Eine Tragikomödie

“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Par­tei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Haupt­darsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestem­pelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu be­zeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen ein­sichtig und akzeptiert noch in der Wahl­nacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Er­gebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeob­achterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millio­nen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerk­schaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahlti­schen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tin­tenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Li­sten auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinsti­tuts (IFE) durch die Akten der Stimmab­gabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der über­prüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwi­schen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stim­men.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlin­stituts versuchte, die Angriffe zu entkräf­ten und seinerseits die Akten zu überprü­fen. Nachdem zwei von drei Wahlunterla­gen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexi­kanischen Medienstationen mit der Em­pfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergange­nen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Pro­testaktionen von PRD und PAN, Demon­strationen, Straßenblockaden und Beset­zungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen statt­fanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Lände­reien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrin­ken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Re­gierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten in­formierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jah­ren mehrmals auf Bundesstaatsebene an­gewendet wurde: eine Übergangsregie­rung, die im Laufe der nächsten 18 Mo­nate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundes­staaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN er­gab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauh­témoc Cárdenas rief die militante Basis sei­ner Partei auf, einen kühlen Kopf zu be­wahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich han­delt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säu­bern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentie­ren, noch bevor der neue Kongress am 1. No­vember seine Arbeit aufnimmt. Eine neu­gegründete Kommission der Wahr­heitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persön­lichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlag­wort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – dar­auf, den Oppositionsparteien alle Wahl­unterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzu­nehmen. Es gibt Gruppen im Land, be­waffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politi­sche System mit einem Gang zur Wahl­urne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar be­deutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Prä­si­dent­schafts­wahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Er­ne­sto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Pro­zent der Stimmen”, meint Jorge Casta­ñeda, re­nommierter mexikanischer Politikwissen­schaftler. Er ist nicht allein mit der Auf­fassung, daß es für die politi­sche Zukunft des Landes gesünder gewe­sen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hin­zu­ar­bei­ten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Ze­dillo Grund gibt, die Reformen durch­zu­füh­ren, die er während seines Wahl­kamp­fes versprach: Demokratisierung und tief­grei­fende Reformen seiner Partei.

Zwischen Hoffnung, Banalität und Farce

Während “Nación Purhépecha”, eine re­gionale Koordination der Dorfgemeinden, alle Aufahrtsstraßen blockiert, und so das Hochland zumindest einen Tag lang sym­bolisch die erstrebte Territorialautonomie erreicht, ziehen Beamte des Landwirt­schaftsministeriums durch die Dörfer und verteilen PROCAMPO-Schecks. Das sind umgerechnet 200 Mark-Almosen, die jede Bauernfamilie aus dem “Programm zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der mexikanischen Landwirtschaft” gegenüber den NAFTA-Partnern Kanada und den USA, erhält.
Als Gegenleistung müssen sich die Bau­ern verpflichten, die “solidarische” Hilfe bei den Wahlen entsprechend zu würdi­gen. Nur in einigen, besonders kämpferi­schen Gemeinden betonen die campesinos ihr Anrecht auf Gelder der öffentlichen Hand und werfen die Beamten aus dem Ort. Gleichzeitig ziehen PRI-Führer durch die Dörfer und kaufen in letzter Minute ein paar Stimmen in dieser cardenisti­schen, also oppositionellen Region. Die Herren Ruíz, Toral und Velásquez, die PRI-hörige Elite von Paracho, tauschen Stimmen gegen Lebensmittelpakete.. Währenddessen beglückt das Gemeinde­kommittee der PRI in Cherán fieberhaft die Jungwähler mit Alkohol (1 Stimme = 1 Liter “Ron Presidente”), die campesinas mit Kilopackungen Tortillas und Bohnen und ihre Männer mit 50- bis 300 Peso-Scheinen; einige wichtige Familien erhal­ten Kälber als Geschenk, und die Bewoh­nerInnen des vor ein paar Jahren entstan­denen Slums am Dorfeingang werden mit Wellblechdächern beglückt.
Eine saubere Wahlmanipulation
Eine andere Variante der “Un­regel­mäßig­keiten” ist das Einziehen der persönlichen Wahlausweise, um Du­plikate anzuferti­gen, oder um sie ganz einzubehalten. In Nuro, einem rein cardenistischen Dorf, verschwinden so vierzig Ausweise, die von Doña Celia Ru­bio, der Frau des Kazi­ken, eingesammelt werden. In Paracho willigt eine Frauenko­operative sogar ein, ihre Ausweise dem PRI-Ortsvorstand aus­zuliefern – gegen das Versprechen, Kre­dite für sie zu beantra­gen. Angesichts die­ser althergebrachten Fälschungspraktiken, die entgegen allen “Modernisierungs-” und Öffnungsverspre­chen in den letzten Tagen um sich greifen, breiten sich Wut und Verzweiflung aus. Die Leute be­fürchten, daß sich die Wahl­situation von 1988 wiederholen könnte: Die Trends sprachen für die Oppo­sition, aber dann fiel der Zentralcomputer der Wahlbehörde angeblich aus. Ergebnis: PRI-Kandidat Salinas gewann.
Die große Mehrheit der Purhépecha trö­stet sich damit, daß ja diesesmal Wahlbe­obachter zugelassen sind und daß die großen Abschlußkundgebungen der Kan­didaten für einen deutlichen Sieg von Cárdenas sprachen. Entsprechend hoch ist die Wahlbeteiligung. Ab acht Uhr mor­gens bilden sich Schlangen vor den Ur­nen, alle warten geduldig darauf, ihren Wahlausweis vorzuzeigen, ihren Namen im WählerInnenverzeichnis wiederzufin­den, die drei Stimmzettel – für die Prä­sidentschaftswahlen sowie für die zwei Kammern des Nationalparlaments – auszu­füllen und abzugeben und schließlich ih­ren rechten Daumen mit waschfester Tinte zu markieren. Skeptische WählerInnen prüfen sofort, ob ihr Tintenfleck waschfest ist: Er ist es.
Wahlhelfer aus einer Großfamilie
In Tacuro bildet die ortsansässige PRI-Kazikenfamilie den Vorstand der einzigen Wahlkabine, und das, obwohl doch die Zusammensetzung aller Wahlvorstände einer Zufallsstichprobe entsprechen sollte! Auch in anderen Orten sind auffällig viele Kader der PRI-Minderheit in den Vor­stand gelangt und kontrollieren die Urnen. In Cherán finden sich nicht nur sämtliche Tote im Wahlverzeichnis, sie haben sogar schon allesamt zu früher Stunde gewählt! Dagegen müssen wirk­lich lebende Purhé­pecha unverrichteter Dinge nach Hause gehen, da sie trotz Be­sitz eines Wahlaus­weises nicht im Ver­zeichnis auftauchen und folglich gar nicht existieren.
Bei wackeligen Mehrheiten
wird nachgeholfen
Paracho, PRI-Festung im Hochland: Der Kazike Don Jesús Carranza , Besitzer der größten Gitarrenfabrik der Region ver­spricht seinen Arbeitern: “Wenn ihr PRI wählt, gibt es eine Lohnerhöhung, wenn nicht, werdet ihr entlassen!” Dann werden seine Tagelöhner zur nächsten Wahlka­bine gefahren, wo sie unter Aufsicht des Vorarbeiters ihr Kreuz machen.
In der Dämmerung
beginnt die Arbeit
Als die Wahllokale schließen, beginnt die Mobilisierung. Nur wenigen Wahlvor­ständen gelingt es, die Stimmenauszäh­lung ganz ohne ZeugInnen durch­zuführen, fast überall bilden sich Men­schentrauben um die Urnen, um zu ver­hindern, daß noch im Nachhinein weitere “Gespenster” wählen. Dennoch leistet der von der PRI gekaufte Wahlvorstand in Zopoco ganze Arbeit: Präsident und Se­kretär sprinten mit den drei Urnen des Dorfes zur bereit­stehenden camioneta und verschwinden. Wie später in der Di­strikthauptstadt be­kannt wird, erringt die Regierungspartei in Zopoco – als einzige Gemeinde in der Re­gion – eine knappe Mehrheit…
In der Nachbargemeinde Nurío, in der die Opposition 840 Stimmen und die Regie­rungspartei 7 Stimmen errungen hat, ver­sucht eine Patrouille der politischen Poli­zei, die Urne zu entwenden. Die Dorfbewoh­nerInnen strömen auf den Platz, um die Urne zu “retten” – solange, bis die Pa­trouille sich geschlagen gibt. Viele ver­bringen die Nacht in Gruppen um Fernse­her versammelt, um die ersten Hochrech­nungen abzuwarten. Zweifel und Be­fürchtungen werden bestätigt, als ein schweißgetränkter Innenminster auf der Bildfläche erscheint und mit gefrorenem Lächeln erklärt, es werde “aus informati­onstechnischen Gründen” keine Hoch­rechnungen der staatlichen Wahlbehörde geben, und das Verbot der Veröffentli­chung von Hochrechnungen der Nichtre­gierungsorganisationen bleibe bestehen. Dann, kurz nach Mitternacht, erste “Trends”: mindestens 50% für die Regie­rungspartei.
Dorfbewohner, die aus Chiapas von den ZapatistInnen zurückkommen, fassen die Entscheidungen der “Nationalen Demo­kratischen Konvention” zusammen: Wahlen waren immer nur ein Weg unter vielen. Sie sind gescheitert, nun beginnt der zivile und bewaffnete Widerstand.
Glocken läuten
den Widerstand ein
Am nächsten Morgen beginnt in Cherán, im Kerngebiet der Purhépecha, die “insurgencia civil”. Glocken läuten, alle kommen auf der Plaza zusammen, die Frauen mit Keulen und die Männer mit Macheten bewaffnet, die politische Polizei zieht sich zurück und funkt in die Pro­vinzhauptstadt. Während die Männer noch die letzten Wahlergebnisse diskutieren, besetzen die Frauen das Gelände des “Nationalen Indígenainstituts” (INI), einer Regierungsbehörde zur “Integration der indianischen Bevölkerung in die nationale Entwicklung”. Der einzige indianische Hochlandsender des INI verbreitet darauf­hin zum ersten Mal in zehn Jahren unzen­sierte Interviews mit den Purhépecha. Die Bundesstraße nach Guadalajara wird blockiert; Touristenbusse werden ange­halten., – “um Cárdenas in den National­palast zu bringen”. Auch die LKWs von Coca-Cola und anderen multinationalen Unternehmen werden beschlagnahmt. Ganz Cherán gleicht einer Wagenburg; Fahrer und Fahrgäste aus den Großstädten irren herum. Die Büros sämtlicher Regie­rungsinstanzen werden gestürmt. Die Be­amten werden “in den Urlaub nach Aca­pulco” geschickt, die Gebäude versiegelt. Ein Regenguß bewahrt das örtliche PRI-Büro vor einem ähnlichen Schicksal.
Chaotische Zustände
Am anderen Ende des Hochlands, in der Caoada, geht nichts mehr: Alle Straßen sind blockiert, nicht einmal die politische Polizei kann die Region verlassen. Die Regierung schickt daraufhin einen Mili­tärhubschrauber, der im Tiefflug über die Dörfer kreist, um “Aufrührer” zu fotogra­fieren. Ein Landeversuch auf der Plaza von Paracho erscheint allerdings ange­sichts der auf­gebrachten BewohnerInnen für die Mili­tärs lebensgefährlich, sie flie­gen weiter. Beim zweiten Versuch in Cherán be­reiten die BlockiererInnen ihren Besu­chern ein wahres Feuerwerk: Mit Böllern und Raketen wird der Hubschrau­ber so lange beschossen, bis er hinter der Vul­kankette verschwindet. Eine Versamm­lung wird einberufen. Was soll gesche­hen? Bloß vor den Fernsehern hoc­ken und fluchen? Ein junger Lehrer schlägt vor, alle PRI-AnhängerInnen aus dem Ort zu treiben, ihnen die kommuna­len Land­rechte abzuerkennen. Eine ältere Frau greift kopfschüttelnd ein: “Das sind doch auch Purhépecha wie wir! Was wür­dest Du tun, wenn Deine Frau nach einer schwierigen Geburt zu Hause im Sterben liegt und Dir der Kazike gegen eine lä­cherliche PRI-Stimme ein Bett im Kran­kenhaus in der Stadt anbietet? Wir sind doch alle so arm, daß wir leicht zu kaufen sind. Nicht die PRI-Leute unter uns sind schuld, sondern die Regierung, Laßt uns nicht gegeneinander kämpfen!” Nicken, breite Zustimmung. Als Kompromiß wird beschlossen, die lokalen PRI-Anführer nicht mehr im Gemeinderat zuzulassen. Was tun? Die politische Polizei entwaff­nen und ihre Wagen verbrennen? Der be­sonnene Don Chano winkt ab: “Aber dann kommt das Militär, und ich sag`s Euch, die sind noch schlimmer, fragt unsere Brüder und Schwestern in Chiapas!” Überhaupt Chiapas – “Warum glauben wir immer noch an Urnen und Stimmzettel, nach soviel Betrug? Was haben wir die letzten zehn Jahre getan, als sich die Za­patistas in der Selva organisiert haben, sich Waffen beschafft haben und trainiert worden sind? “Eine Nachbarin wendet ein, Chiapas sei ja reich, es gäbe Kaffee, Zuk­kerrohr und Rinderherden, davon könne man Waffen kaufen, aber doch nicht von unserem Mais, von unseren Bohnen. Krieg führen mit leerem Magen? Der Re­gen und die Dämmerung lösen das Treffen langsam auf; Einigkeit wird darüber er­zielt, Kräfte zu schonen und gemeinsam am Samstag zur “Eroberung” des Zócalo, des Haupt­platzes von Mexiko-Stadt, zu fahren, um “unseren legitimen Präsidenten Cuauhtémoc Cárdenas” in sein Amt ein­zusetzen – Busse gäbe es ja jetzt zur Ge­nüge. Und was die Sache mit den Waffen betrifft, mal sehen…

