen. Energie wird teurer, Arbeit billiger. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, daß eine solche Besteuerung des Energieverbrauches in der Bundesrepublik etwa 500.000 neue Arbeitsplätze schaffen würde. Eine von der Kommission der Europäischen Union in Auftrag gegebene Studie kam für die EU zu einer vergleichbaren Zahl. Zwei Millionen Arbeitsplätze, so die Studie, würden EU-weit neu geschaffen.
Damit sind die Möglichkeiten, mit Vereinbarungen in Berlin die “magischen” 20 Prozent zu erreichen, aber noch lange nicht ausgeschöpft. Die Staatengemeinschaft sollte sich nach Ansicht der Nichtregierungsorganisationen auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen für eine wirksame Klimapolitik einigen: Angefangen mit Standards für spritsparende Autos, über die Förderung erneuerbarer Energien wie Wind- und Sonnenenergie und bis hin zu einer Verpflichtung für Stromkonzerne, kostenneutrale oder gar profitable Techniken zur Energieeinsparung auch einzusetzen. Vorbilder gibt es genug: So hat die US-Regierung beispielsweise mit Vorschriften erreicht, daß neue US-Wagen heute weniger Benzin schlucken als Neuwagen aus deutscher Produktion – und das bei einem Benzinpreis, der gerade einmal ein Drittel des deutschen beträgt. Die britische Regierung wiederum hat vor kurzem eine jährlich um 5 Prozent steigende Mineralölsteuer eingeführt. Ernst-Ulrich von Weizsäcker schlägt dies in Deutschland schon länger vor.
Die Meßlatte hängt – vielen in Deutschland sicher zu niedrig, schließlich hat die Bundesregierung selbst schon angekündigt, die Emissionen um bis zu 30 Prozent senken zu wollen. Vielen in den USA und in EU-Staaten wie Spanien oder Griechenland hängt sie zu hoch. Sie wollen nicht einmal wahrhaben, daß sie ihre Emissionen wenigstens auf dem heutigen Niveau stabilisieren müssen.
Aber wenn die EU als ganzes, ihre Emissionen um 20 Prozent veringern soll, müssen Länder wie Deutschland oder Dänemark eben über diesem Niveau reduzieren. So wollen es zumindest die Nichtregierungsorganisationen verstanden wissen. Die 20 Prozent sind ein vernünftiger erster Schritt. “Das ist jedenfalls nicht zu viel verlangt, wenn sich 3.000 DiplomatInnen in Berlin zum Klimagipfel versammeln.”, meinen sie.
Kernforderungen an den Klimagipfel ’95
Die “Kernforderungen” werden anläßlich des von der Projektstelle organisierten Vorbereitungs-Symposiums “100 Tage vor Berlin” am 16./17. Dezember in Bonn der Öffentlichkeit präsentiert.
Der weltweite Verbrauch von Kohle, Öl und Gas wird ohne ein deutliches Umsteuern im Energie- und Verkehrsbereich drastisch weiter zunehmen, wodurch die Emissionen des wichtigsten Treibhausgases Kohlendioxid bis zum Jahr 2010 um 50 Prozent ansteigen würden. Außerdem tragen die industrialisierte (Überschuß-)Landwirtschaft des Nordens und die Brandrodung tropischer Wälder im Süden zu steigenden Emissionen von Kohlendioxid sowie anderer Treibhausgase, zum Beispiel Methan und Distickstoff, bei. Die Folgen sind weiter steigende Temperaturen und langfristig wahrscheinlich ein deutlicher Anstieg des Meeresspiegels – ein Desaster für das Weltklima.
Dessen ungeachtet haben es die Industriestaaten in den zweieinhalb Jahren seit dem Erdgipfel in Rio versäumt, die Grundlage für eine wirkungsvolle internationale Klimapolitik zu schaffen. Versäumt haben sie insbesondere, das Fundament für den Klimagipfel im Frühjahr 1995 in Berlin zu legen. Nur dem Engagement der 36 in der Alliance of Small Island States (AOSIS) zusammengeschlossenen Inselstaaten ist es zu verdanken, daß in letzter Minute für die Verhandlungen in Berlin der Entwurf eines Protokolls vorgelegt wurde – die einzige wirkliche Möglichkeit für völkerrechtlich verbindliche Schritte zur Verminderung der Treibhausgase.
