Ein Präsident wird zum Claqueur

Die versprochene tiefgreifende De­mokra­tisierung der haitianischen Ge­sellschaft ist nach wie vor eine Schi­märe. Ist es in den Städten und vor allem in Port-au-Prince noch gelun­gen, einen, wenn auch sehr schleppen­den, Prozeß des Auf­baus neuer Strukturen in Gang zu setzen, ist auf dem Land vielerorts noch alles so, wie es schon immer war. Zwar hat Ari­stide den ver­haßten Chefs de section mit Wirkung zum 1. Dezember nun auch for­mell alle Rechte entzogen, aber de facto ist deren Macht noch allgegenwärtig; nach wie vor sind pa­ramilitärische Kommandos unterwegs und terrorisieren die Bevölke­rung.
Wie ein Damoklesschwert schwebt über allem der katastrophale Zu­stand der hai­tia­nischen Wirtschaft. Und die Wirt­schaftspolitik gilt nicht gerade als das Steckenpferd des Jean Bertrand Aristide. So rückt ein Mann immer mehr in den Mittelpunkt der Macht: Der neue Premier Smarck Michel. Er hat sein Regie­rungs­pro­gramm für die nächsten Mo­na­te ganz und gar dem wirtschaftli­chen Wieder­aufbau des Landes verschrie­ben. Wen wundert’s, gilt der smarte Smarck doch als Mann vom Fach. Auf der Insel genießt der 57jährige schon lange den Ruf eines er­folgreichen Geschäftsman­nes. Seit Anfang der 60er ist er einer der Großen im Handel mit Nahrungs­mitteln, außerdem besitzt er im Nor­den des Landes eine Tankstelle. Zu­dem war er bereits 1991 einmal Indu­strie- und Handelsminister während der “ersten” Präsidentschaft Aristides. Al­lerdings mußte er damals der harten Kritik an sei­ner Politik der Preiskontrollen nach vier Monaten Tribut zollen; er trat zurück. Jetzt ist er wie­der da.
Der Weltmarkt fordert seinen Preis
Mit der Ernennung Michels zum Pre­mier ist deutlich geworden, wer in Haiti das Sagen hat. Die haitianische Industrie- und Handelskammer CCIH äußerte sich hoch­zufrieden mit der Er­nennung Michels, schließlich sei er ja “einer der ihren”. Vor allem aber den USA ist er ein Garant da­für, daß die haitianische Wirtschaft sich den Erfor­dernissen des Weltmarktes un­terwirft. Jetzt wird konkretisiert, was auf einem Treffen Ende August in Paris ausge­dacht worden war: Damals trafen sich die Exil-Regierung Aristide, Vertre­ter­In­nen der Weltbank, des In­ter­na­ti­o­na­len Währungsfonds IWF, der Interameri­kanischen Entwicklungsbank (BID) und anderer Finanzinstitutionen, um einen Wirtschaftsplan für die Zeit nach dem Militärregime zu entwickeln. Aristide und seine MitarbeiterInnen blieb nur die Rolle der Claqueure. Ein neoliberales Kernele­ment nach dem an­deren wurde in den Plan festgeschrie­ben: Verkauf von Staats­betrieben und öffentlichem Eigentum, dra­stische Re­duzierung der Auflagen für ausländi­sche Direktinvestitionen, Bezah­lung der Auslandsschulden und tiefe Schnitte bei den Sozialleistungen.
Als Ende November Michel und seine Fi­nanzministerin Marie-Michelle Rey den Rahmen für die Wirtschafts­politik des nächsten Jahres absteckten, war die Hand­schrift der Pariser Bera­tungen bis ins De­tail zu erkennen. Ei­nes der ersten Vorha­ben: die Halbie­rung des aufgeblähten Behördenappa­rates. Während der dreijäh­rigen Dik­tatur der Militärs hatte sich die­ser von knapp über 20.000 auf 43.000 Ange­stellte mehr als verdoppelt.
Ganz im Sinne der von der Weltbank geforder­ten “strukturellen Anpassung” der haitianischen Volkswirtschaft sollen Staats­betriebe, wie die Telefon- und die Elek­tri­zi­täts­gesellschaften, privati­siert, andere aber auch völlig abge­wickelt wer­den. Es gehe darum, so Michel, Haiti in die “internationale Wirtschaft zu integrie­ren”. Begriffe wie “Privatisierung” oder “Demokratisierung” vermeidet Michel in diesem Zusam­menhang. Viel lieber redet er von “Gleichsetzung”: “Alle sollen die­selbe Chance haben. Das bedeutet, wir werden Subventionen streichen. Wenn man ein Produkt subventioniert, sind es nur wenige, die davon profitieren – wir geben allen eine Chance.” Konkre­tisiert haben Michel und Rey noch wenig. Auch Schutzzölle sollen fallen. Es ist nicht schwer, sich auszumalen, was mit den haitianischen Kleinbauern und -bäuerin­nen passieren würde, soll­ten die Schutz­zölle vollständig dem Diktat der Welt­marktintegration ge­opfert werden. Es ist kaum vorstell­bar, daß sie mit ihren Pro­dukten – Mais und Reis – gegen die Weltmarkt­kon­kurrenz bestehen könnten.
Millionen Dollar – aber für was?
555 Millionen US-Dollar soll die Aus­landshilfe für Haiti allein im ersten Jahr nach Aristides Rückkehr betra­gen, von denen 200 Millionen aus den Töpfen der US-Regierung kommen. Freigegeben werden die Gelder nur unter der Maßgabe, daß ein “solides wirtschaftliches Am­biente” garantiert ist. USAID, die US-amerikanische Entwicklungsorganisation, betont zwar, es sei ihr Ziel, “mehr wirt­schaftliche Macht in die Hände von mehr Haitia­nern” zu legen. MitarbeiterInnen Ari­stides sehen die Rolle von USAID al­lerdings anders: “Alles, was passiert, geht von den USA aus. Die haitiani­sche Regie­rung wird nicht gefragt.”
So sind etwa eine Million US-Dollar für einen Menschenrechtsfonds vorgese­hen. Mit den Geldern sollen unter an­derem auch Personen, Gruppen und Parteien un­terstützt werden, um den Demokratisie­rungsprozeß auf Haiti nach vorn zu trei­ben. Welche Perso­nen, Gruppen und Par­teien das sind, entscheiden die USA.
Das seien sowohl “verantwortliche Ele­mente innerhalb der Volksbewe­gung” als auch “moderate duvalieristi­sche Grup­pen”, so USAID in einem vertraulichen Memorandum. Das ist ganz im Sinne der Funktionäre der rechts­extremen FRAPH (Front für die För­derung und den Fort­schritt Haitis). Die Organisation, Hand­langerin des Mi­litärregimes und durch­setzt von den verhaßten attachés, hofft sich als politische Kraft der extremen Rechten auf Haiti etablieren zu können. Nicht wenige vermuten, die USA selbst wollten die FRAPH als politische Kraft in Haiti erhalten. Wenn die FRAPH nicht unter ihrem eigenen Namen als politische Partei auftreten wird, so wie es ihr Führer Emmanuel Constant – gefragt und unge­fragt – ununterbrochen betont, dann wird sie sich eben neu erfinden. Die finanziel­len Spritzen zum Aufbau einer neuen Struktur und für den Wahlkampf könnte sie dabei aus ihren traditionel­len Quellen, der Armee und dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA be­kommen. Nichts Neues: In El Salvador hat die CIA den Aufbau der rechtsex­tremen ARENA-Par­tei maßgeblich unterstützt. Die Zeit ar­beitet für die FRAPH, denn mit der Eta­blierung demokratischer Strukturen wird es auf Haiti wohl noch länger dauern. Smarck Michel verschob den Zeitpunkt der für Dezember geplanten Parlaments­wahlen auf einen noch nicht festgelegten Ter­min im Februar nächsten Jahres. Und dann wird auch klarer sein, wohin die Reise für die haitianische Wirtschaft geht, denn just Ende Januar des näch­sten Jahres treffen sich die internatio­nalen Finanz­organisationen und die Regierung des Ka­ribikstaates noch einmal in Paris. Auf der Tagesordnung steht nur ein Punkt: die Aktualisierung der Beschlüsse vom August.

