Kernforderungen an den Klimagipfel ’95

Die “Kernforderungen” werden anläßlich des von der Pro­jektstelle organisierten Vorbereitungs-Symposiums “100 Tage vor Berlin” am 16./17. Dezember in Bonn der Öffentlichkeit präsentiert.
Der weltweite Verbrauch von Kohle, Öl und Gas wird ohne ein deutliches Um­steuern im Energie- und Verkehrsbereich drastisch weiter zunehmen, wodurch die Emissionen des wichtigsten Treibhaus­gases Kohlendioxid bis zum Jahr 2010 um 50 Prozent ansteigen würden. Außer­dem tragen die industrialisierte (Über­schuß-)Landwirtschaft des Nordens und die Brandro­dung tropischer Wälder im Süden zu steigenden Emissio­nen von Kohlendioxid sowie anderer Treibhaus­gase, zum Beispiel Methan und Distick­stoff, bei. Die Folgen sind weiter stei­gende Temperatu­ren und langfristig wahr­scheinlich ein deutlicher Anstieg des Mee­resspiegels – ein Desaster für das Welt­klima.
Dessen ungeachtet haben es die Industrie­staaten in den zweieinhalb Jahren seit dem Erdgipfel in Rio versäumt, die Grundlage für eine wir­kungsvolle internationale Klimapolitik zu schaffen. Versäumt haben sie insbeson­dere, das Fundament für den Klimagipfel im Frühjahr 1995 in Berlin zu legen. Nur dem Engagement der 36 in der Al­liance of Small Island Sta­tes (AOSIS) zusammenge­schlossenen Inselstaaten ist es zu verdanken, daß in letzter Minute für die Ver­handlungen in Berlin der Entwurf eines Protokolls vorgelegt wurde – die ein­zige wirkliche Möglichkeit für völker­rechtlich verbind­liche Schritte zur Verminde­rung der Treibhausgase.
Die unterzeichnenden Ver­bände und Or­ganisationen setzen sich für einen umfas­senden Klimaschutz ein, der alle Treibh­ausgase umfaßt. Wir verlangen Konse­quenzen aus den wissenschaftlichen Er­kenntnissen der UN-Klima­tologen des International Panel on Climate Change (IPCC): Die Industrieländer müssen ihre Treibhausgase­missionen bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent verringern.
Die Forderungen an den Berliner Klimagipfel
1. In Berlin muß ein Proto­koll verabschie­det werden, das die von den AOSIS-Staa­ten geforderten konkreten Reduzierungs­pflich­ten für alle Treibhaus­gase vorsieht: Die OECD-Staaten sollen sich in diesem Protokoll ver­pflichten, ih­ren Ausstoß von Koh­lendioxid bis zum Jahr 2005 im Ver­gleich zu 1990 um min­destens 20 Prozent zu re­duzieren. Weiter­gehende na­tionale Reduktionsziele und -ver­pflich­tungen, zum Bei­spiel die der Bundes­re­pu­blik Deutschland, bleiben da­durch unberührt.
2. Konkrete Maßnahmen zur Verringe­rung der Treibhaus­gas-Emissionen und zu einer ressourcenschonenden, um­weltfreundlichen Energiepo­litik müssen beschlossen werden:
* eine sozialverträgliche Energiesteuer in den Indu­striestaaten
* Integrierte Ressourcenpla­nung statt un­gehemmtem Kraftwerksbau
* eine höhere Energieeffizi­enz
* die Förderung und der Aus­bau regene­rativer Energien.
3. Wir fordern den Ausstieg aus der unbe­herrschbaren Atomenergie. Die Atomwirt­schaft behindert die für den Klimaschutz notwendigen kla­ren Entscheidungen für die weltweite ökologische Ener­giewende.
4. Eine Umkehr in der Ver­kehrspolitik ist in den In­dustieländern notwendig. Ober­stes Ziel muß die Ver­kehrsvermeidung sein. Bus und Bahn haben Vorrang vor Auto, Flugzeug und LKW-Ver­kehr.
5. Nachhaltige und umwelt­verträgliche Landbewirt­schaftung sowie der Erhalt und die ökologische Bewirt­schaftung der Wäl­der müssen dem Klimaschutz dienen.
6. Klimaschutz muß von den National­staaten zu Hause be­trieben werden. Das Konzept einer Joint Implementation leh­nen wir zu diesem Zeit­punkt ab.
7. Die Mittelvergabe der in­ternationalen Entwicklungs­banken muß künftig auch an den Zielen der Klimakonven­tion ausge­richtet werden. In den Vergabegremien dieser Banken müssen Industrie- und Entwicklungsländer paritä­tisch vertreten sein. Um­welt- und Entwicklungsorga­nisationen muß Beobachter­status gewährt werden. Eine entsprechende Resolution des Klimagipfels (Vertragsstaaten­kon­fe­renz) soll ein Zei­chen setzen.
8. Die Finanzmittel für den globalen Um­weltschutz müssen drastisch angehoben werden. Die Mittel der Gobal Eenvi­ronmental Facility, die auch Finanzie­rungsinstrument der Klimakonvention ist, sind hierfür erheblich aufzustoc­ken.
9. Umweltverträgliche lokale Technolo­gien müssen geför­dert werden. Zusätzlich muß der Transfer umweltverträg­licher Technologien in die Entwicklungsländer nach dem neuesten Stand von Wissen­schaft und Technik gewähr­leistet werden.
10. Die Bevölkerung muß über die dro­hende Klimakatastro­phe besser informiert und an der Entwicklung und Umset­zung von Klimaschutzstrate­gien auf allen Ebe­nen betei­ligt werden.

Weitere Informationen zu den Kernforderungen, der Unter­schriftenaktion und der Ar­beit des Forum Umwelt und Entwicklung gibt es bei der Projekt­stelle Umwelt und Entwicklung, Am Michaelshof 8-10, 53177 Bonn, Tel. 0228-35 97 04, Fax -90 96

Klimaforum ’95 – fighting the flood

Ein gutes halbes Jahr vor dem Klimagipfel in Berlin haben Umweltorganisationen ein verbandsübergreifendes Organisations­büro etabliert, um den DiplomatInnen Beine zu machen. Es wird getragen von der GRÜNEN LIGA Berlin und dem Deut­schen Naturschutzring (DNR). Das Büro koordiniert die Gipfel-Aktivitäten der zahlreichen Umwelt- und Entwick­lungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, um so eine wir­kungsvolle Lobby- und Öffentlichkeitsar­beit zu ermöglichen.
Denn nur durch massiven Druck von un­ten kann erreicht werden, daß der Klima­gipfel in Berlin vom 28. März bis 7. April zu einem weiteren Worthülsen-Spektakel verkommt. Momentan sind außer den bei­den Trägerorganisationen folgende Grup­pen und Initiativen im gemeinsamen NGO-Büro in der Berliner Stadtmitte ver­treten: Germanwatch, Frauen für Frieden und Ökologie, das Jugendklimabüro der BUNDjugend und der Naturschutzjugend, Robin Wood, GAP, sowie der Ökologi­sche Marshallplan. Für die Koordination der Berliner Gruppen ist das “Netzwerk Klimagipfel”, ebenfalls mit Sitz im Büro des Klimaforum ’95 der Ansprechpartner.
Die von umwelt- und entwicklungspoliti­schen Gruppen geplanten Veranstaltungen und Aktionen des “Klimaforum ’95 – figh­ting the flood” reichen von einer Auftakt­konferenz des Climate Action Network, über einen “Klimabrief”, einen Solarmo­bil-Shuttle, den Jugend-Klimagipfel mit mehreren hundert TeilnehmerInnen, eine Konferenz zu borealen Wäldern, mehrere Ausstellungen und Informationsveran­stal­tungen bis hin zu einem großen Ab­schiedsfest. Alles das dezentral in Berlin, bunt, spektakulär, überraschend… – wei­tere Ideen und Informationen sind jeder­zeit willkommen

Klimaforum ’95, Behrenstraße 23, 10117 Berlin, Tel 030 – 202 203 0, Fax 030 – 202 203 oder einfach Postach 65 in 10001 Berlin

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Die optimistischen Pessimisten

Von der Leistung der Schauspieler über die Kreativität bei der Inszenierung bis zu den Inhalten war das Stück von der ersten bis zur letzten Minute überzeugend. “En la Raya” ist in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von “El Paso”, dem Stück, das die Truppe bereits 1988 so erfolgreich in Deutschland aufgeführt hat. Der Inhalt von “En la Raya ist schnell erzählt: Dar­gestellt wird eine Gruppe sogenannter de­sechables (Wegwerfbare) – oder ñeros, wie sich die Obdachlosen in Kolumbien selbst nennen. Im Rahmen eines Resozia­lisierungsprogrammes, wie sie zur Zeit in Bogotá wirklich durchgeführt werden, sollen die desechables eine Theaterversion der “Chronik eines angekündigten Todes” von García Márquez aufführen. das Geld dafür kommt aus Europa, der Regisseur aus Deutschland wird jeden Augenblick erwartet. In dieser Situation versucht ein etwas hilflos wirkender Regieassistent mit seinem wild zusammengewürfelten Hau­fen, einzelne Szenen des Stückes einzu­studieren. Es gelingt jedoch nicht eine einzige der Proben. Wegen ihrer geistigen und körperlichen Defekte, die ihnen ihr Außenseiterleben beibrachte, sind die ñe­ros nicht in der Lage, das Stück einzustu­dieren. Immer wieder kommt es zu Kon­flikten, sei es aus Geltungsdrang oder aus Eifersucht. Nach jedem gescheiterten Ver­such scheint die Gruppe aufgeben zu wollen, und immer wieder rauft sie sich zusammen in Erwartung des Regisseurs, der aber nie auftaucht.
Mit jeder gescheiterten Probe erhöhen sich die Spannungen in der Gruppe, und folgerichtig kommt es irgendwann zum Bruch. Mit den symbolträchtigen Worten “al fin y al cabo la calle es lo mío” (letztendlich gehört mir die Straße) verläßt eine ñera das improvisierte Theater.
Sie ist noch nicht lange fort, da holt die Gewalt auch die anderen aus ihrem Traum in die Realität zurück: Die Nachbarschaft, die sich nicht mit der Anwesenheit dieser störenden und “gefährlichen” Elemente abfindet, schickt den ñeros eine Bande gedungener Schläger auf den Hals. Am Ende – wieder in Einzelsubjekte zerfallen – kehrt die Gruppe völlig zerschunden auf die Straßen der großen Stadt zurück.
Bogotá ist nicht Hol­lywood.
Nun ist es sicher nicht das erste Mal, daß sich jemand des Themas der Obdachlo­sigkeit annimmt. In diesem “Theater im Theater” aber wagt sich die kolumbiani­sche Gruppe an eine Art Grenzbereich heran, wie der Name des Stückes bereits andeutet. “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, und dieser Titel sagt be­reits alles: auf der Kippe steht nicht nur das Projekt von der ersten bis zur letzten Minute. Auf der Kippe steht eigentlich alles bis hin zur Existenz eines jeden der Mitwirkenden.
Bei einer Veranstaltung am Lateiname­rika-Institut der FU Berlin äußerten sich Regisseur Santiago García und seine Theatertruppe zu dieser Inszenierung.
Das Stück, so der Regisseur, sei für ihn nur ein “Vorwand, die Realität in Kolum­bien sichtbar zu machen”. Wie Cervantes mit seinem Don Quijote ein Bild Spaniens gezeichnet habe, habe auch er anhand eines “extremen Einzelbeispieles eine Ge­samtvision” geben wollen, wie sie wohl für die meisten lateinamerikanischen Großstädte zutreffen würde. “La Candela­ria”, deren Name von einem Stadtteil Bo­gotás kommt, sehen sich selbst als Ver­mittler zwischen Gesellschaft und Institu­tionen. Die desechables, dieser “menschliche Abfall”, habe keinerlei Zu­gang zu den Medien, dabei zählten sie immerhin 25.000 allein in Bogotá, seien also ein beträchtlicher Teil kolumbiani­scher Wirklichkeit.
Parallel zu den Proben haben die Darstel­ler des Stückes in einem Projekt zur Wie­dereingliederung von ñeros in die Gesell­schaft gearbeitet und hatten so Gelegen­heit, diese “Welt der Hoffnungen und Fru­strationen, in der der Tod allgegenwärtig ist”, kennenzulernen. Diese Arbeit mit wirklichen Obdachlosen erklärt die her­vorragenden schauspielerischen Leistun­gen, mit denen sogar der Regisseur selbst auf der Bühne überzeugt.
Es mag vielleicht nicht gerade zwingend erscheinen, sich für die Realisierung eines solchen Themas ausgerechnet der “Chronik eines angekündigten Todes” vom Superstar García Márquez zu bedie­nen. Der Regisseur erklärte hierzu, er habe dies wegen García Márquez’ Fähigkeit getan, einerseits eine mythische Welt zu zeichnen, dies aber auf der anderen Seite mit den Mitteln einer Reportage zu tun. Der krimiartigen Struktur der “Chronik” habe die Gruppe dann versucht, eine Art “Anti-Krimi” gegenüberzustellen, eine Anti-Chronik.
Eine “Reihe seltsamer Zufälle” (Schwierigkeiten mit dem Copyright Gar­cía Márquez’, sowie Unzufriedenheit mit dem Stück, das der Truppe zu glatt und schön erschien, um der komplexen Wirk­lichkeit gerecht zu werden) habe dann zu weitreichenden Neuimprovisationen des Stoffes geführt, bis nach eineinhalb Jahren Arbeit endlich das Stück in seiner jetzigen Fassung fertig gewesen sei.
Santiago García nennt das Stück selbst dem Inhalt nach “grundlegend pessimi­stisch”: “Wir glauben nicht an die Mythen und die Lügen vom Fortschritt”. Auf der anderen Seite bleibe bei allem Pessimis­mus und bei aller Hoffnungslosigkeit doch auch ein Grund zu Optimismus: die Würde des Einzelnen und der Traum von einer besseren Welt – egal wie tief ein Mensch gesunken sein mag.
Und so ist dann wohl auch die Anekdote von dem ñero zu verstehen, der die Bour­geoisie in ihren engen Appartments be­mitleidet, während ihm doch die ganze Stadt mit ihren Straßen gehöre.