Cardoso auf dem Weg ins Präsidentenamt

Plano Real als Königsmacher
Die Antwort ist relativ einfach: Der Erfolg des neuen Wirtschaftsplans ist die primäre Ursache für den Aufstieg von Fernando Henrique Cardoso oder FHC, wie er in Brasilien häufig genannt wird. Dessen Karriere als aussichtsreicher Präsident­schaftskandidat begann im Oktober 1993 als Wirtschaftsminister in der Regierung Itamar. In diesem Amt legte er die Grundlagen für einen neuen Stabilisie­rungsplan, der die zuletzt bei 45 Prozent pro Monat liegende Inflation eindämmen sollte. Aber diesmal war es kein über Nacht erlassener Schockplan, sondern ein transparentes, ausgehandeltes Vorgehen ohne Überraschungen. Cardoso konnte als Wirtschaftsminister nur die Grundlagen für diesen Plan legen, aber dies reichte schon aus, um ihn in den Augen vieler als einzige realistische Alternative zu Lula er­scheinen zu lassen. Im April 1994 mußte FHC aufgrund der brasilianischen Wahl­gesetze sein Amt niederlegen, um offiziell seine Kandidatur für die PSDB – die sich gern als sozialdemokratische Partei Brasi­liens sehen würde – anzumelden. Die Exe­kution des Planes blieb seinem Nachfolger, dem Karrierediplomaten Re­cupero vorbehalten. Am 1. Juli, während der Fußball-WM, trat der Plan in seine entscheidende Phase. Die neue Währung Real ersetzte den maroden Cruzeiro. Wäh­rungsreformen sind in Brasilien allerdings keine Neuigkeit. Der Real ist die siebte Währung Brasiliens seit 1987. Diesmal wurden zwar nicht nur wie sonst lediglich drei Nullen gestrichen und der Name ge­ändert. Die neue Währung ist an den US-Dollar gekoppelt und die Zentralbank ga­rantiert, daß ein Real nicht weniger als ein Dollar wert sein kann. Diese Umstellung einer Wirtschaft, die weit weniger “dollarisiert” war als etwa die argentini­sche vor einer ähnlichen Operation, wurde durch die Einführung einer Rechnungs­einheit (ein URV = ein Dollar) vorberei­tet. Damit sollten die BrasilianerInnen an ein neues und stabiles Preisniveau ge­wöhnt werden. Am 1. Juli wurde schließ­ich die größte Währungsumstellung in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, so die brasilianische Presse. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde die alte Währung aus dem Verkehr gezogen und durch die neuen “Reais” ersetzt. Verständlicher­weise kam es am Anfang zu einigen Um­stellungsschwierigkeiten. Hilflos standen die BrasilianerInnen an den ersten Tagen des Planes vor den neuen Preisen in den Supermärkten und versuchten mit Tabellen und Taschen­rechnern zu ermit­teln, wieviel denn etwa 53 centavos für eine Dose Erbsen seien. Der am letzten Tag des Junis fixierte Umtauschkurs zum Cruzeiro von 1:2750 erleichterte die Rechnerei nicht gerade. Ungewohnt war auch der Umgang mit Münzen, die auf­grund der hohen Inflation fast vollkom­men aus dem Gebrauch ge­kommen waren. Insgesamt vollzog sich nach diesen An­fangsschwierigkeiten die Umstellung aber erstaunlich reibungslos.
Stabile Preise =
Steigende Popularität
Nach zwei Monaten kann nun ein erstes Fazit gezogen werden. Der Wirtschafts­plan hat in den von seinen Schöpfern vor­gegebenen Koordinaten funktioniert. Praktisch alle Preise, mit denen die Nor­malbürgerInnen alltäglich konfrontiert werden, sind seit Inkrafttreten der neuen Währung stabil geblieben. Die Preise für Brot und Reis sind sogar gesunken. Wäh­rungsstabilität ohne Preisstop, das ist schon ein kleines Wunder in Brasilien. Aller­dings wurden die Preise in der Regel auf einem sehr hohen Niveau in den Real um­gewandelt, während für die Löhne ein Mittelwert von vier Monaten zugrunde gelegt wurde. Am Anfang hielten sich die Klagen über hohe Preise und die Zufrie­denheit mit der Stabilität die Waage. Be­günstigt wurde der Plan durch einen inter­national schwachen Dollar und steigende Kaffeepreise. Überraschend fiel der Dol­larkurs auf 0,89 Real, also weit unter der von der Zentralbank garantierten Parität. Aufgrund des hohen internen Zinsniveaus besteht weiterhin eine hohe Nachfrage auch internationaler AnlegerInnen nach dem Real, was zu dem Verfall des Dollar­kurses führte. Zudem explodierten die Börsenkurse sobald sich der Aufstieg Cardosos in den Umfragen abzeichnete. Unruhe machte sich allerdings in der Re­gierung breit, da der offizielle Inflations­index noch für August einen Wert von 5,5 Prozent anzeigt. Seitdem ist ein Streit um die verschiedenen Indices entbrannt, die alle andere Inflationsraten im Spektrum von von 0 bis 8 Prozent angeben. Die Re­gierung ar­gumentiert, ihr Index spiegele noch die In­flation in Cruzeiro wieder, die Inflation sei also “residual” und nicht ak­tuell. Tatsäch­lich nähern sich Indices, die nur die Ver­braucherpreise nach Einfüh­rung des Reals berücksichtigen, der 0 Pro­zent Marke. Lediglich saison-bedingtes Ansteigen der Obst- und Gemüsepreise wirken sich hier negativ aus.
Der Plano Real erweist sich bisher als ein technisch recht solider Stabilisierungsplan ohne soziale Komponente. Er ist bewußt nicht mit einem Kaufkraftanstieg oder ei­ner Lohnsteigerung verknüpft, um nicht durch eine “Konsumexplosion” die Preis­stabilität zu gefährden. Auf der anderen Seite erweist sich der Plan bisher nicht als rezessiv. Das brasilianische Bruttosozial­produkt wird dieses Jahr wohl um 3 bis 4 Prozent wachsen. Die Anpassung der Preise auf hohem Niveau dürfte für die unteren Einkommensgruppen durch den Wegfall der Inflationsverluste zumindest annä­hernd kompensiert werden, zumal der Mindestlohn zum 1. September von 64 auf 70 Real anstieg. Längerfristige Struktur­schwierigkeiten, die vor allem mit dem Problem der internen Verschuldung zu tun haben, werden sich wohl erst nach den Wahlen einstellen. Auch ist zu fragen, wie lange eine Wirtschaft ein so hohes Real­zinsniveau (etwa 20 Prozent pro Jahr) durch­halten kann. Hier bleibt Brasilien ein Son­derfall einer entwickelten kapitalisti­schen Ökonomie, die fast ohne Kredit funktio­niert.
Ein neuer Optimismus
im Land der Weltmeister
Fernando Henrique Cardosos Popularität wuchs mit und aufgrund des Planes. Des­sen bescheidene und zunächst kurzfri­stige Stabilisierungseffekte haben das Land zwar nicht wie zu den Zeiten des Cruzados in Euphorie versetzt, aber neuen Optimismus wachsen lassen. Da paßte der Gewinn der Fußball-WM gut in die Land­schaft. Die Regierungspropaganda ver­sucht dies auch direkt auszuschlachten: “Wir haben in der WM gesiegt. Nun wer­den wir die Inflation besiegen”, verkünden riesige Plakate allerorten. Der Sieg von Romário und Co. hat das alte Gespenst be­siegt, daß dieses Land einfach zur Er­folgslosigkeit verurteilt sei. Und wie der Erfolg im Fußball nicht den Glanz der Zeiten Pelés wiederbelebte, so ist man in der Politik mit einem Plan zufrieden, der zwar nicht alle Probleme des Landes löst, aber doch ein Stückchen Stabilität bringt. Fernando Henrique versucht mit jeder Fa­ser seines Körpers, insbesondere aber mit seinem Gebiß, diesen neuen Optimismus in Szene zu setzen. Ein lachender und heiterer Kandidat, kaum einmal agressiv gegen seine Gegner, eher mild mitleidig. So präsentiert sich der alte Dependenz­theortiker heute als Protagonist eines breiten Bündnisses, das inzwischen einen guten Teil des Rechten Lagers absorbiert hat. “Er übermittelt die Idee von Sieg, Größe, Glück und Essen im Magen. Der andere (Lula), verkörpert die schmerzhafte Wunde, das Bild des Hungers. Lula ist hervorragend in seiner Analyse. Aber das Volk will keine Analysen hören. Es will Lösungen spüren, an die es glaubt.” So charakterisiert der Politologe Gaudencio Torquato den Gegensatz zwischen Lula und FHC.
Im Land des real existierenden Hungers scheint tatsächlich die schwam­mige Idee eines neuen Aufschwungs eine ausrei­chende Grundlage zu geben, um einen Präsidenten zu wählen. Oder wie es der Filmemacher Caca Diegues (“Bye, Bye Brasil”) formulierte: “Wir lernen wieder Brasilien zu mögen.” Gegen das Sieger­image von Cardoso ist Lula immer­hin überhaupt noch der einzige Kandidat, der ernsthaft Widerstand leistet. Alle anderen, wie Brizola oder Quercia, düm­peln aus­sichtslos bei der 5 Prozent Marke herum, genauso wie der erzreaktionäre Po­li­tik­clown Eneas mit dem Hauptslogan: “Mein Name ist Eneas”.
Die Antwort der PT:
Klagen und Kampf
Der plötzliche Aufstieg des Fernando Henrique hat Lula und seine Arbeiterpar­tei (PT) auf falschem Fuße erwischt. Im Mai hatte die PT noch Hoffnungen ge­hegt, bereits im ersten Wahlgang zu ge­winnen, und unter den Anhänger machte sich eine siegessichere Stimmung breit. Auf der Suche nach den Ursachen für den Niedergang beschuldigt die PT vorwie­gend die Medien, allen voran den dominieren­den Fernsehsender Globo, massiv FHC zu unterstützen. Ebenso kriti­siert sie, daß der Regierungsapparat durch die Propaganda für den Plan mehr oder weniger offen in den Wahlkampf ein­greife. Die Kritik am Plano Real scheint jedoch einfach nicht zu greifen. Zwar rechnen die PT-Ökonomen vor, daß der Plan drastische Lohneinbußen gebracht habe, aber die Linke scheint zu unter­schätzen, daß Stabilisierungserfolge durchaus “Opferbereitschaft” mobilisieren können. Und gegen den oben beschriebe­nen diffusen Optimismus läßt sich an­scheinend nur schwer gegenargumentie­ren.
Noch gibt die PT allerdings die Schlacht nicht verloren. Die Anhängerschaft der Partei (“Militancia”) soll nun verstärkt auf der Straße den Wahlkampf führen. Ziel ist es, wenigstens einen zweiten Durchgang zu ermöglichen um so nach einer ersten Ernüchterung über die Effekte das Planes das Blatt wenden zu können. Der Einsatz der Aktivisten wird allerdings dadurch er­schwert, daß am 3. Oktober auch die Gouverneure sowie Landtags- und Bun­desparlamentsabgeordenete gewählt wer­den. Aufgrund des brasilianischen Wahl­systems sind auch diese Wahlen in höchstem Grade personalisiert, so daß ein großer Teil der AktivistInnen von dem Wahlkampf für seinen/ihren Abgeord­ne­ten absorbiert ist. Jedenfalls will der Schwung und Einsatz, der den Wahlkampf Lulas 1989 charakaterisierte, noch nicht recht aufkommen. Die PT wird es schwer ha­ben, einen Wahlsieg Cardosos zu verhin­dern, wenn nicht noch Unvorher­gesehenes passiert. Was in Bra­silien schließlich keine Seltenheit wäre.