Die unterzeichnenden Verbände und Organisationen setzen sich für einen umfassenden Klimaschutz ein, der alle Treibhausgase umfaßt. Wir verlangen Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen der UN-Klimatologen des International Panel on Climate Change (IPCC): Die Industrieländer müssen ihre Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent verringern.
Die Forderungen an den Berliner Klimagipfel
1. In Berlin muß ein Protokoll verabschiedet werden, das die von den AOSIS-Staaten geforderten konkreten Reduzierungspflichten für alle Treibhausgase vorsieht: Die OECD-Staaten sollen sich in diesem Protokoll verpflichten, ihren Ausstoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2005 im Vergleich zu 1990 um mindestens 20 Prozent zu reduzieren. Weitergehende nationale Reduktionsziele und -verpflichtungen, zum Beispiel die der Bundesrepublik Deutschland, bleiben dadurch unberührt.
2. Konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgas-Emissionen und zu einer ressourcenschonenden, umweltfreundlichen Energiepolitik müssen beschlossen werden:
* eine sozialverträgliche Energiesteuer in den Industriestaaten
* Integrierte Ressourcenplanung statt ungehemmtem Kraftwerksbau
* eine höhere Energieeffizienz
* die Förderung und der Ausbau regenerativer Energien.
3. Wir fordern den Ausstieg aus der unbeherrschbaren Atomenergie. Die Atomwirtschaft behindert die für den Klimaschutz notwendigen klaren Entscheidungen für die weltweite ökologische Energiewende.
4. Eine Umkehr in der Verkehrspolitik ist in den Industieländern notwendig. Oberstes Ziel muß die Verkehrsvermeidung sein. Bus und Bahn haben Vorrang vor Auto, Flugzeug und LKW-Verkehr.
5. Nachhaltige und umweltverträgliche Landbewirtschaftung sowie der Erhalt und die ökologische Bewirtschaftung der Wälder müssen dem Klimaschutz dienen.
6. Klimaschutz muß von den Nationalstaaten zu Hause betrieben werden. Das Konzept einer Joint Implementation lehnen wir zu diesem Zeitpunkt ab.
7. Die Mittelvergabe der internationalen Entwicklungsbanken muß künftig auch an den Zielen der Klimakonvention ausgerichtet werden. In den Vergabegremien dieser Banken müssen Industrie- und Entwicklungsländer paritätisch vertreten sein. Umwelt- und Entwicklungsorganisationen muß Beobachterstatus gewährt werden. Eine entsprechende Resolution des Klimagipfels (Vertragsstaatenkonferenz) soll ein Zeichen setzen.
8. Die Finanzmittel für den globalen Umweltschutz müssen drastisch angehoben werden. Die Mittel der Gobal Eenvironmental Facility, die auch Finanzierungsinstrument der Klimakonvention ist, sind hierfür erheblich aufzustocken.
9. Umweltverträgliche lokale Technologien müssen gefördert werden. Zusätzlich muß der Transfer umweltverträglicher Technologien in die Entwicklungsländer nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik gewährleistet werden.
10. Die Bevölkerung muß über die drohende Klimakatastrophe besser informiert und an der Entwicklung und Umsetzung von Klimaschutzstrategien auf allen Ebenen beteiligt werden.
Weitere Informationen zu den Kernforderungen, der Unterschriftenaktion und der Arbeit des Forum Umwelt und Entwicklung gibt es bei der Projektstelle Umwelt und Entwicklung, Am Michaelshof 8-10, 53177 Bonn, Tel. 0228-35 97 04, Fax -90 96
Klimaforum ’95 – fighting the flood
Ein gutes halbes Jahr vor dem Klimagipfel in Berlin haben Umweltorganisationen ein verbandsübergreifendes Organisationsbüro etabliert, um den DiplomatInnen Beine zu machen. Es wird getragen von der GRÜNEN LIGA Berlin und dem Deutschen Naturschutzring (DNR). Das Büro koordiniert die Gipfel-Aktivitäten der zahlreichen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, um so eine wirkungsvolle Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zu ermöglichen.