Durch ein Fenster schauen

Vielleicht können Sie mir ein wenig über ihr neues Stück erzählen. Ich weiß nur, daß es um diese ñeros geht.
Santiago: Ich könnte ihnen etwas über die theatrale Struktur des Stückes erzählen. Vor allem haben wir an einer Art Theater im Theater, wie z.B. bei Peter Weiss gear­beitet, um mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. In diesem Fall geht es auf einer Ebene um eine Gruppe Marginalisierter, die im Rahmen eines Rehabilitationspro­grammes ein Theaterstück auf die Bühne bringen sollen. Eine weitere Ebene ist die des Stückes, welches sie proben. Eine Theaterversion des Romans “Chronik ei­nes angekündigten Todes” von Gabriel García Márquez. Diese beiden Ebenen – dessen, was in den Marginalisierten vor­geht und was der eigentliche Inhalt des Romans ist – sollen aufeinander einwir­ken. Eine dritte Ebene dann thematisiert das Magische, Fremde, Nicht-Rationale, das Unlogische. Mit der Verbindung die­ser drei Ebenen haben wir das Gerüst für das Stück erarbeitet. Soweit zur Form. Das eigentliche Thema sind jene neu ent­stehenden Bevölkerungsgruppen, deren Zahl in den großen Städten Lateinameri­kas täglich zunimmt. Und nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier in Eu­ropa. Jene große Gesellschaftsschicht, die aus verschiedensten Gründen – seien es Drogen, soziale oder ideologische Gründe – an deren Rand lebt. Dies ist ein Thema. das andere ist das Thema des Romans von García Márquez: der Tod, die Xenopho­bie, die soziale Ausgeschlossenheit von Anderen. Also all die Themen, die auch mit den ñeros, den Marginalisierten zu tun haben.
Was sind eigentlich eure Arbeitsmetho­den und Ausdrucksformen?
Santiago: Wir benutzen verstärkt Masken und intensive Gestik auf unserer Tour. Eine Tendenz hierzu gibt es schon seit fünf, sechs Jahren; eigentlich seit unserem Stück “El Paso”, mit dem wir ja auch hier in Deutschland waren. Wie viele andere Theatergruppen auch, erproben wir den Bereich der nonverbalen Kommunikation, um die Botschaften unserer Stücke zu in­tensivieren. Das hat aber nichts mit der Übertragbarkeit auf europäische Bühnen zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Es gibt ja heute einen derar­tigen Mißbrauch der Kommunikations­wissenschaften durch bestimmte Wissen­schaftler – etwa “Kinetik” – daß wir über eine genaue Betrachtung der non-verbalen Sprache versuchen wollten, diese in unser Theater aufzunehmen. Und zufälliger­weise verstehen so auch jene Zuschauer unserer Stücke, die kein Spanisch können, diesen anderen, non-verbalen Bereich, den wir da auszuloten im Begriff sind. Natür­lich ist Verbalität in unseren Stücken noch immer wichtig, aber es muß auch nicht immer Spanisch sein. In unserem aktuel­len Stück ist es beispielsweise die Sprache der Marginalisierten, die wir ñeros nennen und die in gewisser Weise ihre ganz eigene Sprachkultur entwickeln.
Patricia: “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, “im Grenzbereich”. Und es ist eine Grenzsituation, in der die von uns dargestellten ñeros in Kolumbien le­ben. Die Existenz dieser Leute ist wegen der Gewalt im Land – in ganz Lateiname­rika oder der ganzen Welt, auch hier in Europa – von ganz speziellen Daseins­merkmalen gekennzeichnet. Dennoch ist der kolumbianische Fall wegen der ihm eigenen Gewalt besonders dramatisch. Und in diesem Bereich reproduziert sich die Gewalt auch viel mehr als in anderen Gesellschaftsteilen.
Die Gewalt unter oder die Gewalt gegen­über der Marginalisierten?
Patricia: Sowohl als auch. Und nach außen geben sie auch Aggressionen wei­ter. Ihre Ausgeschlossenheit allein ist schon eine Art Gewalt. Die Gewalt setzt sich aber auch im Ausschluß der fort­schrittlichen Gesellschaftssektoren fort – und produziert dort Gegengewalt. Dies ist das kolumbianische Drama. Der Sektor, in dem die ñeros leben, ist aber möglicher­weise der allergewalttätigste. Deshalb war die Arbeit so interessant: die ñeros sind einfach ein “Fenster”, durch das wir über ganz Kolumbien erzählen. Interessant war auch, daß einige von uns während der Ar­beiten an diesem Stück direkt mit den ñe­ros gearbeitet haben. Das lief also parallel. Auf diese Weise konnten wir von ihnen lernen, wie sie reden, wie sie denken und
wie sie die Gesellschaft sehen. Das Ganze ergab dann eine Konstruktion von Stra­ßenkultur. Und viel Verwirrung, da die Leute zu glauben begannen, die Schau­spieler von “La Candelaria” seien wirklich ñeros. Aber es ist wichtig, daß dieses Thema endlich aufgegriffen wird: Tau­sende haben bereits unser Stück gesehen, wir haben überall plakatiert und publiziert … und so entstand eine kulturelle Bewe­gung.
Wie ist die Kontinuität möglich, die eine solche Arbeit erfordert?
Patricia: Klar, die ñeros sind schwierig, sie werden dämonisiert. Sie werden als Feinde betrachtet. Und es ist sehr hart, mit ihnen zu arbeiten. Aber es macht auch viel Spaß. Es ist so schwierig, weil sie kein Interesse haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Sie sind nur am Theater interessiert – und so sind einige von ihnen immerhin zwei Jahre dabeigeblieben.
Wie benutzt ihr das Thema als “Fenster”, durch das Kolumbien zu se­hen ist?
Patricia: Das hier, was wir mit den ñeros machen, ist eigentlich etwas direkter. Da sie keine SchauspielerInnen sind, sehen viele Leute sie zum ersten Mal als etwas anderes, als Außenseiter. Und das beein­flußt natürlich die bisherige Intoleranz der Leute. Dieses Lumpenproletariat wurde in Kolumbien ja bisher nie beachtet – nicht einmal von der sogenannten Linken.
Vielleicht können sie mir aber doch über die “Fenstermethode” berichten. Über die Gewaltsituation und darüber, welches Fenster zu Kolumbien sie uns mit dem neuen Stück öffnen.
Santiago: Es ist ein Fenster, das sich zu vielen Seiten hin öffnet. Wir wollen die gesamte, sehr komplexe Realität des Lan­des zeigen. Es geht natürlich nicht nur um die ñeros, wenngleich wir sie quasi hyper­realistisch darstellen wollten. Es geht hier auch um die allgemeine Frustration, unter der alle lateinamerikanischen Länder seit über 500 Jahren leiden. Frustrationen, nie eingelöste Versprechungen, Hoffnungslo­sigkeiten, die von neuen Hoffnungslosig­keiten abgelöst werden. Die Hoffnung des Volkes auf ein besseres Leben, immer wieder von den Regierenden zerstört … eigentlich glaubt schon niemand mehr daran. Und ich denke, daß weltweit die Geschichte vom Irdischen Paradies kaum noch geglaubt wird. Und so leidet auch unsere Gruppe ñeros an dieser Frustration, die sie über das Theater überwinden wol­len. Das schaffen sie natürlich nie – immer gibt es neue Hindernisse. Sie sind nicht nur Opfer dessen, was von außen kommt, sondern Opfer ihrer selbst. In unserem Land hat sich etwas entwickelt, was ich die “Unmöglichkeit” nennen würde: Das kommt dadurch, daß sich die Menschen in Kolumbien daran gewöhnt haben, andere sterben zu sehen – ja einen ganzen Geno­zid zu sehen. So etwas sichtbar zu ma­chen, ist eine der großen Leistungen im Werk von García Márquez. In der “Chronik eines angekündigten Todes” verliert eine ganze Stadt ihre Sensibilität und so wird eine Person wie ein Tier ge­tötet. Genau diesen Prozeß wollen wir auch darstellen. Die Hoffnung, wie sie bei Beckett auftaucht, haben wir in “El Paso” behandelt. Und diese Hoffnung, auf die das ganze Land hinlebt, wird sich niemals erfüllen. Und schon gar nicht von außen. Wir werden unser Glück selbst schaffen müssen. Und dies ist der andere Blickwin­kel des Fensters, durch den wir nicht nur Kolumbien sehen, sondern die gesamte Erde.
Pacho: Ich halte es auch für wichtig, noch die “Säuberungstrupps” anzusprechen; diese Leute, die in unserem Theater auch eine Rolle spielen. In Kolumbien verjagen die “Säuberungstrupps” die ñeros nicht nur dort, wo sie stören, sondern sie töten sie. Und das nicht nur im Auftrag der Rei­chen, sondern einfach so, überall. Und die Leichen liegen dann als Warnung auf den Straßen. Das ist gerade wieder eine Wo­che vor unserer Ankunft hier geschehen. Acht Tote! Und es gibt viele in der Bevöl­kerung, die die Reintegrationsprogramme verhindern oder sie nicht in ihrer Nähe haben wollen. Nirgendwo will man die ñeros haben, weil man Angst vor ihnen hat. Und das Geld versickert … Auch das ist Teil der Gewalt.
Patricia: Ja, die Gewalt hat die Gesell­schaft intolerant gemacht. Wir selbst hat­ten Probleme mit unserem Projekt. Und da die ñeros ihrerseits auch gewalttätig sind, war es nicht leicht. Ich glaube, wir sind ir­gendwie ins Herz der Gewalt eingedrun­gen. Gewalt gegen den Anderen. Und es ist wichtig, daß sich das Theater mit sol­chen Grenzbereichen befasst, die Bei­spielcharakter haben.

Cachao, Papa Bajo

Adagio des Danzón. Israel López, Cachao, schmiegt sich an seinen Kontrabaß mit der Hingabe und Eleganz der Tanzenden. Erhoben und in gemesse­nen Schritten bewegt sich das Publikum auf dem Salon­parkett oder unter Kö­nigspalmen. Zwischen Tim­bales, Violinen und Flöte streicht Cachao den Baß mit der Vollendung eines kubanischen Philharmoni­kers. Aber wenn mit Kuhglocke, Klavier und Trommelwirbel der bewegte Teil des Danzón einge
läutet wird, beginnt Cachao die Saiten seines Instruments mit dem Bogen zu schlagen oder zu zupfen. Der Rhythmus wird von Perkussion, Violinen­phrasen und Chor betont, mambo, mambo, mambo, doch vom Gesang des Basses geheimnisvoll beherrscht.
Cachao streicht im Sinfonieorchester von Ha­vanna unter der Leitung von Erich Kleiber, und spielt für Tanzgesell­schaften. Um die vierziger Jahre entwickelt er mit seinem Bruder Orestes den Mambo, einen schnellen Gang des Danzón. Nach seinen regulären Konzerten trifft er sich mit be­freundeten Musikern zu sogenannten descargas oder, wie man sie später in New York nennt, Cuban Jam-Sessions. Cachao lie­fert den improvisierenden Mu­sikern mit seinem Baß eine rhythmische Grund­lage, auf der sie sich frei bewegen können. So entstehen Stücke mit Titeln wie “Zwiesprache”, “Flöten-Überra­schung” oder “Streit der Metallbläser”, untermalt von Congas, Timbales, Bongos und dem Geräusch des schrappenden Fla­schenkürbis.

Caballeros –
mi montuno es pa’ bailar.
Oye ese cuero, cómo habla…
Déja la paila sonar…
Y ahora – 。vamos a gozar!

Die descargas entstehen mit dem Genuß und der Weisheit von Oriente, nach Art des Son montuno, nach Mitternacht und nach einem üppigen Mahl aus Reis, Huhn, Bohnen und malanga, der Kartoffel aus der Sierra Maestra. Im Havanna der spä­ten fünfziger Jahre bilden diese Ses­sions in Clubkellern oder anderswo eine spon­tane Versammlung musikalischer Insider und einen Kontra­punkt zum modischen Cha-Cha-Cha, dem Enkel des Danzón.
Cachao unterlegt den Wirbel der afroku­ba­nischen Perkussion mit der Gewalt und Präzision sei­ner gezupften Saiten. In New York, spielen Cachao und seine Rhyth­musgruppe (wie Machito, Tito Puente und andere Latinos) zu­sammen mit amerikani­schen Jazzmusikern. Es entstehen Anfang der sechziger Jahre, descargas/Jam-Ses­sions in einer Komposition aus Guajiras, Henry-Mancini-Style (Bongos und Flöten), Boogaloo, Uhuruh, Chunga, sowie Piano und Trompete im feeling des Jazz. Sie sind beherrscht von den Rhyth­men aus Oriente. Und von Cachao, der seinen Kontrabaß um­klammert wie ein archa­ischer Reiter sein Pferd aus dunklem Holz und Saiten.
Aber Cachao, groß, vornehm und be­scheiden wie sein Instrument, gerät später in Vergessenheit und muß sich mit kleine­ren Enga­gements als Hausmusiker über Wasser halten. Erst nach Jahrzehnten, in Mia­mi, wird er wiederent­deckt, rechtzeitig zu seinem 75jährigen Ge­burtstag. Andy García, Hollywood-Schauspieler kubani­scher Abstammung, drehte einen Doku­mentar­film über den Maestro und produ­ziert 1993 eine von Cachao arrangierte CD mit Danzones, Guajiras, des­cargas und Rumbas, bei der die prominenten Mu­siker der kubanischen Exilge­meinde mit­wirken: Gloria Estefan, Paquito D’Rivera, “Chocolate” Armenteros oder Alfredito Valdés.
Cachao ist nicht weniger als der Vater und Meister des Basses, el bajo más alto, ein ergrauter Dekan der kubanischen Musik. Sein Instrument bildet das Rückgrat von Danzón und Salsa, óyelo, und zugleich deren musikalisches Bin­deglied. Cachao ist wohl der einzige Musiker, der heute noch das akustische, warmklingende Instrument aus Holz spielt, mit vornehmer Tradition und unbändiger Vitalität – como su ritmo no hay dos!

Platten:
Cachao y su ritmo caliente. From Havanna to New York. Caney, 1994
Cachao Master Sessions Volume 1. Sony, 1994

Das große Reinemachen

Am 25. Oktober war es soweit: Forschen Schrittes betraten FSLN-Mitbegründer Tomás Bórge und der neu in die Natio­nalleitung der Sandinistischen Front ge­wählte Lumberto Campbell die Redak­tionsräume der sandinistischen Barricada und verkündeten die Entlassung des lang­jährigen Direktors und Barricada-Grün­dungsmitgliedes Carlos Fernando Cha­morro. Chamorro zählte innerhalb der Partei zu den ReformerInnen, die beim letzten Parteitag der von Generalsekretär Daniel Ortega geführten “Demokratischen Lin­ken” unterlegen waren (vgl. LN 240).
Noch am selben Tag stellte der Vizedi­rektor Roberto Fonseca Lopez sein Amt zur Verfügung, ebenso wie die drei Mit­glieder des Herausgeberbeirates. Eine Woche später verhandelten bereits sech­zehn führende RedakteurInnen über ihr Ausschei­den.
“Die FSLN erobert Barricada zurück” ti­telten die neuen Schlagzeilen-Macher zwei Tage nach dem Rausschmiß Cha­morros, und so will die Parteispitze um Daniel Ortega das auch verstanden wis­sen: Rund zwei Jahre vor der nächsten Wahl braucht die Leitung der krisenge­schüttelten Partei ein Organ – und das kann natürlich nicht ausgerechnet die Füh­rung kritisieren.
Ließ es sich nicht verhindern, daß in den ersten Ausgaben von Barricada nach dem Wechsel DissidentInnen, RedakteurInnen und empörte LeserInnen ihrem Ärger Luft machten, so ist auch das seit dem 5. November vorbei: Auf Be­schluß der neuen Macher gibt’s kein Ze­tern mehr, Artikel über Barricada-Interna auch nicht. Stattdessen reißerische Artikel auf aben­teuerlichem Niveau. Da ist zu le­sen, die – mit ReformerInnen besetzte – FSLN-Par­lamentsfraktion mache bei der von ihr ausgearbeiteten und mitgetragenen Ver­fassungsreform “gemeinsame Sache mit den Somozisten”, da darf die Basis end­lich sagen, daß “es uns reicht” mit der “Gruppe Ramirez” und daß “die endlich abhauen” sollen und ja eh’ “rechtsradikale Politik” betreiben.
Um die Lücken zu füllen wurde auch gleich ein neuer Chefredakteur gefunden, der wohl wie kein anderer Sandinist Er­fahrung mit der Verbreitung von Halb­wahrheiten, Verleumdungen und persönli­chen Tiefschlägen hat: William Grigsbi Vasdo, bisher Macher und Sprachrohr vom seit jeher Ortega-treuen Radio YA, der auch schon mal die Comandante Dora María Tellez vom Reformflügel als “diese Lesbe, die wir nicht wollen” denunzierte.
Tatsächlich: In den letzten vier Jahren war Barricada nicht mehr auf Linie – dies al­lerdings auf ausdrücklichen Parteitagsbe­schluß. Während des ersten ordentlichen Parteikongresses 1991, ein Jahr nach der verheerenden Wahlniederlage, wurde den sandinistischen Medien mehr Autonomie zugesprochen und CFC, wie Carlos Fern­ando Chamorro auch genannt wird, von der Nationalen Leitung beauftragt, ein neues Zeitungskonzept zu entwerfen und umzusetzen. Vom Jubelblatt für die Frente, die auch dann noch 10.000 Teil­nehmerInnen an einer Wahlkampfveran­staltung mit Daniel Ortega gesehen haben wollte, wenn alle wußten, daß es maximal 1000 waren, mauserte sich Barricada in den letzten vier Jahren unter der Leitung von CFC tatsächlich zu einem professio­nellen, Blatt, das mit dem sonst in Nicara­gua üblichen Sensationsjournalismus nichts mehr zu tun hatte. Und auf den Meinungsseiten konnte jedeR nachlesen, was sich die unterschiedlichen Flügel der Partei zu sagen hatten.
Aber wer “neuen Journalismus” verlangt, der wird sich dann auch mal ärgern über seine eigene Zeitung, und so hagelte es von der Parteiführung harte Vorwürfe, unter der Leitung ihres Direktors hätte die Zeitung “die nationalen Interessen verra­ten”, sie würde sich “zuwenig mit dem Volk und seinen Kämpfen solidarisieren” und zuviel über “bürgerliche Politik be­richten”. Vor allem aber hätte die Zeitung in ihrer ausführlichen Berichterstattung über die FSLN-interne Auseinanderset­zung für die ReformerInnen Partei ergrif­fen.
Außerdem, so der Vorwurf, seien die Ver­kaufszahlen um 16 Prozent gesunken. Daniel Ortega rechnete vor, daß es mit 310.000 einge­schriebenen Mitgliedern der FSLN doch mög­lich sein müßte 50.000 Exem­plare zu ver­kaufen, um so unabhän­giger von den bür­gerlichen Anzeigenkun­den zu werden. Abgesehen von den zehntausen­den Karteileichen schafft sol­che Auflagen freilich angesichts der nicara­guanischen Verarmung auch keine der beiden ande­ren, im populären Boule­vard-Stil aufge­machten Tageszeitungen, weder das prosandinistische “Nuevo Diario” noch die traditionelle bür­gerliche “La Prensa”. Solch eine Auflage wäre nur zu schaffen, wenn die Barricada wie in den Anfangs­zeiten wieder umsonst verteilt würde. Und so hält sich hartnäckig das Gerücht, Bór­ges Intimfreund, der schei­dende mexika­nische Präsident Sali­nas de Gortari und seine PRI hätten der Barri­cada finanzielle Unterstützung für das neue Projekt ange­boten.