Die Linke im Aufwind

Obwohl es Kritik an der merkwürdigen Informationspolitik des Innenministeriums gab, geht kaum jemand davon aus, daß es bei den Wahlen in Uruguay zu irgendwelchen Manipulationen oder Wahlfälschungen gekommen sein könnte. Zweifel haben bislang lediglich die MLN Tupamaros angemeldet. Sie fordern eine genaue Überwachung und eine vollständige Transparenz bei der erneuten Überprüfung der Stimmzettel durch den Wahlgerichtshof. Sicher aber ist: Der Colorado Politiker Dr. Julio Maria Sanguinetti wird neuer Präsident Uruguays. Am 1. März 1995 wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen. Es ist seine zweite Amtsperiode, denn Sanguinetti war bereits von 1985 bis 1989 Präsident, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur in Uruguay.
Die eigentliche Gewinnerin der Wahl ist jedoch die Linke. Zehn Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur ist es ihr bei diesen Wahlen endgültig gelungen das traditionelle Zweiparteiensystem in Uruguay zu knacken. Als einzige politische Kraft konnte sie landesweit kräftige Stimmengewinne verbuchen. In Montevideo, dort lebt fast die Hälfte der etwa 3,2 Millionen UruguayerInnnen, wird sie mit dem Architekt und Stadtplaner Mario Arana erneut den Bürgermeister stellen. Arana kann zwar auf eine beruhigende Mehrheit im Stadtparlament bauen, verfügt aber nur über einen äußerst mageren Haushalt.
Machtverschiebungen in der Frente Amplio
Vor allem im traditionell eher konservativen Landesinneren hat das Wahlbündnis Encuentro Progresista, bestehend aus Frente Amplio, Christdemokraten und einigen Dissidenten der bislang regierenden Blancos, beachtlich dazugewonnen. Der Stimmenanteil verdoppelte sich im Vergleich zu den Wahlen von 1989. Die stärkste und die bestimmende Kraft im Encuentro ist die Frente Amplio – ein Listenbündnis verschiedenster Strömungen in der Linken Uruguays.
Innerhalb der Frente Amplio hat die Gruppe Asamblea Uruguay/Lista 2121 um den Ökonomen Danilo Astori einen sensationellen Erfolg verbuchen können. 40 Prozent der WählerInnen des Encuentros entschieden sich für die Liste von Astori, der damit zum neuen starken Mann innerhalb der Frente Amplio geworden ist. Auf den Plätzen folgen die Sozialistische Partei, das eher sozialdemokratische Vertiente Artiguista, die Rest-KP Uruguays und das Movimiento de Partizipación Popular (MPP) mit den MLN-Tupamaros.
Die Tupas werden zum ersten Mal in der Geschichte Uruguays mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Bisher hatten sie immer unabhängige Kandidaten innerhalb des MPP unterstützt. Pepe Mujica, Gründungsmitglied der Tupamaros und während der Diktatur viele Jahre unter den schlimmsten Bedingungen als Geisel der Militärs eingekerkert, zieht für die MLN ins Abgeordnetenhaus ein. Jorge Zabalza, der ebenfalls als Geisel während der Diktatur im Gefängnis saß, sitzt als erster Tupamaro im Stadtparlament von Montevideo.
ZTFrente zwischen Machtanspruch und Basistreue
Innerhalb der Frente Amplio haben jetzt eindeutig die Moderaten um Danilo Astori die Nase vorn. Sein Flügel stellt alleine 6 Senatoren und 15 Abgeordnete im neuen Parlament. Das MPP mit den MLN-Tupamaros hat nur leicht dazugewonnen. Schwer verloren haben dagegen die orthodoxen Reste der Kommunistischen Partei.
Die interne Stimmenverteilung hat auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Vollversammlung der Frente Amplio und auf die Debatten über den zukünftige Kurs der Uruguayischen Linken. Die Hälfte der Sitze wird nach errungenen Prozentpunkten bei den Wahlen vergeben, die zweite Hälfte wird von den Frente Basiskomitees gewählt. Der interne Streit scheint vorprogramiert. Schon einen Tag nach der Wahl kam die erste Kostprobe, als Astori im Fernsehen verkündete, daß er sich durchaus eine Zusammenarbeit mit der Regierung Sanguinetti, zum Beispiel in den Bereichen Wirtschafts- und Bildungspolitik vorstellen könne. Viele BasisaktivistInnen der Frente sehen das etwas anders und wünschen sich eher eine starke Opposition. Nach dem ersten Frust über den heiß erträumten und knapp verfehlten Wahlsieg konnten sie dem Ergebnis aber auch durchaus positive Seiten abgewinnen: “Eine linke Regierung unter einem Präsidenten Tabare Vazquez hätte es sehr schwer gehabt gegen eine Mehrheit der traditionellen Parteien im Parlament zu regieren… “, kommentierten sie das Wahlergebnis und fügten hinzu, “es ist großartig, dass die Frente so viele Stimmen gewonnen hat, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle 5 Jahre nur auf Wahlergebnisse schielen und darüber vergessen, was wir eigentlich sein wollen: eine politische und soziale Basisbewegung.”
Innerhalb des Wahlbündnisses Encuentro Progresista hat bereits der Streit darüber begonnen, wer in Zukunft die erste Geige spielt. Ob Danilo Astori als großer Wahlgewinner oder der knapp geschlagene Präsidentschaftskandidat und ehemalige Bürgermeister von Montevideo Tabare Vazquez – mit Sicherheit kommt er aus der Frente Amplio. Vazquez wollte sich im Falle einer Wahlniederlage eigentlich vornehmlich seinem Beruf als Arzt widmen. Für einen Sitz im Parlament hatte er gar nicht erst kandidiert.
Vorläufiger Punktsieger im Richtungsstreit ist Vazquez, denn das Leitungsgremium der Frente Amplio (Organo de Conducción Politica) hat am 7. Dezember entschieden, ihn als Verhandlungsführer der Frente Amplio und als Repräsentanten des Encuentros für die Gespräche mit der neuen Regierung zu benennen. Etwas beleidigt reagierten darum auch die Vertreter der Asamblea Uruguay auf diese Personalentscheidung. Sie teilten mit, sie würden die Beschlüsse zwar mittragen, gleichzeitig kritisierten sie aber, daß Vazquez erheblichen Druck ausgeübt habe und seine weitere Mitarbeit vom Fortbestand des Encuentro Progresista abhängig gemacht habe. Für die anstehende Wahl eines neuen Präsidenten der Frente käme Tabare Vazquez ohnehin nicht in Frage. Ihr Kandidat der Wahl sei Danilo Astori.
ZTFlügel in der Frente geschwächt
Der linke Flügel innerhalb der Frente Amplio setzt jetzt vor allem auf die Delegierten der Basiskomitees in der neuen Vollversammlung. Der MPP Senator Helios Sarthou erklärte in einem Interview, der linke Flügel innerhalb der Frente werde es in Zunkunft schwer haben. Er kritisierte gleichzeitig den zukünftigen Präsidenten Sanguinetti, der sich gerne einige moderate PolitikerInnen vom Encuentro als Gesprächsspartner über die Bedingungen für eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesucht hätte . Sarthou wies solch patriarchale Anbiederungen zurück: “Die Verhandlungspartner aus der Linken bestimmen die Linken selbst”.
ZTDie Blancos im Tal der Tränen
Der ganz große Verlierer der Wahl sind die Blancos des noch amtierenden Präsidenten Dr. Luis Alberto Lacalle. Erdrutschartig verloren sie fast 10 Prozent ihrer Stimmen. In fünf Landkreisen müssen den Regierungssessel an einen Colorado Politiker abtreten.
Innerhalb der Blancos hat nun ein Richtungsstreit begonnen, der sich zu einer Frage zuspitzt: Wer wird in Zukunft an der Spitze der Partei stehen. Die Strömung, die dem Noch-Präsidenten Lacalle nahesteht, hat bei den Wahlen weniger Stimmen errungen als die, an deren Spitze dessen Widersacher Volonte steht. Volonte könnte nun mit seiner gestärkten Hausmacht die Führungsposition übernehmen
ZTWahlsieger Sanguinetti auf der Suche nach Koalitionen
Wahlsieger Sanguinetti steckt bereits in Beratungen, um sich eine tragfähige Mehrheit im Parlament aufzubauen. Er will sowohl mit den Blancos als auch mit dem Encuentro Progresista verhandeln. Denn seine Partei, die Colorados, verfügt im neu gewählten Parlament nicht einnal über eine relative Mehrheit und ist daher auf Bündnispartner und Absprachen angewiesen. Sanguinetti liess aber keinen Zweifel aufkommen, daß für ihn lediglich der moderate Flügel des Encuentro Progresista ein Gesprächspartner sein wird. Die Abgrenzungen haben bereits begonnen: Colorado Politiker beschuldigten den linken Flügel der Frente Amplio, für einige Glasschäden an Parteilokalen und Handgreiflichkeiten gegen Colorado Anhänger in der Wahlnacht verantwortlich zu sein. Man darf gespannt sein, welche Positionen die Frente Amplio in den Gesprächen mit Sanguinetti und seiner Regierungsmannschaft einnimmt.
Sanguinetti hofft auf einen reibungslosen Wechsel. Im Mittelpunkt seines Regierungsprogramms stehen die Förderung der nationalen Wirtschaft, die Bekämpfung der Inflation und die sozial leicht abgefederte Integration Uruguays in den gemeinsamen südamerikanischen Markt MERCOSUR. Für drohende Konflikte zwischen ArbeitnehmerInnen und -arbeitgeberInnen schwebt ihm Sozialpakt vor. Sanguinetti verfügt über beste Beziehungen zum Internationalen Währungsfond und hat bereits in seiner ersten Amtszeit (1985-89) ein Strukturanpassungsprogramm mit der Weltbank unterzeichnet. Er rühmt sich, in seiner letzten Amtszeit keinen einzigen Arbeitskonflikt verloren zu haben. Auf die uruguayischen Gewerkschaften kommen schwere Zeiten zu.

Nein zur Gewalt gegen Frauen

Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) kon­statiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Ar­mutsgrenze leben, beobachten Menschen­rechts- und Frauenorganisationen gleich­zeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Dik­tatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Aus­einandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herr­schende politische und ökonomi­sche Sy­stem. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schla­gen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivi­stinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, er­mordet und zerstückelt oder – genauso sensatio­nalistisch – vermarktet als strahlende Ge­winnerin eines regiona­len, nationalen oder weltweiten Schön­heitswettbewerbes. We­der die Gewalt noch die Misswahlen ken­nen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der sel­ben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltri­ges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldun­gen nicht. Ein für Zen­tralamerika ein­maliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weibli­chen Polizistinnen besetzt ist, re­gistriert nur einen Bruchteil der Ge­walttaten, die in der Hauptstadt be­gangen werden. Und obwohl viele an­dere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzen­tren wenden, ist die Zahl der tatsäch­lichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusam­mengeschlossen. Das Netz ge­hört damit zu den wenigen Bewegun­gen Nicaraguas, die noch nicht von in­neren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauen­gesundheitszentren von Si Mu­jer und Ixchen, die Stiftungen Xochi­quetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzen­tren von AMNLAE, der sandinisti­schen Frau­enorganisation, die bisher mit den unab­hängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewalti­gungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zu­nimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden kön­nen und daß sie dieses Unrecht nicht still­schweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Er­folg unserer Kampagne”, so Paola.

Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffent­licht, die kostenlos landesweit mit Aufla­gen von über 50 000 Exem­plaren verteilt wurden. In der leicht verständlich ge­schriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotio­naler, körperlicher und sexueller Ge­walt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtli­che Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwar­tet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch im­mer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chan­cen, dorthin wieder zu­rückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinameri­kas, ille­gal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetz­buch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhand­lungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Ver­urteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Ju­gendliche beiderlei Geschlechts und zei­gen, wie Gewalt­strukturen entstehen und wie sie abge­baut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bil­dungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publika­tionen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Ein­zelpersonen als auch von Gruppen ge­nutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zu­sammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominika­nischen Republik und Venezuela bei der General­versammlung der latein­amerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionie­rung und Ver­nichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfas­sende Konvention bietet die rechtli­che Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugun­sten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Ge­waltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäu­sern und psychologischen Beratungs­stellen, die Anstellung speziell ge­schulten Personals in den Justizappa­raten, sowie die Bereitstellung staatli­cher Mittel zur Zahlung von Wieder­gutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Par­lament ratifiziert und in die Praxis umge­setzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Ge­sundheitspolitik seit der Weltbevölke­rungskonferenz vom Opus-Dei-Mit­glied und Erziehungsminister Hum­berto Belli diktiert wird, gerät da­durch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, da­her brauchen wir die 40 000 Unterschrif­ten”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.

Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image

Elói Pietá referierte im Berliner For­schungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatli­cher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Tot­schlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mit­glied zahlreicher Ausschüsse zur Untersu­chung von Massakern und Folter in Brasi­lien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offen­sichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikani­schen Land besondere Ausmaße ange­nommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasiliani­schen Gefängnissen ist die soziale Unge­rechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Ein­kommensdelikten”, das ist die erste Bi­lanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich da­bei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 geset­zeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Un­terdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist da­gegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vor­behaltlos hinter der Militarisierung der in­neren Sicherheit standen, hinter den ge­schaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militä­risch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Ge­sellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Kon­zepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprü­che des Landes in einen Fall von Krimi­nologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtre­gierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elabo­rierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Ar­mee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialein­heiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidri­gen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wur­den be­sondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politi­schen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Konti­nuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklet­tert, sie befinden sich heute in der Kom­mando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Me­dien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Ver­antwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Be­standteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekon­struktion – ,als sie von den Maschinenge­wehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getrof­fen wurden. Verletzte wurden anschlies­send exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im fol­genden Jahr 1993 die Zahl der gesetzes­widrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Re­gierung will,” so Pietá, “kann sie die Hin­richtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Men­schenrechtskampagnen gegen die geset­zeswidrigen Hinrichtungen und Folter­praktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einhei­ten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogen­handel. Konkurrenzkämpfe unter Drogen­kartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg ter­ritorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Ar­mee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Dro­genhandel sichtbar weiter. Die Profit­strukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz ver­bindet Militär, Geheimdienste und Poli­zeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinier­ten. Heute heißt dieses Zentrum in Anleh­nung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidi­gung” nun “Operationszentrum zur Inne­ren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheim­dienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaff­neten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum ange­kündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerIn­nen der Armensiedlungen von wesentli­chen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durch­suchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort blei­ben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Be­reiche der Gesellschaft ausdehnen. In je­der brasilianischen Großstadt gibt es Fa­velas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”

