Debatten jenseits der Wirklichkeit

Pragmatische Frauenlobby
Drei Wochen lang tagten auf der letzten Vorbereitungskonferenz für Kairo (Prepcom) Regierungsdelegationen und insgesamt 1200 VertreterInnen von ge­ladenen NGOs in New York. Sie korri­gierten an einem rund 100-seitigen Papier herum, dem sogenannten “Weltaktions­plan”, der nicht weniger als eine Richtlinie für die nächsten 20 Jahre internationaler Bevölkerungspolitik dar­stellen soll. Er wird in Kairo zur Unter­zeichnung vor­liegen.
Anfangs wurde auf der Konferenz daran gearbeitet, den Spagat zwischen weiterhin formulierten demographischen Zielset­zungen und der allgemein bezeugten Ab­leh­nung von Zwangsmaßnahmen gegen Frauen zu kaschieren. Die Kritik von Frauen­gesundheitsorganisationen an der Pra­xis von Familienplanungsprogrammen hat inzwischen Eingang in die Diskurse bevölkerungspolitischer Institutionen und Regierungen gefunden. Freiwilligkeit, Wahl­freiheit der Verhütungsmethoden, Beachtung der sozialen und kulturellen Hintergründe und die Achtung der repro­duktiven Gesundheit von Frauen sind all­gemeinbenutzte Floskeln. Den Vertrete­rinnen von Frauenorganisa­tionen, die einen Großteil der NGO-Dele­gierten aus­machten, gelang es in profes­sioneller Lobbyarbeit, weitere Formulie­rungen über ethische Normen und Quali­tät von Familienplanungsprogrammen im Akti­onsplan durchzusetzen. Damit ließen sie sich jedoch auf den ideologischen Rah­men des Planes ein: die Verknüpfung von Bevölke­rungswachstum als Ursachefaktor mit ver­schiedensten gesellschaftlichen Problemen wie Verarmung, Flucht und Umweltzer­störung. Die internationale Kontro­verse innerhalb der Frauenbewe­gungen, ob Bevölkerungspolitik an sich notwendig und feministisch reformierbar ist oder als Herrschaftsstrategie und bio­logistische Ideologie grundsätzlich be­kämpft werden muß, wurde unter den Tisch gekehrt. Und dies, obwohl demo­graphische Zielsetzun­gen weiterhin Teil des Aktionsplanes sind.
Der offizielle Machbarkeitswahn sieht keine Widersprüche zwischen Freiwillig­keit der Geburtenkontrolle und demogra­phischen Zielen. Die Weltbevölkerung soll ohne Zwangsmaßnahmen bis zum Jahr 2015 auf 7,3 Milliarden Menschen “stabilisiert” werden. Familienplanungs­programme sollen lediglich die statistisch genau ermittelte Anzahl von Frauen errei­chen, die an einem “ungedeckten Bedarf” an Verhütungsangeboten leiden. Wie dies geschehen soll, drücken die bevölke­rungspolitischen Planer auch hauptpsäch­lich in Zahlen aus. Bis zum Jahr 2000 soll der Etat für bevölkerungspolitische Pro­gramme international auf insgesamt 13 Milliarden US-Dollar steigen. Dazu wer­den die Re­gierungsbudgets für Familien­planung offi­ziell von 1,4 auf 4 Prozent der Entwick­lungshilfegelder erweitert, also zu Lasten anderer entwicklungspolitischer Etats. Die von der pragmatischen Frauen­position unterstützte Strategie, sozialpoli­tische Progamme zur Voraussetzung von mehr Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen zu erklären, erweist sich damit als Farce.
Massive päpstliche Intervention verdeckt Konflikte
Erfolg oder Vereinnahmung: So oder so wurden die Korrekturen der Frauenlobby durch die Intervention des Vatikans im zweiten Teil der Konferenz wieder zu­nichte gemacht. Der durch das Konsens­prinzip und als Vollmitglied mit Macht ausgestattete “Heilige Stuhl” erreichte es mit Unterstützung der Delegationen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala, Malta und Kroatien, daß die wichtigsten Formu­lierungen zu reproduktiver Gesundheit wieder in Klammern gesetzt wurden und damit in Kairo neu verhandelt werden müssen. Die päpstliche Lobby stellte nicht nur den Zugang zu sicheren Abtreibungs­möglichkeiten und zu “künstlichen” Ver­hütungsmitteln in Frage. Auch die Passa­gen über ein Individualrecht an Geburten­kontrolle, die dem traditionellen katholi­schen Familienbild widersprechen, waren Angriffspunkte. Diese Polarisierungsstra­tegie des Papstes, der inzwischen in der argentinischen Regierung einen weiteren Bündnispartner gefunden hat, führt dazu, daß nicht nur die Widersprüche innerhalb der Frauenbewegungen, sondern auch zwischen bevölkerungspolitischen Institu­tionen und Frauenbewegung öffentlich unsichtbar werden. Damit verringert sich auch der politische Spielraum der Frau­enlobby weiter.
Kanther-Bericht verärgert NGOs
Unter diesen Bedingungen bemüht sich die Bundesregierung noch nachträglich, ihre dem Bundesinnenministerium unter­stehende Nationale Kommission durch eine Frauenrepräsentantin aus dem Deut­schen Frauenrat aufzupeppen und warb Mitte Juni auf einem NGO-Hearing um dessen Teilnahme. Die deutsche Regie­rungsdelegation wird international beson­ders beobachtet, weil sie wegen der deut­schen EU-Präsidentschaft als Sprecherin des europäischen Blocks auf der Welt­bevölkerungskonferenz auftreten wird. Sie besteht bisher als eine der wenigen Dele­gationen ausschließlich aus Männern: Vertreten sind Bundes- und Ländermini­sterien, die Kirche, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sowie verschie­dene etablierte NGOs, unter anderem die 1991 von Unternehmern gegründete Deut­sche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).