Kasten:

Wirtschaftsminister verplappert sich!

“Ich habe keine Skrupel. Was gut ist, stellen wir heraus, was schlecht ist, verbergen wir,” sagte kein geringerer als Wirtschaftminister Recupero. Zustande kam diese Äu­ßerung hinsichtlich des Wirtschaftsplans im vertrauten Gespräch vor einem Interview mit einem Globo Reporter. Was beide nicht ahnten: Die Satellitenübertragung zwi­schen Brasilia und Rio, nur für den internen Gebrauch von Globo bestimmt, wurde von einigen Parabolantennenbesitzern empfangen und aufgezeichnet. Der Skandal war perfekt. Ricupero gab offen zu, den Regierungsapparat in Unterstützung für Fernando Henrique einzusetzen und bestätigte somit alle Beschuldigungen der PT. Als der ge­samte Wortlaut des Gesprächs bekannt wurde, zögerte Präsident Itamar nicht: Recu­pero wurde entlassen. Die Überraschung in der brasilianischen öffentlichkeit war be­sonders groß, da sich Recupero als gelernter Diplomat in der Öffentlichkeit immer mit betonter Bescheidenheit in Szene setzte und gut das Image des ehrlichen Katholiken verkaufen konnte. Sein Ausspruch “ich habe keine Skrupel” bestätigt geradezu sym­bolhaft alle negative Voreingenommenheit gegen brasilianische Politiker. Zudem legte Recupero eine unglaubliche Arroganz an den Tag: “Die Regierung braucht mich mehr als ich die Regierung.” Für die PT erschien die Indiskretion des Ministers als ein Ge­schenk des Himmels und Anfang des Niedergangs von Fernando Henrique. Sie fordert gar die Annulierung dessen Kandidatur wegen verbotener Parteinahme der Regierung für einen Kandidaten. Es bleibt aber abzuwarten, ob der Fall Recupero mehr als eine Episode sein wird. Die Börse reagierte mit einem drastischen Kurssturz.
Nachfolger Recuperos wurde am 8. September Ciro Gomes, Parteigenosse von Fer­nado Henrique und populärer Gouverneur von Ceará. Diese Wahl könnte nach ersten Turbulenzen durchaus die Position Fernando Henriques stärken. Ciro Gomes ist ange­sehen, gilt als effektiv und nicht korrupt, hat als Gouverneur in Ceará ein gutes Bild gemacht und verstärkt eher die Verbindung zwischen Plano Real und der Kandidatur Cardosos.

Exil im eigenen Land

Nascimento hat seit Ende der 80er Jahre nicht aufgehört, die Hintermänner von Todesschwadronen zu ermitteln und mit Namen zu nennen. Begonnen hat er mit dieser Recherche-Arbeit, als 1986/87 in 19 Monaten 21 Kinder und Jugendliche aus seiner Straßenkindergruppe ermordet wurden und daraufhin das von ihm initi­ierte Zentrum in der Favela do Lixao ge­schlossen werden mußte.
Die Recherche und Öffentlichkeitsarbeit machten Nascimento bekannt, vor allem aber kamen die Strukturen der mörderi­schen Kartelle der Macht ans Tageslicht, die Verquickung von legaler und extrale­galer Repression.
“Wer die Macht angreift, der bleibt nicht ungestraft” – nach diesem Motto war das Delikt schnell konstruiert, von eben jenen Richtern (Rubem Medeiros, Luíz Cesar Bittencourt, Renato Simoni und Mario dos Santos Paulo), die in die Strukturen der Todesschwadronen verwickelt sind: Üble Nachrede – gegenüber denjenigen, die die Macht haben.
Asyl in Europa keine Alternative
Nascimento hätte sich der Verhaftung durch Flucht entzogen, denn Gefängnis bedeutet für ihn den sicheren Tod. Als er in diesem Frühjahr nach Europa reisen konnte, als das Europäische Parlament zu seinem Fall und den Morden an Straßen­kindern eine Resolution abfaßte, machte sich Nascimento nochmals Hoffnungen: Er hätte sich in Brasilien in eine Botschaft geflüchtet und politisches Asyl beantragt. Aber die Reise in die Festung Europa hat ihn in jenem Monat vor Augen geführt, was politisches Asyl heißt, hätte er es überhaupt bekommen. Die Internierung in ein Lager, wie es nach deutscher Norm mittlerweile in der EU üblich wird, hielt er nach genauen Erkundigungen für derart unmenschlich, daß er diese Alternative verworfen hat. Er fuhr zurück nach Rio de Janeiro, in Erwartung der Urteilsbestäti­gung. Und Davi, seinen jüngsten, wenige Tage alten Sohn, hatte er noch nicht gese­hen.
Anfang Juli 1994: Viele ErzieherInnen und Straßenkinder-Engagierte hat Nas­cimento von seinem neuen Wohnsitz aus zu einem Fortbildungs-Seminar gela­den, The­ma: Wie können die rechtlichen Mög­lichkeiten in der Kinder- und Jugend­arbeit voll ausgeschöpft werden. Zu dem Semi­nar reisten mehr als hundert Perso­nen an, viele von ihnen direkt bedroht we­gen ihres mutigen Engagements für die Straßenkin­der. Aber das war nicht Thema des Semi­nars.
Ein Nachsatz, eine Überlegung: Ist es eine lateinamerikanische Besonderheit, daß man sich der staatlichen und parastaatli­chen Bedrohung – der Drohung, umge­bracht zu werden – durch Ortswechsel ent­ziehen kann? Durch Verlassen der Kon­flikte in der Großstadt? Oder ist es ein Anzeichen für die neue lokale Aufteilung der Macht, der zersplitterten Einflußberei­che von bewaffneten halbstaatlichen Ban­den und Milizen, wie es mehr und mehr auch in einigen Teilen von Europa zu be­obachten ist?

Wie Shakespeares Hamlet zum Bahiano wurde

Gemeinsam mit der Theatermacherin und Psychologin Maria Eugenia Milet und Streetworkern des mittlerweile internatio­nal bekannten Straßenkinderprojektes “Projeto Axé” planten sie einen theater­pädagogischen Workshop für etwa 50 Kinder aus allen sozialen Schichten, dar­unter mehrheitlich “KlientInnen” von “Projeto Axé” und einigen Mitgliedern der Jugendtheatergruppe NOSSA CARA. Vier Monate lang wollten die Workshop-TeilnehmerInnen das Thema Gewalt in Improvisations- und Rollenspielen bear­beiten. Damit sollte den Kindern die Möglichkeit gegeben werden, ihre trau­matischen Erfahrungen des Straßenlebens spielerisch auszudrücken und aufzuarbei­ten. Als künstlerisches Ergebnis dieses gemeinsamen Lernprozesses war von An­fang an eine Theaterproduktion über das Leben der “meninos da rua” (Str­aßen­kinder) angepeilt. Eine mögliche Vorlage für ein solches Theaterstück hatte Volker Quandt im Reisegepäck: das Ma­nuskript von Shakespeares Hamlet. Außer einer guten Story – so schreibt Quandt in einem Bericht über seine brasilianischen Erfahrungen – reizten ihn am HAMLET die klassischen Motive wie Macht, Verrat, Liebe und Tod und deren Übertragbarkeit auf die aktuelle Situation eine Straßenkin­derbande. Da die HAMLET-Idee jedoch auf keinen Fall die theaterpädagogische Arbeit beeinflussen sollte, blieb Shake­speares Klassiker wochenlang in Quandts Reisegepack vergraben, aber natürlich er­hoffte sich das Dreiergespann Quandt/ Achatkin/Milet aus der Work­shoparbeit Inspirationen für die spätere Theater­produktion.
Grünes Licht für Hamlet
Tatsächlich förderten die intensiven Im­provisationsarbeiten mit den Kindern und Jugendlichen reichlich “Material” zu Tage: Da wurden zerrüttete Familienver­hältnisse und die Konfrontationen mit der Polizei dramatisiert, Überfälle und erlebte Vergewaltigungen nachinszeniert und das Verhältnis zu Drogen problematisiert. Immer wieder – so erzählt Quandt – erga­ben sich erstaunliche Parallelen zur HAMLET-Geschichte: “Ein 17-jähriger improvisiert einen seiner immer wieder­kehrenden Träume. Sein bester Freund ist vor kurzem von der Polizei erschossen worden. Nun erscheint ihm im Traum der Geist seines Freundes und fordert Ra­che…Hamlets Geist! Bei Rollenspielen über die Machtstruktur in einer Stra­ßen­bande kristallisiert sich schnell ein “An­führerpärchen” heraus. Die Kinder ge­ben ihm den Namen Cabeça (Kopf), sie heißt Rainha (Königin)….Claudius und Gertrud! Immer wieder stehen die Schick­sale der Mädchen im Mittelpunkt der Im­provi­sa­tionen: wie sie auf der Straße “gelandet” sind, welche Rolle sie in den Kinder­banden spielen und ihr Verhältnis zur Se­xualität, das fast immer als gestört dar­gestellt wird. Einige Mädchen spielen ihre kollektive Vergewaltigung durch … Ham­lets Ofelia!”
Für den Tübinger Theaterregisseur reichen diese Parallelen aus, um grünes Licht für das HAMLET-Experiment zu geben: Zu­sammen mit der Theatergruppe NOSSA CARA unter der Leitung von Maria Eu­genia Milet machen sich Quandt und Achatkin an die zweimonatigen Probenar­beiten, um die szenischen Ergebnisse des pädagogischen Workshops in den drama­tischen Handlungsablauf von Shakespea­res HAMLET einzupassen. Im folgenden “Bahianisierungsprozeß” mußte sich dann der europäische Klassiker etliche Verän­derung gefallen lassen: Figuren wurden umbenannt, andere hinzugefügt, aktuelle Bezüge aus dem Alltagsleben Salvadors eingefügt und mit afro-bahianischer Mu­sik unterlegt. Ob beim dumpfen Trauer­marsch zu Beginn des “Straßenhamlet” (so der deutsche Titel des Theaterstücks) oder beim Samba-Reggae, der eine Kampf-szene innerhalb der Straßenbande unter­malt, den Rhythmus der Aufführung ge­ben die Trommeln an, wichtigstes Instru­ment der afro-bahianischen Musik Salva­dors.
Auch an Shakespeares Textvorlage und Sprache wurde ganz gehörig herumgefeilt. Wochenlang arbeitete die Dramaturgin Vera Achatkin mit Jamerson Felix und Fabio Tobias, um die Subsprache der Straßenkinder Salvadors mit ihren eigenen Wortschöpfungen, die nicht einmal der “Normalbahiano” kennt, so authentisch wie möglich wiederzugeben, ohne dabei gänzlich die Poesie der Originalfassung zu zerstören. Die beiden Jungs hatten selbst Jahre ihres Lebens auf den Straßen Salva­dors verbracht und galten deshalb den 14- bis 19-jährigen LaienschauspielerInnen von NOSSA CARA als unentbehrliche Referenz bei der Erarbeitung von Sprache und Gestik.
Hamlet – Medium der Aufarbeitung
Sein schauspielerisches Naturtalent ver­half Fabio Tobias schließlich zur Hauptrolle des Stücks. Im Spiel des 17-jährigen Brasilianers gewinnt die Frage nach Sein oder Nichtsein eine völlig neue Dramatik; liegen doch der bahianischen Version des klassischen Hamlet-Mono­logs der ganze Erfahrungsschatz von fünf Jahren Leben auf der Straße zugrunde. Fabio Tobias beginnt den selbstent­wickelten Monolog über seine erste Be­gegnung mit Gewalt und Elend auf den Straßen Salvadors immer mit den gleichen Worten. Doch was dann folgt, ist meistens improvisiert. Immer fallen ihm neue Ge­schichten aus seinem Leben ein, oft sehr tragische und brutale Episoden. Er erzählt sie auf eine tragisch-komische Art, so daß die Zuschauer nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen. Außerhalb der Bühne auf seine Vergangenheit als “menino de rua” angesprochen, winkt er nur unwirsch ab. Über diese Zeit mag er heute nicht mehr reden. Wer etwas über das Leben der Straßenkinder Salvadors wissen wolle, solle sich doch einfach das Stück ansehen oder die anderen Mitglieder von NOSSA CARA fragen. Die wüßten schließlich ge­nauso gut wie er, was es heißt, als Kind in den Straßen der brasilianischen Groß­städte sein Überleben sichern zu müssen. Für Fabio Tobias ist der Hamlet zum alter ego geworden, zum Sprachrohr seiner ei­genen, verdrängten Geschichte.
Nach einer sehr erfolgreichen Premiere in Salvador da Bahia im Mai letzten Jahres und sich anschließenden Gastspielen in Rio, Sáo Paulo und Minas Gerais, stellen NOSSA CARA ihren Straßenhamlet im September zum erstenmal dem deutschen Publikum vor. Befragt, was sie sich von der Deutschlandtournee erhofft, antwortet Amaranta (im Stück spielt sie Horatia, die Kaffeeverkäuferin und fester Bezugspunkt der Straßenkinderbande): “Hier in Brasi­lien unterscheidet die Gesellschaft kaum noch zwischen den Straßenkindern und dem Müll, in dem die Kinder leben müs­sen. Ich möchte gern wissen, ob es in Deutschland auch Kinder gibt, die auf der Straße leben und wie die Deutschen damit umgehen.”