Zwischen Privatisierung und Korruption

In der Tat hat die seit 1992 amtierende Regierung ihr Modernisierungsvorhaben mit zahlreichen Privatisierungen deutlich unter Beweis gestellt. Mit der Modernisie­rung sollen in Ecuador die Marktkräfte gestärkt werden, um das Land auf die glo­balen Veränderungen vorzubereiten und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
In Wirklichkeit handelt es sich hierbei nicht gerade um eine neue Strategie, wird doch lediglich der bereits 1982 initierte und seitdem von den nachfolgenden Re­gierungen praktizierte neoliberale Kurs beschleunigt und vertieft. Eine Verdopp­lung der Auslandsschulden von 6,6 Milli­arden auf 12,9 Milliarden US-Dollar und ein den Verfall der Währung ausdrücken­der Anstieg des Wechselkurses von 49,8 auf 2118 Sucres pro US-Dollar sind die vorläufigen Ergebnisse der zweijährigen Regierungszeit.
Der Maßnahmenkatalog der ecuatoriani­schen Regierung, der 1994 vom Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) gebilligt wurde, betont die Notwendigkeit, Staats­vermögen in private Hände zu überführen und stellt die Inflationsbekämpfung als Sozialpolitik dar – obwohl der Regierung gerade in dieser Hinsicht jegliche Per­spektive fehlt. So soll die Inflationsrate, die Anfang 1992 bei 56 Prozent pro Jahr lag, bis Ende 1994 auf 20 Prozent pro Jahr gesenkt werden. Sind diese Ziele erst einmal erreicht, bleibt die Hoffnung auf ausländische Investitionen, die dem wirt­schaftlichen Wachstum den entscheiden­den Impuls geben sollen.
Im Bemühen um höhere Steuereinnahmen und größere Liquidität zur Tilgung der Auslandsschulden bediente sich die Re­gierung eines komplizierten Systems stei­gender Kraftstoffpreise. In diesem System sind drei Elemente vereinigt: der Preis von auf Erdöl basierenden Produkten, der Preis des ecuatorianischen Rohöls auf dem Weltmarkt und der Wechselkurs zum US-Dollar. Im Falle, daß die ersten beiden steigen, bezahlt der ecuatorianische Kon­sument weniger, aber sollten sie fallen, trägt die Bevölkerung die Kosten. In die­sem Zusammenhang sei darauf hingewie­sen, daß der Preis für Benzin seit 1992 um 432 Prozent angestiegen ist, womit er noch über den Preisen auf dem nordame­rikanischen Markt liegt.
Der propagierte Modernisierungsprozeß zeichnete sich von Anfang an durch eine Reihe von Unschlüssigkeiten, Verzöge­rungen und Widersprüchlichkeiten seitens der Regierung aus. Dies hatte im ersten Jahr nach ihrem Amtsantritt den Konkurs einiger staatlicher und für die Privatisie­rung vorgesehener Betriebe zur Folge. Im zweiten Jahr kam der Prozeß besser in Gang, wurde aber von mehreren Korrupti­onsanschuldigungen sowie fragwürdiger Verwendung der Privatisierungserlöse stark beeinträchtigt.
Geprägt waren die letzten zwei Jahre von Mißtrauen, dem Fehlen einer einheitlichen Führung, der institutionellen Schwäche und der Unfähigkeit der Regierung breite gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung, steigende Arbeitslosig­keit und die Kürzung der Sozialausgaben fügen sich in dieses Panorama ebenso ein, wie die Nichtexistenz einer Sozialpolitik, die die Auswirkungen der neoliberalen Politik mildern könnte.
Modernisierung oder Fetischismus?
Das Projekt der Modernisierung des Staates, versuchte die Regierung den EcuatorianerInnen mittels einer geschickt aufgezogenen propagandistischen Kam­pagne zu verkaufen. Staatliche Institutio­nen wurden verleumdet und die Vortreff­lichkeit von Privatbetrieben gepriesen. Sehr bald bildete sich jedoch in den unter­schiedlichsten Bereichen eine Opposition. Besonders die extreme Vereinfachung des Privatisierungsansatzes wurde kritisiert. Tatsächlich weist das Gesamtprojekt starke Mängel in der Finanzierung auf.
Die Erfahrungen anderer lateinamerikani­scher Länder mit Privatisierungen erlau­ben die Prognose, daß es besonders in drei Bereichen zu Problemen kommen wird: Bei der angemessenen Wertbestimmung des zu privatisierenden Bestands, bei der transparenten Gestaltung des Privatisie­rungsprozesses und bei der konkreten Verwendung der Privatisierungserlöse. Im Fall von Ecuador ist keines dieser drei Probleme gelöst worden. Ganz im Ge­genteil.
Die Zuckerfabrik AZTRA ist einer der bekanntesten Fälle. Sie wurde zu einem symbolischen Preis von 100.000 US-Dol­lar verkauft, nachdem anfangs zwischen 40 und 50 Millionen US-Dollar geboten worden waren. Um Einzelinteressen ent­gegenzukommen, wurde eine Krise mani­pulativ erzeugt, lauten diverse Anschuldigungen. Auch der Verkauf der Zementfabrik “Selva Alegre” paßt in die­ses Bild, bei dem der Staat laut Aussagen von Spezialisten ungefähr 30 Millionen US-Dollar verloren hat.
Ein weiterer Skandal erschütterte das Vertrauen in den Präsidenten auf breiter Ebene. So wurde enthüllt, daß die Regie­rung sich mittels des Finanzministeriums heimlich hunderte Millionen von Sucres von den Konten öffentlicher und staatli­cher Banken, sowie von halbstaatlichen Unternehmen angeeignet hat. Zu letzteren zählt auch die Corporación Financiera Nacional, die die Betriebe AZTRA und Cemento Selva Alegre verkauft hat. An­scheinend hat die Regierung das Geld verwendet, um den Schuldendienst zu lei­sten und damit den vierteljährlichen Überprüfungen des IWF standzuhalten. In jedem Fall ist der Verbleib der Privatisi­erungserlöse bis zum heutigen Tag von keiner einzigen Behörde offengelegt wor­den.
Obwohl der Direktor des Nationalen Rats für Modernisierung (CONAM) die Berei­che Sozialversicherung, die Telekommu­nikation, die Seehäfen, die standesamtli­che Registration, die Flughäfen und Zölle zu den Bereichen äußerster Priorität in seinem weiteren Vorgehen erklärt hat, liegt dem IWF eine Absichtserklärung vor, die Wasserkraftwerke, Telekommu­nikation, elektrische Energie und die So­zialversicherung als Hauptobjekte für mögliche Privatisierungen definiert. Das würde die Privatisierung strategisch wich­tiger Sektoren der ecuatorianischen Öko­nomie bedeuten.
Was die Verringerung der Staatsquote an­geht, so konzentriert sich die Regierung auf den Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor. Bis zum August dieses Jahres wurden 30.000 Stellen abgebaut. Anstelle von Kündigungen ist die Politik der er­kauften “freiwilligen” Rücktritte vom Ar­beitsplatz eine weitverbreitete Praxis.
Unterdrückung der Ökonomie?
Nach Auffassung vieler Sozialwissen­schaftler ist die derzeitige Modernisierung in Wahrheit nichts anderes als eine “modernisierte Unterdrückung der Öko­nomie”, da durch die Politik der derzeiti­gen Regierung die Primärgüterproduktion, insbesondere die Landwirtschaft und die Agroindustrie begünstigt wird. Die Manu­fakturbetriebe, plötzlich mit dem Wegfall der aus vorangehenden Dekaden ge­wohnten Anreize und Schutzzölle kon­frontiert, sahen sich gezwungen, ihre Pro­duktion einzuschränken und/oder umzu­stellen. Das einzig Moderne an der der­zeitigen Situation ist der juristische und institutionelle Rahmen, sowie das Auf­kommen von neuen landwirtschaftlichen Exportprodukten wie Blumen, Pflanzen und tropischen Früchten.
Alltägliche Korruption
Korruption ist in Ecuador nicht nur eine hin und wieder auftauchende Rander­scheinug, sondern eine strukturelle Reali­tät. In dieser Amtszeit erreichte sie ein be­sonders starkes Außmaß. Das von der Op­position immer wieder aufgebrachte Bild des Präsidenten Sixto Durán Ballén als wehrloser, alter Greis mit guten Absich­ten, der keinerlei Ahnung davon hat, was um ihn herum passiert, kommt der Reali­tät tatsächlich sehr nah. So blüht um ihn herum die Korruption, angefangen in sei­ner eigenen Familie.
Die Beschuldigungen eines sozialdemo­kratischen Abgeordneten im letzten Au­gust, daß die Nichte des Präsidenten in einen Bestechungsgelderskandal verwik­kelt sei, stellt dabei den Höhepunkt dar. Sixto protestierte entschieden und forderte eine sofortige Untersuchung der Angele­genheit bis zur letzten Konsequenz, damit sein Ruf und der seiner Familie gewahrt bleibe. Die Anschuldigungen erwiesen sich als gerechtfertigt. Seine Nichte hatte bewirkt, daß dem Unternehmen “Flores y Miel” seitens der Corporación Financiera Nacional (CFN) ein Kredit von 800.000 US-Dollar gewährt wurde. Und dies, ob­wohl “Flores y Miel” die Kriterien für einen Kredit nicht erfüllte und bereits Schulden bei privaten Banken hatte. Wäh­rend der endgültigen Enthüllung aller die­ser Verstrickungen befanden sich die Hauptpersonen dieser Affäre – die Nichte des Präsidenten, die Nutznießer des Kre­dits und der Vorsitzende der CFN – in Miami, um sich vom Streß dieser ganzen unbegründeten Anschuldigungen und an­derer Wehwehchen zu erholen.
Die Policía Nacional, ebenfalls von Kor­ruptionsvorwürfen stark bedrängt, mußte im Juli ihre gesamte Führungsspitze neu konstituieren, nachdem sieben ihrer Ge­neräle wegen illegaler Bereicherung aus­geschieden waren. Die Hauptanklage richtete sich gegen den Exkommandanten Guido Nuñez. Die Anklage offenbarte die Ausmaße der existierenden Korruption und war der Ausgangspunkt weiterer Nachforschungen, ohne daß es bisher zu konkreten Verurteilungen gekommen ist.
Mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit der verschiedenen öf­fentlichen Institutionen ist es nun wohl endgültig vorbei. Innerhalb des Polizei­korps kommt es jetzt auch zu ersten Pro­zessen hinsichtlich der Menschenrechts­verletzungen vor einigen Jahren, unter denen der Fall der 1988 verschwundenen Brüder Restrepo besonderes Aufsehen er­regte.

Kasten 1:

Die neun Leben des Präsidenten
Im November 1994 mußte der ecuatorianische Präsident Sixto Durán Ballén, genannt “el viejito” (immerhin schon über achtzig Jahre alt) zweimal innerhalb von zwei Wo­chen sein eigenes Ableben, über das hartnäckige Gerüchte kursierten, dementieren. Der ehemalige Architekt bemerkte dazu nur, er habe offensichtlich die neun Leben ei­ner Katze, und er sei froh, daß ihm auf diese Weise noch sieben Leben blieben…
Nicht gerade zur Stärkung des allgemeinen Respekts gegenüber dem Präsidenten weiß Vizepräsident Dahik, der starke Mann im Hintergrund, seine Position zu nutzen. So hat er auch ein gewisses Talent entwickelt, beim Inkrafttreten neuer von ihm propa­gierter Gesetze im Ausland und damit außerhalb der Schußlinie des Bevölkerungs­protests zu sein. So kommt es inzwischen beispielsweise zu grotesk langen Schlangen an Tankstellen und anderen Panikkäufen, sobald erste Gerüchte einer Staatsreise des Vizepräsidenten in der Luft liegen.
Aber auch andere reisen gerne. Das Magazin Vistazo wählte den Abgeordneten Rubén Vélez der Democrácia Popular zum meistgereisten Parlamentsvertreter des Jahres. Allerdings konnte er seinen Vorsprung gegenüber den Kandidaten aller ande­ren Parteien nur knapp behaupten. Was das konkrete Interesse für ecuatorianische An­gelegenheiten bei Reisen nach zum Beispiel Nordkorea und Kamerun war, bleibt in der Statistik offen.
Elisabeth Schumann

Kasten 2:

Die Farbe unserer Gefängnisse
“Wenigstens lassen sie uns die Farbe unsere Gefängnisse wählen…” steht auf einer Hauswand in der Nähe der Universidad Central in Ouito. Auch wenn die Tageszeitun­gen die Ergebnisse des Ende August durchgeführten Plebiszits euphorisch mit “Ja zum Wechsel” und ähnlichem betitelten, so kommt das Graffiti der in der Bevölkerung vor­herrschenden Meinung wohl näher.
Eine eigentlich überhaupt nicht vorhandene Informationspolitik seitens der Regierung zum Thema Volksabstimmung wirkte Mißtrauen und Nichtbeachtung nicht gerade entgegen. Bei einer Umfrage zwei Wochen vor der Befragung zeigte sich, daß zwar die meisten davon gehört hatten. Was aber genau gefragt werden sollte, war dem Großteil der Bevölkerung völlig unklar. Und immerhin besteht Wahlpflicht. Es schien, daß das an diesem Wahlwochenende verhängte Ausschankverbot mehr Diskussionen verursachte als das Plebiszit selbst.
Nach der Auszählung der sieben zum Teil unklar formulierten Fragen interpretierte die Regierung Durán Ballén diese Folgerungen:
Erstens: Das Volk hat sich klar für eine Reformierung der Konstitution entschlossen. Zweitens: Die Wiederwahl eines Präsidenten wird prinzipiell befürwortet. Bisher be­deutete in Ecuador jede Wahl automatisch einen neuen Präsidenten. Diese Änderung könnte bei den in zwei Jahren anstehenden Wahlen interessante Folgen haben, da sämtliche Präsidenten der letzten Jahrzehnte – angefangen mit Osvaldo Hurtado über León Febres Cordero und Rodrígo Borja bis hin zu Sixto persönlich – theoretisch eine Wiederwahl anstreben könnten. Und drittens können in Zukunft auch Parteilose im politischen Geschehen mitwirken.
So weit, so gut. Böse Stimmen behaupten, die Regierung hätte nun endlich eine kon­krete Aufgabe für die nächsten zwei Jahre: die Auslegung und Wiederneuauslegung der Volksabstimmung…
Elisabeth Schumann