Denn nur durch massiven Druck von unten kann erreicht werden, daß der Klimagipfel in Berlin vom 28. März bis 7. April zu einem weiteren Worthülsen-Spektakel verkommt. Momentan sind außer den beiden Trägerorganisationen folgende Gruppen und Initiativen im gemeinsamen NGO-Büro in der Berliner Stadtmitte vertreten: Germanwatch, Frauen für Frieden und Ökologie, das Jugendklimabüro der BUNDjugend und der Naturschutzjugend, Robin Wood, GAP, sowie der Ökologische Marshallplan. Für die Koordination der Berliner Gruppen ist das “Netzwerk Klimagipfel”, ebenfalls mit Sitz im Büro des Klimaforum ’95 der Ansprechpartner.
Die von umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen geplanten Veranstaltungen und Aktionen des “Klimaforum ’95 – fighting the flood” reichen von einer Auftaktkonferenz des Climate Action Network, über einen “Klimabrief”, einen Solarmobil-Shuttle, den Jugend-Klimagipfel mit mehreren hundert TeilnehmerInnen, eine Konferenz zu borealen Wäldern, mehrere Ausstellungen und Informationsveranstaltungen bis hin zu einem großen Abschiedsfest. Alles das dezentral in Berlin, bunt, spektakulär, überraschend… – weitere Ideen und Informationen sind jederzeit willkommen
Klimaforum ’95, Behrenstraße 23, 10117 Berlin, Tel 030 – 202 203 0, Fax 030 – 202 203 oder einfach Postach 65 in 10001 Berlin
Was bleibt von den Intellektuellen?
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürzlich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet bereits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zukunft “die Menschen blind handeln werden.” Wallerstein ist gewiß nicht der Einzige, der meint, die Gegenwart sei verwirrend und die Zukunft unvorhersehbar. In Lateinamerika tragen Jugendliche aus Randgruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsicherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirklichung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Dominikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoischen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industrialisierung Anfang dieses Jahrhunderts ablehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewegungen in den letzten Jahren. Die utopische Zukunftsvision ist jedoch verschwunden. Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozialdemokratischen Form der “Utopía Desarmada” des mexikanischen Politikwissenschaftlers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer literarisch gebildeten Intelligenz aufrechterhalten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kritisches Bewußtsein der Gesellschaft agierten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, sondern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apostel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Gottes”. Dieses Ansehen muß im Zusammenhang von Gesellschaften mit einer geringen Lesefähigkeit verstanden werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Hauptakteure auf der öffentlichen Bühne hervor, sondern auch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Veränderung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch politischer Bedeutung für die lateinamerikanische Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemisphäre mitgestaltet. In den späten sechziger Jahren wurde die Definition von revolutionärem Schreiben immer enger gefaßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Padilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unterstützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der Sandinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zentralamerika spiegeln auch die traumatischen Nachwirkungen repressiver Militärregierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologische Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentlichen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Videos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika verspürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrängung wird von der wachsenden Privatisierung der Kultur noch verschärft. Zunehmend werden kulturelle Institutionen wie Galerien, Musikunternehmen und Fernsehkanäle von Privatunternehmern geführt. Sogar die nationalen Universitäten, traditionell Zentren politischer Aktivitäten, konkurrieren heute mit unzähligen privaten Universitäten, die in der Mehrzahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernsehmagnat Emilio Azcárraga, der Telenovelas in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der führenden Akteure der Kunstwelt geworden.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird sogar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor allem die des Fernsehens. Der argentinische Kulturkritiker Nestor García Canclini bezeichnet die Neuordnung des kulturellen Terrains als “Rekonversion”. Im Zeitalter von High-tech erfährt Kultur einen Bedeutungswandel. Ein hohes Niveau an Lesefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fernsehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität geworden.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich erschienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volkskunst beklagte, hört sich in diesem Zusammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesuskinder, die von den Gemeinden eingekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sandalen und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogenisierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie behaupten, daß Fernsehen, Massenmarketing und neue Technologien die Kultur demokratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybridkreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinamerikanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argument, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu erreichen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfinden. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aussehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschichten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der modernen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forderungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informationen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für lateinamerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimperialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technologien und Moden benutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, sondern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und indigenen Einflüssen. Die etablierte Kultur hat sich später Tango, Bolero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvierteln haben, als die Verkörperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schönste Tango der Welt” des Argentiniers Manuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander verbindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Beispiel für den kulturellen Wandel. Trotzdem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindustrie ist, wurde Rock zur Vorhut des Widerstandes gegen strenge Moral und Familienhierarchien. Die südamerikanischen Militärregierungen machten die Rockmusik zum Mittel einer Widerstandsbewegung, indem sie Musikmagazine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rockmusik den Autoritarismus der älteren Generation, aber auch die idealistische Nostalgie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvinen/Falkland-Kriegs organisierte die Militärregierung ein Rockkonzert der Nationalen Solidarität, um so um die Unterstützung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um seinen neoliberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginalisierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesellschaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußballspiel oder dem Besuch des Papstes verglichen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hinzuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Lebenshaltungskosten), “Si saliera petróleo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich regnet es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Kontinents handeln. Bezeichnenderweise kandidierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Vargas Llosa für die Präsidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Guarachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Brasilianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerechtigkeit aufnehmen und – im Falle von Veloso – das Verhältnis zwischen Konsumkultur und “Authentizität” untersuchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruckten Wortes ist das Fernsehen, dessen Einfluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum verwunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinigten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Telenovela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Kolumbien 10 bis 15 Million Menschen erreichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich attraktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasilianische Produzenten übernehmen häufig Romane für das Fernsehen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wiederentdeckt worden, wobei ein Typ von Telenovelas produziert wird, der die US-Produkte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Ausdruck der Modernität und der Bildung eines nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger globaler Kultur geworden. Wie der argentinische Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideutige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frühere Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen verknüpft gewesen. Es war in einigen Ländern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literarische Intelligenz in Bezug auf seine pädagogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmenden Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzulehnen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfähigkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plauderton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlungenen “Herbst des Patriarchen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunternehmen wie Joaquín Mortiz und Sudamericana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zumindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denkbaren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu vertreten, die früher schon von der Staatsbürgerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homosexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwischen oben und unten, Fiktion und Realität verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppositionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakomben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Freiheit ihn oft als Freiheitlich-Konservativen erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Konsumgesellschaft zu widerstehen – verholfen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Entschlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autonomie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und Allgemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Opposition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei revolutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschreiber.
Was für heutige Schriftsteller problematisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Vereinnahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schreibens in Trend oder Stil. “Magischer Realismus” war einst ein Wegweiser für lateinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exotik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kritiker die politischen und ethischen Funktionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kritiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteilsvermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezogen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populismus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion reduziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Fehlens anderer Unterscheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumentiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstlerischen Produkte, die mit der Kulturindustrie verbunden sind, und verdrängt so die hierarchische Autorität der Fachleute traditioneller Prägung. Hierarchien stürzen ist eine Sache, aber kritisches Urteilsvermögen zurückzuweisen, ist Sarlos Meinung nach eben schlimmer, weil der Verzicht, über Werte zu diskutieren, zur passiven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forderung nach Wiederaufwertung des Ästhetischen gerade im Zusammenhang mit Redemokratisierung und angesichts wachsender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Verteidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kritische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trotzen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rückkehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditionelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es befreit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzeitig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allgemein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schriftsteller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wiederum die Ära der internationale Bennetton-Epoche und den E-mail-Universalismus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie erscheinen mag: In der Epoche globaler Informationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität geworden.