Von Heiligenscheinen und Scheinheiligen

Um das Verhalten der Alter­nativhändler beurteilen zu können, ist es zuvor nötig, die Entwicklungen auf dem Weltkaffee­markt nachzuvoll­ziehen. Dieser war bis 1989 vom Weltkaffeeabkommen reguliert, einer Vereinbarung zwischen Kaffeean­bauländern (Brasilien, Kolumbien…) und den Verbrauchsländern (USA, BRD…), die Exportmengen festge­legte und den Preis bei etwa 1,20 US-Dollar pro Pfund (Libra) Rohkaffee stabilisieren sollte. Nachdem das Abkommen im Sommer ’89 nicht verlängert worden war, strömte der bislang zurückgehaltene Kaffeeüber­schuß auf den Markt und drückte den Preis dra­stisch – bis auf den Tiefst­stand von 0,60 US-Dollar pro Libra Anfang 1992.
Weltmarktpreise
Die alternativen Kaffeevermarkter haben in ihrer Informationsarbeit immer wieder auf die katastrophalen Folgen dieses Nied­rigpreises vor allem für die Kaffeeklein­bauern hin­gewiesen, die nicht einmal mehr ihre Produktionskosten decken konnten. Diese Situation dürfte auch dazu bei­getragen haben, die Idee von TRANS­FAIR bei Weltläden und Kri­tikerInnen der Kaffeekonzerne, die bisher nur auf alter­nativ vermarkteten Kaffee ge­schworen hatten, hoffähig zu machen, denn es war klar, daß GEPA und MITKA nicht den gesamten Kaffee der vom Preis­zusammenbruch betroffenen Klein­bauern abnehmen könnten. Immerhin garantierten die auch von kommer­ziellen Händlern an­gebotenen TRANSFAIR-Sorten einer grö­ßeren Anzahl von Kleinbauern einen Richt­preis von 1,26 US-Dollar pro Libra.
Nun stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, daß die Kaffeepreise dauerhaft unter den Produktions­kosten liegen (von 1990 bis März ’94 überschritten sie die 0,75 US-Dollar-Marke nicht, s. Grafik). Nach den kapitalisti­schen Spielregeln müßten diejenigen Produzenten, die beim gegebenen Preis nicht mehr profitabel wirtschaf­ten, ihre Produktion einstellen. Dadurch müßte das Angebot lang­sam wieder auf das Niveau der Nachfrage sin­ken und der Preis lang­sam wieder steigen – bis zum サGleichgewichtspreisß wenn sich Angebot und Nachfrage die Waage halten. Diesen Anpassungsprozeß hatten die Apologeten des freien Marktes von der Auflösung des Kaffeeabkommens zu er_warten behauptet, denn ihrer Meinung nach trug das Kaffeeabkommen die Schuld an der Überproduktion. Tatsäch­lich aber erhöhte sich die Produktion erst recht nach der Auflösung des Kaffee­abkommens – die Produzenten beantwor­teten das Sinken der Preise mit einer Ausweitung der Menge, verhielten sich also “marktwidrig” Da die Nachfrage stagnierte, vergrößerte sich das überschüs_sige Ange_bot, und der Preis sank noch mehr.
Die Dumpingpreis-Theorie
Das Phänomen der marktwidrigen Reak­tionen auf dem Weltkaffeemarkt versucht der サalternativenicht­kapitalistischn Nahrungs­mitteln für den Eigenbedarf, sie benötigen aber noch eine bestimmte Summe Geldes für Gesundheit, Schule und einige Konsumgüter, die sie nur mit dem Anbau und Ver­kauf von Kaffee ver­dienen kön­nen. Ein Sinken der Preise kompensieren sie mit einer Erhöhung der Anbau­menge, um das Geldeinkommen zu stabilisieren – sie können die Kaffee­produktion nicht einschränken oder ein­stellen, weil sie keine Alternative haben, an Geld heranzu kommen. Die Folge ist eine verstärkte Selbstaus­beutung ihrer Ar­beitskraft sowie die Überlastung der Bö­den (und damit auf Dauer Qualitätsver­lust).
Vergleichbar damit ist das staatliche Ver­halten von Ländern, deren wich­tigstes (oder einziges) Exportprodukt Kaffee ist und wo der Kaffeeexport (oder sogar die Produktion) staatlich geregelt ist. Diese Staaten, die Devi­sen benötigen, um ihren Schulden­dienst zu begleichen und Luxus­güter für die Eliten zu importieren, verhal­ten sich als Devisenmaximierer – unge­achtet der internen Kosten dieser Politik. Und wenn Kaffee (fast) die einzige Mög­lichkeit ist, an Devi­sen zu kommen, dann beantworten die Staaten ein Sinken des Preises mit einer Erhöhung der Export­menge. Die Folge ist natürlich ein noch größerer Kaffeeüberschuß auf dem Welt­markt und ein noch rascher sinkender Preis.
Massarat zeigt also, warum 26 Jahre lang keine Anpassung der Kaffee­anbieter an die Nachfrage stattgefun­den hat, ob nun das Kaffeeabkom­men in Kraft war oder nicht. Es gibt strukturelle Gründe für die Überpro­duktion, die der Überlebens­produk­tion der Kleinbauern und der von Devisen abhängigen Länder geschuldet sind, die vom Weltmarktge­schehen an den Rand gedrückt werden und sich deswegen nicht mehr profitma­ximierend verhalten können. Infolgedes­sen ist der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt auch kein “Gleichgewichtspreis” sondern ein Dum_ping-Preis.サDer Boom
Nun geschah etwas, womit niemand so richtig gerechnet hatte: Seit Anfang ’94 begannen die Kaffee­preise zu steigen und überschritten im Mai die 1,20 US-Dollar-Marke des früheren Weltkaffeeabkom­mens – bei サfreiem Spielen, um einen Preisanstieg zu be­wirken. Die tatsächlich zurück­gehaltenen Mengen wurden nämlich bereits im März ’94 vollständig frei­gegeben, als die ver­einbarte Preis­grenze des Abkommens überschrit­ten war – die Preise stiegen trotzdem weiter.
Der Grund für den Preisanstieg ist ein dra­stischer Produktionsrückgang in den letz­ten beiden Erntejahren: Zum ersten Mal seit 1985 (Dürre in Brasi­lien) war die Erntemenge zum Ende des Kaffeejahres 92/93, im März ’93, deutlich gefallen, und zwar gleich um 10 Prozent – nämlich 10 Millionen Sack. Dies hatte zunächst keine Auswir­kungen, da aus den früheren Über­schußjahren noch mehr als 10 Millio­nen Sack auf Lager waren und auch die Spe­kulation nicht reagierte – sie erwartete wohl einen erneuten Ernteanstieg auf das Niveau der Vorjahre. Doch als auch das neue Erntejahr im März ’94 wieder einen Produktionsrückgang um 1 Mio Sack brachte, bewertete der Markt den Trend als dauerhaft gewendet und reagierte auf die prognostizierte Angebotslückenoch warten sollen: Im Juli kletterte der Preis innerhalb weniger Wochen um gut einen US-Dollar auf 2,30 US-Dollar! Der rasante­ste Preisanstieg seit 1975. Was war geschehen?
Während der Preisanstieg ab März als normalebeabsichtigtenanzen geschä­digt und wird die Ernte 95/96 um etwa 20 Prozent reduzieren. Die kom­mende Ernte 94/95 ist nur geringfügig betroffen, da die Bohnen bereits gut entwickelt sind. Doch an der Waren­terminbörse in New York ist die kommende Ernte seit langem ver­kauft, gehandelt wird eben der Kaffee der über­nächsten Jahre. Nach der ersten Erregung hat sich die Lage etwas beruhigt, der Preis sank Ende August wieder auf 1,90 US-Dollar. Doch ein Rückgang auf das Ni­veau vor dem Brasilien-Frost wird in nächster Zeit nicht zu erwarten sein: Da Kaffee eine mehrjährige Pflanze ist, kön­nen andere Produzenten die Angebots­lücke nicht so schnell schließen. Anderer­seits ist ein Nachfragerück­gang aufgrund des hohen Preises auch nicht zu erwarten, da die durch­schnittliche deutschamerika­nische KaffeekonsumentIn hart im neh­men (oder geben?) ist: Egal wie teuer, an den Muntermachern für Auto und Mensch, Benzin und Kaffee, wird nicht gespart.

Das Ende der Dumpingpreise?
Nun stellt sich die Frage, ob mit der aktu­ellen Entwicklung die Dumping­preis-Theorie widerlegt ist. Sicherlich muß der Brasilien-Frost als Sonderfall betrachtet werden, aber interessant ist ja, daß sich der Preis bereits vorher erholtfreiwillig
Freiwilligvom Markt erzwungenBei einset­zendem Preisverfall wie nach 1989 ver­suchen sie zunächst, die Kosten zu drük­ken, indem sie die Löhne der Pflücker­Innen kürzen, weniger Pestizide und Dün­gemittel einsetzen und die Pflege der Pflan­zen vernachlässigen. Vielleicht neh­men sie auch ein oder zwei Jahre Verluste hin, in der Hoffnung, bei neu einsetzen­dem Preisanstieg schneller als die Kon­kurrenz, die erst neu anpflanzen muß, die Produktion stei­gern und Extra-Gewinne einfahren zu können. Bleibt aber der Boom aus, werden sie früher oder später die Produktion einstellen.
Genau das ist offenbar 1992 in grö­ßerem Maße geschehen. Nun behauptet aber Massarats Theorie nicht, daß es solche kapitalistischen Produzenten nicht gäbe. Prototyp sind ja gerade unsere beliebten Feindbilder, die Kaffeebarone, die das Land unter sich aufgeteilt haben, Hun­gerlöhne zahlen und aufmüpfige Arbeiter von den Schergen der Dik­tatur abholen und foltern lassen. Aber es gibt auch eine Reihe von kleineren und mittleren Unter­nehmen, die Kaf­fee produzieren – zu un­günstigeren Kosten und mit dünnerer Kapital­decke als die Barone, und sie sind es, die beim Preisverfall zuerst aussteigen müssen.
Dies alles spricht aber nicht gegen die These der strukturellen Überproduk­tion. Diese sagt ja bloß aus, daß es immer einen Bodensatzh-kapitalistischer Produzenten entsteht. Anfangs, kurz nach 1989, haben sie diesen Effekt gewisser­maßen über­kompensiert: sie haben ihre Menge schneller gesteigert, als die ande­ren ausgestiegen sind. Dadurch sinkt der Preis noch mehr, weitere steigen aus; an­dererseits stößt die Mengensteige­rung ir­gendwann an ihre Grenzen, und der Trend kehrt sich um: Es gibt insgesamt eine Mengenreduktion, aber immer abgemil­dert durch die gesteigerten Mengen der Subsi­stenzproduzenten. Die strukturelle Überproduktion ist also auch wirk­sam, wenn insgesamt die Anbau­menge sinkt – gäbe es sie nicht, wäre die Menge viel stärker gesunken und der Preis viel eher gestiegen. Die aktuelle Entwicklung spricht also im Kern nicht gegen die Dumpingpreis-Theorie.
Eine Prognose der etwas längerfristi­gen Entwicklung bestätigt dies, denn in abseh­barer Zeit ist mit einer Umkehr des aktu­ellen Trends zu rechnen. Die plötzlich so hohen Preise werden die Produzenten, die vor zwei Jahren ihre Plantagen ganz oder teilweise stillgelegt hatten, dazu animie­ren, ihre Produktion wieder aufzunehmen bzw. auszuweiten. Es ist höchst wahr­scheinlich, da wir in ein paar Jahren das Spielchen von Überproduktion und Preis­verfall erneut erleben dürfen.
Warum dürfen Kleinbauern nicht vom Preisanstieg profitieren?
Es bleibt also noch die Frage zu klä­ren, in wessen Taschen das “viele” Geld, was wir jetzt für unseren Kaffee bezahlen, letztlich hängen bleibt – bei den Konzernen wie bei den Alternati­ven!? Wieviel streichen die (Zwischen-)Händler und Spekulanten ein, was bekommen die BäuerInnen?
Eine Betrachtung der öffentlichen Reak­tionen auf die gestiegenen Welt-Kaffee­preise ist durchaus dazu geeignet, leichte Verwunderung her­vorzurufen. Die deut­sche Kaffeewirt­schaft, lange im Kreuz­feuer der alternativenSaboteureDeutlich verhaltener klingt der Jubel im alternativen Lager das ja seit Urzeiten gerechtere Preise gefordert hat. Der grundsätzlich geäußer_ten Freude folgen oft eine Reihe von Beden_ken auf dem Fuß: Bei den Mehreinnahmen handele es sich “erstens um die Gewinne der Spekulan_ten und zweitens um einen bescheidene Ausgleich für die Einnahmever­luste der kaffeepro­duzierenden Länder in den letzten fünf Jahren, falls dort überhaupt mehr an­kommt”, gibt z.B. die Kaffeegruppe von AG3WL und rsk zu bedenken, Mit­initiator von TRANSFAIR. Auch bei der Konkurrenz, MITKA-Mitglied El Rojito aus Hamburg, sollen auf jeden Fall die Kaffeebauern profitieren: “Wer hat denn nun sonst noch etwas von den höheren Weltmarktpreisen? Die Men­schen, um die wir uns sorgen, jedenfalls in aller Regel nicht. Die kleinen Produzent­Innen, und dazu zählen auch die meisten Kooperativen, haben aufgrund fort­währender Finanzknappheit ihren Kaffee (zum Teil lange vor der Ernte, z.B. um Geld für Dünger zu bekom­men) bereits verkauft. Zu dem Preis, der damals aktuell war, also lange vor dem Anstieg. Noch schlechter sind die dran, die an die Coyo­tes, die aus­beuterischen Zwischen­händler, ver­kaufen müssen, da sie keine Trans­portmöglichkeiten haben. Gut haben es nur die Händler bzw. Firmen, die Kaf­fee auf Lager behalten konnten, sie profi­tieren bereits jetzt von den höheren Prei­sen. Die kleineren Pro­duzentInnen haben nur dann etwas vom höheren Weltmarkt­preis, wenn er auch bei der kommenden Ernte (94/95) noch hoch ist. Der aktuell hohe Welt­marktpreis ist (wenn mensch in den Marktmechanismen argumentiert) auf­grund der gesun­kenen Produktions­menge sicherlich gerechtfertigt. Ob nun in dieser Höhe, sei dahingestellt.”
Nun will ich hier keineswegs die Lage der Kaffeekleinbauern beschönigen, noch will ich bestreiten, daß den Löwenanteil der Spekulations-Hausse eben die Spekulan­ten (im übrigen auch nicht immer alle gleichzeitig, sondern die, die auf’s richtige Pferd gesetzt haben) einsacken. Doch sind m.E. zwei Dinge unübersehbar. Erstens wird der hohe Preis zwangsläufig auch den Kleinbauern etwas nutzen, und zwei­tens bringt der hohe Preis die Alter­nativ-Händler in argumentative und / oder han­delstechnische Schwie­rigkeiten.
Die Rolle der Coyoten
Das Argument, das die Kleinbauern völlig dem Diktat der ausbeuterischen Zwi­schenhändler ausliefert, ist mir viel zu un­differenziert (was keinesfalls die teilweise üblen Praktiken leugnen soll). Der Hin­weis, von ihnen erhielten die Bauern nur 30-50 Prozent des Weltmarktpreises, ist etwa so aussagekräftig wie die Feststel­lung, daß El Rojito den Kaffee etwa drei­mal so teuer an uns verkauft wie einkauft. Natürlich bekämen die Bauern mehr Geld, wenn sie den Kaffee selbst zum Hafen brächten – doch sie hätten auch höhere Kosten für LKW, Benzin, Arbeitszeit. Und auch Coyoten krie­gen am Hafen nicht den vollen Welt­marktpreis, sondern vielleicht 80 Prozent oder 90 Prozent; schließlich müssen die Spe­kulanten auch etwas verdienen. Hinzu kommt, daß Zin­sen anfallen ,wenn die Coyoten die Ernte z.T. ein Jahr im Voraus bar bezahlen. Ge­rade in Zeiten, wo Kaffeeknappheit herrscht, ist darüberhinaus anzuneh­men, daß die wachsende Konkur­renz zwi­schen den Coyoten die aus­beuterischen Zwi­schenhandelsprofite auf Normalmaß nie­derkonkurriert und damit die höheren Preise auch bis zu den PoduzentInnen durchsickern, die nicht selbst exportieren.
Ein genaueres Lesen der veröffent­lichten Alternativ-Informationen macht dann auch deutlich, wie die Punkte eins und zwei in­einander greifen: “Schon im Mai waren dann die ausbeuterischen Zwischenhänd­ler, die Coyotes, gekommen, um bei den Bauern die Kaffeeernte 1994/95 zu kau­fen, direkt ‘vom Strauch’ und noch lange nicht reif. Sie zahlten höhere Preise, bar auf die Hand. Bargeld ist auch bei den Kooperativen-Bauern knapp, und so ver­kaufte mancher an die Coyotes. Die Ge­nossenschaften könnten dadurch in Be­drängnis kommen, wenn sie nämlich mangels Kaffee die Verträge, u.a. mit den Alternativen Importorganisationen, nicht erfüllen können.”
Also bereits im Mai, noch vor dem Frost-Preisboom, hatten die Coyoten die seit März angefallenen Preiserhö­hungen (auf 1,20 US-Dollar) zumindest teil­weise wei­tergegeben und Konditio­nen offeriert, die die Kooperativen – Vertragspartner der Alternativhändler, die ja 1,26-1,32 US-Dollar gezahlt haben – nicht bieten konn­ten. Natürlich hatten die Coyoten in die­sem Fall Glück und die Bauern Pech – sechs Wochen später hätten sie vielleicht das Doppelte fordern können. Aber nicht einmal die Coyoten haben den Frost vor­hersehen können, sie haben nur auf die allgemeine Verknappung rea­giert und hatten Glück – jetzt profitieren sie am meisten (wenn sie nicht wiederum schon vorher selbst feste Verträge mit ihren Ab­nehmern gemacht hatten) Allerdings ist bei der anhaltenden Kaffeeknappheit an­zunehmen, daß die Coyoten bald wieder an den Kaffeesträuchern auf­tauchen und auch die 95/96er Ernte aufkaufen wollen. Und diesmal wird der frühzeitige Verkauf sicher nicht zum Nachteil der Kaffee­bauern sein – falls nicht zur Ab­wechslung noch eine Dürre in Brasilien ausbricht.
Große und kleine Kaffeehändler
Bleibt noch die Frage, ob nicht doch die großen Kaffeekonzerne, die den Preisan­stieg ja begrüßt hatten, die Hauptprofi­teure sind. Dies wird zumindest von Sei­ten der Alternati­ven unter Hinweis auf ge­füllte Lager mit billigem Kaffee, der jetzt teurer verkauft werden kann, vermutet. Si­cherlich kann mensch davon aus­gehen, daß dies für die erste Preiser­höhungsrunde im Juli im großen und ganzen zutrifft und die Kaffee-Kon­zerne sich ein Vorbild an ihren Brüdern und Schwestern aus der Mineralölbranche genommen und als in­formelles Kartell die sowieso irgendwann fällige Erhöhung etwas vorgezogen haben (wenn alle gleichermaßen erhöhen, ver­liert kei­ner Marktanteile). Doch inzwi­schen dürften die Vorräte (höchstens 2-3 Monatsrationen) erschöpft sein, der hö­here Einstandspreis sich bemerk­bar ge­macht und der erbitterte Kampf um Marktanteile wieder begonnen haben.
Etwas günstiger gestaltet sich die Lage für die Alternativ-Händler von der MITKA. Sie kaufen nämlich immer gleich die ge­samte Jahres­menge im Voraus, haben also bei Vertragsabschluß im März wie die an­deren Jahre auch 1,32 US-Dollar (für Nica Organico 1,56 US-Dollar) bezahlt. Ausglei­chende Gerechtigkeit, möchte mensch meinen, waren sie doch die gan­zen Jahre standhaft und haben zeitweise das Doppelte des Welt­marktpreises auf den Tisch gelegt. Doch Heiligenschein und Schein­heiligkeit liegen oft nah beiein­ander. Denn, um zur Ausgangsfrage die­ses Artikels zurückzukommen: Warum wurden im September die Preise erhöht?
El Rojito gibt uns eine offene Antwort:
“1. Den ProduzentInnen entsteht praktisch aus der Tatsache, daß wir den Kaffee so frühzeitig importiert haben, ein Nachteil, denn hätten wir den Kaffee erst im Juni ’94 gekauft, dann natürlich zu entspre­chend höhe­ren Preisen. 2. Alle anderen Kaffee­sorten, ob herkömmlich oder alterna­tiv gehandelt, werden teurer oder sind es bereits geworden. Wenn nun nur Sandino Dröhnung beim alten Preis bleibt, wird es einen ‘Run’ geben. Diesen erhof­fen wir schon seit Jah­ren, aber bitte nicht, weil unser Kaffee billiger ist, sondern we­gen anderer, qualitativer oder politischer Aspekte. Ein Run auf unsere Kaffees hätte zu­dem die Folge, daß die Menge, die wir auf Lager haben, nicht bis zum neuen Im­port ausreichen würde. Das will niemand.”
Zunächst können wir El Rojito beru­higen, ein ‘Run’ wäre nicht zu befürchten gewe­sen, haben doch die Konzerne mit ihrer Preiserhöhung (jetzt etwa 10.-/Pfund für ihre Spit­zensorten) überhaupt erst zum alten Preisniveau der Alternativen auf­geschlossen. Und so schnell wech­selt Frau Sommer nicht von der Krönung zur Dröh­nung – müßte sie sich doch bei nächster Gelegenheit wieder herausreden, ihr Mann habe den Kaffee eingekauft oder gekocht, wenn er ihren Gästen nicht schmeckt.
Andererseits ist es natürlich beque­mer, den Preis zu erhöhen und so ohne Mehr­aufwand eine Erlössteige­rung mitzuneh­men. Also genauso, wie es die Konzerne vorgemacht haben, bloß nicht nur 2-3 Monate, sondern ein halbes Jahr bis zu den neuen Vertragsabschlüssen im Früh­jahr. Fairerweise ist zu erwäh­nen, daß El Rojito die Mehreinnah­men als Spende den Kaffeeprojekten zukommen lassen will. Von den anderen MITKA-Gruppen ist solche Großzügigkeit bisher nicht bekannt geworden. Aber je nachdem, wie das Ge­schäftsjahr läuft, ist es später immer noch bzw. aus steuer­rechtlichen Gründen leider nicht mehr möglich.
Bei der Konkurrenz von der GEPA hinge­gen waren die neuen Vertrags­abschlüsse bereits zum 1.10.94 fällig. Hier machte sich dann auch die momentane MarktmachtVerluste die sie rechnerisch erlitten haben, seit der Weltmarkt_preis über dem GEPA-Preis (1,26 US-Dollar) lag – und bekamen sie. Außerdem zahlt die GEPA ab jetzt den aktuellen Weltmarktpreis plus 10 Prozent, solange der Marktpreis über dem früheren Mindestpreis bleibt. Und darauf muß die GEPA auch hoffen: Sollte der Marktpreis zum Geschäftsjahresende am 31.3.95 wie­der gesunken sein, werden wie dieses Jahr Abschrei­bungen in Millionenhöhe fällig! Wir drücken ihr die Daumen.