Die Ästhetik der Herrschaft

Eine Untersuchung der verblüffend leicht erreichten Veränderungen während der Amtszeit Menems muß zwei Aspekte be­rücksichtigen: Zum einen haben die kon­kreten Auswirkungen der sozioökonomi­schen Krisensituation weite Teile der ar­gentinischen Bevölkerung dazu gebracht, ein stark geschwächtes Parlament, eine bis in die Reihen des Obersten Gerichts der Regierung untertänige Justiz, sowie eine immer machtvollere Exekutive zu akzep­tieren. Zum anderen ändert sich das Wahrnehmungsverhalten von Politik durch “postmoderne” oder “post-politi­sche” Betrachtungsweisen, die eng mit dem Aufstieg des Fernsehens als politi­schem Medium verbunden sind.
Innenpolitische Befriedung
Menems Vorgänger Raúl Alfonsín war es weder gelungen, dem sich ständig ver­schlechternden Verhältnis zwischen Zivil­regierung und Militär entgegenzuwirken, noch die teilweise galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Trotzdem schon unter Alfonsín die meisten Verfah­ren gegen die Verantwortlichen der Men­schenrechtsverletzungen unter der Militär­regierung eingestellt worden waren, stellte erst Menem eine innenpolitische Befrie­dung her, indem er auch die im Gefängnis sitzenden ehemaligen Junta-Mitglieder begnadigte. Die Strafverfolgung und die Verurteilung von denjenigen, die verant­wortlich für die brutalste Repression wa­ren, die Argentinien je erlebt hat, war ein überaus bedeutsamer Moment in der Wie­derherstellung eines Gerechtigkeitsideals und des kollektiven Erinnerungsvermö­gens an die Ereignisse unter der Diktatur gewesen. Der plötzliche Abbruch von Hunderten von Gerichtsverhandlungen und vor allem die Begnadigung von verurteil­ten und inhaftierten Militärs aber machten Menschenrechte zu einem Thema von ge­stern, einer Vergangenheit, die Menem hinter sich bringen wollte. Somit leitete er einen Kurs des “Vergessens” ein, von dem das Militär profitierte. Durch das von der Regierung betriebene Zuschlagen der Aktendeckel – die so mit jeder Form von Gerechtigkeitsempfinden brach – wurde die Instabilität des Verhältnisses zwischen Regierung und Militär deutlich verringert. Aber anderseits wurde damit auch die Er­innerung an die Ereignisse des letzten Jahrzehnts stark geschwächt. Die Begna­digungen beenden ein Thema, das nicht nur politisch oder rechtlich bedeut­sam ist, sondern auch eine herausragende morali­sche und kulturelle Relevanz hat.
Preisstabilität geht vor Sozialpolitik
Die Hyperinflation wurde erst einige Mo­nate nach Menems Amtsantritt durch Maßnahmen des Wirtschaftsministers Domingo Cavallo unter Kontrolle ge­bracht. Die wiederkehrenden Wellen von sprunghafter Geldentwertung hinterließen tiefe Eindrücke politischer wie auch kul­tureller Art in der argentinischen Bevölke­rung. Diese haben mittlerweile den Cha­rakter einer Besessenheit gewonnen, so daß öffentlich und privat fortlaufend wie­derholt wird, alles sei besser als eine Wie­derkehr der Inflation. Somit kam es unter weiten Teilen der Bevölkerung zur unaus­gesprochenen Übereinkunft, der Regie­rung Menem einen “Blankoscheck” unter der Bedingung auszustellen, daß eine mi­nimale Stabilität gewährleistet werde.
Auch heute sind die kulturellen Stempel der Inflation deutlich zu sehen. Zunächst setzte sich die Haltung durch, daß alle an­deren ökonomischen und sozialen Forde­rungen hinter der Erlangung von Preissta­bilität zurückstehen müßten, was sogar von den Hauptbetroffenen der neuen Wirtschaftspolitik geteilt wurde. Die Ge­sellschaft in ihrer Gesamtheit war bereit, den Preis zu zahlen, der von der Regie­rung als notwendig dargestellt wurde, um ein erneutes Abgleiten in eine chaotische wirtschaftliche und soziale Lage zu ver­hindern. Somit wurden die Ausführungen von Menem und Cavallo über die Vorzüge des freien Spiels der Marktkräfte und über die negativen Auswirkungen von Staats­eingriffen als Beschreibung einer Realität angenommen, die man zu akzeptieren habe. Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Ausdruck veränderbarer sozialer Verhält­nisse gesehen, sondern wurde zu einem Naturereignis, dessen Auswirkungen man eben ertragen müsse.
Außerdem wurde der Bevölkerung einge­redet, man könne zur schnellen Wieder­herstellung von wirtschaftlicher Stabilität nicht alle institutionellen Formalitäten einhalten. Um die Inflation zu überwin­den, müsse man die Entscheidungsbefug­nisse in der Exekutive und nicht im Par­lament konzentrieren. Da man schnell und einheitlich handeln müsse, seien Debatten im Kongreß zu vermeiden, da sonst kost­bare Zeit zur Erlangung wirtschaftlicher Ordnung verloren ginge. So wurde die Rolle des Parlaments im politischen Pro­zeß als ein Hindernis für das Gemeinwohl dargestellt.
In diesem Zusammenhang bot sich Präsi­dent Menem der Rückgriff auf zwei Handlungsweisen. Zum einen konnte und kann er das Parlament durch das verfas­sungsrechtlich bedenkliche Mittel des Er­lassens von Dekreten übergehen. Diese Vorgehensweise hat die Exekutive zu einer legislativen Kraft gemacht und die Funktionen des Parlaments geschwächt. Zum anderen haben sich Menem wie auch Cavallo zu Vermittlern ihrer Politik in den Massenmedien gemacht und ein demago­gisches Verhältnis zur Öffentlichkeit her­gestellt. Der eine wurde so zum charisma­tischen Retter und der andere zum unfehl­baren Technokraten.
Populismus im nationalistischen Stil
Eine neue Form der Herrschaftsstrategie bildet sich heraus, in der sich Wirtschaft­liberalismus mit dem politischen Stil ver­mischt, den Präsident Menem bei den Pe­ronisten gelernt hat. 1989 erwarteten die Menschen vom neugewählten Menem, daß er ein populistisches Programm im nationalistischen Stil durchführen würde. Innerhalb einiger Monate allerdings über­zeugte er viele seiner Anhänger von der Notwendigkeit, einen scharfen Kurswech­sel hin zu einer neoliberalen und moneta­ristischen Politik zu verfolgen, die von Pe­ronisten bisher stets als Ausdruck oligar­chischer und anti-nationaler Haltung an­gesehen worden war. Diese ideologische Wandlung durchzog sowohl die Handlun­gen, als auch das Auftreten der Regierung.
Es ist erhellend, das öffentliche Auftreten Menems als populistischer Führer wäh­rend der Präsidentschaftskampagne 1988 mit seiner Präsenz bei einer Militärparade zwei Jahre später zu vergleichen, um Zei­chen einer einschneidenden kulturellen Neugestaltung zu verfolgen. Ein Wechsel wird deutlich, von Menem, dem Retter und der Hoffnung der Verarmten zu Menem, dem Garanten der Wiedereinset­zung der Mächtigen. Während des ersten Ereignisses stellte Menem alle Attribute eines plebejischen, massenmedialen Po­pulismus zur Schau, während die Symbole der Aussöhnung von Militär und Zivilre­gierung bei der Parade das Militär erhöh­ten und somit die “Operationen” krönten, die mit der Begnadigung begonnen hatten.
Hoffnungsträger der Armen
Die kulturelle Bedeutung des Wechsels von Kulisse und Aussage ist unschätzbar. Die Veranstaltung 1988 im Fußballstadion griff zurück auf die reichhaltigen Symbole der Geschichte des Peronismus. Menem erschien, ganz in weiß gekleidet, als Hoff­nungsträger, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, als Anwalt der Nie­deren, als Politiker, der, aus dem Inneren des Landes kommend und verwurzelt im Herzen der Massenbewegung, die Bedürf­nisse und Sorgen der Menschen verstehen könne. Er versprach Umverteilung, Voll­beschäftigung und hohe Löhne in nächster Zukunft. Er benutzte Worte, die zur ideo­logischen Tradition seiner Zuhörerschaft paßten: Arbeit, Respekt, Würde, Zufrie­denheit, Gerechtigkeit. Unter Verwendung von populistischer Rhetorik versuchte er, den Platz einzunehmen, der seit dem Tod Perons verwaist ist: ein charismatischer Staatschef; eine Führungspersönlichkeit außerhalb des bürokratischen Apparates; ein Mann aus dem Landesinneren unter Politikern aus Buenos Aires; jemand mit Ehrfurcht vor den historischen Traditionen der peronistischen Bewegung.
Auf dieses Erscheinungsbild, das durch seine körperliche Präsenz im offenen Wahlkampfwagen “menemóvil” noch un­terstrichen wurde, gründete Menem seine Kandidatur und seine Wahlkampagne. Er bot dem politischen Theater seinen Körper an, der als fleischgewordene Verspre­chung seiner Botschaft sichtbar und be­rührbar war. Im Fußballstadion stieg er von Scheinwerferlicht umfangen in sein “menemóvil” – wie ein wahrer Held der volkstümlichen Erlösung, der mit der Ästhetik von Pop und Rock umzugehen weiß. In fluoreszierendem Weiß und von einem einzelnen Lichtstrahl erleuchtet, bewegte sich Menem durch das Stadion auf die Rednerbühne zu. In seiner Kam­pagne vermittelte Menem ständig das Ge­fühl von Nähe: man konnte ihn ankom­men oder vorbeigehen sehen; man konnte ihm folgen.
Aufwertung der Militärs
Während der Militärparade vom 9. Juli 1990 zeigte der neue Menem, nunmehr Präsident, daß sein kulturelles Zitieren des Peronismus der 50er Jahre nicht mehr war als eben ein Zitat, ein fragmentarisches Ereignis, welches in Anführungszeichen gesetzt werden muß.
Der Anblick der Militärparade war be­merkenswert: Die Streitkräfte breiteten sich durch die Straßen der Stadt aus, und auf einem Podium, umgeben vom ge­samten Kabinett, überschaute der Präsi­dent, unbeweglich, das Vorbeimarschieren der Truppeneinheiten. Auch wenn die Streitkräfte formell den Repräsentanten der Republik salutierten, so legitimierten eben jene Vertreter, mit starren Blicken die Parade fixierend, die umstrittenste In­stitution Argentiniens. Menem, der weiß, wie man kulturelle Ereignisse aufbauen muß, wandelte diese Parade in eine Aus­sage zugunsten der Wiederbegründung des Paktes zwischen Gesellschaft und Armee um.
Menem war sich bewußt, daß die Begna­digung alleine nicht ausreichte, da sie sich auf zunächst juristischem und nicht auf kulturellem Gebiet bewegte. Deswegen trug er dafür Sorge, daß die Aufwertung des Militärs in einem innerstädtischen, bedeutsamen Rahmen stattfand. Der noch immer bestehende Konflikt zwischen Ge­sellschaft und Militär benötigte eine alle­gorische Auflösung in Form einer fünf­stündigen Parade, die in einer langen und ermüdenden Übertragung die Fernsehbild­schirme entlangrollte. Die stete visuelle Wiederholung von Panzern, Flugzeugen und marschierenden Einheiten hatte eine tiefgreifende ideologische Bedeutung, da durch die immer gleichen Bilder nur eine Aussage wahrzunehmen war: Die Zeit des Debattierens über die Diktatur ist vorbei. Gleichzeitig wurde zudem deutlich, daß jedwede Diskussion über eine Zukunft, deren Gestalt bereits in ihren Umrissen feststand, ebenfalls nicht erwünscht ist. Die Versöhnung der Regierung Menem mit den Streitkräften nahm andere Allian­zen sowohl mit einheimischen Wirt­schaftskräften wie auch mit den USA vorweg, was sich in der Zusammenkunft von Truppenverbänden, Mitgliedern der Zivilregierung und ausländischen Bot­schaftern deutlich widerspiegelte.