Die optimistischen Pessimisten
Von der Leistung der Schauspieler über die Kreativität bei der Inszenierung bis zu den Inhalten war das Stück von der ersten bis zur letzten Minute überzeugend. “En la Raya” ist in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von “El Paso”, dem Stück, das die Truppe bereits 1988 so erfolgreich in Deutschland aufgeführt hat. Der Inhalt von “En la Raya ist schnell erzählt: Dargestellt wird eine Gruppe sogenannter desechables (Wegwerfbare) – oder ñeros, wie sich die Obdachlosen in Kolumbien selbst nennen. Im Rahmen eines Resozialisierungsprogrammes, wie sie zur Zeit in Bogotá wirklich durchgeführt werden, sollen die desechables eine Theaterversion der “Chronik eines angekündigten Todes” von García Márquez aufführen. das Geld dafür kommt aus Europa, der Regisseur aus Deutschland wird jeden Augenblick erwartet. In dieser Situation versucht ein etwas hilflos wirkender Regieassistent mit seinem wild zusammengewürfelten Haufen, einzelne Szenen des Stückes einzustudieren. Es gelingt jedoch nicht eine einzige der Proben. Wegen ihrer geistigen und körperlichen Defekte, die ihnen ihr Außenseiterleben beibrachte, sind die ñeros nicht in der Lage, das Stück einzustudieren. Immer wieder kommt es zu Konflikten, sei es aus Geltungsdrang oder aus Eifersucht. Nach jedem gescheiterten Versuch scheint die Gruppe aufgeben zu wollen, und immer wieder rauft sie sich zusammen in Erwartung des Regisseurs, der aber nie auftaucht.
Mit jeder gescheiterten Probe erhöhen sich die Spannungen in der Gruppe, und folgerichtig kommt es irgendwann zum Bruch. Mit den symbolträchtigen Worten “al fin y al cabo la calle es lo mío” (letztendlich gehört mir die Straße) verläßt eine ñera das improvisierte Theater.
Sie ist noch nicht lange fort, da holt die Gewalt auch die anderen aus ihrem Traum in die Realität zurück: Die Nachbarschaft, die sich nicht mit der Anwesenheit dieser störenden und “gefährlichen” Elemente abfindet, schickt den ñeros eine Bande gedungener Schläger auf den Hals. Am Ende – wieder in Einzelsubjekte zerfallen – kehrt die Gruppe völlig zerschunden auf die Straßen der großen Stadt zurück.
Bogotá ist nicht Hollywood.
Nun ist es sicher nicht das erste Mal, daß sich jemand des Themas der Obdachlosigkeit annimmt. In diesem “Theater im Theater” aber wagt sich die kolumbianische Gruppe an eine Art Grenzbereich heran, wie der Name des Stückes bereits andeutet. “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, und dieser Titel sagt bereits alles: auf der Kippe steht nicht nur das Projekt von der ersten bis zur letzten Minute. Auf der Kippe steht eigentlich alles bis hin zur Existenz eines jeden der Mitwirkenden.
Bei einer Veranstaltung am Lateinamerika-Institut der FU Berlin äußerten sich Regisseur Santiago García und seine Theatertruppe zu dieser Inszenierung.
Das Stück, so der Regisseur, sei für ihn nur ein “Vorwand, die Realität in Kolumbien sichtbar zu machen”. Wie Cervantes mit seinem Don Quijote ein Bild Spaniens gezeichnet habe, habe auch er anhand eines “extremen Einzelbeispieles eine Gesamtvision” geben wollen, wie sie wohl für die meisten lateinamerikanischen Großstädte zutreffen würde. “La Candelaria”, deren Name von einem Stadtteil Bogotás kommt, sehen sich selbst als Vermittler zwischen Gesellschaft und Institutionen. Die desechables, dieser “menschliche Abfall”, habe keinerlei Zugang zu den Medien, dabei zählten sie immerhin 25.000 allein in Bogotá, seien also ein beträchtlicher Teil kolumbianischer Wirklichkeit.