Kasten:

Tourneedaten von StraßenHamlet/O rei do trono de barro

Termin Stadt Veranstaltungsort

22.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
23.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
24.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
25.09. Berlin Haus der Kulturen der Welt
26.09. Potsdam Lindenpark
29.09. Kieselbronn Stadthalle
01.10. Stuttgart Treffpunkt Rotebühlplatz
02.10. Tübingen Foyer
03.10. Tübingen Foyer
06.10. Frankfurt Künstlerhaus Mousonturm
07.10. Frankfurt Künstlerhaus Mousonturm
10.10. Hannover Theater am Aegi
11.10. Hannover Theater am Aegi
13.10. München Stadthalle Germering
14.10. München Stadthalle Germering
15.10. Nürnberg Wilhelm-Löwe-Schule
16.10. Nürnberg Wilhelm-Löwe-Schule
19.10. Bochum Bahnhof Langendreer
20.10. Osnabrück Lagerhalle
21.10. Köln Alte Feuerwache

Tourneeplanung: Pachanga Promotions, Tel. 030 – 694 78 32

Polizeireportage und Bergpredigt

Diese und ähnliche Meldungen gehen täglich dutzendweise über den Sender von Rádio Regional, der kleinen Radiostation der Diö­zese Paulo Alfonso im Landes­inne­ren des brasilianischen Bundesstaa­tes Ba­hia. An den Wochenen­den steht das Tele­fon von Rádio Regional kaum eine Minute still. Das ist die Zeit, in der die in Sâo Paulo hilflos gestrandeten Migranten aus dem Nordosten versuchen, übers Ra­dio Kontakt zu ihren zurück­gebliebenen Fa­milienangehörigen auf­zunehmen. Da wer­den dann Bitten um Geldüberweisun­gen zur Rückkehr in den Nordosten oder die Adressen von irgend­welchen Vettern und Onkeln in Sâo Paulo über den Äther ge­jagt, die den Gestran­deten weiterhelfen sollen. Irgendwann nach Wochen kann es dann vorkom­men, daß zurückgekehrte Migranten plötzlich in der Tür des Sende­studios von Rádio Re­gional stehen und die ModeratorInnen des Wo­chenenddienstes überglücklich in ihre Arme schließen. Unter tau­send Danksa­gungen beteuern die Rückkehrer, daß ih­nen nur die Durchsage im Radio die Heimkehr aus dem Inferno der Megame­tropole im Süden Brasiliens ermöglicht habe.
“Für diese auseinandergerissenen Fami­lien ist das Radio ein wich­tiges Kommu­nikationsmittel, da es kaum öffentliche Telefone in der Gegend gibt. In den vier Jahren seiner Existenz ist das Radio zur Anlaufstelle für alle möglichen familiären Angelegenheiten gewor­den”, erklärt Ra­dioleiter Pedro Paulo.
Rádio Regional ist einer von insgesamt 130 Mittelwellen- und UKW-Sendern, die die katholische Kirche und ihr naheste­hende Stiftun­gen in Brasilien unterhalten. Ihr vorrangiger Auftrag ist die Verbrei­tung des Evangeliums vor dem Hinter­grund der sozialen, po­litischen und öko­nomischen Realität Brasiliens. Damit hö­ren aber auch schon die Gemeinsamkeiten der katholischen Radiostationen auf. Denn die Interpretation dieses Auftrages bleibt in dem Rie­senland den mehr oder weniger konservativen Bischöfen der einzel­nen Diözesen bzw. den von ihnen berufenen Radiodirektoren überlas­sen. Zwar bemüht sich die UNDA, das nationale Kommuni­kationsgre­mium der brasiliani­schen Bi­schofskonferenz, eifrig um eine ein­heitliche ideologische Linie ihrer Kom­munikationsmedien. Doch wie die Radio­sendungen vor Ort gestaltet werden, ent­zieht sich weitgehend ihrer Kon­trolle. So sind denn auch die Programme der 130 katholischen Sender von sehr un­terschiedlicher Couleur. Die meisten ha­ben sich inhaltlich der seichten Welle der kommerziellen Medien angepaßt. Sie ver­suchen, sich mit populärer Musik und viel Werbung finanziell über Wasser zu halten. Ihre Wortbeiträge be­schränken sich ge­wöhnlich auf das tägliche “Ave Maria”, besinnli­che Worte des örtlichen Geistli­chen und die Live-Übertragung der Sonn­tagsmesse. Komplettiert wird diese jour­nalistische Glanzlei­stung allenfalls noch durch hastig heruntergeratterte Kurznach­richten. Deren Informationswert ist jedoch gleich Null, da es sich meist um abermals gekürzte Versionen ohnehin schon kurzer Zei­tungsmeldungen handelt.
Vom aufrechten Katholiken
zum Medienstrategen
Als Zugeständnis an den Massenge­schmack und wegen der ständig schrumpfen­den Zuschüsse aus den bischöflichen Geldtöpfen sind einige der katholischen Radiostationen inzwischen dazu überge­gangen, die bei der brasiliani­schen Bevöl­kerung so be­liebten Polizeire­portagen zu senden. Diese sensationslü­sternen Gru­selstories von lokalen Rau­büberfällen und Gewalttaten aller Art gelten in Brasiliens Medienlandschaft als wahre Publikums­renner und somit als Ga­rant für steigende Werbeeinnahmen. Im unerbittli­chen Kon­kurrenzkampf mit den kommerziellen Pri­vatradios hat sich schon so manch auf­rechter Katholik und Ra­diodirektor zum knallhart kalkulierenden Medienstrategen wandeln müssen und zu­gunsten einer sehr großzügigen Interpre­tation des kirchlichen Sendeauftrags ent­schieden. Kann doch eine einmalige Ver­beugung vor dem Dik­tat des blutrünstigen Massengeschmacks unter Umständen etli­che Sendun­gen der Bergpredigt finanziell absichern. Unter dem Druck ökonomi­scher Zwänge und des klerikalen Konser­vativismus schaffen es nur we­nige Radio­stationen der katholi­schen Kirche, den von der UNDA ur­sprünglich durchaus fort­schrittlich ge­meinten Auftrag, eine christ­liche und sozialkritische Alternative zu den kom­merziellen Massenmedien Brasi­liens zu sein, in ihren Programmen umzu­setzen. Einer der Sender, die dies ernsthaft versu­chen, ist Rádio Regional von Cícero Dantas.
In der Isolation des bahianischen Sertâo, in der das Leben einem ewig gleichen Rhythmus folgt, sich Gespräche um die immer gleichen Probleme wie anhaltende Dürre und Wassermangel, vertrocknete Boh­nenernten und ungerechte Landver­teilung drehen, hat das gespro­chene Wort noch eine besondere Bedeutung. In eini­gen der abgelege­nen Weiler des Sertâo, wo die Armut den Kauf des sonst allgegen­wärtigen Fernsehgeräts nicht zu­läßt und das defizitäre Bildungssy­stem eine Analphabetenrate von fast 40 Prozent produziert, bleibt nach Einbruch der Dun­kelheit oft nichts anderes als sich endlose Geschichten zu erzählen. Da wer­den dann die Geburten und Todes­fälle in den weit­verzweigten Familien durchgehe­chelt, über den letzten Besuch des Land­pfarrers oder sonstige Neuigkeiten aus der Nach­barschaft berichtet, oder – wenn dies alles schon tausendmal erzählt worden ist – ein­fach schweigend gewartet, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Neuigkeiten, zumal wenn sie über Dutzende von Kilo­metern aus der Bezirkshauptstadt kom­men, haben hier noch einen ganz besonde­ren Stellen­wert. So ist denn auch das “Jornal da Re­gional”, die tägliche halb­stündige Nach­richtensendung von Rádio Regional, für die Landbevölkerung der Region zu einer einflußrei­chen Instanz in ihrem Alltag geworden. Was das Jornal an lokalen und regionalen Nachrichten ver­breitet, wird in den isolierten Dorfge­meinden unbesehen geglaubt und eifrigst kommentiert. Noch immer erregt es Auf­sehen, wenn die Ra­dioreporter mit ihrem Repor­tagewagen durch die Gegend fahren und fürs Jornal da Regional In­terviews aufnehmen, um den Gründen für Trink­wasserverseuchung, Viehsterben, unhalt­bare Zustände in Schul- und Gesund­heitswesen auf die Spur zu kommen, oder über undurchsich­tige Winkelzüge ir­gendwelcher Lokalpo­litiker berichten. Und wenn die Bewoh­nerInnen der betrof­fenen Gemein­den am nächsten Tag gar ihre eigene Stimme im Radio hören, sind die Alltags­sorgen we­nigstens für einige Minu­ten vergessen.
Der erste Schritt zu
neuem Selbstbewußtsein
“Für die Leute hier im Nordosten ist es unglaublich wichtig, ihre Stimme im Ra­dio zu hören. Solange sie sich erinnern können, wer­den sie von Großgrundbesit­zern ausge­beutet, von Politikern in Wahl­zeiten als billiges Stimmvieh benutzt und ansonsten mit Armut und Hunger al­lein gelassen. Jetzt hört ihnen endlich mal je­mand zu und gibt ih­ren Sorgen und Pro­blemen eine öffentliche Stimme. Endlich können sie von sich und ihren Festen er­zählen und ihre eigene Musik hö­ren, und das ist schon der erste Schritt zu einem neuen Selbstbe­wußtsein”, so Pedro Paulo zur Bedeu­tung des Radios.
Der kleine Sender gibt sich in der Tat sehr volksnah. Die Ein­gangstür steht den gan­zen Tag lang offen. Wer immer eine An­zeige aufgeben oder eine Veranstaltung ankündigen möchte, wer Informa­tionen über Impfkampagnen, anstehende Volks­feste, Streiks oder an­dere wichtige Ereig­nisse weitergeben oder erfragen will, oder ein­fach nur auf ein Schwätzchen vorbei­schaut, der findet im Rádio Re­gional of­fene Ohren.
An den Montagen, wenn der Wochen­markt von Cí­cero Dantas die Be­woh­nerInnen aus den umliegenden Ge­meinden an­lockt und überall Menschen durch die sonst stillen Gassen der ver­schlafenen 15.000-Einwohner-Stadt wu­seln, übt das Radio eine magne­tische An­ziehungskraft aus. Dann drücken sich Kinder und Er­wach­sene dutzendweise die Nasen an der großen Glasscheibe des Sende­studios platt. Das ist die Gelegen­heit, endlich ein­mal die Lieb­lingsmoderatorin oder den Nachrichten­sprecher, von denen sie häu­fig nur die Stimmen kennen, live in Aktion zu erle­ben. Auch für das Radioteam ist der Montag immer besonders hektisch. Denn dann heißt es: raus auf den Marktplatz mit Mikrofon, Aufnahmegerät und transporta­blem Mischpult, um die neuesten Nach­richten über Preis­steigerungen, Ernte- und Vermarktungsprobleme und was es sonst noch Wichtiges aus dem bäuerlichen All­tag zu berichten gibt, di­rekt aus dem Marktgeschehen zu übertragen.
Neben dieser allwöchentlichen Attraktion lebt das Wortprogramm von Rádio Regio­nal hauptsächlich von kurzen, in den “Musikteppich” eingeschobenen Beiträ­gen, deren Themen sich um Gesundheits­vorsorge und Erziehungsfragen, um die Zubereitung von Hausmitteln aus hei­mischen Kräutern oder um Tips für pesti­zidfreien Gemüseanbau dre­hen. Einmal pro Woche berichten Mitglieder der Land­arbeitergewerk­schaften aus der Re­gion über Fortschritte und Rückschläge im Kampf um bessere Lebensbedingungen für die Bauernfamilien und nutzen die In­frastruktur des Radios zur Mobilisierung ihrer Mitglieder. Al­lerdings müssen auch die Gewerkschafter – wie alle anderen Normal­sterblichen aus der Region – für die Benutzung von Fax, Telefon oder Ko­piergerät einen kleinen Kostenbeitrag ent­richten. Die Zeiten, in denen die “Rádios Populares” – die Volksradios – linken Ge­werkschaften und Volksorgani­sationen als kostenlose ideologische Sprachrohre dien­ten, sind für den Befrei­ungstheologen Pedro Paulo vorbei.
Das Konzept von Rádio Regional, das in Zusammenarbeit mit dem la­teinameri­kani­schen Radionetzwerk ALER entwickelt wurde, entspricht wohl am ehe­sten einem volksnah arbeitenden Dienst­leistungs­betrieb. “Wir machen Radio für und mit der gesamten Bevölkerung, und damit meine ich vor allem die breite Masse der verarmten Landbevölkerung und nicht nur die organisierten Gruppen des ‘Movimento Popular’. Un­ser Hauptan­liegen ist die Stärkung der Volkskultur.” Das ist auch der Grund, warum ein Groß­teil des Mu­sikprogramms von Forró und Sertanejo-Musik, der Volksmusik des bra­silia­nischen Nordosten, be­stritten wird. Lokale Musikgruppen und Volksdichter geben sich die Türklinke des Aufnahme­studios in die Hand, um die Rhythmen von San­fona (Ziehharmonika), Sabumba (Blech­trommel) und Gitarre live ins Pro­gramm einzuspielen oder selbstverfaßte Gedichte darzubie­ten.
Wettbewerbe, in denen die HörerInnen ei­gene Geschichten und Lieder zum Besten geben, gehören ebenso zum Programm wie die Lieder der repentistas, Stegreif­musikern, die in ihren Spontankompo­sitionen von alltäglichen Ereignissen aus dem Leben der Menschen im Nordosten bis hin zur Weltpolitik alles kommen­tieren, was für ihr Publi­kum in­teressant sein könnte.
Keiner aus dem neunköpfigen Team von Radio Regional hat jemals eine reguläre Ausbildung in Tontechnik, Werbeakquisi­tion oder Radiojournalismus absolviert. Wie üblich in den Radios Populares haben auch die jungen MitarbeiterInnen von Rá­dio Regional ihr Handwerk irgendwo und irgendwann in der Praxis erlernen müssen. Sie wurden einfach ins kalte Wasser der Sendepraxis geschmissen und mußten von einem auf den anderen Tag die Regler im Sendestudio bedienen und auch noch selbst moderieren. Viel Zeit für inhaltliche Diskus­sionen hat es nie gegeben. Daß deshalb nicht jedes gesendete Wort auf die Goldwaage gelegt werden darf, versteht sich von selbst. So kann es schon mal vorkommen, daß dem Nachrichtenredak­teur, der die wöchentliche Debattensen­dung zu aktuellen Themen der Lokalpoli­tik moderiert, die Diskussion mangels journalistischem Know How und “ideolo­gischer” Klarheit ent­gleitet und die falsche Seite, beispiels­weise ein Vertreter der Volksbewegungen, in die Pfanne ge­hauen wird. Derlei Aus­rutscher sind aller­dings selten und werden in der nächsten Sen­dung mit Gegendar­stellungen wieder kor­rigiert. “Niemand ist perfekt”, meint der Radioleiter lakonisch. “Es hat vier Jahre harte Arbeit gebraucht, bis aus neun jun­gen Leuten ohne jegliche Radioerfah­rung und teilweise nur mäßiger Schulbil­dung ein eigenverantwortlich ar­beitendes Ra­dioteam wurde, das sich nicht mehr von jedem halbwegs sprachge­wandten Lokal­poli­tiker einschüchtern läßt.”