Einfache Lösungen gesucht
In einem Land mit einer starken Prä­sidentschaft wie Argentinien spielt der Staatschef eine bedeutsame Rolle bezüg­lich der Diskursbestimmung. Menems Stil ist auf die Massenmedien zugeschnitten: er verachtet Ideen; er klammert komple­xere Fragen häufig aus; er folgt den Re­zepten für einfache Lösungen; er sieht auf nachdenkliche und beratschlagende Arten der politischen Entscheidungsfindung herab und er weist zynisch alle Werte der peronistischen Tradition zurück, die auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft ab­zielen. Dieser Stil hat bedeutendes Ge­wicht in der gegenwärtigen kulturell-poli­tischen Krise.
Die Konsequenzen sind deshalb so be­denklich, weil heutzutage nur vorsichtig abwägende Politikgestaltung, die Unab­hängigkeit der drei Regierungsgewalten sowie das vollständige Funktionieren der politischen Institutionen einem präsiden­tialen Willen Paroli bieten könnten, der ganz und gar an den Interessen der Mäch­tigen ausgerichtet ist. Durch massenme­diale Moral, Ästhetik und Kultur wurden die Grundwerte einer gerechten und ko­operativen Gesellschaft durch einen Wirt­schaftdarwinismus ersetzt, der prägend für eine neue, individualistische Ellenbogen­kultur wirkt.
Audiovisuelle Hegemonie
Ein Aspekt der gegenwärtigen Auseinan­dersetzung zwischen Politik und Gesell­schaft ist die Schwächung der öffentlichen Kultur. Als politische Diskussionen, par­lamentarische Vertretung und andere Formen kollektiver Partizipation weniger bedeutsam wurden, besetzten die Medien und insbesondere das Fernsehen einen entscheidenden Platz zur Herstellung von Öffentlichkeit.
Heute ist es unmöglich, an Politik ohne Fernsehen zu denken. Diese Entwicklung gilt zwar für alle westlichen Länder, hat aber in Argentinien eine andere Bedeu­tung, da eine Bildungskrise sowie stei­gende Analphabetenraten mit einer audio­visuellen Hegemonie über die symboli­sche Dimension des Sozialgefüges zu­sammentreffen. Dieser Prozeß wird von privaten Fernsehkanälen vorangetrieben, die sich einzig an Profitmaximierung aus­richten. Im argentinischen Fernsehen gibt es kein starkes Gegengewicht zum Kapi­talismus: Der einzige Staatssender befin­det sich fest in Regierungshand, und es gibt keinerlei sonstige öffentliche Kanäle. Der Markt entscheidet derzeit alleine über Beschaffenheit, Ästhetik und Ideologie der audiovisuellen Sphäre.
In diesem Raum werden Politik und poli­tische Kultur geformt, lediglich in Reak­tion auf Verschiebungen und Interessen des kapitalistischen Marktes der symboli­schen Güter, ohne daß es Gegengewichte oder Ausgleichsmechanismen gäbe. Eine gemeinsame Kultur wird vorgespiegelt, die Darsteller verbindet, deren symboli­sche und tatsächliche Macht sehr unter­schiedlich sind. Dies mag zwar ein Mini­mum von kulturellem Zusammenhalt ga­rantieren, ist aber nicht im Sinne einer Gemeischaft verbindend.
Politik nach Mediendiktat
Der Diskurs der Massenmedien kompri­miert die Gesellschaft und gibt das Bild einer einheitlichen kulturellen Landschaft vor, in der Widersprüche in einem weit­läufigen Raum vieler Stimmen aufgelöst werden, die sich nicht unbedingt aufein­ander beziehen. Es ist nicht so, daß die Medien besonders demokratisch wären, sondern sie müssen einfach alle Diskurse mit einbeziehen, um einen umfassenden, universalen Raum präsentieren zu können. Dieser Medienästhetik gibt die Politik nach. Die Medien werden als Vertreter der Allgemeinheit akzeptiert. Die Politik nimmt sogar die formalen und rhetori­schen Limitierungen an, die ihnen die Medien auferlegen: Geschwindigkeit, Vielfalt, Redefluß – Eigenschaften, die häufig an eine politische Show oder an akustische Bruchstücke aus den USA er­innern.
Überzeugt von der Bedeutung der Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit, akzeptieren Politiker die Auffassung, daß Ideenaustausch, längere Debatten, kom­plizierte Ausführungen und die Darstel­lung tiefgründiger Positionen nicht fern­sehgerecht seien. Sie pflegen eine mediale Selbstdarstellung, die sowohl auf der Ver­einfachung ihrer Aussagen, wie auch auf der Illusion von Nähe und Vertrautheit ba­siert: “Wir sind nicht anders als ihr; wir repräsentieren euch und umgeben uns gleichzeitig mit Fernseh-Berühmtheiten. Wir vertreten die Menschen durch das, was ihnen am nächsten ist: der Fernseher im Wohnzimmer oder in der Küche.” Da­durch entsteht eine Armut an Meinungen, ein Ausdünnen immer komplexerer Pro­bleme und ein Bilderfluß, in dem das “hier und jetzt” auf Vergeßlichkeit baut. Um zu existieren, brauchen Politiker – die klassi­schen Vermittler zwischen Bürgern und Institutionen – das Fernsehen, um zum Großen Allumfassenden Vermittler zu werden. Sie sind Gefangene der Massen­medien.
Dieser Wechselwirkung ist schwer zu wi­derstehen. Politik wird durch den Nach­richtensprecher aufgebaut, die Nachrich­tensendungen gewichten die eingehenden Meldungen. Die Glaubwürdigkeit wird den politischen Köpfen genommen und nunmehr von den Chefetagen der Mas­senmedien aus verwaltet. Streitkultur wurde durch ein politisches Trugbild ver­drängt, welches nicht in politischen Insti­tutionen gedeiht, sondern in der Welt des Fernsehens beheimatet ist. Politik in den Massenmedien wird den Gesetzen unter­geordnet, die den audiovisuellen Fluß steuern: starker Eindruck, große Mengen undifferenzierter visueller Information und eine künstliche Schwarz/Weiß-Male­rei, die eher an eine Seifenoper als an ein öffentliches Forum erinnert.
Präsident Menem ist fraglos ein Meister der audiovisuellen Kommunikation. Sein Stil hat sich nahtlos dem Stil des Fernse­hens angepaßt. Er hat sein Image nicht durch Darlegung von Ideen begründet, was eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Werte und Interessen er­laubt hätte, sondern durch eindrucksvolle Kurzauftritte, die vorsichtig aufeinander abgestimmt sind und in denen ein simples Freund/Feind-Schema präsentiert wird.
Politik braucht Ideen und Bilder
Obwohl es nicht realistisch ist, nostalgisch von der Rückkehr der Politikformen zu träumen, die vor der Kulturrevolution der Massenmedien existierten, ist es doch schwer zu akzeptieren, daß Politik nur in dem von den Medien erlaubten Rahmen besteht. Man kann sich Veränderungen in der Politik der Medien vorstellen. Zwei­fellos sind Fernsehnachrichten nicht über­all so schlecht wie in Argentinien, und müssen nicht alle Korrespondenten sensa­tionssüchtige Agitatoren sein. Es gibt kein mit dem Fernsehen verbundenes Schick­sal, dem man nicht entkommen könnte.
Das Erscheinungsbild der Politiker ent­steht nicht nur in den Medien. Wir können hoffen, daß Politiker ihrem Auftrag ge­recht werden: einem Bedürfnis Ausdruck zu geben, das über das eigene hinausgeht und an deren Ausformung sie mitarbeiten. Politik braucht heute sowohl intellektuelle Perfektion wie auch mediale Vermittlung. Sie braucht Ideen ebenso wie Bilder. Die Ästhetik der audiovisuellen Medien neigt zum Ausschluß von Diskursen mit einem intellektuellen Anstrich. Dieser Konflikt drückt ein tief verwurzeltes Verhältnis aus, das von Intellektuellen und Politikern gleichermaßen angenommen wurde.
Politiker, Intellektuelle und Fernsehkom­mentatoren beziehen zumeist eine neutrale und “beschreibende” Haltung, wenn sie sich mit den Konsequenzen der Hegemo­nie der Massenmedien über die symboli­sche Dimension des gesellschaftlichen Lebens befassen. Einige bezweifeln die negativen Auswirkungen des Fernsehens, da die Öffentlichkeit Nachrichten umdeute und so neue Inhalte produziere. Sie ver­gessen dabei allerdings, daß die Bevölke­rung sich nur begrenzt neue Inhalte schaf­fen kann, da sie mit dem begrenzten Mate­rial arbeiten muß, das ihnen das Fernsehen anbietet. Natürlich werden von dieser Seite keine größeren Veränderungen im Umgang mit den Medien vorgeschlagen und auch nicht befürchtet, daß die Pri­vatinteressen der Medienmogule aus­schlaggebend bei der Bildung der öffentli­chen Meinung sind.
Reformperspektiven
Dieser Meinung, die durch ihren Opti­mismus bezüglich der Ergebnisse des ka­pitalistischen Marktes gekennzeichnet ist, kann man kritische und reformerische Perspektiven entgegensetzen. Intellektu­elle – besonders linke Intellektuelle – kön­nen eine entscheidende Rolle spielen, in­dem sie neue Denkanstöße geben, wie Medien auf eine demokratische, nach­denkliche, phantasievolle und durch­schaubare Weise genutzt werden können. Sicher, diese neuen Ideen würden auf eine enorm konzentrierte Macht treffen. Doch neue ideologisch-kulturelle Perspektiven können ein befriedigendes Echo in den Medien finden, gerade weil diese verplichtet sind, alles von einer gewissen öffentlichen Bedeutung einzubeziehen.
Die jüngsten Wahlen in Argentinien vom April dieses Jahres haben gezeigt, daß man sich Elemente einer politischen Kul­tur vorstellen kann, die nicht zwangsläufig zu Gefangenen der audiovisuellen Ideolo­gie und Ästhetik werden. Die Mitte-Links-Partei Frente Grande wurde in diesen Wahlen zur drittstärksten Kraft. Die Kan­didaten benutzten die Medien mit dem Ziel, vielschichtigere Diskussionen einzu­führen. Die Frente Grande wurde auf so­ziale Bedürfnisse aufmerksam, die weder vom Peronismus noch vom Radikalismus vertreten wurden, und verstanden es, aus den zunehmenden Rufen nach Transpa­renz, Ehrlichkeit und Fähigkeit im politi­schen Leben Vorteile zu ziehen.
Die Situation ist besonders lehrreich. Ei­nerseits bemerkten diese neuen politischen Akteure – einige kamen aus der Men­schenrechtsbewegung, andere aus künstle­rischen und intellektuellen Bereichen – die Macht der audiovisuellen Medien in der Herstellung von Öffentlichkeit. Gleich­zeitig aber lernten sie, mit dem Fernsehen umzugehen, ohne sich allen seinen Ri­tualen zu unterwerfen. Sie schlugen sogar eine neue Art des politischen Diskurses im Fernsehen vor.
Ein anderer politischer Stil, ein bewußt kritischer Umgang mit den Medien ist somit möglich. Grundlage dafür muß die Erkenntnis sein, daß die bedingungslose Akzeptanz der schlechtesten Aspekte der jetzigen massenmedialen Kultur das Her­vortreten neuer Ideen verhindert.