Parallel zu den Proben haben die Darsteller des Stückes in einem Projekt zur Wiedereingliederung von ñeros in die Gesellschaft gearbeitet und hatten so Gelegenheit, diese “Welt der Hoffnungen und Frustrationen, in der der Tod allgegenwärtig ist”, kennenzulernen. Diese Arbeit mit wirklichen Obdachlosen erklärt die hervorragenden schauspielerischen Leistungen, mit denen sogar der Regisseur selbst auf der Bühne überzeugt.
Es mag vielleicht nicht gerade zwingend erscheinen, sich für die Realisierung eines solchen Themas ausgerechnet der “Chronik eines angekündigten Todes” vom Superstar García Márquez zu bedienen. Der Regisseur erklärte hierzu, er habe dies wegen García Márquez’ Fähigkeit getan, einerseits eine mythische Welt zu zeichnen, dies aber auf der anderen Seite mit den Mitteln einer Reportage zu tun. Der krimiartigen Struktur der “Chronik” habe die Gruppe dann versucht, eine Art “Anti-Krimi” gegenüberzustellen, eine Anti-Chronik.
Eine “Reihe seltsamer Zufälle” (Schwierigkeiten mit dem Copyright García Márquez’, sowie Unzufriedenheit mit dem Stück, das der Truppe zu glatt und schön erschien, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden) habe dann zu weitreichenden Neuimprovisationen des Stoffes geführt, bis nach eineinhalb Jahren Arbeit endlich das Stück in seiner jetzigen Fassung fertig gewesen sei.
Santiago García nennt das Stück selbst dem Inhalt nach “grundlegend pessimistisch”: “Wir glauben nicht an die Mythen und die Lügen vom Fortschritt”. Auf der anderen Seite bleibe bei allem Pessimismus und bei aller Hoffnungslosigkeit doch auch ein Grund zu Optimismus: die Würde des Einzelnen und der Traum von einer besseren Welt – egal wie tief ein Mensch gesunken sein mag.
Und so ist dann wohl auch die Anekdote von dem ñero zu verstehen, der die Bourgeoisie in ihren engen Appartments bemitleidet, während ihm doch die ganze Stadt mit ihren Straßen gehöre.
Durch ein Fenster schauen
Vielleicht können Sie mir ein wenig über ihr neues Stück erzählen. Ich weiß nur, daß es um diese ñeros geht.
Santiago: Ich könnte ihnen etwas über die theatrale Struktur des Stückes erzählen. Vor allem haben wir an einer Art Theater im Theater, wie z.B. bei Peter Weiss gearbeitet, um mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. In diesem Fall geht es auf einer Ebene um eine Gruppe Marginalisierter, die im Rahmen eines Rehabilitationsprogrammes ein Theaterstück auf die Bühne bringen sollen. Eine weitere Ebene ist die des Stückes, welches sie proben. Eine Theaterversion des Romans “Chronik eines angekündigten Todes” von Gabriel García Márquez. Diese beiden Ebenen – dessen, was in den Marginalisierten vorgeht und was der eigentliche Inhalt des Romans ist – sollen aufeinander einwirken. Eine dritte Ebene dann thematisiert das Magische, Fremde, Nicht-Rationale, das Unlogische. Mit der Verbindung dieser drei Ebenen haben wir das Gerüst für das Stück erarbeitet. Soweit zur Form. Das eigentliche Thema sind jene neu entstehenden Bevölkerungsgruppen, deren Zahl in den großen Städten Lateinamerikas täglich zunimmt. Und nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier in Europa. Jene große Gesellschaftsschicht, die aus verschiedensten Gründen – seien es Drogen, soziale oder ideologische Gründe – an deren Rand lebt. Dies ist ein Thema. das andere ist das Thema des Romans von García Márquez: der Tod, die Xenophobie, die soziale Ausgeschlossenheit von Anderen. Also all die Themen, die auch mit den ñeros, den Marginalisierten zu tun haben.