aus: Umbrüche 11/12, Nov. ’94

Bloßer Nachwahlkampf?

Spätestens seit den Wahlen im August dieses Jahres ist dieser “Dorn im Auge” der Salinas-Regierung nicht mehr eine bloße “Insel der Hoffnung” für die demo­kratische Opposition: Denn während im übrigen Mexiko die Wahlen ein weiteres Mal dubios verliefen und die amtierende Staatspartei PRI die gesamte Opposition erneut mit einer Flut von – in gerichtlichen Einzelverfahren langwierig zu klärenden – “Wahl-Unregelmäßigkeiten” in Schach hält, zeigte die zapatistische Enklave dem gesamten Land, daß Wahlen durchaus transparent und demokratisch organisiert werden können, wenn sie wie hier ge­schehen von zivilen, vom System der Staatspartei unabhängigen Instanzen durchgeführt werden.
Weiter wählen oder selbst handeln?
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit den Wahlverläufen haben sich viele Oppositionsgruppen und vor allem die un­abhängigen Campesino- und Indígena-Organisationen Mexikos enttäuscht von der reformistischen Alternative abge­wandt, mit der besonders die groß-städtischen Intellektuellen um den “Grupo San Angel” für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen geworben hatten. Deren Vorschlag, die von der (PRI-dominierten) Wahlbehörde diktierten Spielregeln zu akzeptieren und das Wahl­ergebnis anschließend mit der Staatspartei durch ein gemeinsames, schrittweises “Säubern” einzelner offensichtlicher Wahlfälschungen “auszuhandeln”, wird von den Spitzenpolitikern der Oppositi­onsparteien PRD und PAN auch nach den Wahlen einmütig vertreten; gleichzeitig beschließen jedoch ihre aus der Kontrolle geratenen Basiskomitees schon in zahl­reichen Bundesstaaten, unter den ge­gebenen Bedingungen nie wieder an Wahlen teilzunehmen.
Die Kluft wird größer: Während der PRD-nahe Politologe Jorge Castañeda, ein Ver­treter der San Angel-Gruppe, noch für die Anerkennung des offiziellen Er­gebnisses der Präsidentschaftswahlen und für eine parallele “Nachverhandlung” jedes einzel-nen Mandates des gleichzeitig gewählten Nationalparlamentes plädiert, beschließen Vertreter von ca. 300 Campesino- und Indígena-Organisationen am symbolträch-tigen 12. Oktober in San Cristóbal – mit Unterstützung von ca. 20.000 Indígenas aus Chiapas -, einen an­deren Weg einzu-schlagen: den Weg der Regionalauto-nomie.
Basta Ya!
Da weder die “saubersten Wahlen der mexikanischen Geschichte” noch mona­telange Verhandlungen mit der Regierung eine demokratische Öffnung des PRI-Systems bzw. lokale Freiräume erwirken konnten, beschließen an diesem “Nationalen Tag für Demokratie und wür­digen Frieden” die Delegierten aus den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Veracruz, Hidalgo und Sonora, das System der Staatspartei aus ihren Regionen zu drängen und Freiräume für selbstbestimmtes politisches Handeln zu schaffen, statt auf Konzessionen von oben zu hoffen. In einigen Bundesstaaten war diese Entscheidung, die Demokrati­sierung von unten zu betreiben, schon sofort nach den Wahlen gefallen: So sind Ende August alle Regierungsvertreter aus dem Purhépecha-Hochland in Michoacán, einer Hochburg der PRD-Opposition, ver­trieben und ihre Büros versiegelt worden, nur noch die paramilitärische Polizei durchkreuzt die Region auf ihrer nächtli­chen Suche nach “vom Ausland gesteuerten Guerrillas”.
Doch zur Zeit bildet Chiapas den landes­weiten Schwerpunkt des Kampfes gegen das PRI-System, da hier die Wahlfäl­schung am lückenlosesten dokumentiert werden konnte. Sowohl die EZLN als auch die Nationale Demokratische Kon­vention (CND) haben den Sturz des an­geblichen Siegers der ebenfalls im August abgehaltenen chiapanekischen Gouver­neurswahlen, des PRI-Kandidaten Eduardo Robledo, und die Anerkennung seines Gegners, des von einem breiten Bündnis von Organisationen getragenen Oppositionskandidaten Amado Avendaño, zu ihren Hauptforderungen gemacht.
Autonomie für wen?
In der “Erklärung von San Cristóbal” vom 12. Oktober fließt der Kampf um die “Verteidigung des Wählerwillens”, also um die Amtseinsetzung Avendaños, mit dem Kampf um Regionalautonomie zu­sammen. Indem somit Indígena-Organisa­tionen, städtisch geprägte Oppositions­gruppen und soziale Bewegungen gemein­same Strategien des zivilen Wider­stands entwickeln – von der “Eroberung” PRI-dominierter Rathäuser über die Schließung von Regierungsinstitutionen, die Vertreibung von PRI-Funktionären und Regierungsbeamten bis zum Boykott jeglicher Steuern und Abgaben sowie der Rückzahlung von Krediten -, drückt sich nicht nur das im August auf der 1. Demo­kratischen Konvention in Aguascalientes geschlossene Bündnis (zwischen Zivilge­sellschaft und Indígena-Völkern) aus, sondern darüber hinaus spiegeln diese gemeinsamen Strategien einen neuartigen und erstmals am 1. Januar vom EZLN artikulierten Prozeß der “Verbürger­rechtlichung” der Indígena- und Campesi-nobewegung wider: An die Stelle “exklusiv indianischer” Forderungen tritt in der konkreten Praxis des Kampfes um Autonomie eine alle Bevölkerungs­gruppen betreffende Demo­kratisierung auf der lokalen und regiona­len Ebene, also genau dort, wo das System des PRI-Kazikentums am stärksten ver­wurzelt ist und bis heute am effektivsten funktioniert.
Das Projekt pluriethnischer Regionen
Die “Erklärung von San Cristóbal” und das ihr zugrundeliegende, von 13 Indígena-Organisationen unterzeichnete Dokument vom September 1994, “die Autonomie als neue Beziehung zwischen den Indígena-Völkern und der Nationalge­sellschaft” betonen daher, daß die Indígena-Bewegung zwar aus historischen Gründen zum Protagonisten des Kampfes um Regionalautonomie geworden sei, daß es jedoch nicht um das Errichten von Pri­vilegien und von “ethnisch homogenen” Gebieten gehe:
“Die Autonomie, die wir fordern, ist kein neues Ausschlußprojekt und stellt sich auch nicht abseits des Strebens der Mehr­heit der Mexikaner nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit. Im Gegenteil, die Autonomie ist der indianische Vor­schlag, um zum ersten Mal in der neueren Geschichte in ein demokratisches Leben eintreten zu können; es ist auch der Bei­trag der Indígena-Völker zur Errichtung einer demokratischeren, gerechteren und menschlicheren Nationalgesellschaft. In diesem Sinne identifiziert sich unsere Autonomieforderung mit dem Kampf aller nicht-indianischen Mexikaner, die eine neue Gesellschaft erstreben. Unser großes Projekt politischer Autonomie schließt auch niemanden im Inneren der Regionen aus, in den verschiedene Gruppen zu le­ben. Es sieht in den Regionen, in denen verschiedene soziokulturelle Gruppen oder Völker leben, die Entscheidungsfrei­heit derselben vor, um in Einheit und Ver­schiedenheit, nach den Prinzipien von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt, zusammenzuleben. Es geht also um die Errichtung plurikultureller oder pluriethnischer Regionen”.
Kompetenzen der autonomen Regionen
Ein derartiges Autonomie-Projekt be­zweckt die Einführung einer zusätzlichen regionalen Zwischenebene oberhalb des Municipio-Distriktes und unter­halb der Bundesstaatsebene. Die Region betreffen-de Entscheidungen sollen zu­nächst durch die von den verschiedenen Organisationen plural besetzten Regional­räte und später durch die von Delegierten aller Dorfgemeinden gebildeten Regional­parlamente getroffen werden; die Kom­petenzen sollen den pluriethnischen Re­gionen Mexikos in einem Drei-Stufen-Modell übertragen werden: In einer ersten Phase beschränken sich die Kompetenzen auf eine administrative Dezentralisierung, die vor allem die Selbstverwaltung öffent­licher Haushaltsmittel und die eigen­ständige Erarbeitung von regionalen Entwicklungs- und Ressourcennutzungs­plänen umfaßt. Der zweite Schritt des Indígena-Projektes besteht aus der “Kul-tur-Autonomie”, der souveränen Ent­scheidung über Sprache, Erziehung, Reli­gion, Kommunikationsmittel usw. In der dritten Autonomiephase soll den Regionen politische Kompetenzen hinsichtlich der territorialen Souveränität und der Ent­scheidungsmechanismen zur Ernennung ihrer lokalen, regionalen und nationalen Vertreter zugestanden werden. All dies basiert auf der rechtlichen Grundlage der von Mexiko längst unterzeichneten ILO-Konvention 169 über Territorialansprüche indigener Völker.
Erste Schritte zur Regionalautonomie in Chiapas
Den detaillierten Dokumenten folgen seit dem 12. Oktober konkrete Taten: Im Nor­den des Bundesstaates hat die mehrheit­lich von Tzotzil, Chol und Zoque gebil­dete Campesino-Organisation CIOAC be­reits die “Autonome Indígena-Region Nord-Chiapas” mit 11 Municipaldistrikten und einer Bevölkerung von 120.000 Ein­wohnern ausgerufen. Die Rathäuser von Soyaló, Simojovel und Huitiupan wurden besetzt und deren ,dank Wahlfälschung, amtierende PRI-Bürgermeister wegen “Korruption und Unfähigkeit” abgesetzt. Die Fincas von Ixtapa und Jitotol wurden beschlagnahmt und an landlose Familien übergeben, die gesamte Region wird zur Zeit mit Hinweisschildern versehen, in denen Regierungsbeamte darauf hinge­wiesen werden, daß “sie ein Eindringen in die autonome Zone selbst verantworten müßten”. Alle Verhandlungen mit Regie­rungsinstanzen sind abgebrochen worden, bis “eigene, demokratische Institutionen an ihre Stelle” treten. CIOAC-Sprecher Arturo Luna erklärt: “Jetzt beginnen wir langsam, uns die Rathäuser zu nehmen, wir trauen uns, uns selbst zu regieren… Wir merken, wir können regieren und unsere eigenen Pläne erstellen für Regio­nalentwicklung, Infrastruktur, Erziehung und nach den Erfordernissen unserer Re­alität”.
Als nächstes erklären die 38 Dörfer des Marqués de Comillas, einer Grenzregion der Selva Lacandona, die nicht vom EZLN kontrolliert wird, ihre Unabhängig­keit gegenüber dem Municipio-Distrikt Ocosingo, einem von PRI-Kaziken und Viehhändlern beherrschten Ort. Das jetzt “freie Municipio Comillas” wird von einem aus allen Dorfautoritäten und vier regionalen Campesino-Organisationen zu-sammen­gesetzten Kollektivrat regiert, alle Zufahrtswege sowie die Verbindungs­straßen in die benachbarten Bundesstaaten Yucatán und Campeche sind gesperrt.
Gleichzeitig rufen ca. 15.000 Mitglieder der Kleinbauernkaffee-Organisation OR-CAO am Südrand des vom EZLN kontrollierten Territoriums die “Autonome Region Selva” aus. Neben anderen Regie­rungsinstanzen werden alle Schulen sowie der Sitz der Schulverwaltung geschlossen: “Die zweisprachigen und einsprachigen Lehrer dieser Schulen dürfen nicht weiter­arbeiten, bis sie ein Erziehungsprojekt ausarbeiten, das unseren Bedürfnissen entspricht und das auch politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte einbezieht. Wir, die Dorfgemeinden, wer­fen die Lehrer nicht raus, sondern sie sollen sich unserem Kampf anschließen”, erklärt Juan Vázquez von der ORCAO.
Wie in Chiapas so in Mexiko?
Bis Anfang November, also knapp einen Monat vor der geplanten Machtübergabe an die neuen PRI-Regierungen von Zedillo in Mexiko-Stadt und von Robledo in Chiapas, umfassen die mittlerweile vier autonomen Regionen schon 58 Municipios und mehr als die Hälfte der Fläche des gesamten Bundesstaates Chiapas. Doch “Chiapas darf nicht allein gelassen werden”: Die Nationale Konven­tion der Indígena- und Campesino-Orga­nisationen würdigt Ende Oktober die Autonomiebewegung als wichtigsten Bei­trag der Indígena-Völker zur Demokrati­sierung Mexikos, als einen konkreten Schritt im Übergang “vom zivilen Wider­stand zum zivilen Aufstand”, die Konven­tion ruft daher ihre Mitglieds­organisa-tionen im ganzen Land zur Nachahmung auf.