Aber selbst in dieser Herrenrunde gelang es der Kanther-Behörde nicht, ihren bei der Prepcom vorgelegten Regierungs­bericht als Dokument der “Zivilgesell­schaft” darzustellen. Die DSW sah den Bericht anscheinend als kon­traproduktiv für ihr liberales Image an. Sie kritisierte, daß er Deutschland nicht zum Einwande­rungsland erkläre und verwei­gerte die Zu­stimmung. Die DSW hat es innerhalb kürzester Zeit mit Fernsehauf­tritten, Hochglanzbroschüren und renom­mierten Mit­gliedern aus ARD, GTZ und der Be­völkerungswissenschaft erreicht, als Re­präsentantin einer seriösen um das “Weltbevölkerungsproblem” besorgten Öffentlichkeit zu gelten.
Der Regierungsbericht bedient die apo­kalyptischen Visionen von uns überflu­tenden Menschenmassen, wie sie seit ei­niger Zeit in Medien wie SÜDDEUT­SCHE, SPIEGEL oder ZEIT zum Thema Bevölkerungswachstum verbreitet wer­den. So lobt der Bericht das neue Asyl­recht und die Ausländergesetzgebung als geeignete Mittel, dem “Wanderungsdruck auf Westeuropa” entgegenzuwirken: “Die angestrebte Integration (von Ausländern) ist aber nur möglich, wenn der weitere Zuzug aus den Staaten außerhalb der Eu­ropäischen Union begrenzt und gesteuert wird.” Dem in dem Bericht ausführlich beklagten “Bevölkerungsrückgang” und der “Alterung” der deutschen Bevölkerung könne deswegen nicht durch Einwande­rung entgegengewirkt werden. Unterstri­chen wird dies durch Anwendung des deutschen Lex Sanguinis in den beige­fügten demographischen Prognosen: Bis in das Jahr 2030 wird das Wachstum der Kategorie ausländische Bevölkerung ge­trennt von der Kategorie deutsche Bevöl­kerung hochgerechnet. Eine implizit durch diese Betrachtungen nahegelegte pronata­listische Politik für letztere will die Regie­rungskommission allerdings nicht dekla­rieren. Der Bericht sieht von einer “Zielvorstellung für die künftige Gebur­tenentwicklung” in der BRD ab. Famili­enpolitik habe eine eigenständige Bedeu­tung.
Anders sieht es dagegen bei Bevölke­rungspolitik im Rahmen internationaler Entwicklungspolitik aus. Die Ursachen des “Wanderungsdrucks” werden zwar als “komplex” beschrieben. Die angepriesene Lösung ist aber einfach die Bekämpfung der Ursache “Überbevölkerung” durch die Erhöhung des Etats des Bundesministe­riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für Familienplanungsprogramme. Das BMZ hat seit 1991 Bevölkerungs­politik zu einem Schwerpunkt internatio­naler Entwicklungshilfe erklärt und die Gelder dafür von 74 Millionen DM 1990 auf 160 Millionen DM 1993 erhöht. Dar­über hinaus schlägt der Bericht für die Zukunft eine Art bevölkerungspolitische Konditionie­rung von Entwicklungspolitik, eine “Überprüfung von Projektansätzen auf eine mögliche Einbindung be­völ­ke­rungs­politisch wirksamer Maßnahmen” vor.
Liberaler Mainstream
Mit diesem zweiten, entwicklungspoliti­schen Teil des Regierungsberichts hat die liberale Öffentlichkeit keine Probleme. Die in den 70er Jahren noch in breiteren Kreisen umstrittene Verknüpfung von Be­völkerungswachstum und Um­weltzer­störung/Verarmung gilt heute als objek­tive Tatsache. Dabei gehen die in Öko­lo­gie und Entwicklungspolitik enga­gierten Lobbyisten nicht mehr so platt von Be­völ­ke­rungswachstum als alleiniger Ur­sache von Armut und Umweltzerstörung aus, son­dern präsentieren komplizierte Mo­del­le von Wechselwirkungen ver­schiedener sich gegenseitig beeinflussen­der Faktoren. Die Menschenzahl sei nur eine der zu re­du­zierenden Größen, auf die man sich aber gerade spezialisiert habe. Der Öko­Marshallplan etwa, der von Franz Alt zu­sammen mit vier Umweltpolitikern aus CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im letz­ten Jahr proklamiert wurde, fordert von Ent­wicklungsländern eine Bekämp­fung der “Bevölkerungsexplosion” und stellt dies als gleichwertige Aufgabe zu einer Po­litik der CO-2-Reduzierung in den In­du­striestaaten dar. Menschen und Schad­stoffemissionen werden dabei zu kompa­ti­blen, als politische Verhand­lungsmasse einsetzbaren Größen.
Auch die von verschiedenen Entwick­lungshilfeagenturen (Brot für die Welt, Misereor, Terre des Hommes, GEPA, DED u.a.) getragene Kampagne “Eine Welt” hat sich dieses Jahr das “Welt­bevöl­kerungsproblem” auf ihre Fah­nen ge­schrieben. Dazu hat “Eine Welt” mit Sub­ventionen des BMZ preisgünstige Unter­richtsmaterialien in einer Auflage von 50.000 Exemplaren produziert. Die Titel­frage “Ein überbevölkerter Planet?” wird im Text folgendermaßen beantwortet (Sug­gestiv wird die Antwort schon auf dem Deckblatt nahegelegt. Ein Foto zeigt eine hinter einem Stacheldrahtzaun wartende Menge schwarzer Menschen): “Überbevölkerung ist auch im Zusam­menhang mit den ökologischen Zerstö­rungen nur ein Faktor der Erklärung, der allerdings vor allem lokal für die konkrete Umwelt in der Dritten Welt eine erhebli­che Bedeutung hat”. Auch hier wird Be­völkerung zur Variable für die Lösung von sich in Entwicklungsländern zuspit­zenden sozialen Problemen. Und auch ein weiterer Trend zeigt sich in dieser angeb­lich zum Fragen und Lernen anregenden Broschüre. Die realen Auswirkungen der bereits seit dem Zweiten Weltkrieg beste­henden Programme bevölkerungspoliti­scher Agenturen auf das Alltagsleben von Frauen werden ausgeblendet. An deren Stelle treten allgemeine Empfehlungsflos­keln: “Das ‘generative Verhalten’ der Menschen ist von einer Vielzahl sozialer und kultureller Faktoren abhängig; das bedeutet auch, daß Bevölkerungspolitik, die auf dieses Verhalten Einfluß nehmen will, die Vieldimensionalität dieses Be­reichs anerkennen muß”.