Ein neues Kapitel der Vergangen­heitsbewältigung

Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineof­fiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an syste­matischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang No­vember aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterroris­mus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsi­dent Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Unter­suchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjeni­gen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unüber­sehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffen­gewalt, die die Diktatur als System eta­blierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land re­gierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politi­schen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Men­ems. “Damit hat er uns ins Gesicht ge­spuckt. Das ist wirklich sehr schwerwie­gend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen ge­gen die Verantwortlichen der Menschen­rechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorgani­sation Böswilligkeit und bewußte Falsch­interpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter ge­rechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Prakti­ken” ange­wendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Ver­schwundene und Verletzte ver­ursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subver­sion aufgrund des Entschlusses der Präsi­dentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gou­verneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Gue­rilleros/as, speziell der Montoneros ge­hört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestan­den, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiter­hin als “Subversiver” be­zeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach sei­nem Amtsantritt 1989 versucht, das Ver­hältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestie­rung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefäng­nis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsmi­nister Cavallo sich dem hartnäckig wider­setzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufge­räumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück ge­schaut habe.

Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?

Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzuge­hen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppel­züngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppun­gen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies be­deutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ih­rer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiter­hin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschen­rechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten dar­über informierte, daß sie sich weigern dür­fen, Befehle zu verfolgen, die die Men­schenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein stän­diges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty internatio­nal, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisa­tionen und der Besuch von UNO-Sonder­berichterstattern Anfang Oktober in Ko­lumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der interna­tionalen Öffentlichkeit wächst das Be­wußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhält­nisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräf­ten, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäi­sche Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der ko­lumbianischen Regierung, die sich in An­wesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Men­schenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper ange­kündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position sei­nes liberalen Parteifreundes und Amtsvor­gängers Gaviria ab, der nach dem Schei­tern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Gue­rillera Simón Bolívar” zusammenge­schlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ih­rer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regie­rung Samper lehnte ein direktes Dia­logangebot der FARC jedoch mit dem Ar­gument ab, die Guerilla müsse klare Be­weise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaff­neten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse al­lerdings langsam und schrittweise vorge­hen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Mi­litär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesell­schaftliche Druck nicht nur die Kriegs­parteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ur­sachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerk­schaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeit­plan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.

“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”

LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi­schen Militärs und Guerilla gehen unver­mindert weiter. Stehen die Friedensbe­mühungen vor einem erneu­ten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, begin­nen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung ge­geben hatte. Im Gegenteil hatte die Regie­rung Gaviria nach dem Scheitern der Ver­handlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und mi­litärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhand­lungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinanderset­zungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestre­ben der Regierung, der Gewalt und den Ver­letzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Bei­spiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dy­namischere, entschiedenere Hal­tung als die vorhergehende. So hat sie bei­spielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Re­gierung und den Menschenrechtsorgani­sationen, damit diese im Senat eine kla­rere Position bezöge. Die Regierung di­stanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mitt­lerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versu­chen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger ge­worden. Neue repräsentative Um­fragen haben ergeben, daß trotz einiger Gue­rillaaktionen, die öffentliche Ableh­nung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Ver­handlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstüt­zung haben wie zu anderen Zeiten. Offen­bar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche be­ginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem be­stimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zu­nahme der Aktivitäten von Todesschwa­dronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kom­munistische Parlamentsabgeordnete, er­mordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitä­ten ist wohl die bevorzugte Form der Mi­litärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathi­santen der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an ei­nigen Gewerkschaftsführern in Antio­quia oder Todesdrohungen gegenüber po­litischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit re­gierungskritischen Positionen an den Dis­kussionen beteiligen wollen. Das ist wahr­scheinlich der schwierigste Faktor bei zu­künftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpe­dieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argu­menten wurde schon die ehemalige Gue­rilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgeben­den Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht er­pressen lassen, sondern muß die Regie­rung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Para­militärs als ihre Verantwortlichkeit anzu­erkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwah­len im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blie­ben allerdings intakt. Poli­tisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Ein­fluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahr­zehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wis­sen, daß sie ohne bestimmte Überein­künfte mit ihr nicht re­gieren können. Dies wurde von der Rech­ten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen aner­kennen, daß die Gue­rilla keine Kriminel­lenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewe­gungen, die Gewerkschaften und die lin­ken Parteien in der Lage, den erforderli­chen Druck auf die Regierung aus­zuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es ge­genwärtig in der Gesellschaft ein eindeu­tiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla ver­langten, haben heute die realistische Ein­schätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Ge­sellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Par­teien, die Menschenrechtsgruppen, Intel­lektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Ab­wesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position voll­ständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedin­gungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Ei­nige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozes­sen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesell­schaftlichen Gruppen bei den Friedensge­sprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoli­berale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausga­ben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar dar­über im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Be­wegungen und die Guerilla müssen ver­stehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirt­schaftlichen und sozialen Bereich geschaf­fen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungs­schichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimi­stisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen Vertrete­rInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf kei­nen Fall ausgeschlossen werden. Um un­nötige Ri­siken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Be­wegungen von der Regierung konkrete Si­cherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien poli­tischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusam­menarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtig­keit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu ak­zeptieren. Eine internationale Kontroll­kommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde aller­dings noch keine vollen Sicherheitsgaran­tien gewährleisten. Auch in diesem Be­reich muß man Schritt für Schritt vorge­hen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr prä­zise Antwort. In der Zeit, als das Medel­lín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Dro­genkartell und der Aufstandsbekämp­fungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und parami­litärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhan­del zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Ca­stano versuchen werden, sich in die Ver­handlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß inte­griert werden. Die Regierung hat ange­kündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräf­ten in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Ver­gangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist ge­schwächt, das Cali-Kartell ist an Ver­handlungen in­teressiert, weil sie wissen, daß sich in Zu­kunft der Druck auf sie er­höhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbiani­schen Regierung oder der US-amerikani­schen Drogenbekämpfungs­behörde DEA, da diese sich auf das Me­dellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zu­sammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medel­lín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlun­gen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsor­ganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechts­gruppen sind der Meinung, daß eine Le­galisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist aller­dings nicht akzeptabel, daß die Menschen­rechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbe­kämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu ak­zeptieren, daß die Strafe für diese Verbre­chen zwischen ihnen, der Staatsanwalt­schaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Tele­fongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft ver­urteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfah­ren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisie­ren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhan­dels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Ge­schäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Dro­genhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einher­geht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt aller­dings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkrimi­nalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschen­rechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstüt­zung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internatio­nalen Kampagne von “amnesty internatio­nal” und der Vorlage des Berichtes der Intera­merikanischen Menschenrechts­kommission, befindet sich die kolumbia­nische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unter­nimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschen­rechte im Verteidigungsministerium ein­richtet.
Wir erwarten von der internationalen Ge­meinschaft, daß sie anfängt, die kolum­bianische Regierung nicht mehr als ohn­mächtiges Opfer, sondern als Verantwort­liche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsver­letzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die interna­tionale Gemeinschaft sich mit der Situa­tion in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien er­nannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regie­rung enorme Angst, durch ihre Verletzun­gen der Menschenrechte einige ökonomi­sche Vorzugsbedingungen im Exportbe­reich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäi­schen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Re­gierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öf­fentlichkeit ausgeht, ist daher von ent­scheidender Bedeutung.

Die Stimme der Vernunft

Die Herausforderung steht klar vor Au­gen: Die Temperaturen steigen global, die Ozeane nagen jedes Jahr mehr an Inseln wie Tuvalu und Sylt, und die Gletscher in den Alpen sind so mickrig wie seit Jahr­tausenden nicht mehr. Von Dürrekatastro­phen in Australien und dem heißesten Juli seit Menschengedenken in Deutschland ganz zu schweigen.
Die Gefahr hat einen Namen: Klimakata­stro­phe. Und sie hat eine Hauptursache: Den weltweit ungebremsten Verbrauch fos­siler Brennstoffe und die dabei entste­hen­den Kohlendioxid-Emissionen. Sie sind allein für die Hälfte des bedrohlichen, von Menschen gemachten, Treibhausef­fek­tes verantwortlich. Doch die Gefahr ist er­kannt. Mehr noch: Die internationale Staa­tengemeinschaft hat einen Mechanis­mus etabliert, um die Gefahr zu bannen: Die Klimakonvention und die in ihr vor­ge­sehenen jährlichen Klimagipfel. Wie die Gefahrenabwehr praktisch aussehen soll, können DiplomatInnen aus 150 Län­dern auf dem ersten dieser Klimagipfel im kom­menden März in Berlin zeigen. Wenn die Klimakatastrophe abgewendet werden soll, kommen die Industriestaaten nach An­sicht der großen Mehrheit der Wissen­schaftlerInnen nicht umhin, völkerrecht­lich verbindlich zu erklären, daß sie ihre Kohlendioxid-Emissionen so­wie die der an­deren wichtigen Treib­hausgase Methan, Lach­gas und Ozon ver­rin­gern wollen. Mit an­deren Worten: Sie müsssen Ener­gie­verschwenderInnen in den Industrie­län­dern die Daumenschrauben anlegen und die in Rio 1992 verabschie­dete Kli­ma­rahmenkonvention deutlich verschär­fen.
Verzicht auf fossile Energien
Die härteste Vorgabe für die Klimakon­vention wurde in Rio gleich mitbeschlos­sen; sie findet sich in Artikel 2 der Klima­rahmenkonvention, in dem es unmißver­ständlich heißt, daß die Konzentration der schädlichen Kohlendioxidmoleküle in der Atmosphäre stabilisiert werden muß – auf einem Niveau, das unschädlich ist
Was die Stabilisierung der Konzentration des Kohlendioxids bedeutet, können Wis­senschaftlerInnen leicht ausrechnen: Es darf “einfach” nicht mehr so viel Kohlen­dioxid in die Luft geblasen werden. Wenn aber die Menschheit, und das heißt immer noch vor allem in den Industrieländern, auch nur auf dem heutigen Niveau wei­termacht, würde die Zahl der Kohlendio­xid-Moleküle in der Atmosphäre für wei­tere hundert Jahre steigen.
Die 20 Prozent – ein Ziel
für alle Industrieländer
Eine Trendwende ist also dringend erfor­derlich. Wie diese aussehen könnte, hat das internationale WissenschaftlerInnen­gremium der UN, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), schon 1990 ausgerechnet. Weltweit muß die Emission von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 um 60 Prozent zurückgehen. Und die Industrieländer müssen ihre heu­tigen Emissionen sogar um 80 Prozent verringern. “Praktisch heißt das, wir müs­sen bis zur Mitte des nächsten Jahrhun­derts auf fossile Energien verzichten”, versucht Hartmut Graßl, Professor für Meteorologie, die Dimension der Aufgabe deutlich zu machen.
Deutsche und internationale Umwelt- und Entwicklungshilfeorganisationen haben im vergangenen Jahr vor dem Hintergrund dieser Riesenaufgabe für den Gipfel in Berlin nach einem ersten Schritt gesucht. Was lag näher als ein Blick in die bishe­rige Klimapolitik fortschrittlicher Indu­strieländer. Das Ergebnis: Acht OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und die Slowakische Republik haben sich be­reits das Ziel gesetzt, auf nationaler Ebene die heimischen Kohlendioxid-Emissionen bis zum Jahr 2005 um rund 20 Prozent zu verringern.
Chance für eine ökologische
Steuerreform in Deutschland?
Die im Klimaforum ’95 zusammenge­schlossenen Nichtregierungsorganisatio­nen gehen vor dem Gipfel noch einen Schritt weiter. Sie geben sich nicht nur damit zufrieden, eine Meßlatte aufzule­gen, über die die Regierungen in Berlin springen sollen, sondern sie sparen auch nicht mit Hinweisen und Ratschlägen, wie die Höhe zu meistern sei. Zum Beispiel eine ökologi­sche Steuerreform. Sie macht den Ver­brauch von Energie teuer und dämmt ihn somit ein. Sie schützt damit zum einen das Klima, gleichzeitig kann sie, wenn die eingenommenen Gelder über die Sozial­versicherungen den BürgerInnen zurück­gegeben werden, hunderttausende neuer Arbeitsplätze schaffen. Energie wird teu­rer, Arbeit billiger. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerech­net, daß eine solche Besteue­rung des Ener­gieverbrauches in der Bun­desrepublik etwa 500.000 neue Ar­beitsplätze schaffen würde. Eine von der Kommission der Eu­ropäischen Union in Auftrag gegebene Studie kam für die EU zu einer vergleich­baren Zahl. Zwei Mil­lionen Arbeitsplätze, so die Studie, wür­den EU-weit neu ge­schaffen.
Damit sind die Möglichkeiten, mit Verein­barungen in Berlin die “magischen” 20 Prozent zu erreichen, aber noch lange nicht ausge­schöpft. Die Staatengemein­schaft sollte sich nach Ansicht der Nichtregierungsor­ganisationen auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen für eine wirksame Klimapo­litik einigen: Angefan­gen mit Standards für spritsparende Autos, über die Förde­rung erneuerbarer Energien wie Wind- und Sonnenenergie und bis hin zu einer Verpflichtung für Stromkonzerne, kosten­neutrale oder gar profitable Techni­ken zur Energieeinsparung auch einzuset­zen. Vor­bilder gibt es genug: So hat die US-Regie­rung beispielsweise mit Vor­schriften er­reicht, daß neue US-Wagen heute weniger Benzin schlucken als Neu­wagen aus deut­scher Produktion – und das bei einem Benzinpreis, der gerade einmal ein Drittel des deutschen beträgt. Die bri­tische Re­gierung wiederum hat vor kur­zem eine jährlich um 5 Prozent steigende Mineral­ölsteuer eingeführt. Ernst-Ulrich von Weizsäcker schlägt dies in Deutsch­land schon länger vor.
Die Meßlatte hängt – vielen in Deutsch­land sicher zu niedrig, schließ­lich hat die Bundesregierung selbst schon angekün­digt, die Emissionen um bis zu 30 Prozent senken zu wollen. Vielen in den USA und in EU-Staaten wie Spanien oder Grie­chenland hängt sie zu hoch. Sie wol­len nicht einmal wahrhaben, daß sie ihre Emissionen wenigstens auf dem heutigen Niveau stabilisieren müssen.
Aber wenn die EU als ganzes, ihre Emis­sionen um 20 Prozent veringern soll, müs­sen Länder wie Deutschland oder Däne­mark eben über diesem Niveau reduzie­ren. So wollen es zumindest die Nichtre­gierungsorganisationen verstanden wis­sen. Die 20 Prozent sind ein vernünftiger erster Schritt. “Das ist jedenfalls nicht zu viel verlangt, wenn sich 3.000 Diploma­tInnen in Berlin zum Klimagipfel ver­sammeln.”, meinen sie.