Der zivile Widerstand in Chiapas

1. Das vom “System” der Staatspartei PRI geschaffene soziale Unrecht hat den be­waffneten Aufstand der EZLN am 1. Januar hervorgebracht, und die Wahlfäl­schung der “Salinisten” am 21. August hat dann auch eine unmißverständliche Ant­wort der Indígena-Völker in verschie­denen Gegenden des Bundesstaates Chia­pas – also der ärmsten Bürger des Landes – erhalten. Es ist eine Antwort, die schon jetzt ein breites Programm des zi­vilen Un­gehorsams ankündigt: Sowohl gegenüber der Zentralregierung, als auch gegenüber den illegitimen Autoritäten in Chiapas klagen sie Autonomie ein; sie fordern das Recht, einen von ihnen selbst gewählten Gouverneur zu haben. Die Zentralregie­rung soll ihre verfassungsmäßigen Pflich­ten erfüllen. Da­mit vertieft sich der chia­panekische Kon­flikt, er wird zur nationa­len Angelegen­heit.
Ziviler Ungehorsam
2. Der zivile Widerstand beziehungsweise Ungehor­sam ist bekanntermaßen ein Bün­del von Aktionen, mit denen die Bürger ganz bewußt und zu Recht Gesetze über­treten, um der Einsetzung illegitimer Herrschaft oder dem Erlaß ungerechter Gesetze zu widerstehen. Von John Locke über Gandhi bis Martin Luther King haben die Theoretiker des zivilen Unge­horsams des­sen moralische Berechtigung betont und als einen effektiven und fried­lichen Weg zum Wandel anerkannt. Genau das ist es, was große Teile der chiapa­nekischen Be­völkerung tun: Sie leiten eine Reihe von öffentlichen und friedli­chen Aktionen und Unterlassungen ein, mit denen sie gegen die Po­litik der Zentral­regierung protestieren, die ihnen einen PRI-Gouverneur in ihrem Bundes­staat auf­zwingen will. Sie organi­sieren den wich­tigsten zivilen Ungehor­sam in der Ge­schichte Mexikos mit dem Ziel, sich selbst regieren zu können.
3. Der zivile Ungehorsam hat sich in unse­rem Land als ein Kampfmittel bisher nur erahnen lassen – und auch das nur in Aus­nahmefällen. Daher gewinnt die Entschei­dung der Chiapaneken an Bedeutung. 1985 und 1986 haben verschiedene PAN-Gruppen (der rechten Oppositionspartei Partido de Acción Nacional, d.Red.) nach den Wahlfälschungen in Nuevo León und Chihuahua Aktionen zivilen Widerstands durchgeführt. Brücken und Straßen wur­den blockiert, Steuern nicht bezahlt, um die Maschinerie der Wahlfälschung auf­zuhalten. Sie gaben jedoch dieses Kampfmittel sehr schnell auf. Für die Prä­sidentschaftswahlen 1988 hat der dama­lige PAN-Kandidat Clouthier eine ganze Strategie des Widerstands entwickelt, doch wurde er schon kurz nach den Wah­len am 6. Juli von seiner Parteispitze ge­stoppt. Und im Laufe der Präsidentschaft von Salinas sind nach verschiedenen Wahlfälschungen Aktionen dieser Art ver­sucht worden, aber ihre geringe Resonanz zwang die Oppositionsführer immer wie­der dazu, diese Maßnahmen aufzu­geben. Zum Beispiel haben PRD- und PAN-Poli­tiker vor den diesjäh­rigen Wahlen bekräf­tigt, sie würden Aktionen zivilen Wider­stands gegen die erwartete Wahlfälschung einleiten. Nach den Wah­len am 21. August wurde deut­lich, daß sie gelogen und überhaupt nichts vorbereitet hatten, obwohl sie wissen mußten, was bei den Wahlen geschehen würde. Auch in dieser Hinsicht hat uns Chiapas wieder einmal überrascht.
Ein Beispiel an Zivilcourage
4. Das Szenarium in Chiapas bestimmt daher weiterhin die nationale Politik, und zwar in bisher ungeahntem Ausmaß. Aus Sicht der Bürger ist es bezeichnend, daß es erneut diejenigen, denen die lokale Oligarchie und die technokratische Zentral­macht alle Rechte vorenthalten ha­ben, sein müssen, die dem ganzen Land ein Beispiel an Würde und Zivilcourage geben. Andererseits zwingt die Sturheit der Regierung ihre Bürger dazu, immer radikalere Methoden anzuwenden, um das grundlegende Recht der Indígena-Völker auf Leben, Glück und – selbstver­ständlich – auf die Wahl ihrer eigenen Re­gierung zu verteidigen.
5. Die Besetzungen von Rathäusern, die Blockaden der Landstraßen und die Land­besetzungen auf Großgrundbesitz haben zwar das ganze Jahr 1994 geprägt, doch zu dem Recht auf Verteidigung ihrer Au­tonomie tritt jetzt die Forderung, den­jenigen zum Gouverneur zu haben, den sie auch gewählt haben. Dies haben die 200 Indígenas der CEOIC (des nach dem Januar-Aufstandes gebildeten Dach­verbandes unabhängiger Bauernorganisa­tionen Coordinadora Estatal de Organi­zaciones Indígenas y Campesinas de Chiapas), die die Landstraße nach Tuxtla blockiert haben, in einem Graffiti deutlich zum Ausdruck gebracht: “Von dieser Ge­meinde an beginnt die autonome, freie und souveräne Region Nord-Chiapas”. Die Gruppen der CIOAC (des Bauern­verbandes Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos), der PRD (der linken Oppositionspartei Par­tido de la Revolución Democrática) und der Zivilgesellschaft, die die Rathäu­ser von Simojovel, Huitupan und Soyaló be­setzt, die PRI-Bürgermeister verjagt, sie durch plurale Gemeinderäte ersetzt haben und alle Zufahrtsstraßen unter Kontrolle halten, fordern damit in einzigartiger, de­mokratischer Weise eine Regierung her­aus, die während ihrer gesamten sechsjäh­rigen Amtszeit die soziale Realität in un­serem Land mißachtet hat und keine politischen Antworten auf die Forderun­gen der Mexikaner fand.
Der doppelte Diskurs der PRI-Regierung
6. Die Salinas-Regierung hat sechs Jahre lang einen doppelten Diskurs verwendet: einen nach innen, und einen nach außen gerichteten; einen der Worte, und einen der Taten, wie der Fall Chiapas deutlich zeigt. Während eines offiziellen Besuchs in New York im vergangenen Sommer traf der prominente Unternehmer und Wirtschaftsberater von Salinas, Claudio X. González mit den 15 wichtigsten auf Mexiko spezialisierten Journalisten im berühmten “21 Club” zusammen. Dort be­sprach der Magnat nach einem üppigen, mit erlesenen Weinen abgerundeten und selbstverständlich von der mexikanischen Regierung bezahlten Mittagsmahl, das Thema Chiapas – allerdings in einer Weise, wie es die PRI-Rhetorik im In­nern nie zu tun pflegt. Da sich Don Clau­dio X. zur Zeit nicht auf mexikani­schem Boden befand, nahm er sich die Freiheit, den erstaunten Reportern zu er­klären, die Regierung habe einen Plan, um den Chiapas-Konflikt mittels eines Investiti­onsprojektes zu lösen. Ähnlich wie ver­schiedene indianische Verwaltun­gen in den USA plane die mexikanische Regie­rung die Errichtung von Kasinos sowohl im chiapanekischen Hochland als auch im lakandonischen Urwald. Er er­läuterte den immer verdutzteren Journalisten, von den Spielhallen wür­den irgendwann auch die Indígenas profitie­ren, da sie ja Aktien er­werben könnten, genau so wie bei den “Stämmen” im Süden der USA. Ange­sichts der Sprachlo­sigkeit der Reporter bat der Unter­nehmer, noch Stillschweigen über dieses Projekt zu wahren. Hierbei wird deutlich, daß die Technokraten so tun, als ob sie den Willen der Chia­paneken und ihr verfassungsmäßiges Recht auf Land, Wasser, Wälder und auf eine demokra­tisch gewählte Regierung respektieren. Doch gleichzeitig verraten ihre Taten und ihre wenigen ehrlichen Er­klärungen, wie wenig sie die Wirklichkeit dieses Landes kennen und was sie tatsächlich mit ihm vorhaben. Wo bleibt da der Respekt vor den individuellen und kollektiven Men­schenrechten der Völker Chiapas’?
7. Die Regierung von Carlos Salinas hat den “Fall Chiapas” von Anfang an zwei­schneidig behandelt und trägt daher die Verantwortung für die kritische Situation, in der sich der Bundesstaat heute befindet: Sie gab vor, ihren verfassungsmäßigen Pflichten in bezug auf Land, Gesundheit, Wohnung, Gerechtigkeit und Freiheit nach­zukommen, hat dies jedoch nie getan. Ihre Propaganda hat vollmundig sau­bere Wahlen angekündigt und gleichzeitig eine Wahlfälschung unbekannten Aus­maßes begangen, um den Senator Eduardo Robledo als Gouverneur einzu­setzen, einen Helfershelfer früherer Regie­rungen und einen Büttel der Großgrund­besitzer und der korruptesten Politiker Mexikos. Sie hat den Frieden ver­kündet und gleich­zeitig die umfangreichste Kriegsmaschi­nerie der mexikanischen Ge­schichte in einem einzi­gen Bundesstaat zusammenge­zogen – nach Augenzeugen mehr als 50.000 Soldaten. Vor diesem Hintergrund ist die Realitäts­ferne von Jorge Madrazo zu sehen, dem zweiten Unter­händler der Regierung gegenüber dem EZLN, der “noch nie auch nur einen ein­zigen Zapati­sta auf 500 Meter Entfernung erblickt hat”. Mit der Errichtung von drei Beob­achtungs-Camps in der Nähe der Militär­sperren behauptete Madrazo, einen Bei­trag der Regierung “für den Frieden” zu leisten und “eine Verhandlungslösung” für den Konflikt zu suchen (La Jornada, 26. Oktober), wo doch alles auf das Gegen­teil hindeutet. Die abtretende Re­gierung (die anscheinend nicht abtreten will) mußte zwar Anfang Januar dank der Bürgerpro­teste und des Drucks der Weltöffentlich­keit von ihrer Vernich­tungspolitik ablas­sen, verfolgt jedoch wei­terhin dieselben Ziele ihres neoliberalen Programms: sich jeder demokratischen Öffnung zu wider­setzen, das System des Großgrundbesitzes zu stärken, das Kazi­kentum zu konsolidie­ren, die Sozial­ausgaben abzubauen und die Reichtümer Chiapas’ – inklusive seiner Erdöl­vorkommen – den multinationalen Kon­zernen gänzlich auszuliefern.
Autonomierechte zur Konfliktlö­sung
8. Der Konflikt in Chiapas ist nur politisch lösbar, und genau das kann die abtretende Regierung nicht verstehen. Der sozialen Herausforderung, die der Kampf der Indí­gena-Völker Chiapas’ darstellt, kann nur begegnet werden, indem ihnen Auto­nomierechte zugestanden werden – also die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, eine eigene Bundesstaatsregierung zu bilden und ihre in der mexikanischen Verfassung verankerten individuellen und kollektiven Menschenrechte wahrzunehmen. Die Re­gierung muß mit Großmut antworten, nicht mit Intoleranz. Doch nach ihrem Verhalten in den letzten sechs Jahren und angesichts der wenigen verbleibenden Zeit ist eine derartige Umkehr nicht mehr zu erwarten. Dadurch werden die Gräben, die das chiapanekische Problem gezogen hat, immer tiefer.
9. Lösungensansätze des Konflikts, die sich in der Situation nach den Wahlen zaghaft abzeichnen, geben kaum Anlaß zu Opti­mismus. Das Chiapas-Problem läßt sich nicht – wie dies die PRI-Kurz­sichtigkeit vorgibt – durch Verhandlungen zwischen Robledo und dem Oppositions­kandidaten Avendaño lösen. Robledo entbehrt jeder Legitimität, um Chiapas zu regieren, nicht nur, weil er ein Büttel der übelsten Inter­essen im Bundesstaat ist, sondern auch, weil er eine Wahlfälschung ungeahnten Ausmaßes, also eine Vielzahl krimineller Vergehen, ausnutzen will, um sich des Gouverneursamts zu bemächti­gen. Es sei nur daran erinnert, daß die Wahlen nach Angaben des “Tribunals des Chiapaneki­schen Volkes”, eines von verschiedenen Organisationen einge­setzten, unabhängi­gen Wahlprü­fungs­gerichtes, in mindestens der Hälfte aller Wahlkabinen gefälscht worden sind (La Jornada, 25. Oktober). Demgegenüber wird Avendaño von real abgegebenen Wählerstimmen getragen, weshalb er Gouverneur von Chiapas wer­den muß, um den Prozeß des demokrati­schen Über­gangs anzuführen: Er allein besitzt die nötige Legitimation, und daher bedarf es – entgegen der Meinung der PRI- und eini­ger PRD-Politiker – keiner Verhand­lungen über diesen Punkt.
Die Fortsetzung des Kampfes mit zivilen Mitteln
10. Aus dieser Situation lassen sich deut­liche Schlußfolgerungen ziehen. Der so­ziale und politische Kampf der Völker Chiapas’, der mit bewaffneten Mitteln be­gonnen hat und jetzt durch neuartige Wege des zivilen Widerstands fortgesetzt wird, ist diese langen Monate hindurch ein Kampf für alle Mexikaner gewesen. Des­halb sind wir verpflichtet, ihnen zu ant­worten. Und ihnen zu antworten be­deutet, auch unser eigenes Recht darauf, Bürger zu sein, zu verteidigen.
Luis Javier Garrido ist Mitglied des kol­lektiven Präsidiums der Demokratischen Nationalen Kon­vention (CND) Mexikos.