Wirklichkeit in die Debatte einbringen
Die Frauenorganisationen UBINIG aus Bangladesh und AWHCR von den Philip­pinen wollen solchen Plastiksätzen mit ei­nem Internationalen Hearing “Crimes Against Women Related to Population Policies” auf der Konferenz in Kairo ent­gegenwirken und damit “die Wirklichkeit von Frauen in die Debatten über Bevölke­rung und Entwicklung einbringen. Denn viele dieser Diskussionen sind ihres Kon­textes beraubt worden.”
In der BRD ist die BUKO-Pharmakampa­gne gegen die schon weit entwickelten Forschungen an einem Antischwanger­schaftsimpfstoff ein Beispiel der Kritik an den tatsächlichen Entwicklungen in den Methoden von Bevölkerungspolitik. Auch die Bundesregierung finanziert über die Weltgesundheitsorganisation die Ent­wicklung eines Impfstoffes, der darauf ausgerichtet ist, das Immunsystem von Frauen auf eine Abwehrreaktion gegen die als Epidemie konstruierte Schwanger­schaft umzupolen. Einziger Zweck eines solchen in seinen Konsequenzen für die Gesundheit von Frauen nicht abschätzba­ren Eingriffs in das Immunsystem kann nur sein, einen Schritt weiterzugehen in der Entwicklung möglichst massenhaft und billig einsetzbarer, der Kontrolle und Motivation von Frauen entzogenen lang­fristig wirksamen Verhütungsmethoden.

Der Artikel speist sich im we­sent­lichen aus den in den blät­tern des iz3w Nr. 198 Juni/Juli (Schwer­punkt: Be­völ­kerungs­politik) er­schie­nenen Ar­ti­keln von Ingrid Schneider über die in­ter­na­tio­nale Vor­be­rei­tungs­kon­ferenz und von Ute Sprenger über die Vor­be­reitungen der Bundes­regierung (blät­ter Nr 196).
Die LN hatten in der Nummer 231/232 einen Schwer­punkt zum Thema Be­völ­kerungs­politik, in dem auch ein längerer Artikel von Susanne Schultz ab­ge­druckt ist. Die ge­naue Über­sicht ist im bei­ge­hef­teten In­dex zu finden.

Streiter für eine andere politische Kultur

Mariátegui, der in Anlehnung an den Titel einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift “Amauta” genannt wurde, was in der In­dianersprache Quechua soviel wie “Weiser” oder “Gelehrter” bedeutet, war weder das eine noch das andere im klassischen Sinne. Die Elfenbeinturm­mentalität vieler Intellektueller war ihm verhaßt, das künstlerische und akade­mische Establishment griff er an, wo im­mer er konnte. Seine kurze Lebens­spanne (1894-1930) war auch nicht dazu angetan, aus ihm einen “Weisen” jenseits der poli­tischen Auseinandersetzungen zu machen. Bereits als Kind war er von einer schwe­ren Krankheit gezeichnet, wegen der er sich mehreren Operationen unter­ziehen mußte, die ihn nach der Amputation eines Beines an den Rollstuhl fesselte und schließlich das Leben kostete. Vielleicht hat diese Krankheit dazu bei­getragen, daß er rastlos und fieberhaft al­les Neue in sich aufsog, daß seine Schrif­ten in vielem fragmentarisch blieben und seine Aktio­nen polemisch. Nein, ein “Weiser” war er nicht, sondern vielmehr ein in den gesell­schaftlichen Kämpfen en­gagierter Intel­lektueller im besten Sinne des Wortes.
Mariátegui war Zeitzeuge der großen ökonomisch-politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen am Beginn des 20. Jahrhunderts: Die mexikanische und die russische Revolution sowie den Bruch der historischen Avantgardebewegungen (Dada, Futurismus, Surrealismus) mit der Geschichte der europäischen Kunst be­grüßte er enthusiastisch und begleitete sie kritisch. Alles Rückwärtsgewandte verab­scheute er, den pasadismo (die Vergan­genheitsliebe) der peruanischen Eliten sah er als Dekadenzerscheinung an, als Blind­heit gegenüber dem Geist einer neuen Zeit.
Diesen esprit nouveau sah er in der mo­dernen Kunst und in Sergeij Tretjakovs Ideal einer in die gesellschaftlichen Kämpfe eingreifenden Produktionskunst ebenso angedeutet, wie in der Philosophie Albert Einsteins und den politischen Theorien von Antonio Gramsci, Benedetto Croce oder George Sorel. Der Kampf für die Durchsetzung, für die Hegemonie die­ser neuen Ideen war in Mariáteguis Den­ken untrennbar mit denjenigen für die so­zialistische Revolution verbunden. Beide, kulturelle Hegemonie und Revolution, sollten aber in seinen Vorstellungen spezifisch peruanische Züge annehmen (daher der programmatische Titel einer seiner Kolumnen: Peruanisieren wir Peru). Nicht die rückwärtsgewandte Utopie der Restauration des Inkareiches Tawantin­suyo, wie sie von einigen Indigenisten vertreten wurde, war sein Ideal. Seine Utopie war eine sozialistische Gesell­schaft, die den kulturellen Dualismus von indianischer und westlich-abendländischer Welt in Peru versöhnen und in einer pe­ruanischen Nationalkultur aufheben sollte. Nation und Nationalkultur waren deshalb für Mariátegui utopische und – das muß besonders betont werden – antinationalisti­sche Begriffe.