25 Jahre “Tropicália”

Die Produzenten kündigten Gil und Cae­tano mit einem “akustischen Konzert” an. Die Anweisung, das Publikum möge doch während des Konzerts sitzenbleiben, wi­dersprach den Erwartungen und dem Temperament der Exilgemeinde. Dennoch kam der Nationalstolz – gelegentlich uner­bittlich und hemmungslos – zum Aus­druck. Eine kulturelle Identität wurde her­ausgesungen. Eine Identität, die immer auf dem Prüfstein steht und die viel den immer neuen Varianten dessen schuldet, was sie schon immer war und weiterhin sein wird – “Tropicália”.
Zur allgemeinen Überraschung blieben fast alle sitzen, erst nach der Zugabe ex­plodierten die Begeisterungsstürme über die vierfache Weltmeisterschaft. Die Be­sucher hatten Fahnen, Rhythmusinstru­mente und Trommeln mitgebracht, die aber nur zwischen den Stücken den Ap­plaus anheizten. Getanzt wurde wenig – zu Freud oder Leid der ZuhörerInnen, wie bei jeder anderen Vorstellung der beiden Mu­siker. Alte und neue Klassiker wie “Avenida Sao Joao” oder “O Haiti é aqui” wurden im Chor von Sao Paulo nach Ba­hia getragen. Andere wurden von Caetano und Gil selbst von einem Ende zum ande­ren, von Süden nach Norden angestimmt, wobei sie einander abwechselten und das Publikum zum mitsingen animierten.
Ein magischer Moment des Konzerts war sicher der afro-brasilianische “Jodler” von Gilberto Gil. Ein spiritueller Widerhall, der bis in die Seele vordringt – durch Kontinente und Jahrhunderte hindurch. Gemeinsames Solo. Eine Wiederbesin­nung auf die Vorfahren, ein Kreisen um die Sterne. Ein Gefühl, als ob diese Zele­brierung der Stimmen plötzlich das Uni­versum in einen Klangraum für ein sehr langes Echo verwandelt. Ein in sich ge­schlossenes Verständnis von sich und der Welt, in dem die Ursprünge des Kosmos offenbar werden, losgelöst von dem Teil der Welt, in dem wir uns befinden. Diese ästhetische Erfahrung bringt auf den Punkt, was Gilberto Gil für die brasiliani­sche Musik und Kultur überhaupt ist.
Die Bedeutung von Caetano läßt sich vielleicht mit Hilfe einer kleinen Anek­dote aus dem Konzert beschreiben: Gil lädt einen Musiker aus dem Publikum spontan auf die Bühne ein. Irgendwann deckt dann eine brasilianische Fahne Caetanos Gesicht zu, das für einen langen Augenblick erstarrt. Caetano rührt sich nicht, bis man ihm die Fahne abnimmt. Ohne aus der Fassung zu geraten verwan­delt er den Zwischenfall in seine und nur seine Performance. Unter dem brasiliani­schen Banner, das sein Gesicht verdeckt hatte, hinterläßt er den Sarkasmus und das Rästel seines Lächelns.
Es ist bekannt, wie gut er die Bühne be­herrscht: Caetano Veloso der Begnadete, das enfant terrible. Anlaß für unzählige Interviews und wissenschaftlicher Ab­handlungen. Doch seine einzigartige und widersprüchliche Persönlichkeit kann ei­gentlich nur durch die Texte seiner eige­nen Musik ergründet werden: “Wenn du eine unglaubliche Idee hast, mach’ am be­sten ein Lied daraus – es ist bewiesen, daß Philosophieren nur auf Deutsch möglich ist.”
Caetano war zweifelsohne der Motor der tropikalistischen Bewegung. Er bedient sich der konkreten Poesie nicht nur für den Samba, oder bietet Fados, Tangos und Rock’n Roll. Er geht zurück zu den An­fängen von Oswald de Andrade und ver­körpert die kulturelle Identität der Anthro­pophagie. Eine Anthropophagie, die für die Einverleibung aller nur möglichen Einflüsse steht und sich nicht in der politi­schen Metapher “eat the rich” erschöpft. Die “Tropicália” wurde für sich politisch, weil sie aus der Kunst entstand. Mehr als bloße Metapher, entspringt die Anthropo­phagie, die Caetano wieder aufleben läßt, aus dem brasilianischen “Wilden Den­ken”. Reines Stückwerk: “Kaugummi mi­sche ich mit Banane”. Dieses Manifest, gemeint ist das “Anthropophagische Ma­nifest” von Oswald de Andrade, das am Beginn der Verquickung der städtischen und ländlichen Kultur steht, wird inner­halb des Landes nur selten verstanden, noch weniger allerdings außerhalb der Tropen.
Man muß sie sich erst vor Augen führen, die ständige Erneuerung des Populären und seiner Rhythmen: in der Literatur der Avantgarde (von Oswald de Andrade bis Paul Leminsky), in der ernsten Musik, in der Pop- und Folk-Musik. Es ist daher nicht verwunderlich, daß viele der anwesenden Deutschen die Dimension der Darbietung nicht zu verstehen schienen.
Caetano ist auch “blanker Ruhm”. Das je­denfalls behauptet er selbst und verab­schiedet sich damit von der Wiege seiner Lieder. Caetano, Vater dreier Kinder: “Ich bin ein Schwindler; drittes Geschlecht, dritte Welt, drittes Jahrtausend”. Es gibt in Brasilien keine andere berühmte Person, die so viele persönliche Deklarationen macht, ohne ihre Intimsphäre preiszuge­ben.
Er ist eine vielseitige Persönlichkeit, manchmal zwiespältig und sich seines Größenwahns bewußt. Ein Anarchist-Su­perstar, Sohn eines Heiligen des Candom­blé, der die religiöse Unterdrückung der sexuellen gleichsetzt. Caetano hat keine Gelegenheit ausgelassen, seine radikale politische, musikalische und parteiische Unabhängigkeit zu demonstrieren. Im po­litischen Exil stößt er die Linken vor den Kopf, indem er Nietzsche zitiert: “es ist notwendig, die Starken vor den Schwa­chen zu beschützen”.
Wenn er in Liedern wie “Haíti nao é aqui” von Rassismus oder auch in seinen poe­tisch-politischen Manifesten über Stra­ßenkinder und Aids singt; gegen “…Schürzenjäger, in Krawatte oder Prie­stergewand”, ist er immer weit entfernt vom nur Plakativen, von alten Stereotypen und Geschichten “vom Arsch der Welt”. Es sind musikalische Abhandlungen, auch über die Anthropophagie, über “die selben alten Menschen”: “Amerikaner fühlen, daß etwas verlorengegangen, am Zerbre­chen ist”. Seine Rolle ist heute immer noch die des Provokateurs, des Künstlers jenseits der schnellen Antworten, dessen, der die tau­sendjährigen Fragen noch ein­mal stellt. Caetano ist die narzißtische Sphinx des Textes und der Musik und durch all seine undefinierbaren Verknüp­fungen der re­gional-kosmopoliten brasi­lianischen Kul­tur … unerschöpflich.