Politische Einmischung unerwünscht

Im Vergleich zu den privaten Universitä­ten ist es preiswert, an der staatlichen Universidad San Carlos zu studieren: 1,50 DM Studiengebühren monatlich, bis zu 70 DM für Bücher und Arbeitsmittel, allge­mein recht niedrige Lebenshaltungs­kosten.
Aber für die meisten Menschen sind die Kosten jedoch eine so große Hürde, daß sich an der Universität nur die kleine Schar derer zu­sammenfindet, deren Eltern ihnen das Studium bezahlen können. Das sind ganze 0.7 Prozent der Bevölkerung. 55 Prozent aller GuatemaltekInnen sind von höherer Bildung ausgeschlossen, da ihnen nicht einmal zugestanden wird, Lesen und Schreiben zu lernen. Wer zum Rest ge­hört, darf nicht aus einer normalen campesino-Familie stammen, denn die ge­ringe Studiengebühr von einer Mark fünf­zig ist der Tageslohn eines Landar­beiters, der Wert eines Fachbuchs ent­spricht schon einem Monatslohn. Außerdem wer­den alle arbeitsfähigen Fa­milienmitglieder zum Geldverdienen gebraucht.
In ganz Guatemala studieren etwa 82.000 Menschen, die Hälfte davon in der Haupt­stadt. An den vier privaten Universitäten, die Studiengebühren zwischen 70 und 300 Mark monatlich erheben, sind 9.000 Stu­dierende eingeschrieben. Und wer die fi­nanziellen Möglichkeiten hat, studiert im Ausland. Das sind jedoch verhältnismäßig wenige.
Glücklich also, wer sich einen Platz an der San Carlos leisten kann. Aber die Zu­gangsbedingungen zur Universität sind nicht das einzige, was die Lage deutscher StudentInnen von der eines Studierenden in Guatemala un­terscheidet. Für uns ist es normal, daß sich Studierende politisch artikulieren können; von den Fach­schaftsinitiativen bis zum Streiksemester ist alles dabei. Vielmehr ist deutlich, daß sich die meisten hier nicht engagieren wollen. In Guatemala dürfen sie nicht, je­denfalls nicht so, wie sie wollten.
Politisches Engagement ist ein Wagnis
Zu diesem Thema war kürzlich Genaueres zu erfahren: Am 2. November waren drei studentische VertreterInnen aus Gua­temala am Berliner Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zu Gast und berichteten ausführlich über Geschichte und Situation politischer Mitwirkung von Studierenden in ihrem Heimatland. Rebeca, Cecil und Víctor – drei junge Menschen, an das Re­den in der Öffentlichkeit gewöhnt, erfah­ren und kompetent, könnten genauso gut einer hiesigen studentischen Gruppierung angehören. Aber nach und nach wurde deutlich, was es dort heißt, politisch zu arbeiten. Es kann das Leben kosten.
Alle Studierenden in Guatemala sind au­tomatisch Mitglieder der Asociación de Estudiantes Universitários (AEU), dem StudentInnenverband. Sie wählen alle zwei Jahre ein Generalsekretariat, be­stehend aus vier Mitgliedern. Für viele Themen wie inneruniversitäre, nationale und internationale Fragen, Umwelt, Frauen, Kultur usw. gibt es Arbeitskom­missionen; dazu kommen 29 Fachbe­reichsräte. Die politische Orientierung der AEU (hier also: der VertreterInnen in den Gremien) hängt vom Wahlverhalten der Studierenden ab, jedoch – so Víctor – wurde in den letzten 30 Jahren immer links gewählt.
Die AEU zählt zu den Organisationen im Land, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer wieder politisch eingemischt ha­ben. Eine politisch motivierte StudentIn­nenbewegung gab es an der viertältesten Universität Lateinamerikas schon um die Jahrhundertwende. 1920 wurde die AEU gegründet und war von Anfang an ein wichtiges Element bei sozialen Bewegun­gen, so daß sie von Jorge Ubico, Diktator in Guatemala von 1932 bis 1944, kurzer­hand aufgelöst wurde. Die sogenannte Oktoberrevolution vom 20.10.1944 er­möglichte ihr die Neugründung. Und in den zehn folgenden Jahren der Reform war die AEU eine einflußreiche Kraft, Jurastudenten wirkten am Landreformpro­gramm mit, und auch Regierungsmitglie­der gingen aus der AEU hervor.
Aber der Putsch von rechten Militärs und des CIA im Jahre 1954 erstickte neben allen anderen Reformkräften auch die StudentInnenbewegung: Ermordungen, Ver­haf­tungen und Exil waren an der Ta­gesordnung, und der politische Winter zwang dazu, die Organisation unter re­pressiven Bedingungen neu aufzubauen. Erst in den sechziger Jahren konnten sich AEU-VertreterInnen wieder zu Wort mel­den. Damals ging es vor allem um soziale Forderungen und Öffentlichkeitsarbeit. Die StudentInnenbewegung bekam in den Siebzigern großen Auftrieb, der durch den Mord an AEU-Chef Oliverio Castañeda de León am 20.10.1978 einen brutalen Einschnitt erlitt. Seither nennt sich die AEU nach ihm.
Die Repressionen nahmen während der Präsidentschaft von Lucas García (1978-82) und von Rios Montt (1982-83) stark zu. Bis Mai 1984 war die gesamte Lei­tungsebene der AEU beseitigt worden, 3.000 Mitglieder der Universität waren ermordet, “verschwunden” oder im Exil.
Die Repression dauert auch nach der Diktatur an
Erst unter den Zivilregierungen seit 1986 änderte sich wenigstens die offizielle Haltung der Machthaber zur AEU. Im an­geblichen Demokratisierungsprozeß konnten die AEU-AktivistInnen nicht mehr so pauschal diskriminiert und nicht mehr unter den Augen der Öffentlichkeit verfolgt werden. Dennoch gab und gibt es immer wieder gewaltsame Übergriffe auf politisch engagierte Studierende. 1989 wurden zehn MitarbeiterInnen der AEU entführt – vier von ihnen fand man später tot auf, und von den anderen fehlt noch jetzt jede Spur. Erst vor kurzem, Anfang Oktober dieses Jahres, wurde ein AEU-Funktionär bedroht, der eine Landbesetze­rInnengruppe mitorganisieren wollte; er wurde geschlagen, man besprühte ihn mit Tränengas und fügte ihm Schnittverlet­zungen im Gesicht zu. Dies geschah in der Hauptstadt, nahe der Universität.
Die AEU vermochte ihre Arbeits- und Artikulationsformen dennoch zu ändern, denn ab Mitte der 80er Jahre konnte die “Politik der verbrannten Erde”, des bedin­gungs- und rücksichtslosen Kampfes von Militär und Todesschwadronen gegen jede Form von Opposition nicht mehr auf­rechterhalten werden.
Seither ist die AEU auf zwei großen Ge­bieten tätig. Sie kümmert sich zum einen um inneruniversitäre Angelegenheiten, um die Rechte von Studierenden, um Frieden an der Universität und vernünftige Aus­bildungsbedingungen. Zum anderen ar­beitet sie am Demokratisierungs- und Friedensprozeß mit.
Im Mai 1993 erreichte die AEU einen großen Erfolg, als sie mit vielen anderen Reformkräften auf die Straße ging und Präsident Jorge Serrano Elias zum Rück­tritt zwang, der mir seinem Selbstputsch eine Staatskrise hervorgerufen hatte.
Die AEU ist Mitglied in einem der Dach­verbände der Volksorganisation Unidad de Acción Sindical Popular (UASP) und sitzt im Kreis der zivilen Vereinigungen, die als eine Art Beratergremium die Frie­densverhandlungen zwischen URNG und Regierung begleiten. Dort können sie auch ihre Vorstellungen für einen Frieden in Guatemala einbringen können. Leider, so beklagten sich die drei Studierenden, werde dieses Gremium viel zu wenig in den Verhandlungsprozeß einbezogen, es ginge da eher um ein Alibi…
Sie betonten, daß nach Meinung der AEU ein Frieden noch nicht automatisch mit dem Ende des Krieges erreicht sei. Dieser könne nur dann entstehen, wenn die vielen Fragen, an denen sich der Konflikt seit Jahrzehnten entzündet, ernsthaft angegan­gen werden.

Aus der Illegalität in die Zivilgesellschaft

Vom 27.- 31. Juli 1994 fand in Cabá, Pro­vinz El Quiché, die fünfte Generalver­sammlung der CPR de la Sierra (ein regionaler Zusammenschluß eines Teils der CPR) statt. Zwar liegt sie schon eine Weile zurück, aber ein Bericht von der Versammlung, den wir im Folgenden leicht gekürzt abdrucken, vermittelt ein plastisches Bild von der Situation in den CPR und dürfte seine Aktualität nicht verloren haben.
Die Struktur der CPR
Der interne Aufbau der CPR ist basisde­mokratisch organisiert: Auf der Ebene der einzelnen Dörfer werden Lokalkomitees gewählt. Für die drei Gebiete Santa Clara, Cabá und Xeputul sind jeweils Gebiets­komitees zuständig, während die Koordi­nationskommission (CDC) als zentrale Instanz jeweils auf den Generalversamm­lungen gewählt wird. Zusätzlich wird ein Ältestenrat einberufen, der sich aus Ver­treterInnen verschiedener Gebiete zu­sammensetzt und die Aufgabe hat, die CDC kritisch zu beraten.
Die Produktion
Die landwirtschaftliche Produktion ist zweigleisig organisiert: Im Unterschied zu den CPR del Ixcán dominiert in denen der Sierra die private Produktion der Fami­lien, die jeweils ein eigenes Stück Land zur Verfügung haben. Daneben steht die Kollektiv-Produktion, die ursprünglich unter den Bedingungen absoluter Repres­sion entwickelt wurde. Heute dient sie in erster Linie dazu, Gemeinschaftsarbeiten wie z.B. den Bau von Schulen und Stras­sen zu realisieren und diejenigen zu ver­sorgen, die für sich selbst nicht genug er­wirtschaften können. Dies sind vor allem die Witwen und DorfbewohnerInnen, die als LehrerInnen und Gesundheitsbrigadi­stInnen arbeiten.
Die landwirtschaftliche Arbeit ist immer noch weitgehend subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet: Überwiegend wird Mais an­gebaut, daneben – weit weniger – Bohnen, Zuckerrohr, Bananen, Kaffee, Guisquil, verschiedene Kräuter, Tomaten, Orangen, Avocados, Sapotes und Kürbisse. Die Frauenorganisation (sector de las mujeres) ist momentan dabei, ergänzend zur bishe­rigen Produktion, ein Gemüsegarten-Pro­jekt aufzuziehen. Außerdem läuft ein Schweinezucht-Projekt in Gemeinschafts­arbeit.
Im vergangenen Jahr ist es nicht gelungen, die landwirtschaftliche Produktion zu er­höhen, was angesichts der steigenden Be­wohnerInnenzahl zu einem Versorgungs­problem führt: Insgesamt steht den CPR innerhalb der Gebiete, in denen sie sich bewegen können, zu wenig Land zur Ver­fügung, das bewirtschaftet werden kann. Darüber hinaus fehlt es an anderen Grundvoraussetzungen landwirtschaftli­cher Produktionsmittel, wie z.B. an Ar­beitsmitteln, Lastentieren, Werkzeug und Naturdünger. Weiter wäre eine systemati­sche Bodenanalyse notwendig, um durch den Anbau geeigneter Nutzpflanzen auf den unterschiedlichen Bodenarten die jeweils besten Erträge zu erzielen.
Eine “Vermarktungskommission” ist der­zeit damit beauftragt, den Handel mit den Nachbardörfern bis hin nach Chajúl und Nebaj auf- bzw. auszubauen, der durch den Ausbau der (Fuß-) Wege und den Kauf weiterer Lastentiere gefördert wird.
Gesundheit
Durch mangelhafte, bzw. einseitige Er­nährung ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung schlecht: Allein an einem Impftag wurde im vergangenen Jahr bei 103 Kindern Unterernährung festgestellt, 9000 Krankheitsfälle wurden im Laufe des Jahres registriert. Wie überall auf dem Land sind die Hauptkrankheiten Magen-Darm-Leiden und Erkrankungen der Atemwege; besonders problematisch er­scheinen darüberhinaus gegenwärtig die ca. 200 Fälle von Tuberkulose.
Auf der Versammlung wurde ausdrücklich der Zusammenhang von Leben in Unter­drückung und Krankheit thematisiert und als wesentliche Ursache der Krankheiten die Armutsverhältnisse genannt, in der die CPR seit 12 Jahren, die Maya-Bevölke­rung insgesamt schon seit 500 Jahren gehalten werden. Die CPR besitzt einen sehr umfassenden Gesundheitsbegriff, der das Recht auf ausgewogenes und ausrei­chendes Essen ebenso beinhaltet und ein­fordert wie Kleidung, Wohnung, Arbeit, Ruhe, medizinische Vorsorge, Arzneiver­sorgung, Akupunktur und die Einbettung des Gesundheitswesens in die Strukturen der Gemeinschaft.
Die Situation hat sich seit November 1993 merklich verbessert: Seitdem arbeitet eine Gruppe der “Médicos del Mundo” in den CPR. Eine Hebamme, ein Arzt und eine Krankenschwester arbeiten in einer klei­nen Klinik, die kürzlich in Cabá fertigge­stellt wurde und halten außerdem immer wieder Sprechstunden in den anderen Dörfern ab. Dort sollen im nächsten Jahr ebenfalls kleine Krankenstationen gebaut werden. Ihre Hauptaufgabe ist, innerhalb der begrenzten Zeit, die sie in den CPR bleiben werden, eine genügend große Zahl von GesundheitsbrigadistInnen unter den BewohnerInnen auszubilden, die ihrerseits wieder andere Personen ausbilden sollen.
Daneben stellen die “Médicos del Mundo” als VertreterInnen der ersten nennens­werten internationalen Nichtregierungsor­ganisation, die innerhalb der CPR arbeitet, durch ihre Anwesenheit auch einen gewis­sen Schutz vor Bedrohungen und Ein­schüchterungen durch das Militär dar.
Schule
50 LehrerInnen (promotores de educa­ción) geben den insgesamt ca. 1200 SchülerInnen an drei Tagen der Woche Unterricht. Im letzten Jahr wurde eine Al­phabetisierungskampagne für derzeit rund 500 Erwachsene unternommem, die im kommenden Jahr mit Hilfe von außen er­weitert und möglicherweise auf Ixíl und Spanisch durchgeführt werden soll.
Der Schulalltag wird von ganz grundle­genden Problemen bestimmt: Es mangelt an Papier, Stiften und Schulbüchern; die wenigen, die vorhanden sind, sind nur in Spanisch oder in Quiché abgefaßt und müssen in die andere Sprache, vor allen Dingen in Ixíl übertragen werden. Nur 75 Prozent der eingeschriebenen SchülerIn­nen nehmen am Unterricht teil, weil die Feld- und Gartenarbeit auch bei den Kin­dern Vorrang hat. Das gleiche Problem stellt sich auch für die LehrerInnen und GesundheitsbrigadistInnen: Die drei Tage, die sie in der Schule arbeiten, fehlen ihnen vor allem bei der Feldarbeit, die sie “nebenher” verrichten müssen, und die Unterstützung, die sie für ihre Arbeit in Form einiger weniger Pfund Mais von der Gemeinschaft erhalten, machen diesen Ausfall nicht wett. Es wurde überlegt, die GesundheitsbrigadistInnen, deren Arbeit zu einem “Vollzeitjob” ausgeweitet wer­den soll, von der Feldarbeit freizustellen und ganz von der Gemeinschaft zu unter­stützen.
Der politische Kampf der CPR
Seit 1990, als das guatemaltekische Mili­tär die CPR de la Sierra zu vernichten drohte und die CPR aus dieser Situation heraus erstmals an die Öffentlichkeit gin­gen, führen sie nicht “nur” einen Überle­benskampf als Maya-Gemeinschaft im Widerstand, sondern auch einen politi­schen Kampf, der sich sowohl auf regio­naler als auch auf nationaler und interna­tionaler Ebene weiterträgt.
Auf regionaler Ebene wurden Kontakte besonders für wirtschaftliche Zusam­menarbeit zu VertreterInnenn der umlie­genden Dörfer und der Gemeinden Nebaj, Chajúl bis hin nach Cunén und Sacapulas geknüpft. Als politischer Erfolg wurde die Entsendung eines Delegierten der CPR als ständiges Mitglied in das Menschen­rechtsbüro Chajùl, das dem Erzbischöfli­chen angegliedert ist, gewertet. Durch dessen Arbeit gelang es erstmals, Teile der Bevölkerung aus den umliegenden, unter Militärkontrolle stehenden Dörfern zu aktivieren: In einigen Dörfern erklärten sich über 50 Personen bereit, mit dem Büro zusammenzuarbeiten, Informations­veranstaltungen zu besuchen und bei Menschenrechtsverletzungen öffentlich Zeugenaussagen zu machen.
Auch auf höherer Ebene wurde die Men­schenrechtsarbeit durchgesetzt: Die CPR brachten ihre Anklagen einer Delegation der Menschenrechtskommission der UNO und bei der Interamerikanischen Men­schenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) vor. Ein Delegierter der CPR sitzt als ständiger Vertreter in der “Asamblea de la Sociedad Civil”, dem runden Tisch der Zivilsekto­ren, der den sogenannten Friedensprozeß und die Verhandlungen zwischen URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Gualte­matéca) und Regierung bzw. Militär kri­tisch und mit eigenen Entwürfen begleitet. Darüber hinaus sind die CPR Mitglied der Maya-Organisation “Coordinadora Maya ‘Nuevo Amanecer’ Majawil Q’ij”.
Die zentrale politische Aktion des vergan­genen Jahres war der Marsch in die Hauptstadt, den die CPR de la Sierra gemeinsam mit den CPR del Ixcán im September unternahmen, um ihre politi­sche und rechtliche Anerkennung als zivile Bevölkerung einzufordern und Menschenrechtsverletzungen anzuklagen.
Weiter unternahmen CPR-Delegationen politische Informationsreisen durch die USA und Europa.
Politische Forderungen der CPR
Die grundlegende Forderung der CPR ist immer noch ihre offizielle Anerkennung als zivile Bevölkerung. Militär und Regie­rung verweigern dies jedoch seit den Tagen der Präsidentschaft Ríos Montts (1982/83) und denunzieren die CPR als politischen Arm der Guerilla. Auch der Präsident de León Carpio, der noch als Menschenrechtsprokurator 1991 der erste und einzige Staatsvertreter war, der die CPR besuchte und ihnen versprach, sich für ihre Anerkennung als Zivilbevölke­rung stark zu machen, will heute nichts mehr davon wissen und weigert sich, überhaupt eine Delegation der CPR zu empfangen. Trotzdem kamen aber Militär und Regierung nicht umhin, die CPR als, durch den Staatsterror der frühen 80er Jahre, “entwurzelte Bevölkerung” anzuer­kennen: Im “Acuerdo sobre el reasenta­miento de la población desarraigada”, dem Abkommen über die Wiedereingliederung der entwurzelten Bevölkerung, den URNG und Regierung bzw. Militär unter massivem Druck der UNO-Vermittler im Juni 1994 schlossen, werden die CPR erstmals von offizieller Seite als “Entwurzelte” anerkannt. Sie müßten so­mit auch in den Genuß der in diesem Ver­trag vereinbarten Maßnahmen kommen. Einer solchen Interpretation schieben Militär und Regierung jedoch einen Rie­gel vor, indem sie weiterhin und gegen besseres Wissen auf den vermeintlich militärischen Charakter der CPR beharren.
Die CPR fordern von der Regierung Besitzurkunden für das Land, auf dem sie leben und das sie bebauen. Sie beanspru­chen das Land nicht nur, weil es ihren Maya-Vorfahren geraubt wurde, sondern auch, weil sie das Land unter unvorstell­baren Leiden und Entbehrungen im Laufe von 12 Jahren überhaupt erst urbar ge­macht und darauf eine neue Form des Gemeinschaftslebens entwickelt haben. Die CPR fordern von der Regierung die Überschreibung des staatlichen bzw. des Gemeindelandes von Chajúl und den Ver­kauf und die Übergabe des Landes an sie, das sich derzeit noch in Privatbesitz befindet. Dieses Land soll dann perspekti­visch nicht nur den CPR, sondern allen Ixíl-Flüchtlingen zur Verfügung stehen.
Als Voraussetzung dafür, daß sich ein Gemeinschaftsleben der CPR frei entwik­keln kann, fordern sie die Auflösung der Zivilpatrouillen und das Verschwinden des Militärs, das rund um das CPR-Gebiet immer präsent ist.
Im gegenwärtigen sogenannten Friedens­prozeß bezieht die CPR folgende Position: Die CPR lehnen einen Frieden der Angst, einen Frieden der Straffreiheit für die Verbrecher und einen Frieden der Armut ab, da sie einen solchen “Frieden”, der tatsächlich das Ergebnis der laufenden Verhandlungen sein könnte, schon seit 500 Jahren kennen. In diesem Sinne for­dern sie von der Regierung die sofortige Einhaltung des Menschenrechtsabkom­mens, das URNG und Regierung bereits im März unterschrieben haben – bisher folgenlos: Bis Ende Juli wurde noch nicht einmal die Überprüfungskommission, die mit UNO-Unterstützung über die Einhal­tung des Abkommens wachen sollte, ein­gerichtet.
Außerdem fordern die CPR die sofortige Umsetzung des Abkommens über die “Wiederansiedlung der Entwurzelten”, das laut Vertragsvereinbarungen jedoch erst mit der Gültigkeit eines Friedensvertrags zwischen Regierung und URNG inkraft treten soll. Die CPR beanspruchen einen VertreterInnensitz in der “technischen Kommission”, die – von Regierungs- und VerfolgtenvertreterInnen paritätisch be­setzt – die Umsetzung des Abkommens in seinen (finanz-) technischen Aspekten noch vor Inkrafttreten des Vertrags vorbe­reiten soll.
Schließlich fordern die CPR die Neuver­handlung und Revision des Abkommens über die sogenannte Wahrheitskommis­sion, die den Auftrag erhält, die Verbre­chen und Menschenrechtsverletzungen besonders seit der Terror-Ära Lucas Garcias (Präsident 1978-82) zu erforschen.
In der Bewertung des Verhandlungspro­zesses zeigte man sich realistisch: Die bereits geschlossenen und zukünftigen Abkommen stellten an sich keineswegs den Friedensprozeß dar, sie seien vielmehr eine materielle Voraussetzung dafür, daß dieser sich entwickeln könne: Die auf dem Verhandlungswege erreichten Vereinba­rungen verbesserten zwar die Kampfbe­dingungen der verschiedenen Basisbewe­gungen. Der tatsächliche Friedens- und Demokratisierungsprozeß könne aber nur durch deren Kampf eingeleitet und bestimmt werden.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Regenerative Energien im Aufwind