Was sind eigentlich eure Arbeitsmethoden und Ausdrucksformen?
Santiago: Wir benutzen verstärkt Masken und intensive Gestik auf unserer Tour. Eine Tendenz hierzu gibt es schon seit fünf, sechs Jahren; eigentlich seit unserem Stück “El Paso”, mit dem wir ja auch hier in Deutschland waren. Wie viele andere Theatergruppen auch, erproben wir den Bereich der nonverbalen Kommunikation, um die Botschaften unserer Stücke zu intensivieren. Das hat aber nichts mit der Übertragbarkeit auf europäische Bühnen zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Es gibt ja heute einen derartigen Mißbrauch der Kommunikationswissenschaften durch bestimmte Wissenschaftler – etwa “Kinetik” – daß wir über eine genaue Betrachtung der non-verbalen Sprache versuchen wollten, diese in unser Theater aufzunehmen. Und zufälligerweise verstehen so auch jene Zuschauer unserer Stücke, die kein Spanisch können, diesen anderen, non-verbalen Bereich, den wir da auszuloten im Begriff sind. Natürlich ist Verbalität in unseren Stücken noch immer wichtig, aber es muß auch nicht immer Spanisch sein. In unserem aktuellen Stück ist es beispielsweise die Sprache der Marginalisierten, die wir ñeros nennen und die in gewisser Weise ihre ganz eigene Sprachkultur entwickeln.
Patricia: “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, “im Grenzbereich”. Und es ist eine Grenzsituation, in der die von uns dargestellten ñeros in Kolumbien leben. Die Existenz dieser Leute ist wegen der Gewalt im Land – in ganz Lateinamerika oder der ganzen Welt, auch hier in Europa – von ganz speziellen Daseinsmerkmalen gekennzeichnet. Dennoch ist der kolumbianische Fall wegen der ihm eigenen Gewalt besonders dramatisch. Und in diesem Bereich reproduziert sich die Gewalt auch viel mehr als in anderen Gesellschaftsteilen.
Die Gewalt unter oder die Gewalt gegenüber der Marginalisierten?
Patricia: Sowohl als auch. Und nach außen geben sie auch Aggressionen weiter. Ihre Ausgeschlossenheit allein ist schon eine Art Gewalt. Die Gewalt setzt sich aber auch im Ausschluß der fortschrittlichen Gesellschaftssektoren fort – und produziert dort Gegengewalt. Dies ist das kolumbianische Drama. Der Sektor, in dem die ñeros leben, ist aber möglicherweise der allergewalttätigste. Deshalb war die Arbeit so interessant: die ñeros sind einfach ein “Fenster”, durch das wir über ganz Kolumbien erzählen. Interessant war auch, daß einige von uns während der Arbeiten an diesem Stück direkt mit den ñeros gearbeitet haben. Das lief also parallel. Auf diese Weise konnten wir von ihnen lernen, wie sie reden, wie sie denken und
wie sie die Gesellschaft sehen. Das Ganze ergab dann eine Konstruktion von Straßenkultur. Und viel Verwirrung, da die Leute zu glauben begannen, die Schauspieler von “La Candelaria” seien wirklich ñeros. Aber es ist wichtig, daß dieses Thema endlich aufgegriffen wird: Tausende haben bereits unser Stück gesehen, wir haben überall plakatiert und publiziert … und so entstand eine kulturelle Bewegung.
Wie ist die Kontinuität möglich, die eine solche Arbeit erfordert?
Patricia: Klar, die ñeros sind schwierig, sie werden dämonisiert. Sie werden als Feinde betrachtet. Und es ist sehr hart, mit ihnen zu arbeiten. Aber es macht auch viel Spaß. Es ist so schwierig, weil sie kein Interesse haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Sie sind nur am Theater interessiert – und so sind einige von ihnen immerhin zwei Jahre dabeigeblieben.
Wie benutzt ihr das Thema als “Fenster”, durch das Kolumbien zu sehen ist?