Zwischen Indigenismo und Gramsci
Bereits mit vierzehn Jahren schreibt Ma­riátegui seine ersten Artikel für die Tages­zeitung La Prensa. Anfangs ist er haupt­sächlich von christlichem Ideengut begei­stert; daneben finden sich auch die zeitty­pischen Einflüsse von Positivismus und Dekadenz der Boheme des Fin de siècle wieder. Gleichzeitig hält er Kontakt zu den verschiedenen Gruppierungen der Indigenisten, die den Rassismus der Wei­ßen gegenüber der indianischen Bevölke­rung Perus anprangern und sich entweder für eine (allerdings paternalistisch ver­standene) Integration der Quechua und Aymara in die peruanische oder für die Wiederherstellung der inkaischen Gesell­schaft einsetzen. Später wird Mariátegui mit den Ideen seiner Jugendzeit hart ins Gericht gehen und sie als seine “Steinzeit” bezeichnen, auch wenn er sich von seinen religiösen und indigenistischen Ideen nie völlig lossagt.
Wegen seiner Kritik am Regime Augusto Leguías wird Mariátegui 1919 vor die Alternative gestellt, entweder ins Gefäng­nis zu gehen oder mit Hilfe eines Stipen­diums für einen längeren Aufenthalt in Europa außer Landes “gelobt” zu werden. Er entscheidet sich für die zweite Mög­lichkeit und verbringt fast vier Jahre in Frankreich, Italien und Deutschland. Diese Zeit markiert den entscheidenden Bruch in seinem Leben und seinen Auf­fassungen. Er trifft bedeutende Denker je­ner Zeit wie Henri Barbusse, Benedetto Croce und Antonio Gramsci, deren Ideen großen Einfluß auf ihn ausüben. Die Be­kanntschaft mit einer Reihe von avantgar­distischen Künstlern verändert radikal seine Vorstellungen von der gesell­schaftlichen Funktion der Kunst.
Nach seiner Rückkehr aus Europa arbeitet Mariátegui zuerst als Dozent in der neu­gegründeten Volksuniversität, die von Raúl Haya de la Torre, dem Begründer der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), organisiert wird. Daneben schreibt er für verschiedene Zeitungen und gründet selbst 1926 die Zeitschrift “Amauta” und 1928 “Labor”. Während “Amauta” für viele Themen und Autoren offen ist, sofern sie im weitesten Sinne so­zialistisch, avantgardistisch oder indigeni­stisch sind, widmet sich “Labor” in erster Linie den Fragen der Arbeiterbewegung.
Außer seiner publizistischen Tätigkeit en­gagiert sich Mariátegui auch weiterhin politisch. Er gründet die sozialistische Partei Perus und setzt sich in einer har­schen Polemik mit Haya de la Torre aus­einander. Während letzterer aus der APRA eine nach leninistischem Muster organisierte Kaderpartei formt und zugleich populistische Ideen vertritt, ver­wirft Mariátegui ein solches Konzept für die sozialistische Partei zugunsten einer demokratischeren, offeneren Struktur. Die revolutionäre Masse stellt für ihn nicht eine einheitliche, uniforme, sondern eine vielfältige Bewegung dar. Auch mit der Komintern, die 1929 in Buenos Aires tagt, liegt er im Streit. Innerhalb der Internationalen wird zu dieser Zeit die Ansicht vertreten, daß man den Indianern Lateinamerikas ein Recht auf nationale Selbstbestimmung zugestehen und folg­lich die Gründung indianischer Republi­ken fördern sollte. Mariátegui dagegen sieht Peru als eine im Werden begriffene Nation an, in die die Quechua und Ay­mara integriert werden sollten. Für ihn ist das sogenannte “Indioproblem” letztlich kein ethnisches, sondern ein Problem des Bodens, der Landverteilung. Diese letzte Auseinandersetzung seines Lebens hat er allerdings schon nicht mehr mit aller Kraft führen können. Was Alberto Flores Ga­lindo “die Agonie Mariáteguis” genannt hat, findet seinen Höhepunkt darin, daß er den Vorsitz der sozialistischen Partei Pe­rus kurz vor seinem Tod niederlegt. Am 30. April 1930 stirbt José Carlos Mariáte­gui, ohne daß er für die Zukunft der Partei oder für die Auseinandersetzung mit der Komintern eine klare Richtung vorge­geben hätte. Erst jetzt benennt sich die sozialistische in kommunistische Par­tei um und folgt weitgehend den Direkti­ven der Komintern.
Die peruanische Wirklichkeit interpretieren
Zu Lebzeiten Mariáteguis erscheinen le­diglich zwei seiner Essaysammlungen als Bücher: 1925 “La escena contemporánea” (Die zeitgenössische Szenerie) und 1928 “Siete ensayos de interpretación de la re­alidad peruana” (Sieben Versuche, die pe­ruanische Wirklichkeit zu verstehen). Alle übrigen werden postum aus den un­zähligen von ihm veröffentlichten Arti­keln zusammengestellt. Die beiden ge­nannten Bücher markieren allerdings be­reits die Eckpunkte bzw. Hauptthemen seiner publizistischen Arbeit. In La escena contemporánea behandelt er Themen der internationalen historischen Entwicklung: Der aufkommende Faschismus in Italien, die Krise der sozialistischen Bewegung in Westeuropa, die russische Revolution, die Rolle Asiens und damit der Peripherie in­nerhalb der revolutionären Umbrüche sowie die Stellung der Intelligenz und der Kunst zu und in diesen Ereignissen bilden die Hauptthemen des Buches.
In den “Sieben Versuchen” konzentriert er sich dagegen auf die ökonomischen und kulturellen Probleme Perus. Im ersten Es­say gibt er einen kurzen Abriß der öko­nomischen Entwicklung vom Inkareich (das er als Stadium des Urkommunismus sieht) über die feudalistische Kolonialzeit bis zu den Ansätzen einer kapitalistischen Industrialisierung am Beginn des 20. Jahr­hunderts unter Beibehaltung kolo­nialistischer Abhängigkeit. Das soge­nannte “Indioproblem” stellt sich ihm in den beiden folgenden Versuchen als Pro­blem des Bodenbesitzes und des Fortbestandes feudalistischer Strukturen sowie des gamonalismo in den Anden dar. Vor diesem Hintergrund behandelt Ma­riátegui auch die Problematik von Regio­nalismus und Zentralismus im sechsten Essay. Die Abhängigkeit des Bildungssy­stems von Europa und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Universitätsreform sowie der Dualismus von indianischer und katholischer Religion sind die Themen des vierten und fünften Versuchs. Im letzten der “Sieben Versuche” schließlich beab­sichtigt Mariátegui, der peruanischen Lite­ratur buchstäblich den Prozeß zu machen. Er teilt die Literaturgeschichte seines Landes in eine koloniale, eine kosmopoli­tische und eine nationale Phase ein, wobei die letzte ein uneingelöstes Projekt darstellt, das wie die peruanische Nation selbst erst im Werden begriffen ist. Wie wichtig für Mariátegui kulturelle Fragen waren, zeigt sich allein schon darin, daß dieser letzte Essay ein gutes Drittel seines Buches einnimmt. Der Kampf um eine revolutionäre Erneuerung der peruani­schen Gesellschaft war in seiner Vorstel­lung immer zugleich – und nicht erst in zweiter Linie – ein Kampf um die Erneue­rung der Kultur.