OLODUM – MEHR ALS MUSIK

LN: Wie definiert Ihr Eure Musik?
Joao Jorge: Den Rhythmus nennen wir Samba-Reggae, eine Mi­schung aus tradi­tionellem Samba mit Reggae und politi­schen Botschaften. Die Musik ist eine Synthese der afrikanischen und brasiliani­schen Kultur mit der Utopie auf ein an­deres Brasilien.
Verfolgt Ihr mit der Musik bestimmte Ziele?
Die Musik Olodums ist zur Erholung und zur Bildung des poli­tischen Bewußtseins da; sie ist religiös und gefühlvoll. Es wer­den verschiedene Aspekte des Lebens be­handelt. Sie verurteilt die Politiker, die die Schwarzen diskriminieren, beschreibt un­sere historischen Persönlichkeiten wie Lampiao, Maria Bonita, die Königin von Saba, den Pharao von Ägypten usw. Zugleich ist sie eine Botschaft der Hoff­nung.
Euer Lied “Avisa lá” wird auch von Gil und Caetano auf ihrer LP “Tropicália 2” interpretiert. Wie sind Eure Kontakte zu den “quatro baianos” Gil, Caetano, Ma­ria Bethania und Gal Costa?
Gil ist seit vielen Jahren ein Weggenosse im antirassistischen Kampf, und auch Caetano hat sich in den letzten Jahren den Ideen Olodums angeschlossen. Das Thema des Karnavals 1994 war der Tropi­calismo, den sie begründeten. Caetano Veloso be­teiligte sich zusammen mit Ro­berto Beto, unserem Kunstdirektor, an den Kostümen (fantasias). Wir führten Blocos de Indios auf, die an die 70er Jahre erin­nerten. Gal Costa hat Revolta do Olo­dum aufgenommen und Bethania hat von Cae­tano Reconverso gespielt, ein Lied, das von Bahia handelt und fragt “wer hat noch nicht Olodum im Pelourinho spielen gese­hen?”.
Die Beziehung zu ihnen ist eng, obwohl es damals in Bahia zwei verschiedene Wege von Widerstand gab. Caetano, Gil, Gal Costa und Maria Bethania leisteten mit ihrer künstlerischen Konzep­tion der Diktatur Widerstand. Sie verließen sehr früh Brasilien und produzierten weiterhin brasilianische Musik von hoher Qualität. Unsere Situation war schwieriger, weil wir in Brasilien blieben und die Diktatur am eigenen Leibe erlitten. Wir haben eine eigene Vorstellung von Philosophie, Kunst, Kultur und Wi­derstand; dem Wi­derstand der Jugendlichen, die in den 70er Jahren Brasilien nicht verlassen haben und die afrikanische und karibische Kultur mit dem antirassistischen Kampf verban­den.
Was sagt Ihr zu dem Vorwurf, Eure neueste LP sei zu kommer­ziell gewor­den?
Olodum ist eine populäre Gruppe, die für alle verständlich sein soll. Die Musik, die wir jetzt machen, ist zugänglicher als frü­her. Vorher sprachen wir von Dingen, die ohne genauere Kenntnisse schwierig zu verstehen waren. Z.B. spielen wir ein Stück über die Pharaonen. Heute sagt Olodum etwas über die Welt aus, in der wir uns befinden, wo vieles zum Leben fehlt und die Politiker betrügen. Jetzt ist es direkter. Wir machen Musik, die von mir, dir und dem politischen Alltag handelt. Wir benutzen mehr portugiesisch, wäh­rend wir früher in afrikani­schen Sprachen, wie Yorubá (Benin, Nigeria) sangen, die nicht jeder verstand. So sehr wir auch po­litisieren möchten, haben wir die Aufgabe, Menschen zu sein. Wir möchten in einer men­schlichen Welt leben anstatt in einer illusionären Welt aus Luft, die nur über politische Fragen redet. Wir haben viele Lieder über das Ende der Apartheid und über die Befreiung Nelson Mandelas ge­macht. Jetzt wurde Nelson Mandela be­freit und es gab Präsidentschaftswahlen. Was sollen wir machen, nicht mehr über die Armut in Südafrika reden? Olodum hat den künstleri­schen Weg einer lang­samen, schrittweisen Revolution einge­schlagen. Z.B. sind das Klavier und das Saxophon nicht Eigen­tum der Weißen, der Gelben oder der Schwarzen. Es sind In­strumente, die sich vor langer Zeit ent­wickelten. Jedes Volk kann sie benutzen und Musik mit ihnen machen. Eine 15 Jahre alte Gruppe ist zu jung, um in einem Bereich der künstleri­schen und menschli­chen Erfahrung gefangen zu bleiben. Wir müssen mit allem experimentieren: Schallplatten, Computer, Vi­deo, Aufnah­megerät. Wenn wir ein Konzert auf dem Mond geben könnten, würden wir es tun.
Welches sind Eure Ziele als Teil der Schwarzenbewegung?
Olodum ist wahrscheinlich das spektaku­lärste Element der bra­silianischen Schwarzenbewegung. Seit 1695, dem Ende des Qui­lombo de Palmares, gab es keine Organisation mit solcher Ener­gie zum Kampf und dessen Verbreitung. Als wir 1979 anfingen, gab es keine Organi­sation, die die Erfahrungen des Candom­blé und der Capoeira zusammenfasste. Olodum führt zusammen mit dem Movi­mento Negro Unificado, der Gewerkschaft und indiani­schen Gruppen den Kampf ge­gen die Apartheid und für Bür­gerrechte. Hauptziel von Olodum ist, die Anerken­nung der Schwarzen durchzusetzen. Wir müssen noch für viele Sachen kämpfen, die Schwarze in anderen Ländern schon haben. Wir haben keine schwarzen Mini­ster, keine schwarzen Generäle, keine schwarzen Ökonomen in Brasilien, Aus­nahmen gibt es im Fußball und der Mu­sik. Unser Ziel ist es, in Bereichen wie Han­del, Industrie, Universität, Armee, Politik präsent zu sein. Wir be­nutzen eine neue Form, die Politik, Kultur, Kunst und Erzie­hung mischt und das schwarze Selbstbewußtsein und den anti­rassistischen Kampf fördert. Der Zugang zu Olodum ist nicht auf Schwarze be­schränkt. Im Gegenteil, wir möchten, daß Nicht­schwarze an unseren Aktionen teil­nehmen. Wir handeln wie Mandela und der ANC: sie haben ein rassistisches Sy­stem be­kämpft und sich auf die Macht­übernahme vorbereitet. Als sie an die Macht gelangten, regierten sie mit allen. Unsere Per­spektive ist, an die Macht zu kommen und für alle zu regieren – nicht wie jetzt, wo die Minderheit der Mehrheit befiehlt.
Glaubt Ihr, daß dieser Weg mit Parteien zu gehen ist?
Wir beteiligen uns an keiner Partei. Dies muß ein Wunsch der Gesellschaft sein. Man braucht Parteien und die Zivilgesell­schaft, Kirche, Presse, Rechtsanwälte, Ar­chitekten, Ingenieure, Arbeiter, um das Land zu verändern. Es muß ein neues soziales Gespräch geben. Die heutigen Parteien, die Olodum fördern, sind linke Parteien, weil wir eine demokratische und progres­sive Organisation sind. Unsere Priorität liegt bei der PCB, PCdoB, PT und einigen Bereichen der PDT. Diese Parteien haben die gleiche Zielsetzung wie wir. Auch progressive Kräfte der Kir­che möchten das Elend und die Armut beenden. In Brasilien ist Rassismus durch die Ausbeutung der Frauen, der Armen etc. charakterisiert. Also müssen wir alle Betroffenen zusam­menrufen, um etwas dagegen zu tun.
Letztes Jahr hat Cristina Maria Santos Rodrigues (Präsidentin von Olodum 1983-1989) eine Kampagne gegen den Sextourismus initiiert.
Vor zwei Jahren gründete Cristina eine Frauengruppe zur Ver­teidigung der Rechte der Frauen. Als sie die Möglichkeit hat­ten, nach Deutschland zu kommen, erfuhren sie vom Frauen­handel mit Brasilianerinnen aus dem Nordosten, die durch fin­gierte Heiraten nach Europa kommen. Salvador und Recife sind die am stärksten betroffe­nen Städte, was die sexuelle Ausbeu­tung betrifft. Es wird versucht, auf Fälle auf­merksam zu ma­chen. Die Frauen haben es geschafft, die brasilianischen Frauen und Männer aufzurütteln, indem sie das Semi­nar Mae, Mulher e Maria initiiert haben. Es ist öffentlich für Frauen und Männer und Gäste von verschiedenen Orten und wird einmal im Jahr im Casa do Olodum veranstaltet.
Früher war der Pelourinho/Maciel der Platz, wo die schwarzen SklavInnen ausgepeitscht wurden. Ihr habt Euch diesen Platz zurückerobert. Heute gibt es das Problem der Sanierung vieler Häu­ser. Wie sieht der Kampf der Anwohne­rInnen aus, um in ih­ren Häusern zu bleiben?
Joel: Der Sanierungsplan der Regierung wurde ausgeführt: 80% des historischen Zentrums wurden bereits in vier Etappen sa­niert. Jetzt beginnt die fünfte Etappe in San Antônio, Pascoal. Pelourinho, Maciel, Terreiro de Jesus, Praça da Zé wurden schon restauriert. Die ehemaligen An­wohner mußten in Vororte umziehen. Sie benutzten die Entschädigungen, um ein Stück Land in der Peripherie zu kaufen, aber viele bekamen zu wenig Geld ausge­zahlt.
Die Sanierung des historischen Zentrums war in Wirklichkeit ein Plan des Gouver­neurs von Bahia, um Prä­si­dent­schaftskandi­dat zu werden. Nach der Sanierung ist er als Kandidat aufge­stellt worden. Eigentlich ist es ein wichti­ges Projekt gewesen, die historischen Häuser zu restaurieren, aber in das histori­sche Zentrum ist der Kommerz eingezo­gen. Die Bewohner sind vertrieben wor­den. Wir haben es nicht geschafft, gegen ein so starkes System anzukommen; nur einige kulturelle Treffpunkte, wie die Bar do Reggae, konnten erhalten werden. Die Finanzie­rung reichte nicht zur Beendigung der Sanierung aus. Es gibt noch immer viele Häuser, wo nur die Fassaden stehen. Die Straßenhändler sind jetzt marginali­siert und haben keinen Standort mehr, weil sich die bahianische Bourgeoisie in der Altstadt breitgemacht hat.
Welche Funktion hat die Escola Criativa do Olodum?
Joao Jorge: Die Escola Criativa do Olo­dum ist eines der wichtig­sten sozialen Projekte von Olodum. Letztes Jahr wurde ein al­tes Haus für die Schule im Pelou­rinho gekauft und mit der Sa­nierung be­gonnen. Heute wird sie von 350 Kindern zwischen 6 und 16 besucht. Verschiedene Kurse wie Percussion, Tanz, Portugie­sisch, Geschichte sowie Gesundheitsvor­sorge werden angeboten. Es wird eine “interethnische” Pädagogik benutzt, die von dem Bahianer Mauro Almeida ent­wickelt wurde und in­dianische, schwarze und europäische Erfahrungen mischt, ohne sie zu bewerten. Die Escola Criativa ist auch Partner des Pro­jektes Axé. Die musikalische Ausbildung schloß die Kinder von der Straße zusammen, die keine Straßenkinder sind. Wir neh­men alle Kinder, wir geben allen die gleiche Be­handlung, egal ob sie auf der Straße leben oder Familie haben. Im Moment be­findet sich die Kinderband, die Banda Mirim, in Port Bouin, Südfrankreich zu einem inter­nationalen Austausch mit französi­schen Jugendlichen, wo sie Französisch, Infor­matik und Video­technik lernen. Danach werden die französischen Jugendlichen nach Bahia fahren, um Percussion zu ler­nen.
Ihr habt jetzt einen Verlag gegründet, das erste Buch ist im Frühjahr erschie­nen. Was sind die Themen für die näch­sten Bücher?
Die nächsten Bücher werden für und über Kinder sein, z.B. ein Candomblé-Buch für Kinder, ein Buch über die Geschichte der Schule von Olodum und das politische und ideologische Enga­gement. Die Idee ist, Publikationen über afrobrasilianische The­men rauszugeben: Freiheit und Demo­kratie.
Vor einiger Zeit wollte die ganze Welt, daß es keine Mauer gibt. Viele wollten, daß der Kampf zwischen Palästinensern und Ju­den aufhört, wie auch die Apart­heid. Aber die ganze Welt denkt, daß es in Brasilien Gleichberechtigung gibt. Wir haben viele Gründe zu sagen, daß dies nicht zutrifft und es noch viel zu verän­dern gibt. Deshalb ist es wichtig, unsere Utopien und Träume ausdrücken zu kön­nen, damit die Menschen nicht nur sagen: dort gibt es Strände, Getränke, schöne Menschen und Karneval. Diese Sachen haben einen hohen Preis und wir sind die Opfer davon. Zwei unserer Mitglieder wurden von der ba­hianischen Militärpoli­zei angeschossen. Einem anderen wurde der Arm von der Militärpolizei gebrochen. Heute hat sich das Verhältnis zur Polizei durch die politische Macht von Olodum verändert. Doch nicht alle Brasilianer ha­ben die Möglichkeit, frei und ohne Bedro­hungen zu reden. Wir müssen trotz Äng­sten weiterkämpfen, bis wir unsere Ziele erreicht haben.