Kernforderungen an den Klimagipfel ’95

Die “Kernforderungen” werden anläßlich des von der Pro­jektstelle organisierten Vorbereitungs-Symposiums “100 Tage vor Berlin” am 16./17. Dezember in Bonn der Öffentlichkeit präsentiert.
Der weltweite Verbrauch von Kohle, Öl und Gas wird ohne ein deutliches Um­steuern im Energie- und Verkehrsbereich drastisch weiter zunehmen, wodurch die Emissionen des wichtigsten Treibhaus­gases Kohlendioxid bis zum Jahr 2010 um 50 Prozent ansteigen würden. Außer­dem tragen die industrialisierte (Über­schuß-)Landwirtschaft des Nordens und die Brandro­dung tropischer Wälder im Süden zu steigenden Emissio­nen von Kohlendioxid sowie anderer Treibhaus­gase, zum Beispiel Methan und Distick­stoff, bei. Die Folgen sind weiter stei­gende Temperatu­ren und langfristig wahr­scheinlich ein deutlicher Anstieg des Mee­resspiegels – ein Desaster für das Welt­klima.
Dessen ungeachtet haben es die Industrie­staaten in den zweieinhalb Jahren seit dem Erdgipfel in Rio versäumt, die Grundlage für eine wir­kungsvolle internationale Klimapolitik zu schaffen. Versäumt haben sie insbeson­dere, das Fundament für den Klimagipfel im Frühjahr 1995 in Berlin zu legen. Nur dem Engagement der 36 in der Al­liance of Small Island Sta­tes (AOSIS) zusammenge­schlossenen Inselstaaten ist es zu verdanken, daß in letzter Minute für die Ver­handlungen in Berlin der Entwurf eines Protokolls vorgelegt wurde – die ein­zige wirkliche Möglichkeit für völker­rechtlich verbind­liche Schritte zur Verminde­rung der Treibhausgase.
Die unterzeichnenden Ver­bände und Or­ganisationen setzen sich für einen umfas­senden Klimaschutz ein, der alle Treibh­ausgase umfaßt. Wir verlangen Konse­quenzen aus den wissenschaftlichen Er­kenntnissen der UN-Klima­tologen des International Panel on Climate Change (IPCC): Die Industrieländer müssen ihre Treibhausgase­missionen bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent verringern.
Die Forderungen an den Berliner Klimagipfel
1. In Berlin muß ein Proto­koll verabschie­det werden, das die von den AOSIS-Staa­ten geforderten konkreten Reduzierungs­pflich­ten für alle Treibhaus­gase vorsieht: Die OECD-Staaten sollen sich in diesem Protokoll ver­pflichten, ih­ren Ausstoß von Koh­lendioxid bis zum Jahr 2005 im Ver­gleich zu 1990 um min­destens 20 Prozent zu re­duzieren. Weiter­gehende na­tionale Reduktionsziele und -ver­pflich­tungen, zum Bei­spiel die der Bundes­re­pu­blik Deutschland, bleiben da­durch unberührt.
2. Konkrete Maßnahmen zur Verringe­rung der Treibhaus­gas-Emissionen und zu einer ressourcenschonenden, um­weltfreundlichen Energiepo­litik müssen beschlossen werden:
* eine sozialverträgliche Energiesteuer in den Indu­striestaaten
* Integrierte Ressourcenpla­nung statt un­gehemmtem Kraftwerksbau
* eine höhere Energieeffizi­enz
* die Förderung und der Aus­bau regene­rativer Energien.
3. Wir fordern den Ausstieg aus der unbe­herrschbaren Atomenergie. Die Atomwirt­schaft behindert die für den Klimaschutz notwendigen kla­ren Entscheidungen für die weltweite ökologische Ener­giewende.
4. Eine Umkehr in der Ver­kehrspolitik ist in den In­dustieländern notwendig. Ober­stes Ziel muß die Ver­kehrsvermeidung sein. Bus und Bahn haben Vorrang vor Auto, Flugzeug und LKW-Ver­kehr.
5. Nachhaltige und umwelt­verträgliche Landbewirt­schaftung sowie der Erhalt und die ökologische Bewirt­schaftung der Wäl­der müssen dem Klimaschutz dienen.
6. Klimaschutz muß von den National­staaten zu Hause be­trieben werden. Das Konzept einer Joint Implementation leh­nen wir zu diesem Zeit­punkt ab.
7. Die Mittelvergabe der in­ternationalen Entwicklungs­banken muß künftig auch an den Zielen der Klimakonven­tion ausge­richtet werden. In den Vergabegremien dieser Banken müssen Industrie- und Entwicklungsländer paritä­tisch vertreten sein. Um­welt- und Entwicklungsorga­nisationen muß Beobachter­status gewährt werden. Eine entsprechende Resolution des Klimagipfels (Vertragsstaaten­kon­fe­renz) soll ein Zei­chen setzen.
8. Die Finanzmittel für den globalen Um­weltschutz müssen drastisch angehoben werden. Die Mittel der Gobal Eenvi­ronmental Facility, die auch Finanzie­rungsinstrument der Klimakonvention ist, sind hierfür erheblich aufzustoc­ken.
9. Umweltverträgliche lokale Technolo­gien müssen geför­dert werden. Zusätzlich muß der Transfer umweltverträg­licher Technologien in die Entwicklungsländer nach dem neuesten Stand von Wissen­schaft und Technik gewähr­leistet werden.
10. Die Bevölkerung muß über die dro­hende Klimakatastro­phe besser informiert und an der Entwicklung und Umset­zung von Klimaschutzstrate­gien auf allen Ebe­nen betei­ligt werden.

Weitere Informationen zu den Kernforderungen, der Unter­schriftenaktion und der Ar­beit des Forum Umwelt und Entwicklung gibt es bei der Projekt­stelle Umwelt und Entwicklung, Am Michaelshof 8-10, 53177 Bonn, Tel. 0228-35 97 04, Fax -90 96

Klimaforum ’95 – fighting the flood

Ein gutes halbes Jahr vor dem Klimagipfel in Berlin haben Umweltorganisationen ein verbandsübergreifendes Organisations­büro etabliert, um den DiplomatInnen Beine zu machen. Es wird getragen von der GRÜNEN LIGA Berlin und dem Deut­schen Naturschutzring (DNR). Das Büro koordiniert die Gipfel-Aktivitäten der zahlreichen Umwelt- und Entwick­lungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, um so eine wir­kungsvolle Lobby- und Öffentlichkeitsar­beit zu ermöglichen.
Denn nur durch massiven Druck von un­ten kann erreicht werden, daß der Klima­gipfel in Berlin vom 28. März bis 7. April zu einem weiteren Worthülsen-Spektakel verkommt. Momentan sind außer den bei­den Trägerorganisationen folgende Grup­pen und Initiativen im gemeinsamen NGO-Büro in der Berliner Stadtmitte ver­treten: Germanwatch, Frauen für Frieden und Ökologie, das Jugendklimabüro der BUNDjugend und der Naturschutzjugend, Robin Wood, GAP, sowie der Ökologi­sche Marshallplan. Für die Koordination der Berliner Gruppen ist das “Netzwerk Klimagipfel”, ebenfalls mit Sitz im Büro des Klimaforum ’95 der Ansprechpartner.
Die von umwelt- und entwicklungspoliti­schen Gruppen geplanten Veranstaltungen und Aktionen des “Klimaforum ’95 – figh­ting the flood” reichen von einer Auftakt­konferenz des Climate Action Network, über einen “Klimabrief”, einen Solarmo­bil-Shuttle, den Jugend-Klimagipfel mit mehreren hundert TeilnehmerInnen, eine Konferenz zu borealen Wäldern, mehrere Ausstellungen und Informationsveran­stal­tungen bis hin zu einem großen Ab­schiedsfest. Alles das dezentral in Berlin, bunt, spektakulär, überraschend… – wei­tere Ideen und Informationen sind jeder­zeit willkommen

Klimaforum ’95, Behrenstraße 23, 10117 Berlin, Tel 030 – 202 203 0, Fax 030 – 202 203 oder einfach Postach 65 in 10001 Berlin

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Die optimistischen Pessimisten

Von der Leistung der Schauspieler über die Kreativität bei der Inszenierung bis zu den Inhalten war das Stück von der ersten bis zur letzten Minute überzeugend. “En la Raya” ist in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von “El Paso”, dem Stück, das die Truppe bereits 1988 so erfolgreich in Deutschland aufgeführt hat. Der Inhalt von “En la Raya ist schnell erzählt: Dar­gestellt wird eine Gruppe sogenannter de­sechables (Wegwerfbare) – oder ñeros, wie sich die Obdachlosen in Kolumbien selbst nennen. Im Rahmen eines Resozia­lisierungsprogrammes, wie sie zur Zeit in Bogotá wirklich durchgeführt werden, sollen die desechables eine Theaterversion der “Chronik eines angekündigten Todes” von García Márquez aufführen. das Geld dafür kommt aus Europa, der Regisseur aus Deutschland wird jeden Augenblick erwartet. In dieser Situation versucht ein etwas hilflos wirkender Regieassistent mit seinem wild zusammengewürfelten Hau­fen, einzelne Szenen des Stückes einzu­studieren. Es gelingt jedoch nicht eine einzige der Proben. Wegen ihrer geistigen und körperlichen Defekte, die ihnen ihr Außenseiterleben beibrachte, sind die ñe­ros nicht in der Lage, das Stück einzustu­dieren. Immer wieder kommt es zu Kon­flikten, sei es aus Geltungsdrang oder aus Eifersucht. Nach jedem gescheiterten Ver­such scheint die Gruppe aufgeben zu wollen, und immer wieder rauft sie sich zusammen in Erwartung des Regisseurs, der aber nie auftaucht.
Mit jeder gescheiterten Probe erhöhen sich die Spannungen in der Gruppe, und folgerichtig kommt es irgendwann zum Bruch. Mit den symbolträchtigen Worten “al fin y al cabo la calle es lo mío” (letztendlich gehört mir die Straße) verläßt eine ñera das improvisierte Theater.
Sie ist noch nicht lange fort, da holt die Gewalt auch die anderen aus ihrem Traum in die Realität zurück: Die Nachbarschaft, die sich nicht mit der Anwesenheit dieser störenden und “gefährlichen” Elemente abfindet, schickt den ñeros eine Bande gedungener Schläger auf den Hals. Am Ende – wieder in Einzelsubjekte zerfallen – kehrt die Gruppe völlig zerschunden auf die Straßen der großen Stadt zurück.
Bogotá ist nicht Hol­lywood.
Nun ist es sicher nicht das erste Mal, daß sich jemand des Themas der Obdachlo­sigkeit annimmt. In diesem “Theater im Theater” aber wagt sich die kolumbiani­sche Gruppe an eine Art Grenzbereich heran, wie der Name des Stückes bereits andeutet. “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, und dieser Titel sagt be­reits alles: auf der Kippe steht nicht nur das Projekt von der ersten bis zur letzten Minute. Auf der Kippe steht eigentlich alles bis hin zur Existenz eines jeden der Mitwirkenden.
Bei einer Veranstaltung am Lateiname­rika-Institut der FU Berlin äußerten sich Regisseur Santiago García und seine Theatertruppe zu dieser Inszenierung.
Das Stück, so der Regisseur, sei für ihn nur ein “Vorwand, die Realität in Kolum­bien sichtbar zu machen”. Wie Cervantes mit seinem Don Quijote ein Bild Spaniens gezeichnet habe, habe auch er anhand eines “extremen Einzelbeispieles eine Ge­samtvision” geben wollen, wie sie wohl für die meisten lateinamerikanischen Großstädte zutreffen würde. “La Candela­ria”, deren Name von einem Stadtteil Bo­gotás kommt, sehen sich selbst als Ver­mittler zwischen Gesellschaft und Institu­tionen. Die desechables, dieser “menschliche Abfall”, habe keinerlei Zu­gang zu den Medien, dabei zählten sie immerhin 25.000 allein in Bogotá, seien also ein beträchtlicher Teil kolumbiani­scher Wirklichkeit.
Parallel zu den Proben haben die Darstel­ler des Stückes in einem Projekt zur Wie­dereingliederung von ñeros in die Gesell­schaft gearbeitet und hatten so Gelegen­heit, diese “Welt der Hoffnungen und Fru­strationen, in der der Tod allgegenwärtig ist”, kennenzulernen. Diese Arbeit mit wirklichen Obdachlosen erklärt die her­vorragenden schauspielerischen Leistun­gen, mit denen sogar der Regisseur selbst auf der Bühne überzeugt.
Es mag vielleicht nicht gerade zwingend erscheinen, sich für die Realisierung eines solchen Themas ausgerechnet der “Chronik eines angekündigten Todes” vom Superstar García Márquez zu bedie­nen. Der Regisseur erklärte hierzu, er habe dies wegen García Márquez’ Fähigkeit getan, einerseits eine mythische Welt zu zeichnen, dies aber auf der anderen Seite mit den Mitteln einer Reportage zu tun. Der krimiartigen Struktur der “Chronik” habe die Gruppe dann versucht, eine Art “Anti-Krimi” gegenüberzustellen, eine Anti-Chronik.
Eine “Reihe seltsamer Zufälle” (Schwierigkeiten mit dem Copyright Gar­cía Márquez’, sowie Unzufriedenheit mit dem Stück, das der Truppe zu glatt und schön erschien, um der komplexen Wirk­lichkeit gerecht zu werden) habe dann zu weitreichenden Neuimprovisationen des Stoffes geführt, bis nach eineinhalb Jahren Arbeit endlich das Stück in seiner jetzigen Fassung fertig gewesen sei.
Santiago García nennt das Stück selbst dem Inhalt nach “grundlegend pessimi­stisch”: “Wir glauben nicht an die Mythen und die Lügen vom Fortschritt”. Auf der anderen Seite bleibe bei allem Pessimis­mus und bei aller Hoffnungslosigkeit doch auch ein Grund zu Optimismus: die Würde des Einzelnen und der Traum von einer besseren Welt – egal wie tief ein Mensch gesunken sein mag.
Und so ist dann wohl auch die Anekdote von dem ñero zu verstehen, der die Bour­geoisie in ihren engen Appartments be­mitleidet, während ihm doch die ganze Stadt mit ihren Straßen gehöre.