Die wirtschaftlichen Probleme Kubas sind mehr als nur eine Folge der Ölknappheit. Zum simplen Fehlen von Erd61 kommt noch der eklatante Mangel an Ersatzteilen für die Kraftwerke, Omnibusse und landwirtschaftlichen Maschinen, die über-wiegend aus den ehemaligen COMECON- Staaten stammen. Nach den Erfahrungen, die ich während eines halbjährigen Aufenthalts von September ’93 bis April ’94 in Kuba machen konnte, gewinnt dieser Mangel immer größere Bedeutung, da sich die Versorgung mit Erdöl, wenn auch auf niedrigem Niveau, einigermaßen stabilisiert hat. in Richtung Stabilisierung zielt auch das kürzlich abgeschlossene Jointventure-Abkommen mit Mexiko über den Raffineriebetrieb in Cienfuegos. Die mit einer täglichen Verarbeitungskapazität von 65.000 Barre1 größte kubanische Raffinerie soll zukünftig mexikanisches Erdöl sowohl für den Inlands- als auch für den Exportrnarkt verarbeiten. 200 Millionen Dollar sollen zu diesem Zwecke als Anfangsinvestition getätigt werden.
Krisenmanagement mittels Energieprogramm Die Maßnahmen des kubanischen Staates zur Verbesserung der Situation reichen von der massenweisen Einfuhr von Fahrrädern bis zur Wiederbenutzung von Ochsengespannen in der Landwirtschaft. Die zentrale Rolle spielt jedoch das “Programm zur Entwicklung der nationalen Energiequellen”. Im Juni war das Programm Diskussionsgegenstand in der Nationalversammlung des Poder Popular. Alle Institutionen und die Bevölkerung wurden daraufhin aufgerufen, an der Verwirklichung mitzuarbeiten. Ziel des Programms ist es, in einer ersten Etappe den Beitrag der nationalen Energiequellen auf ein Äquivalent von 3 bis 4 Millionen TonnenErdö1 zu steigern, um im weiteren Verlauf diesen Anteil zu verdoppeln und somit Ca. ein dem Ölimport von 1992 entsprechendes Energiepotential zu erreichen. Gleichzeitig soll eine rationellere Energieverwendung vorangebracht werden.
Zucker, Sonne und Erdöl
Neben dem einheimischen Erdöl stehen Zucker und andere regenerative Ener­giequellen im Mittelpunkt des Vorhabens. Innerhalb der Zuckerindustrie soll durch Strom-und Prozeßwärmeerzeugung mittels dem Verbrennen von Preßrückständen des Zuckerrohrs, der Bagasse, ein Anteil von 45 Prozent bei der heimischen Energieerzeugung zum Ende der ersten Etappe erreicht werden. An zweiter Stelle steht der Ausbau der heimischen Erdölförderung. Die Erschließung neuer Erdöl-vorkommen mit Hilfe ausländischer Unternehmen und Technologie soll eine Bedarfsdeckung von 40 Prozent gewährleisten. Last but not least sollen regenerative Energiequellen wie Wasserkraft, Solarenergie, Windenergie, Biogas etc, gefördert werden und die restlichen 15 Prozent des Energiesolls abdecken. Zusammen kämen die regenerativen Energiequellen nach Abschluß der ersten Etappe somit auf einen Anteil von 60 Prozent an der inländischen Energieerzeugung.’
Das Programm konnte relativ schnell aus-gearbeitet werden, da in Kuba bereits seit 1983 systematischen der Erforschung und Anwendung der regenerativen Energie- quellen gearbeitet wird. in diese Zeit fällt
z. B. die Gründung des “Solarforschungszentrums” in Santiago de Cuba (“Centro de Investigación de la Energía Solar” -CIES) oder die Gründung der “Nationalen Energiekommission” (“Comisión Nacional de Energía” -CNE). Dieser Kommission oblag die Ermittlung der verschiedenen Energiepotentiale und das Er-arbeiten von Verbreitungsprogramrnen (z. B. Verbreitungsprogramm für Klein-und Kleinstwasserkraftwerke), aber auch von Energiesparprogrammen. Die Kommission wurde jedoch im Zuge einer Kabinettsreform im Sommer dieses Jahres wieder aufgelöst. Die Atomenergie und damit das auch in Kuba umstrittene Kernkraftwerk in Cienfuegos spielt im Programm keine Rolle. Allerdings gibt es auch keinen Beschluß, das zu 80 Prozent fertiggestellte Kraftwerk nicht weiter zu bauen. Sollte sich” also ein geeigneter Investor finden, würde
aller Wahrscheinlichkeit nach zu Ende gebaut werden. Viele der NukleartechnikerInnen satteln indes aber bereits auf regenerative Energien um.
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Ein entscheidendes Manko des Programms ist das Fehlen eines konkreten Zeitrahmens, in dem die Bauetappen-: abgeschlossen werden sollen. Begründet wird dies mit der mißlichen Finanzsituation, die eine Aussage über den Zeitpunkt : der notwendigen Investitionen nicht zu; ließe. Damit fehlt aber auch der entscheidende Druck für die Verwaltungen des betroffenen Bereiche, das Programm mit der notwendigen Konsequenz umzusetzen. Alles in allem bedeutet es dennoch einen. enormen Auftrieb für den Ausbau. der Nutzung von regenerativen Energiequellen auf Kuba.
Um Kuba bei der Lösung seiner gravierenden Energiekrise behilflich zu sein, führte KarEn in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Projekte durch. Die guten Rahmenbedingungen, wie die gute Unterstützung seitens der politischen Institutionen und das vorhandene Wissen über Anwendungsbereiche und -formen von alternativen Energien erleichterten die Umsetzung der Vorhaben Zu den wichtigsten gehören: die Finanzierung eines Werkstatt- und -, Laborfahrzeugs zur Installation und Wartung von Photovoltaikanlagen (PV-Anlagen) durch den “Verteilerrat Nord -Süd“ . und KarEn.
-die Elektrifizierung von “Casas del Medico de la Familia” (Arztehäusern) in abgelegenen (Berg-)Regionen mit PV-Anlagen, in Kooperation mit “Sodi e. V.”.
“CubaSi-Dresden” U. a. Dies im Rahmen -eines Gesamtprogramms für ca. 900 solcher “Arztehäuser” in Kuba.
Für die Montage dieser Anlagen wird das oben . genannte Fahrzeug verwendet.

-ein halbjähriger Arbeits-und Weiterbildungsaufenthalt eines kubanischen Ingenieurs beim Elektrotechnikerkollektiv “Wusetronik” in Berlin.
-die Einschätzung des kubanischen Windpotentials. Ein Projekt, das’ vom “Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung (MUNR) in Brandenburg finanziert wird. Es beinhaltete zudem die Fortbildung von zwei kubanischen Ingenieurlnnen in Windmessung und an den Windmeßgeräten.
-die Vernetzung von drei bestehenden Kleinwasserkraftwerken und ihr Anschluß an das nationale Energienetz in Kooperation mit “InterRed” aus Frankfurt/M.
-die Planung eines Wind-Diesel-Hybrid- Systems für Netzparalellbetrieb in einer Fischereikooperative. Dieses Projekt soll die KubanerInnen in die Lage versetzen, selbst solche Systeme aufzubauen. Hierfür ist KarEN noch auf der Suche nach Finanzmitteln.

Bei diesen Projekten arbeitet(e) KarEn mit Forschungseinrichtungen wie dem CIES und mit kirchlichen Organisationen zusammen. in letzter Zeit vertiefen wir die Zusammenarbeit mit neu gegründeten Nichtregierungsorganisationen in Kuba, die sich mit der Verbreitung von alternativen Energien und mit Umweltschutz beschäftigen (z. B. CUBASOLAR und ProNATURALEZA). Dabei stehen bei der gesamten Arbeit von KarEn folgende Ziele im Vordergrund: –die Unterstützung von fortschrittlichen Menschen in Kuba, die sich für die Verbreitung und verstärkte Anwendung von regenerativen Energien einsetzen, und die sich natürlich auch in Kuba gegen gewachsene Strukturen und Vorurteile behaupten müssen.
-die Lösung lokaler Energieprobleme und damit Initiierung einer Dezentralisierung der Energieproduktion in Kuba. Somit wird eine stärkere Einbindung der Bevölkerung erreicht.
-der Transfer von Technologie und Know-How.
-die Unterstützung konkreter Projekte durch Geld und fachliche Begleitung und Beratung, die wir von Dritten (Firmen, WissenschaftlerInnen etc.) erhalten können
-die Forderung direkter technisch-wissenschaftlicher Kontakte, zB. zwischen Forschungseinrichtungen, die Ermöglichung von Praktika oder Forschungsarbeiten hier und in Kuba. Durch solche Kontakte wer-den neue Ansätze und Lösungsmöglichkeiten vermittelt und ausgetauscht.

Zukünftig sollen zusätzlich ‘Projekte durchgeführt werden, die einen “innerkaribischen” Austausch fördern.
Bei der Arbeit hat KarEn mit zwei grundlegenden Problemen zu kämpfen. Erstens werden die anstehenden Arbeiten von den
-noch immer zu wenigen aktiven -Mit-gliedern von KarEn ehrenamtlich bewältigt. Zweitens sind viele staatliche und europäische Fördertöpfe für Entwicklungspmjekte wegen der Blockadehaltung der Bundesregierung und der EU nicht anzapfbar, so daß andere Finanzierungsmöglichkeiten gesucht werden müssen. Dies fordert oft viel. Überzeugungsarbeit, was eine zusätzliche Arbeitsbelastung mit sich bringt.
Somit kann die Arbeit von KarEn vor allem durch eine (aktive) Mitgliedschaft unterstützt werden, aber auch Spenden (auf die unten genannten Konten) sind herzlich willkommen Wer noch mehr über uns er-fahren will, kann uns gerne (an die unten genannte Adresse) schreiben

Die Dinge stehen schlecht

Als der junge Kommunist Carlos Cerda nach dem Putsch im September 1973 wie Tausende seiner Landsleute den Weg ins Ostberliner Exil antritt, beschränkt sich seine literarische Pro­duktion auf einschlä­gig Weltanschau­liches. Der Doktor der Philosophie an der Universidad de Chile, der unter anderem auch Unterricht an der Theaterschule genommen hat, kann auf die Veröffentlichung eines Essays mit dem Titel “El leninismo y la victoria po­pular” (Der Leninismus und der Sieg des Volkes) zurückblicken.
In der DDR weitet Cerda, der dort den Doktortitel für Literaturwissen­schaft er­wirbt und zuletzt an der Humboldt-Uni­versität über lateiname­rikanische Literatur doziert, sein schriftstellerisches Schaffen aus. Er schreibt Erzählungen, Hörspiele, Ro­mane. Im Gegensatz zu vielen anderen ChilenInnen hat er es relativ leicht, auch das Leben westlich der Mauer kennenzu­lernen. Im Dezember 1984 kehrt er nach Chile zurück.
In “Morir en Berlín” zeichnet Cerda den Alltag und die spezifischen Kon­flikte der ExilchilenInnen in kalten Farben und ohne Mitleid. Fremd geblieben in einer grauen und büro­kratischen Welt mit schwer nachvoll­ziehbaren Spielregeln, im Ost­berliner Winter, überschneiden sich und kolli­dieren die Schicksale mehrerer Prot­agonisten(paare):
Zunächst ist da der Chilene Mario, der für die Beziehung mit der Tochter ei­nes Mini­sters seine Frau Lorena ver­lassen hat. Cerda stellt literarischen Bezug zum Mo­tiv der “Medea” aus der griechischen Tra­gödie her: Der Verbannte, der “die Toch­ter des Kö­nigs” zur Frau nimmt, steigt auf, fällt heraus aus dem Chor der Minderpri­vilegierten, der Bewohner des chileni­schen “Ghettos”, für die er zum Fremden wird.
Lorena, die Verlassene, begehrt gegen das enge Korsett staatlicher Bevor­mundung auf und beantragt gegen den erbitterten Protest der mit Partei und Bürokratie kooperierenden chilenischen Oficina die Ausreise nach Mexiko. Sie erfährt vom unerwarteten Besuch ihrer Eltern aus Chile. In einer Szene voll­kommener Trostlosigkeit zerbrechen die “frommen Lügen” der Exilantin, die zur Beruhigung Briefe voller gefäl­liger Schilderungen des Lebens in Deutschland nach Hause ge­schickt hat, aber auch die der Eltern, die in Wirklichkeit im Zuge des wirtschaftli­chen Zusammenbruchs den Glauben an das Pinochet-Regime sowie ihre ganze Habe verloren haben und nun Zuflucht bei der Tochter suchen.
Schließlich der ehemalige Senator, ein alt gewordener orthodoxer Kommunist, des Deutschen nicht mächtig, der aus einer unreflektierten Dankbarkeit dem soziali­stischen Staat und “Gastgeber” gegenüber seine Landsleute zu system­konformem Verhalten anzuleiten sucht. Am Tag, an dem er von seiner tödli­chen Krankheit er­fährt, macht er die Zufallsbekannschaft einer jungen deutschen Tänzerin. In dieser vielleicht ersten echten Begegnung mit ei­ner Bürgerin des von ihm verehrten Staa­tes bekommt er mit einem Mal das ganze Ausmaß seiner Isolation zu spüren. Gleichzeitig aber verschließt er verzwei­felt die Augen vor den Schat­tenseiten ei­nes Sozialismus, der die junge Frau als Vorzeigeobjekt seiner kulturellen “Leistungsfähigkeit” mißbraucht.
Das Buch ist eine – nicht polemische – Abrechnung mit dem System der DDR, das für viele zur Rettung nach der Verfol­gung durch die Militärs ge­worden war, gleichzeitig aber auch eine virtuose und beklemmende Studie über menschliche Abgründe, über das Fest­klam­mern an brüchig gewordenen Ideologien, über Schuld, Lüge und Depression. Dabei be­wahrt Cerda – trotz des kalten, ana­ly­tischen Blicks – eine solidarisch wirkende Anteilnahme am Schei­tern seiner Figuren.