Und heute?
Was bleibt, jenseits von Vereinnahmung und Vergessen? Welche Denkanstöße können uns heute die Schriften Mariáte­guis zu Politik und Kultur geben? Wieviel davon ist für uns noch von Interesse?
Wenn man Mariáteguis Essays und im be­sonderen die “Sieben Versuche, die pe­ruanische Wirklichkeit zu verstehen” liest, fällt eines sofort auf: die Aktualität einer Reihe von Themen, die er vor gut siebzig Jahren angeschnitten hat. Die Frage der Nationalkultur und eines antinationalisti­schen Verständnisses von Nationenbil­dung in Lateinamerika gehören ebenso dazu wie seine von einigen Befreiungs­theologen aufgenommenen Gedanken zur Religion als kollektivem Mythos. Seine Auseinandersetzungen mit Rassismus und Faschismus sowie mit dem Problem der Verzahnung von ethnischen und Klassen­konflikten gewinnen heute zu­nehmend an Aktualität und Brisanz. Vieles von dem, was in entwicklungstheo­retischen Model­len seit den späten sechzi­ger Jahren ausgeführt wird, hat Mariátegui zumindest angedacht. Das gilt auch für die lateinamerikanische Literatursoziologie, die seine Ideen erst Ende der siebziger Jahre aufgegriffen hat.
Vor allem aber gehört er, wenn man ihn denn überhaupt einordnen will, in eine Li­nie mit Vertretern eines unorthodoxen Marxismus wie etwa Tretjakov, Gramsci und Benjamin; eine Richtung, die sich schon zu seinen Lebzeiten nicht hat durchsetzen können – und nach seinem Tod noch viel weniger. Gerade in der ak­tuellen Krise des Marxismus und der Lin­ken überhaupt kann Mariátegui deshalb eine Funktion als Anreger zukommen. Er hat seine Schriften selbst einmal aus­drücklich als “Verteidigung des Marxis­mus” bezeichnet. Das sind sie bis heute geblieben, auch und gerade weil sie den Marxismus gegen seine eigenen Apolo­geten verteidigen. Mariátegui war, mit all seinen Widersprüchen, ein engagierter Intellektueller. Was er wollte, war nicht die Konstruktion eines großen Theoriege­bäudes, sondern ein ständiges Überdenken und Umformulieren der eigenen Vorstel­lungen. Die so oft betriebene Vereinnah­mung seiner Person und seiner Aussagen für unterschiedlichste politische Zwecke widerspricht deshalb geradezu seinem ei­genen Denken. Dagegen könnte er im be­sten Falle nicht etwa als Vorbild oder als “Amauta” in den heutigen Debatten eine Rolle spielen, sondern als Anreger im Streit um eine andere politische Kultur.

Auf Deutsch liegen vor:
Sieben Versuche, die peruanische Wirklich­keit zu verstehen. Berlin: Argument, 1986.
Revolution und peruanische Wirklichkeit. Ausgewählte politische Schriften. (Herausgegeben von Eleonore von Oert­zen). Frankfurt/Main: ISP`Verlag, 1986.

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

Insektizide auf Santiago

Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Frucht­fliegen, Schädlingen an Obstbäumen, be­gründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfin­denden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zu­ständigen Ratsmitglieder und die Bevölke­rung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber be­richtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Pro­testversammlungen zusammengekomme­nen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Abspra­che seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadt­verwaltungen und die Öffentlichkeit vor­her zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 An­rufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asth­maanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Be­sprühung wurde allerdings von den Be­hörden kategorisch abgestritten. Über­haupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Mala­thion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Ge­sundheitsbeschwerden der BewohnerIn­nen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vor­sichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhän­gen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft gewor­den, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und be­glückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportie­ren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexport­ländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Pro­blems, das die Wirtschaft des Landes be­einträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich ver­komplizieren, gelinge es nicht, die Frucht­fliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, rea­gierten empfindlich. So mußte das Auf­tauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA ge­meldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgespro­chen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Süd­afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Bra­silien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 be­legte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chileni­schen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste aus­gleichen. Die Exporte in die lateinameri­kanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkur­renzdrucks der beteiligten Länder unter­einander dürften diese Märkte jedoch be­grenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer La­dung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte be­troffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde wäh­rend der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberau­bende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtig­sten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Ton­nen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chi­les belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 al­lein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurück­zuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich da­bei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen in­zwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Um­strukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Ar­beitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Ar­beitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berück­sichtigung.

Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen

Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basis­komitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstrit­ten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit Po­litkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratIn­nen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte ange­droht, seine Kandidatur für das Präsiden­tenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stun­denlangen Debatten und zahlreichen ge­scheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Váz­quez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchge­bracht: Nin Novoa, Mitglied der regieren­den Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident La­calle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos auf­gibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Ma­riano Arana, ein Architekt und Stadtpla­ner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fort­schrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnis­ses, wie zum Beispiel die MLN-Tupama­ros und die UNIR, wehrten sich mit Hän­den und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen in­nerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Ver­hand­lungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Füh­rungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnis­politik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politi­sche Bünd­nisse, in denen man sich enga­gieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis her­aus”. In seiner Abschlußrede stellte Váz­quez dann The­men wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidari­tät und soziale Ge­rechtigkeit in den Mit­telpunkt. Eindring­lich verlangte er Ge­schlossenheit und er­innerte an die Ge­schichte dieser Organi­sation, die stets eng mit ihren Persönlich­keiten verbunden ge­wesen sei – wie zum Beispiel dem Grün­der der MLN-Tupama­ros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Váz­quez unter großem Bei­fall den Delegierten zu. Einige der anwe­senden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errich­tete die Frente in mehreren Arbeitsgrup­pen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte be­schloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politi­scher Organisationen, zusammenzuarbei­ten. Auslandseinsätze uruguayischer Sol­daten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klä­ren.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mer­cosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegier­tenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und ande­rer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schulden­dienstes und ein machtvoller Zusammen­schluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß inner­halb der Frente gerne mit “kritischer Un­terstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argenti­nien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und mögli­cher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Dele­gierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Colora­dopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mer­cosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vize­präsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Haupt­stadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.

Jenseits des sozialistischen Staates

Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Arm­reifen aus Meeres­muscheln, verschieden­farbige Glasperlen, ei­nen schneeweißen Py­jama und ein wei­teres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Din­ge benö­tigt. Wenn irgend mög­lich, soll ich dies alles bei meinem näch­sten Be­such nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cou­sine, “muß sei­nen Heiligen ma­chen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deut­schen Medien über die wirt­schaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließ­lich errei­chen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in de­nen Schreiberinnen vol­ler Sinn fürs Pro­fane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Aus­gehschuhe – und auch mal um eine Sonnen­brille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Nie­der­gangs der sozia­listischen Zentral­wirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren be­kennen sie sich im­mer mehr offen zu den bis­her vielfach dis­kriminierten Glaubens­vorstellungen, die so sehr ein Teil von ih­nen sind, daß man San­tería als die ge­heime und ver­kannte Volksre­ligion der Ku­baner an­sehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittler­weile so­gar in den früher ausschließlich Diploma­ten und ausländischen Touri­sten vorbehal­tenen di­plotiendas präsent ist. Im Mo­nat zu­vor hatte die Regie­rung die Dollari­sierung der kubanischen Wirtschaft legali­siert und allen Kuba­nern den Besitz der US-Währung er­laubt. An der Kasse der größ­ten diplo­tienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleich­falls mit Dol­lars gesegnete junge Kuba­nerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Syn­thetik­haut tragen, und ein förmlich geklei­deter Herr, der auffällt, weil er die begehr­ten und überteuerten Pro­dukte – überwieg­end US-amerikanischen Ur­sprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozia­listischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unter­hält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angeho­benen Preise für aguardiente de caña, ei­nem Zuckerrohr­schnaps, der für viele Ri­tuale der Santería un­entbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bun­ten Glasperlen ge­schmückt. Als Novi­zinnen der Santería müssen sie mehrere Mo­nate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Ent­spannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps be­ladenes Einkaufswägel­chen als näch­stes zur Kas­siererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmu­tende Zusammensetzung in der Warte­schlange der di­plotienda kann man als ty­pisch kubanisch an­sehen. Sie steht für die Gleich­zeitigkeit uns widersprüchlich er­scheinender Weltan­schauungssysteme und Or­ganisationsformen des Sozialismus, Kapi­talismus und der San­tería, die nicht erst seit jüngster Zeit ge­meinsam die ku­banische Gesell­schaft prägen. Alle drei Sys­teme sind auch während des so­zialistischen Staates für die Lebensorien­tierung vieler Kubaner wichtig geblieben, er­fuhren aber im Laufe der Zeit unter­schied­liche Gewichtungen. Dies wird be­sonders deutlich bei den soge­nannten “kleinen Leu­ten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch ent­gegen­steuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veran­schaulichen, will ich ein wenig von den Be­wohnern eines Stadt­viertels von Havanna, des barrio de los ta­baqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern die­ses Viertels verbin­det mich von 1981 an ein beson­deres Ver­hältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seit­her re­gelmäßig nach Kuba und besu­che dort für ei­nige Wochen auch meine Ver­wandten; denn meine Mutter war Kuba­nerin. An dieser Stelle mei­ner Familien­biographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Re­volution, in die Posi­tion einer Exilkubane­rin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnah­mefällen be­suchen. Dieses für sie schmerzhafte per­sönli­che Schicksal hat auch meine Sicht­weise von Kuba beeinflußt. Es hat sicher­lich meine Zuneigung zu den kleinen Leu­tenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Be­völkerungs­gruppen nicht zu polarisieren, son­dern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zu­sammenwirken.
Das barrio de los ta­baqueros war nie ein privi­legiertes Vier­tel. Die Bewoh­ner der Gründungszeit erzäh­len, daß es in den zwanziger Jahren von Tabak­fabrikanten an­ge­legt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusie­deln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf lei­sten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Aus­spruch hört, der Groß­vater habe damals das Grund­stück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstam­mung und in Schuld­knechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätig­keit als Kleinhändler von seinem Patrón freikau­fen können. Auch während sei­ner Arbeit in der Tabakfa­brik bot er, unter­stützt von seinen äl­testen Kindern, an ei­nem fahrba­ren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Ha­vanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim ein­tönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktober­revolution beflügelte ihre Hoff­nung auf eine gerechte, egalitäre Gesell­schaft. So verwun­dert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre gebore­nen Sohn den Vornamen Le­nin gab. Er selbst hatte bereits als Jugend­licher – mit prophetischer Weit­sicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Ca­stro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jah­ren hei­ratete, stammte aus beschei­denen Verhält­nissen. Sie wuchs we­niger bei ih­rem gutsi­tuierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als viel­mehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Her­kunft und Haut­farbe man sich in der Fa­milie hart­näckig ausschweigt. Wie viele Kubaner ver­suchen die Familienmit­glieder beharrlich, sich zu “verweß­lichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVer­weißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karita­tiven Einrichtungen der katholischen Kir­che, deren Vertreter großen Wert auf Di­stanz zum サAber­glaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, ko­kett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstel­lungen der Oberschicht orientierte, verhin­derte jedoch keines­wegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich je­weils einem bestimm­ten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, un­ter an­derem als großzügig, einneh­mend, kokett, lebenslustig und un­treu.