Abelardo Barroso und die vergessene Stimme des Son

Gesang und ein
Hauch von Tabak
Den Danzón, das Erbe französischer cul­ture und spanischer Regimentskapellen, verdrängt den Son musikalisch wie atmo­sphärisch. Der Gemessenheit der charan­gas francesas mit ihren Holzbläsern und Violinen setzt der Son die Unbekümmert­heit der Provinz entgegen, als kulturelles Erbe Afrikas und der Sierra Maestra, mit einem Hauch von Tabak, Melasse und ge­bratenem macho. Der Son ist volkstümli­cher, wilder und billiger als der Danzón, er kann überall gespielt werden, spontan, ohne Bühne, ohne Stühle, ohne Klavier und Gelehrsamkeit. Seine Instrumente zu­sammen kosten weniger als eine einzige Violine, und so begnügen sich die frühen Sextette mit Open Air, Eingebung und Improvisation, mit Gitarre, Tres, Rasseln, Claves, Bongos und bearbeiteten Tonkrü­gen oder Holzschachteln jeweils als Baß und Kontrabaß. Vor allem: der Son lebt vom Gesang und der Stimme, aber anders als das Teatro Nacional von Caruso, der in Havanna am Abend zehntausend Dollar bekommt. Der Son mit seinen Sextetten, Septetten und dem Trio Matamoros löst nicht nur den Danzón ab, sondern auch Caruso und Walzer in den Musikautoma­ten; durch Radio und Schallplatte ver­feinert sich schließlich die Stimme des Sonero, und das führt zum Auftritt, qué dulzura, von Abelardo Barroso.
Der Name klingt nach Tango oder Erudi­tion, aber Barroso sucht das Boxgeschäft und landet als Sänger bei den ersten und wichtigsten Son-Formationen, die sich in Havanna bilden (Sexteto Habanero, Sex­teto Boloña, später Sexteto Nacional). Sein Solo rivalisiert mit dem mehrstimmi­gen Chor und die melodiöse Stimme trägt über den dumpfen Klang von botijuela und marímbula hinweg, den Baßinstru­menten aus der Heimwerkstatt. Sein Ge­sang läßt die schlechte Aufnahmequalität von damals, Kratzen und Hupen, verges­sen: “Mujeres Enamórenme”.
Barroso ist der Carusito des Son, Sonero mayor und einer der größten Soneros aller Zeiten. Doch in den dreißiger Jahren gründet er eine eigene Charanga und ver­schreibt sich dem Danzonete: dem Dan­zón, der die Einflüsse des Son aufnimmt als danzón cantado, also Danzón mit Ge­sang, aber ohne Chor. Der Danzonete lebt kurz, von Leidenschaft, Tragik, Bolero und vor allem durch Barbarito Diez/”Ay, Aurora”. Die Charanga López-Barroso allerdings wird bekannt nicht nur durch die Stimme von Barroso/Carusito, son­dern auch durch Orestes López, den Vater des künftigen Mambo.
Mambo statt Schwermut
Der Mambo ist das Zugeständnis des Danzón/Danzonete an die afrikanischen Wurzeln der kubanischen Musik: Schon 1939 erweitert das Orchester von Antonio Arcaño seine Charanga um Congas, und zusammen mit dem lebendigen Baßspiel von Israel López (dem legendären und be­scheidenen “Cachao”, der später die Cu­ban Jam Sessions im New Yorker Exil einführt) bekommt der Danzón einen neuen Rhythmus und der Tanz mehr Aus­gelassenheit. Durch den Mambo und an­dere Zutaten (Kuhglocke an den Timbales, Cello und Viola) gelangt der Danzón aus den bürgerlichen Salons auf die Straße und reicht von Havanna bis nach Yucatán. Der Mambo von Pérez Prado dagegen ent­steht erst zehn Jahre später und ist ein Markenzeichen ohne Danzón, denn der “König” des Mambo entwirft kein Arran­gement, sondern schafft einen eigenen Stil, mit Big Band, schnellerem Takt und kubanischer Perkussion, in Mexiko und weiter nördlich.
Orestes López entwickelt also den Dan­zón/Mambo und Arsenio Rodríguez, So­nero und Tresero, den Montuno (eine Art Mambo für den Son), doch Barroso kulti­viert nur die Melodie und Perfektion sei­ner Stimme. Barroso bleibt als Sonero oder Charanguero ein musikalischer Tra­ditionalist und gerät in den vierziger Jah­ren in Vergessenheit, während Beny Moré, inspiriert von Pérez Prado, die Po­saune in die afrokubanische Musik ein­führt, den Tres durch das Saxophon er­setzt und dem Mambo eine Stimme gibt. Beny Moré, nur der “Prinz” des Mambo, bleibt aber im Grunde beim Son, den er mit Mambo, Batanga und anderen Sachen anreichert. Barroso bleibt in der Versen­kung, aber die Arrangeure des Danzón sind kreativ, und mit dessen Entwicklung zum Cha-Cha-Cha in den fünfziger Jahren wird Barroso erneut entdeckt und singt mit dem Orchester Sensación: Cha-Cha-Cha ist der Enkel des gesungenen Danzón, mit kurzen Phrasen eines Chors, der von Violinen unterstützt wird. Barroso singt zwischen Flöten, Violinen und Chor, also im Orchester einer Charanga, im lang­samen Takt, zum Geräusch des schrap­penden Guiros (Flaschenkürbis) oder der schlurfenden Tanzschuhe: Cha-Cha-Cha.
Erst als Pachanga und Rock’n Roll Furore machen, in den späten Fünfzigern, kehrt Barroso nach Oriente zurück, zur Schwermut der Boleros und zur Tradition des Son. Barroso singt im Conjunto seiner Freunde, der Gloria Matancera, denn die alten Septette haben inzwischen eine zweite Trompete, Congas, Timbales und ein Klavier dazugenommen. In der Gloria Matancera indessen steht nicht das Kla­vier im Mittelpunkt (wie bei der berühm­ten Sonora Matancera und anderen Con­juntos), sondern der traditionelle Tres mit seinen drei Doppelsaiten und, natürlich, die Stimme Barrosos.
Barroso erreicht seinen künstlerischen Höhepunkt und das Maximum an dulzura als Sänger der Gloria Matancera. Er ver­edelt den Son und weitere Genres aus Ori­ente mit seiner Stimme und seiner Erfah­rung. Machito, einer der Big Three des Mambo in New York, arrangiert die “Guajira Guantanamera” mit vielen Saxo­phonen und Metall, aber der große Bar­roso zeigt bei “Guantanamera” wie auch sonst Innovation und Einfluß des Jazz in einer Mischung aus feeling und Kunstlied. Barroso verleiht der Stimme größere Frei­heit und damit dem Son eine neue Atmo­sphäre: seinen Gesang legt er mehr in die Harmonie als in den Rhythmus.
Barroso verändert also den Son durch seine Stimme und bereichert ihn um dul­zura und die Eleganz des Dan­zón/Danzonete. Dabei wandert er durch die ganze kubanische Musikgeschichte, fort von und immer wieder zurück zum Ursprung, dem Son. Aber Barroso, ay, en­det wie in einem tragischen Bolero, von den meisten Leuten verkannt und verges­sen, so wie der Danzonete.