Interview mit Carlos Cerda
Inwieweit spiegeln das Leben und die Konflikte der Personen in Ihrem Buch “Morir en Berlín” Ihre persönlichen Er­fahrungen in der DDR wider?
Jeder Roman ist zu einem guten Teil au­tobiographisch – und jedes Zeugnis einer persönlichen Erfahrung enthält einen großen Anteil an fiktiven und poetischen Elementen. “Morir en Berlín” ist ein Ro­man, der mein Le­ben, aber auch das vieler anderer Chi­lenen in der DDR zum Thema macht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Buch über den Zusammenstoß zwi­schen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich span­nungsreichen, kon­fliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfrem­denden Wirklichkeit dieses Staates. Dessen Fehler sind zu Genüge be­kannt, und ich halte es schlichtweg für eine Dummheit, aus einer falsch verstan­denen Loyalität heraus diese Defizite rechtfertigen zu wollen. Wenn nun Chile­nen, aber auch Deutsche, die in der DDR gelebt haben, mein Buch mit dem Hinweis auf heute ge­schehende, von einem ande­ren System verübte Ungerechtigkeiten kri­tisieren, dann hat das eine mit dem ande­ren einfach gar nichts zu tun. Ich habe Ge­spräche mit vielen Exil-Chilenen geführt, die nach dem Anschluß der DDR ihre Ar­beit, aber auch die Aner­kennung ihrer per­sönlichen Würde verloren haben. Das wa­ren Willkürakte, die mit nichts zu recht­fertigen sind. Aber dieses Buch handelt von etwas ganz anderem, von der Realität in der DDR bis zum Jahre 1985, als ich hier lebte. Ich hätte übrigens nach 1989 die Gunst der Stunde nutzen und in Chile einen Roman über den Fall der Mauer veröffentlichen können – aus kommer­zieller Sicht sicherlich ein größerer Erfolg. Aber das hätte ich unredlich gefunden: Ich kann nur über das be­richten, was ich selbst erlebt habe.
In der Tat habe ich auf indirekte Weise von vielen Seiten Kritik an mei­nem Buch erhalten. Der Tenor dieser Kritik – meist von chilenischen Kom­munisten, die mit mir hier im Exil ge­lebt haben, aber auch von solchen, die in der BRD lebten und gleichzeitig das System der DDR vertei­digten – unter­stellt mir eine Art Verrat. Verrat an den kommunistischen Idealen zu einem Zeitpunkt, da es angebracht wäre, diese mehr denn je zu verteidigen.
Ich habe früher nie einen Hehl aus meiner Mitgliedschaft in der Kommu­nistischen Partei gemacht. Ausgetreten bin ich 1983, ein Jahr vor meiner Rückkehr nach Chile. Seitdem habe ich keine Verbindung mehr zur Partei. Mein Austritt hatte zwei Gründe: Ei­nerseits die absolute Unfähig­keit der Kommunisten, zu erkennen, daß das System der DDR sozialistischen Idealen einfach widersprach. Anderer­seits die verfehlte Strategie des bewaff­neten Kampfes gegen die Diktatur in Chile: Er hat nicht zum Erfolg geführt, aber den Tod von hunderten hervorra­genden Ge­nossen bedeutet. Vor die­sem Hintergrund meiner Trennung von der KP läßt sich mein Buch besser verstehen.
Hat sich in den 12 Jahren ihres Exils in der DDR ihr Urteil über diesen Staat zur Kritik hin gewandelt oder waren Ihnen die Widersprüche der re­alsozialistischen Wirklichkeit von An­fang an bewußt?
Für uns Chilenen, die wir aus einem Land der Dritten Welt – und darüber­hinaus aus einer brutalen Diktatur – in die DDR kamen, war der erste Ein­druck außeror­dentlich positiv. Nicht nur aufgrund der Geste umfassender Solidarität, die uns zuteil wurde. Uns beeindruckte zutiefst ein Staat, der so massiv ein kulturelles Leben förderte; uns faszinierte eine Ge­sellschaft, die sich als antirassistisch defi­nierte. Die Ideale von Gleichheit und Menschlich­keit, die beschworen wurden, schienen unsere eigenen zu sein. Und das Le­bensniveau war in unseren Augen – vielleicht nicht im Vergleich zur BRD – relativ hoch. Vor allem aber hatten wir das Gefühl, in einem Land zu sein, das nach vorn schaute und das – so kam es uns damals vor – gar nicht so viel Angst vor Kritik, vor Dissidenz hatte.
Der erste Schritt zu einer realistische­ren Sichtweise war das Erlernen der deut­schen Sprache. Wir begannen uns mit dem Arbeitskollegen, der Sekretä­rin, dem Taxifahrer zu unterhalten, mit dem Nach­barn, der zum selben Fußballspiel ging. Das waren teilweise sehr offene Gesprä­che. Sie fragten mich: “Warum sind Sie eigentlich hierher ge­kommen?” – “Weil es in meinem Land eine Diktatur gibt.” – “Aber wie konnten Sie denn dann hierher aus­reisen?” – “Ich bin hier im Exil.” – “Aber kann denn ein Chilene, der in sei­nem Land lebt, nach Argentinien, nach Peru, nach Bolivien reisen?” – “Wenn ihm das seine ökonomische Situation erlaubt, natürlich.” – “Sehen Sie, ich kann nicht einmal meine Mutter in Bremen besu­chen.” Solche Gespräche waren irgend­wann aus­schlaggebender als das, was uns der Hauswart oder die Lehrerin über Mar­xismus-Leninismus erzählten. In “Morir en Berlín” habe ich dies in eine Szene zu fassen versucht, in der zwei Chileninnen im “Linden-Korso” auf zwei junge Deutsche treffen, die in die Partei­schule gehen. Da kommt es nicht nur zu einem billigen Flirt, sondern zu einer echten Annäherung, als einer der beiden sagt: “Die Dinge stehen schlecht bei euch und hier auch.”
Desillusionierung angesichts innenpo­litischer Verhärtung
Uns Chilenen jedenfalls gingen späte­stens zu dem Zeitpunkt die Augen auf, als sich die Lage in Polen zuspitzte und Jaruzelski an die Macht kam. Plötzlich wurde offenbar, daß die DDR zweierlei Maß an­legte: Was sie im Falle Chiles so scharf verurteilt hatte, lobte sie auf einmal in ih­rem Nach­barland. Und die Ähnlichkeit der Vor­gänge war erschreckend: das Parla­ment aufgelöst, die Gewerkschaft verbo­ten, die im Ansatz kritische Presse zen­siert – mit anderen Worten: eine Diktatur. Selbst der General Jaruzelski mit seiner dunklen Brille glich dem General Pi­nochet – auch wenn das eine zufällige Parallele ist.
Zuletzt begann sich ja das System der DDR unter dem Eindruck der Ereig­nisse in Polen, später in der So­wjetunion, im­mer mehr zu verhärten. In der Humboldt-Uni, wo ich arbei­tete, wurden plötzlich renommierte und beliebte Dozenten, die nicht der SED angehörten, gegen Partei­kader ausge­tauscht. Es wurde an keinem Punkt mehr eine Öffnung zugelassen. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses habe ich damals die DDR verlassen.
Als ich zurück in Chile war, war der ge­sellschaftliche Protest gegen die Diktatur in vollem Gange. Die regel­mäßigen De­monstrationen auf den Straßen, die offene Ablehnung des Re­gimes hatten eine ziemlich breite Basis, bis diese zusam­menschmolz – nicht zuletzt aufgrund der Option der KP für den bewaffneten Kampf gegen die Militärherrschaft. In die­sem Zusam­menhang stand auch das At­tentat ge­gen Pinochet 1986, das eine enorme Repression, aber auch einen Stim­mungsumschwung zugunsten der Rechten bewirkte. Der Schluß, den ich daraus ziehe, ist, daß die Kommuni­stische Partei hier und dort die falschen Wege ge­gangen ist. Daß ich dies in meinem Buch benenne, hat mir aus diesem Lager freilich schärfste Ablehnung beschert.
Hätten Sie dann nicht schon viel frü­her, noch in der DDR, offen Kritik an den von Ihnen empfundenen Mißstän­den üben sollen?
Im Rahmen meiner Möglichkeiten glaube ich, das getan zu haben. Bei­spielsweise habe ich Anfang der acht­ziger Jahre ein Hörspiel für den Rundfunk der DDR ge­schrieben. Die Geschichte hieß “Die Zwillinge von Calanda” und schilderte auf metapho­rische, aber ziemlich offensichtli­che Weise die Doppelmoral, die Schizo­phrenie von Menschen, die in einem tota­litären System leben: Den Men­schen von Calanda wächst eine Art siamesischer Zwilling aus dem eigenen Körper, der immer das sagt, was der andere gewohnt war zu verschweigen. Am Ende töten diese Menschen ihr verhaßtes, uner­wünschtes alter ego. Als ich mit dem Ent­wurf zu den verant­wortlichen Redakteuren kam, die sehr offen für kritische Töne waren, sagten sie: “Tja, das könnte ganz schön schwierig werden. Aber wenn man ge­nügend lateinamerikanische Musik unterlegt…” Schließlich wurde es gesen­det, und nicht ohne Erfolg. Für mich ist so etwas durchaus Kritik.
Wie wurde Ihr Buch in Chile aufgenom­men? Beschränkt sich das Interesse auf den Personenkreis derer, die auch das Exil durchgemacht haben, oder gibt es eine breitere Aufmerk­samkeit?
Das Buch erschien in erster Auflage im Sommer 1993. Inzwischen ist die vierte Auflage á 3000 Exemplare ge­druckt wor­den, was für Chile einen enormen Erfolg darstellt. Die Kritik war bis auf Ausnah­men sehr positiv, selbst im Punto Final, einer Zeitschrift des linken MIR, wurde es gelobt. Im Mai diesen Jahres hat es den zweiten Preis beim Premio Pegaso ge­wonnen, einem lateinamerikanischen Lite­raturpreis, an dem über 400 Romane aus den Jahren 1990 bis 1993 teilnah­men.
Welche kulturelle, aber auch politische Rolle kann Literatur heute in Chile spie­len? Welche Rolle sollte sie spie­len?
Ich glaube, die Literatur – und die Kunst im allgemeinen – spielt immer eine positive Rolle, wenn es darum geht, ein von Vernunft, von Respekt gegenüber kontroversen Ansichten ge­prägtes Klima zu schaffen. Vor allen Dingen aber schärft sie das moralische Urteilsvermögen. Die Länder Latein­amerikas sind heutzutage im Begriff, wirtschaftlich wieder Fuß zu fas­sen, meine ich. Sie bieten ihre Produkte mit zunehmendem Erfolg auf dem Welt­markt an und stehen davor, Rück­stände aufzuholen, die sich in Jahr­zehnten aufge­baut haben. Aber dieser Prozeß, der an und für sich positiv zu beurteilen ist, birgt die Gefahr, daß unser alltägliches Leben in zunehmen­dem Maße nur noch von den Charak­teristika des Produktionsprozesses und des Konkurrenzdenkens geprägt wird. Unter dem ökonomischen Druck wird un­ser Lebensstil von Tag zu Tag entfremde­ter, vom Prinzip der Kon­kurrenz diktiert. Die Fähigkeit zur Kritik, zum Urteilen, das Gefühl für unsere Identität als Latein­amerikaner gehen dabei verloren.
Bücher sind in unserem Kontinent – und zumal in Chile – ein knappes Gut: Für den größten Teil der Bevölkerung sind sie zu teuer, und Leihbüchereien gibt es praktisch überhaupt nicht. Freilich muß man in Be­tracht ziehen, daß es immer weitaus mehr Leser als Käufer von Büchern gibt. Pro ver­kaufter Ausgabe zirkulieren oft vier oder fünf kopierte Versionen eines Wer­kes. Aber ich finde sehr interes­sant, was Carlos Fuentes vor­geschlagen hat: Die lateinamerikanischen Regie­rungen sollten bei ihrer nächsten Ver­handlung zum Ab­bau von Handels­hemmnissen als ersten Tagesordnungs­punkt die Frage der Lite­ratur behan­deln. Noch vor allen anderen Gütern – Kiwis, Orangen, Kaffee – vor irgendei­nem Pro­dukt unseres Bodens und un­serer Arbeit sollten Bücher – als gei­stige Produkte der Völker unseres Kontinents – ohne einen Peso Abga­ben oder Zölle die Grenzen passieren. Das hätte auch eine Verbilli­gung der Literatur zur Folge.
Vergangenheitsbewältigung der Dikta­tur
Die Hauptfigur in Ihrem Buch, ein Chi­lene im Ostberliner Exil, erklärt ei­ner Deutschen in einer Metapher, daß es “viele Chilenen gibt, die in Weimar woh­nen und von Buchenwald nichts wissen wollen”. Sie ziehen also Paral­lelen zwi­schen der deutschen und der chileni­schen (jüngsten) Vergangenheit. Kann und muß die Literatur in Chile einen Beitrag zu ei­ner Vergangenheitsbewäl-tigung leisten?
Auf jeden Fall. Das muß in der Kunst, in der Literatur geschehen, denn die Politik kann das in Chile nicht leisten, was ich durchaus nachvollziehen kann. In der lite­rarischen Reflexion, aber auch im Theater und im Film können Rechnungen begli­chen werden, können Konflikte ausgetra­gen werden, die auf dem Gebiet der Poli­tik nur zu unheil­vollen Konfrontationen führen würden. Ein Beispiel aus einem anderen Land: Die Konflikte, die der ku­banische Film Fresa y Chocolate auf­greift, werden auf diese Weise bewußter und kon­kreter, als eine Behandlung des The­mas auf politischer Ebene. Wenn wir also heute drängende ethische Fragen, die unser Land beschäftigen – die To­ten, Ver­schwundenen, das Exil etc. – ins Bewußt­sein rufen wollen, dann funktio­niert das besser in der Einsam­keit des Le­sens als in einer Auseinan­dersetzung zwi­schen Par­teien. Die Romane von Heinrich Böll ha­ben mehr zur Aufarbeitung der deutschen Ver­gangenheit beigetragen als die meisten Diskussionen im Bundestag über dieses Thema. Die moralischen Kon­flikte ei­ner Gesellschaft werden am tief­gründigsten durch ihre kulturellen Akti­vitäten bewäl­tigt.
Was wäre – nach Ihren Erfahrungen mit dem Leben in der DDR und vor dem Hintergrund des politischen Pro­zesses in Chile – Ihre Definition, heute links zu sein?
Eine zutiefst humanistische Antwort auf die heutigen Probleme zu geben. Auf die alten, wie Armut, Ungerech­tigkeit, Ras­sismus, Diskriminierung, und auf die neuen: Umwelt, öffentliche Moral, Indivi­dualismus. Für die Linke, wie ich sie defi­niere, gibt es den un­umstößlichen Wert des Menschen und das Verdienst, gegen jede Art von Diktatur gekämpft zu haben – und ge­gen die egoistischen Partialinteres­sen der Unternehmen. Diese Welt ist mo­mentan eine Welt der Unternehmen. Um sie wieder zu einer Welt des Men­schen zu machen, muß der Staat regulie­rend ein­greifen, die Wirtschaft den Inter­essen der Menschen unter­ordnen.
In Chile, glaube ich, läßt die Demo­kratie selbst in ihrer jetzigen Form Platz für alle möglichen Ziele – auch für dieses. Ob im Jahr 2000, wenn eine neue Regierung ge­wählt wird, die Concertación (die Regierungs­koalition in Chile, Anm. d. Red.) weiter­macht wie bisher, oder ob sich die Macht nach links oder rechts verschiebt, ist voll­kommen offen. Aber genau das führt zu einem größeren Verantwortungsbewußt­sein bei denen, die heute Politik machen.
Gibt es irgendeinen Zusammenhang, ein verbindendes Element zwischen den Auto­ren der sogenannten “Nueva Nar­rativa Chilena”, der auch Sie zu­gerechnet werden?
Es gibt einen Zusammenhang, der über die Tatsache hinausreicht, daß wir mehr oder weniger der selben Genera­tion an­gehören. Ich halte es für ein relativ neues kulturelles Phänomen in Chile, daß ausge­rechnet chilenische Autoren zu den meist­gelesenen gehö­ren. Es ist ungeheuer be­deutend für ein Land wie das unsere, daß auf ein­mal die eigene Literaturproduktion im Mittelpunkt des Interesses steht. Wohlgemerkt: das soll zu keinem kul­turellen Nationalismus führen. Aber früher gab es einfach kein Vertrauen in unsere eigene Literatur. Kein Wunder, denn wer seine Bücher während der Diktatur veröf­fentlichen konnte, mußte ja von vornher­ein das Plazet der Zen­sur erhalten haben. Genauso war es unter der Franco-Herr­schaft in Spa­nien: Plötzlich gab es einen Nachfra­geboom nach latein­ame­rikanischer Li­teratur, denn zensierte Kul­tur hat nun mal einen faden Beige­schmack.
Was die Nueva Narrativa Chilena an­geht, so vereint sie AutorInnen mit teil­weise sehr unterschiedlichen politi­schen Über­zeugungen, mit sehr ver­schiedenen Stilen, und das ist gut so. Wir sind kein Fußball­team, wir suchen kein gemeinsa­mes Pro­gramm, sondern wollen unabhän­gig von­einander dem Beruf des Schrei­bens nach­gehen.
Zu guter letzt: Was machen Sie jetzt, und was sind Ihre Projekte?
Ich schreibe an einem neuen Roman und an einem Hörspiel. Darum dreht sich für mich momentan alles: weiter­schreiben und weiterleben.
Und vom Schreiben leben?
Nie und nimmer! Das können die wenig­sten, und in Chile schon gar nicht. Was mich betrifft, ich arbeite vormittags in ei­ner Werbeagentur, die ich auch leite. Die Nachmittage gehö­ren dann ausschließlich der Schrift­stellerei.
Stellt das für Sie keinen Widerspruch dar, Werbung und Literatur?
Schon. Aber man muß eben lernen, mit Widersprüchen zu leben.
Herr Cerda, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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