Die Töchter der Cari­dad oder Ochúns tru­gen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Men­schen ein­greift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohl­zustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbe­sondere in be­zug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Hei­ligen großzügige Es­sens- und Getränkega­ben dar, die anschlie­ßend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche wa­ren. So hielt auch ich lange Zeit die reini­genden Abreibun­gen mit Weihwasser und Köl­nisch Was­ser, die mir meine Mutter regelmä­ßig zu­kommen ließ, da­mit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Be­standteil orthodoxer katho­lischer Prakti­ken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach ge­sellschaftlichem Auf­stieg und wirtschaft­licher Absiche­rung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragma­tisch über Kleinunter­nehmertum zu verwirk­lichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel übli­chen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar unge­wöhnliche, aber trotz­dem nicht untypische Familienge­schichte hin. Unter gemeinsamer Anstren­gung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Ha­vanna und damit zu ei­nem bescheidenen Wohl­stand. In der Folge des Schwarzen Frei­tags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, ver­loren sie jedoch ihre ge­samten Erspar­nisse. Danach konnte sich die Familie ins­besondere durch den wirt­schaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die El­tern hatten großen Wert darauf ge­legt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch inter­national Er­folg. Die Musikerinnen verhalfen der Fa­milie wieder zu wirtschaftlichem Auf­stieg. An dessen Höhe­punkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltaus­stel­lung nach New York und er­füllte einer seiner Töchter den Le­benstraum einer Audi­enz beim Papst.
Das Liedgut der Frau­enband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstel­lungen der Sante­ría. Just als nach gut 30 Jah­ren das Musikge­schäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernah­men in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialisti­sche Staat förderte die Mu­sikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei ei­nem festen, relativ hohen Einkommen Aner­kennung und Beschäfti­gung als Mu­sikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialis­mus und für die Proteste der Stu­denten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirt­schaftlichen und politischen Krise be­stimmt waren, ver­hielten sie sich ab­wartend und konzen­trierten sich darauf, die alltäglichen Her­ausforderungen zu be­wältigen. Wie die mei­sten in ihrem Vier­tel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revo­lutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wan­delte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Un­terstützung für die ersten Veränderun­gen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so er­zählt man sich, über Nacht vom Katholizis­mus zum Gue­varismus und spen­dete – zum un­gläubigen Erstaunen der Familienangehöri­gen – ih­ren Schmuck für den Aufbau des So­zialismus. Bis zu ih­rem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Cari­dad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozia­listin der Familie und somit die Speziali­stin für Behördengänge und Kon­takte mit Parteistel­len.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revo­lution bei vielen Fa­milien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienange­hörige bekannten sich nun öffentlich un­zwei­deutig zum Sozialis­mus und erhielten bevor­zugten Zugang zu Woh­nungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Lu­xus­gütern wie Fernse­hern, Kühl­schränken und Autos. Die Mehr­heit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regie­rung jedoch eher spo­radisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Po­litik.
Bei der sozialisti­schen Staatspartei wa­ren die Werte des in­dividuellen Unterneh­mertums und des ortho­doxen Katholizis­mus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der frü­heren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Re­gierenden als rück­schrittlich, primitiv und gewaltverherrli­chend verpönt. Die öf­fentliche Haltung ei­nes Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozi­oökonomische Stel­lung entscheidend. Dies be­wirkte, daß die Bewoh­ner des Viertels in ihren Dis­kursen zuneh­mend die drei für sie wichti­gen Weltanschau­ungssysteme – den ku­banischen Sozialismus, den US-ameri­kanischen Kapitalismus und die Santería – iso­lierten, einander gegenüberstell­ten und plakativ nur für ein System Partei ergrif­fen.
Der idealtypische Dis­kurs des Soziali­stenu­ser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwie­gende Miß­stände durch per­sönliche Allein­gänge zu beseitigen. In Kuba hungert nie­mand, alle haben die gleichen Bildungschan­cen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den So­zialisten im materiel­len Bereich bewunder­ten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzu­führen, denn im Ge­gen­satz zu Fidel (und Che, der eine Son­der­rolle spielt) sind die normalen Men­schen äu­ßerst fehlbar.
Für den US-Kapitali­stenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kuba­ners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Gar­derobe und einem Auto. Da die Kubaner als Un­ternehmer unübertreff­lich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie be­reits in Miami unter Beweis stellen konn­ten.