Der schwarze Mittwoch

“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Po­lizeieinsatz mehr, selbst während der Mi­litärdiktatur (1973-1984) haben die Mili­cos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummi­geschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbe­waffnete DemonstrantInnen geschos­sen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwe­senheit des auf Wahlkampftour befindli­chen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und vertei­digt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen interna­tionalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenmi­nister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmen­zahl, für die Erzwingung einer großen An­frage zusammen­kam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stel­len mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Orga­nisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisa­tionen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Ver­bände und Organisationen haben Protest­schreiben geschickt und for­dern eine un­abhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Be­troffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt No­ten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hat­ten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splitter­gruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die ge­walttätigen Auseinandersetzungen provo­ziert hätten und beschuldigt zwei Ra­diosender, zur Gewalt angestiftet zu ha­ben. Ein Staats­anwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinforma­tion, Verun­glimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erhebli­chen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großak­tion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechts­brü­che, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, ei­nige da­von waren minderjährig, erkennungs­dienstlich be­handelt und verhört. Bei den Hausdurch­suchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Poli­zeibeamte zu­gegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfah­ren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisun­gen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstüt­zung der baskischen Gefangenen. Es wur­den Veranstaltungen und Demonstratio­nen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Ge­fangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hunger­streik “bis zur letzten Konse­quenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aus­setzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden überge­ben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Fren­te Amplio dürfen mit den Gefangenen spre­chen. Die Presse trifft vor dem Ho­spital ein, um Interviews zu ma­chen und zu be­richten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der be­handelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerk­schaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kund­gebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Am­plio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen ver­schärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglich­keiten auszuschöpfen. Innenmini­ster Gia­nola bleibt dabei, daß die Soli­daritätsdemos le­diglich politische Motive hätten und kün­digt an, daß die Ausliefe­rung am Mitt­woch, dem 24.8. durchge­führt werde. Am gleichen Tag wird be­kannt, daß ein Flug­zeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Ge­räten für Intensivmedi­zin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unter­schriften wer­den zur Unterstützung eines Gesetzesan­trags vor­gelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Wäh­rend sich der Gesund­heitszustand der drei Basken stän­dig ver­schlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, po­litisches Asyl fÜr die Basken zu errei­chen, sind bislang ge­scheitert, die Regie­rung beharrt auf ihrer Hal­tung: “Es gibt einen Beschluß der Ju­stiz zur Ausliefe­rung der Basken, wer ge­gen die Ausfüh­rung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsge­walt.” Es wird berich­tet, daß mehrere Be­amte der spanischen Polizei in Monte­video anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerk­schaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien be­richten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demon­strationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Ban­ken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunkti­onsstörungen und Jesús Goitia wird we­gen Herzbeschwerden auf die Intensivsta­tion verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu er­reichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ent­scheidet mit knapper Mehrheit den Gene­ralstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu ei­ner er­neuten Kundgebung vor der Klinik auf­gerufen. Der uru­guayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen An­ruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spa­nische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamenta­riern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten ab­geriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Kli­nik räumt. Immer mehr Menschen kom­men während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Ver­such, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentre­ten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspä­tung ein, weil der Flughafen in Montevi­deo abgeriegelt und nach Bomben durch­sucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gas­granaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletz­ten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politi­schen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen ge­gen Journali­stInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Kranken­wagen, eskortiert von neun Polizei­fahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise be­ritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was pas­siert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Poli­zei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Rich­tungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Po­lizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berich­ten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeiein­satz. Die Sender haben sich zu einer ge­meinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten drin­gend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurück­zuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden nie­mand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abge­stellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenko­lonne, welche die drei Basken zur Luft­waffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spani­schen Behör­den.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Mor­roni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Ver­letzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunken­ziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Kran­kenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensge­fahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festge­nommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni be­erdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich da­bei auf ein Dekret aus der Zeit der Mi­litärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsa­me Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus an­gemeldet werden müssen. Wenige Stun­den danach ordnet die Regie­rung die end­gültige Schließung von Radio Paname­ricana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesell­schaftsteile ab­zutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begrün­dung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirt­schaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsäch­lich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dicht­machen, weil einige wohlha­bende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen ha­ben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Ver­fahren gegen diese Anordnung. Die Mit­arbeiterInnen von Radio Panamericana setz­ten sich für den Erhalt ihrer Ar­beitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internatio­nale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radio­stationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und So­lidaritätserklärungen “tape­ziert”.

Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst

Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argenti­nisch-jüdisches Zentrum. In dem sieben­stöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlauf­stelle für bedürftige Menschen, ein Thea­ter und ein Arbeitsvermittlungsbüro un­tergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertre­tung der jüdischen Gemeinschaft in Ar­gentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jäh­riger Leiter des Instituts für jüdische Stu­dien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beer­digung teilgenommen.” Das Lebens­werk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig ver­lorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das At­tentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nut­zen, versprach: “Die geistigen und materi­ellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kur­zer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich da­gegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicher­heitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, er­klärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsge­benden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer ge­ladenen Stimmung gegenüber. Die Buh­rufe waren auf der Tribüne nicht zu über­hören.
Angesichts dieses zweiten großen Terror­anschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsi­denten noch vor kurzem als Erfolg ver­bucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das interna­tionale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusori­schen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außer­dem sei diese Entscheidung ohne Zu­stimmung des Kongresses per Dekret ver­ordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu ma­chen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignis­sen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interes­sant. Immerhin scheint der syrische Waf­fenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Me­nem zu sein. Der reiche Geschäfts­mann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, er­hielt die ar­gentinische Staatsbürgerschaft in der Re­kordzeit von 30 Tagen – eine er­staunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken ar­gentinischen Bürokratie. Den argentini­schen Reisepaß erhalten norma­lerweise selbst verheiratete AusländerIn­nen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienan­gehöriger der ehemaligen Prä­siden­ten­gattin. In elf Ta­gen erhielt er nicht nur das blaue Doku­ment, sondern auch noch einen verant­wortungsvollen Posten in der Zoll­behörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Dro­gen­geschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsan­walt Juán José Galeano außer der zweifel­haften Aussage eines ehemaligen irani­schen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag ver­wendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer irani­schen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauder­welsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die ira­nische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mit­glied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischspra­chige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentali­sten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachfor­schungen seien aber damals aufgrund in­nenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Prä­sidenten Menem mit Syrien” einge­stellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internatio­naler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdi­sche Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesell­schaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemü­hen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklä­rungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Natio­nalität oder seines Glaubens ver­dächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergan­genheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es un­ter Juan Domingo Perón zu Ausschreitun­gen gegenüber argentini­schen Juden. Über die “Rattenlinie” ge­langten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurch­schnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleich­zeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unter­schlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungs­antrag für einen deut­schen Nazi aus Italien vor: Der amerikani­sche Fernsehsender ABC hatte den ehe­maligen SS-Mann Erich Priebke in Bari­loche (Provincia de Río Negro) auf­gespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im Sep­tember eine besondere Überraschung: An­gehörige der 1944 exe­kutierten Italiener beabsichtigen, den ar­gentinischen Luft­kurort in Kürze zu besu­chen, um dem Auslieferungsgesuch Nach­druck zu ver­leihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppie­rungen in der Bundesrepublik und Argen­tinien sind bekannt. Ein Forschungspro­jekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeit­zeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argen­tinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie er­wähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachi­gen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runter­geht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventio­niert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanö­ver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzwei­felte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schän­dung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsitua­tionen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine be­sten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten un­zählige Porteños Werkzeuge und Lebens­mittel zu der israelischen Rettungsmann­schaft, die eigens eingeflo­gen worden war. Daß Angehörige von vermißten Per­sonen allerdings Anrufe er­hielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung ge­macht wurde: “Ich habe Ihre Tochter le­bend im Krankenhaus gesehen,” ver­deut­licht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, er­klärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nach­barschaft der AMIA fürchteten. Sportver­anstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeut­sche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. In­zwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetre­ten. Diese neue, schwer begreifbare Di­mension des Terrors stelle die Gesell­schaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheim­dienste durch eine eigenständige Bericht­erstattung zu durchbrechen und die Isola­tion der bedrohten Gruppe durch Solida­rität zu überwinden. Zudem sei die Mei­nung politisch unabhängiger Persönlich­keiten in solchen Krisensituationen äu­ßerst wichtig. “Die können eine psy­chologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politi­sches Kapital daraus schlagen wollen”

Der Wutausbruch des Juan Tama

Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine ge­tötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesi­gen Erd- und Schlammassen zu einer töd­lichen Lawine, die das Flußtal herunter­donnerte. Im Gegensatz zu damals er­eignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtig­sten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 blei­ben vermißt, und weitere 18 000 Men­schen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Tempe­raturen zwischen fünf und zehn Grad hau­sen hier 2000 Menschen in teils gespen­deten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Mos­coco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikpla­nen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Mo­ment reißen kann. Rotbraune Narben ver­unstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Gue­rilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco be­richtet, dort hätten Soldaten einen Ge­sundheitsposten demoliert und nach Waf­fen durchsucht. Die Lebensmittelvertei­lung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwi­schen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes so­wie den Führern der hier vertretenen Dorfgemein­schaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler In­dianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Stra­ßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ih­rer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zu­sammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine we­niger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privat­besitzern abkaufen, zu denen auch Dro­genhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebener­werbsquellen vieler Bauern dar. Die Na­turkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in die­sem Jahr wieder verstärkt angelegt wor­den waren. Die desolate ökonomische Si­tuation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwen­dige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Ab­kommen über die Ersetzung des Mohnan­baus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungs­zentrum in Tóez gehörte zu diesem Pro­gramm. Der Substitutionspro­zeß war je­doch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regie­rung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist um­stritten. Fest steht, daß WissenschaftlerIn­nen bereits 1986 eine Landkarte der Re­gion mit den jetzt verwüsteten Risikoge­bieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziem­lich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwort­lichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettanti­sche Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Me­dien waren denen der Regierung weit vor­aus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wie­deraufbau erst einklagen. Der von der Re­gierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region wi­derspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterIn­nen regierungs­naher Positionen die Mehr­heit. Dazu gehört auch der Bogotaner Ar­chäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit sei­nen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Haupt­attraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Erne­sto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitge­nommen zu haben, ohne die vorgeschrie­benen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. An­dere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Wei­ßen aus dem Gleichgewicht gebracht wor­den sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Wider­stand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und be­hauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzu­bringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Da­neben gibt es Parteipolitiker, Kirchen­obere und VertreterInnen der anderen eth­nischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierra­dentro stellt zweifellos einen Fort­schritt gegenüber der Bewältigung des Vul­kanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wil­ches: “Die Krise ist eine Zeit der Ge­fahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Me­stizen und Indianern.” In den kom­menden Monaten wird sich zeigen, ob die Kom­mission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederauf­baus.

“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit An­tonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizeprä­sidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängig­keit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Gue­rilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinan­dergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmäh­lich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflan­zen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianer­führer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht ein­verstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wie­deraufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission ka­nalisiert werden. Der CRIC hat dies be­reits auf seiner letzten Sitzung beschlos­sen.

Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg

Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.

Joint Implementation

Auch wenn das Vertragswerk eine müh­sam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten ver­pflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabi­lisieren, das einen gefährlichen, men­schenverursachten Eingriff in das Klima­system verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstem­peratur darf nur in einem Umfang erfol­gen, in dem die Ökosysteme und die glo­bale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu überneh­men.
* Die Industrieländer müs­sen auf jährlich stattfindenden Konferen­zen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderun­gen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie näm­lich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwen­dige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaaten­konferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den inter­nationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Re­duktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskus­sion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vorder­grund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomi­sches Kalkül: Da Treibhausgase unabhän­gig von ihrem Emissionsort, also nicht re­gional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treib­hausgas-Reduktionen durchgeführt wer­den. Deshalb kann, zumindest aus techni­scher Sicht, mit den billigsten Redukti­onsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Re­duktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuro­pas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wär­menutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationslän­dern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Indu­strie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungslän­der auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umwelt­politische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöf­fentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökono­mischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Ener­gie/CO2-Steuer einführen, so steht die In­dustrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwick­lungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Auf­forstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced im­pact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Re­publik Tschechien und die Reperatur un­dichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches In­strument zur Bekämpfung des Treibhaus­effektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderi­schen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Im­plementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Ent­stehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Im­plementation zudem die erwünschte Len­kungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Indu­strieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglich­keit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwor­tet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Pro­jektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit ei­nem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran ha­ben, von einem möglichst hohen Emissi­onsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen ent­stehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Um­fang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den In­dustrieländern als ökologisch nicht tragfä­hig erwiesen. Dezentrale Formen der En­ergieversorgung wie Kraftwärmekopp­lung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsinten­sive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technolo­gietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malay­sia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwick­lungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonia­lism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwick­lungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die In­dustrieländer jedoch einen mächtigen He­bel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation wer­den durchsetzen können.

“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

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