Patricia: Das hier, was wir mit den ñeros machen, ist eigentlich etwas direkter. Da sie keine SchauspielerInnen sind, sehen viele Leute sie zum ersten Mal als etwas anderes, als Außenseiter. Und das beeinflußt natürlich die bisherige Intoleranz der Leute. Dieses Lumpenproletariat wurde in Kolumbien ja bisher nie beachtet – nicht einmal von der sogenannten Linken.
Vielleicht können sie mir aber doch über die “Fenstermethode” berichten. Über die Gewaltsituation und darüber, welches Fenster zu Kolumbien sie uns mit dem neuen Stück öffnen.
Santiago: Es ist ein Fenster, das sich zu vielen Seiten hin öffnet. Wir wollen die gesamte, sehr komplexe Realität des Landes zeigen. Es geht natürlich nicht nur um die ñeros, wenngleich wir sie quasi hyperrealistisch darstellen wollten. Es geht hier auch um die allgemeine Frustration, unter der alle lateinamerikanischen Länder seit über 500 Jahren leiden. Frustrationen, nie eingelöste Versprechungen, Hoffnungslosigkeiten, die von neuen Hoffnungslosigkeiten abgelöst werden. Die Hoffnung des Volkes auf ein besseres Leben, immer wieder von den Regierenden zerstört … eigentlich glaubt schon niemand mehr daran. Und ich denke, daß weltweit die Geschichte vom Irdischen Paradies kaum noch geglaubt wird. Und so leidet auch unsere Gruppe ñeros an dieser Frustration, die sie über das Theater überwinden wollen. Das schaffen sie natürlich nie – immer gibt es neue Hindernisse. Sie sind nicht nur Opfer dessen, was von außen kommt, sondern Opfer ihrer selbst. In unserem Land hat sich etwas entwickelt, was ich die “Unmöglichkeit” nennen würde: Das kommt dadurch, daß sich die Menschen in Kolumbien daran gewöhnt haben, andere sterben zu sehen – ja einen ganzen Genozid zu sehen. So etwas sichtbar zu machen, ist eine der großen Leistungen im Werk von García Márquez. In der “Chronik eines angekündigten Todes” verliert eine ganze Stadt ihre Sensibilität und so wird eine Person wie ein Tier getötet. Genau diesen Prozeß wollen wir auch darstellen. Die Hoffnung, wie sie bei Beckett auftaucht, haben wir in “El Paso” behandelt. Und diese Hoffnung, auf die das ganze Land hinlebt, wird sich niemals erfüllen. Und schon gar nicht von außen. Wir werden unser Glück selbst schaffen müssen. Und dies ist der andere Blickwinkel des Fensters, durch den wir nicht nur Kolumbien sehen, sondern die gesamte Erde.
Pacho: Ich halte es auch für wichtig, noch die “Säuberungstrupps” anzusprechen; diese Leute, die in unserem Theater auch eine Rolle spielen. In Kolumbien verjagen die “Säuberungstrupps” die ñeros nicht nur dort, wo sie stören, sondern sie töten sie. Und das nicht nur im Auftrag der Reichen, sondern einfach so, überall. Und die Leichen liegen dann als Warnung auf den Straßen. Das ist gerade wieder eine Woche vor unserer Ankunft hier geschehen. Acht Tote! Und es gibt viele in der Bevölkerung, die die Reintegrationsprogramme verhindern oder sie nicht in ihrer Nähe haben wollen. Nirgendwo will man die ñeros haben, weil man Angst vor ihnen hat. Und das Geld versickert … Auch das ist Teil der Gewalt.
Patricia: Ja, die Gewalt hat die Gesellschaft intolerant gemacht. Wir selbst hatten Probleme mit unserem Projekt. Und da die ñeros ihrerseits auch gewalttätig sind, war es nicht leicht. Ich glaube, wir sind irgendwie ins Herz der Gewalt eingedrungen. Gewalt gegen den Anderen. Und es ist wichtig, daß sich das Theater mit solchen Grenzbereichen befasst, die Beispielcharakter haben.