Durch ein Fenster schauen

Vielleicht können Sie mir ein wenig über ihr neues Stück erzählen. Ich weiß nur, daß es um diese ñeros geht.
Santiago: Ich könnte ihnen etwas über die theatrale Struktur des Stückes erzählen. Vor allem haben wir an einer Art Theater im Theater, wie z.B. bei Peter Weiss gear­beitet, um mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. In diesem Fall geht es auf einer Ebene um eine Gruppe Marginalisierter, die im Rahmen eines Rehabilitationspro­grammes ein Theaterstück auf die Bühne bringen sollen. Eine weitere Ebene ist die des Stückes, welches sie proben. Eine Theaterversion des Romans “Chronik ei­nes angekündigten Todes” von Gabriel García Márquez. Diese beiden Ebenen – dessen, was in den Marginalisierten vor­geht und was der eigentliche Inhalt des Romans ist – sollen aufeinander einwir­ken. Eine dritte Ebene dann thematisiert das Magische, Fremde, Nicht-Rationale, das Unlogische. Mit der Verbindung die­ser drei Ebenen haben wir das Gerüst für das Stück erarbeitet. Soweit zur Form. Das eigentliche Thema sind jene neu ent­stehenden Bevölkerungsgruppen, deren Zahl in den großen Städten Lateinameri­kas täglich zunimmt. Und nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier in Eu­ropa. Jene große Gesellschaftsschicht, die aus verschiedensten Gründen – seien es Drogen, soziale oder ideologische Gründe – an deren Rand lebt. Dies ist ein Thema. das andere ist das Thema des Romans von García Márquez: der Tod, die Xenopho­bie, die soziale Ausgeschlossenheit von Anderen. Also all die Themen, die auch mit den ñeros, den Marginalisierten zu tun haben.
Was sind eigentlich eure Arbeitsmetho­den und Ausdrucksformen?
Santiago: Wir benutzen verstärkt Masken und intensive Gestik auf unserer Tour. Eine Tendenz hierzu gibt es schon seit fünf, sechs Jahren; eigentlich seit unserem Stück “El Paso”, mit dem wir ja auch hier in Deutschland waren. Wie viele andere Theatergruppen auch, erproben wir den Bereich der nonverbalen Kommunikation, um die Botschaften unserer Stücke zu in­tensivieren. Das hat aber nichts mit der Übertragbarkeit auf europäische Bühnen zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Es gibt ja heute einen derar­tigen Mißbrauch der Kommunikations­wissenschaften durch bestimmte Wissen­schaftler – etwa “Kinetik” – daß wir über eine genaue Betrachtung der non-verbalen Sprache versuchen wollten, diese in unser Theater aufzunehmen. Und zufälliger­weise verstehen so auch jene Zuschauer unserer Stücke, die kein Spanisch können, diesen anderen, non-verbalen Bereich, den wir da auszuloten im Begriff sind. Natür­lich ist Verbalität in unseren Stücken noch immer wichtig, aber es muß auch nicht immer Spanisch sein. In unserem aktuel­len Stück ist es beispielsweise die Sprache der Marginalisierten, die wir ñeros nennen und die in gewisser Weise ihre ganz eigene Sprachkultur entwickeln.
Patricia: “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, “im Grenzbereich”. Und es ist eine Grenzsituation, in der die von uns dargestellten ñeros in Kolumbien le­ben. Die Existenz dieser Leute ist wegen der Gewalt im Land – in ganz Lateiname­rika oder der ganzen Welt, auch hier in Europa – von ganz speziellen Daseins­merkmalen gekennzeichnet. Dennoch ist der kolumbianische Fall wegen der ihm eigenen Gewalt besonders dramatisch. Und in diesem Bereich reproduziert sich die Gewalt auch viel mehr als in anderen Gesellschaftsteilen.
Die Gewalt unter oder die Gewalt gegen­über der Marginalisierten?
Patricia: Sowohl als auch. Und nach außen geben sie auch Aggressionen wei­ter. Ihre Ausgeschlossenheit allein ist schon eine Art Gewalt. Die Gewalt setzt sich aber auch im Ausschluß der fort­schrittlichen Gesellschaftssektoren fort – und produziert dort Gegengewalt. Dies ist das kolumbianische Drama. Der Sektor, in dem die ñeros leben, ist aber möglicher­weise der allergewalttätigste. Deshalb war die Arbeit so interessant: die ñeros sind einfach ein “Fenster”, durch das wir über ganz Kolumbien erzählen. Interessant war auch, daß einige von uns während der Ar­beiten an diesem Stück direkt mit den ñe­ros gearbeitet haben. Das lief also parallel. Auf diese Weise konnten wir von ihnen lernen, wie sie reden, wie sie denken und
wie sie die Gesellschaft sehen. Das Ganze ergab dann eine Konstruktion von Stra­ßenkultur. Und viel Verwirrung, da die Leute zu glauben begannen, die Schau­spieler von “La Candelaria” seien wirklich ñeros. Aber es ist wichtig, daß dieses Thema endlich aufgegriffen wird: Tau­sende haben bereits unser Stück gesehen, wir haben überall plakatiert und publiziert … und so entstand eine kulturelle Bewe­gung.
Wie ist die Kontinuität möglich, die eine solche Arbeit erfordert?
Patricia: Klar, die ñeros sind schwierig, sie werden dämonisiert. Sie werden als Feinde betrachtet. Und es ist sehr hart, mit ihnen zu arbeiten. Aber es macht auch viel Spaß. Es ist so schwierig, weil sie kein Interesse haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Sie sind nur am Theater interessiert – und so sind einige von ihnen immerhin zwei Jahre dabeigeblieben.
Wie benutzt ihr das Thema als “Fenster”, durch das Kolumbien zu se­hen ist?
Patricia: Das hier, was wir mit den ñeros machen, ist eigentlich etwas direkter. Da sie keine SchauspielerInnen sind, sehen viele Leute sie zum ersten Mal als etwas anderes, als Außenseiter. Und das beein­flußt natürlich die bisherige Intoleranz der Leute. Dieses Lumpenproletariat wurde in Kolumbien ja bisher nie beachtet – nicht einmal von der sogenannten Linken.
Vielleicht können sie mir aber doch über die “Fenstermethode” berichten. Über die Gewaltsituation und darüber, welches Fenster zu Kolumbien sie uns mit dem neuen Stück öffnen.
Santiago: Es ist ein Fenster, das sich zu vielen Seiten hin öffnet. Wir wollen die gesamte, sehr komplexe Realität des Lan­des zeigen. Es geht natürlich nicht nur um die ñeros, wenngleich wir sie quasi hyper­realistisch darstellen wollten. Es geht hier auch um die allgemeine Frustration, unter der alle lateinamerikanischen Länder seit über 500 Jahren leiden. Frustrationen, nie eingelöste Versprechungen, Hoffnungslo­sigkeiten, die von neuen Hoffnungslosig­keiten abgelöst werden. Die Hoffnung des Volkes auf ein besseres Leben, immer wieder von den Regierenden zerstört … eigentlich glaubt schon niemand mehr daran. Und ich denke, daß weltweit die Geschichte vom Irdischen Paradies kaum noch geglaubt wird. Und so leidet auch unsere Gruppe ñeros an dieser Frustration, die sie über das Theater überwinden wol­len. Das schaffen sie natürlich nie – immer gibt es neue Hindernisse. Sie sind nicht nur Opfer dessen, was von außen kommt, sondern Opfer ihrer selbst. In unserem Land hat sich etwas entwickelt, was ich die “Unmöglichkeit” nennen würde: Das kommt dadurch, daß sich die Menschen in Kolumbien daran gewöhnt haben, andere sterben zu sehen – ja einen ganzen Geno­zid zu sehen. So etwas sichtbar zu ma­chen, ist eine der großen Leistungen im Werk von García Márquez. In der “Chronik eines angekündigten Todes” verliert eine ganze Stadt ihre Sensibilität und so wird eine Person wie ein Tier ge­tötet. Genau diesen Prozeß wollen wir auch darstellen. Die Hoffnung, wie sie bei Beckett auftaucht, haben wir in “El Paso” behandelt. Und diese Hoffnung, auf die das ganze Land hinlebt, wird sich niemals erfüllen. Und schon gar nicht von außen. Wir werden unser Glück selbst schaffen müssen. Und dies ist der andere Blickwin­kel des Fensters, durch den wir nicht nur Kolumbien sehen, sondern die gesamte Erde.
Pacho: Ich halte es auch für wichtig, noch die “Säuberungstrupps” anzusprechen; diese Leute, die in unserem Theater auch eine Rolle spielen. In Kolumbien verjagen die “Säuberungstrupps” die ñeros nicht nur dort, wo sie stören, sondern sie töten sie. Und das nicht nur im Auftrag der Rei­chen, sondern einfach so, überall. Und die Leichen liegen dann als Warnung auf den Straßen. Das ist gerade wieder eine Wo­che vor unserer Ankunft hier geschehen. Acht Tote! Und es gibt viele in der Bevöl­kerung, die die Reintegrationsprogramme verhindern oder sie nicht in ihrer Nähe haben wollen. Nirgendwo will man die ñeros haben, weil man Angst vor ihnen hat. Und das Geld versickert … Auch das ist Teil der Gewalt.
Patricia: Ja, die Gewalt hat die Gesell­schaft intolerant gemacht. Wir selbst hat­ten Probleme mit unserem Projekt. Und da die ñeros ihrerseits auch gewalttätig sind, war es nicht leicht. Ich glaube, wir sind ir­gendwie ins Herz der Gewalt eingedrun­gen. Gewalt gegen den Anderen. Und es ist wichtig, daß sich das Theater mit sol­chen Grenzbereichen befasst, die Bei­spielcharakter haben.

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