Der idealtypische Dis­kurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Welt­anschau­ungssysteme groß gegeneinander ab­zuwä­gen, denn beide sind der Santería un­ter­geordnet. So krei­sen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Ver­wandte, Glaubens­genossen und andere be­einflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahe­stehen. Doch als ausgesprochener Prag­matiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdi­schen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenflie­ßen, das zeigte sich beim Abschluß der Pan­ameri­kanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit So­jaschrot ge­streckten Hack­fleischrationen und die mit Süß­kartof­felmehl versetzten Brötchen, die nach ei­nem Tag zu backstein­ähnlicher Härte mu­tierten, war kurzfri­stig ver­gessen. Auch die dem US-Kapitalis­mus zu­getanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überra­genden Erfolg der Sportler fast aus­schließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilli­gen Einsätze mehr­fach ausge­zeich­nete Arbeiterin er­klärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armband­uhr die farbigen Bän­der seines Hei­ligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner un­merklich die Hand ge­hoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegen­sätze zwischen den Verfech­tern des So­zialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zu­sammenarbeit zwischen erklärten Soziali­sten und “Nicht-Soziali­sten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger ange­wiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diploma­ten­viertel einnehmen zu können. Als ein­träglich erwei­sen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukom­men, um sie dann in den Schwarz­markt ein­speisen zu können. Au­ßerdem brau­chen sie für ihr ille­gales Kleinunterneh­mertum die Protektion durch die Parteigän­ger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter be­schaffen und produ­zieren, die die Zen­tralwirtschaft ent­weder gar nicht oder nicht in ausreichen­der Menge zur Verfüg­ung stellt. Die er­klärten Sozialisten wie­derum benötigen die Geschäf­temacher, um in den Genuß von illegal be­schafften Waren zu kom­men, ohne sich selbst die Hände schmut­zig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen bei­den Gruppen jedoch un­gleich verteilt. Über­spitzt könnte man sa­gen, daß, wäh­rend die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast ste­hen. Im All­tag aber ist das Zu­sammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die famili­äre Solidarität und die Einsicht abgesi­chert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäfte­macher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Kri­se, oder 1981, dem Jahr meines ersten Be­suches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftli­chen Wohlstandes be­zeichnen): die staat­lich gelenkte Zentral­wirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widme­ten die Revolutio­näre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksam­keit. Bezüglich den Zielvor­stellungen wur­den sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und an­derswo – ein Eispalast eingerich­tet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regel­mäßigkeit ein Kühlwagen auf, des­sen La­dung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbst­verständlichen monat­lichen Ratio­nen von Bier, Rum und Zigaret­ten waren während der Zeiten eines von der Sowjet­union mitgetra­genen wirtschaftli­chen Wohlstandes nicht un­wesentlich für die breite Unterstützung, der sich die soziali­stische Regierung er­freuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organi­sation der wirtschaft­lichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Re­gierung von Anfang an die gleichwertige In­tegration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrau­enEin Grund dafür war, daß ein in die Ar­beitswelt der Staats­betriebe inte­griertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garan­tierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaf­fung über die libreta, das Bezugs­scheinheft, war normalen Werktäti­gen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie en­gagierten Par­teimitgliedern. Neben ihrer サeigent­lichenFehler: Referenz nicht gefundenfrei­willigerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial ge­nannten Wirtschafts­krise Anfang der neun­ziger Jahre läßt sich folgendermaßen be­schreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Män­ner in die überladenen Busse oder steigen auf Last­wagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgas­wolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ih­nen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherin­nen reihen sich mit den libretas mehrerer Fami­lienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sin­kende Anzahl von Brötchen in geord­neten Bahnen zu hal­ten.
Zeitraubendes Schlan­gestehen gehört je­doch nicht zu den größeren Heraus­for­derungen für die Hausfrauen. Auf­grund der unregelmäßi­gen Belieferung der bo­de­gas, der Vertei­lerstellen, müssen sie zu­nächst einmal ausma­chen, wo über­haupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Be­wohnerin­nen des Viertels nicht ganz un­gelegen. Ihre Lebensart, ihre nie en­dende Gesprächsbe­reitschaft, sowie das Sozial­leben, das sich in den meist offenste­henden Häusern und un­ter den Vordäch­ern ab­spielt, fördern die Kommu­nikation, die wahrscheinlich sowieso als das vor­herrschende Grundbedürf­nis der Ku­ba­nerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informa­tionsnetz ist so eng­maschig und reaktions­schnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zu­letzt deswegen hoff­nungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwa­gen, behindert durch unzäh­lige Schlaglö­cher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaf­fung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen heran­gewachsen und füllt ein Gutteil des Vor­mittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die of­fene Haustür. Eine Nachbarin meldet auf­geregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Er­satz verwendeten rus­sischen Kartoffeln stechende Bauch­schmer­zen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Ap­petit­losigkeit ge­führt haben soll. Die Nach­barin bekommt ei­nige der frühmor­gens erstandenen Brötchen und über­nimmt da­für einen Stapel libretas für den Malanga-Ein­kauf. Eine halbe Stunde später klin­gelt das Telefon. Eine Ver­wandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gas­lastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus aus­gegangen ist, wird ei­ligst jemand zum LKW geschickt, der versu­chen muß, den Fahrer mit ein paar Geld­scheinen zu ei­nem kleinen Umweg zu bewe­gen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Um­ständlich kramt er aus einer verdeckt ge­haltenen Stoff­tasche selbstge­bastelte Pa­pierblumen heraus. Die Hausbewoh­nerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet ge­stern nacht sind einer Freundin die verstor­benen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen ange­rufen und berichtet, sie be­fürchte, die El­tern könnten eines ihrer Kinder krankma­chen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papier­blumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also wer­den sie dem Rentner abgekauft. Kurz da­nach übertritt eine andere Nachbarin ohne große For­malitä­ten die Schwelle des Hauses. Sie holt wie­der einmal die Dosen­milch ab, auf die die Kleinkinder ein An­recht haben. Die mei­sten Mütter des Vier­tels sind sich sicher, ebenso wie inzwi­schen auch viele kubanische Ernährungs­wissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömm­lich ist. Für einen relativ hohen Preis verkau­fen die Mütter die Do­senmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süß­speisen wie flan – ei­ner Art Pudding – ver­arbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Haus­frauen arbeitsteilig organisiert. Dabei ko­operieren an erster Stelle die Familien­mit­glieder. Am Rande dazu gehören die no­vios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmit­gliedern ihrer Künfti­gen in einer Art Vor­brautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbar­keit ge­testet werden. Manche Familien leisten sich professio­nelle Schlan­gesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstlei­stungssparte speziali­siert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegen­seitige Unter­stützung
Bei der Beschaffung von Gütern beson­ders behilflich sind sich die Mitglie­der von Santería-Gemeinschaf­ten, die eine rituelle Verwandtschaft zuein­ander pfle­gen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künf­tiges Mitglied aus ei­nem attraktiven Pro­duktions- oder Dienst­leistungszweig kommt, tun dies auch Gemein­schaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Ge­meinschaften des Vier­tels ist bekannt da­für, daß sie mit Er­folg Vertreter der wichtigsten Berufs­sparten zur regelmäßi­gen Teilnahme an reli­giösen Treffen hat be­wegen können: Ange­stellte von Fleisch- und Wurstfabri­ken, Großbäcke­reien, Ho­tels, Restaurants und Bars. In diesen schwe­ren Zeiten, in de­nen die früher gerühmte Gastfreund­schaft des Viertels zwangsweise suspen­diert ist, fin­den die einzigen großen Einla­dungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemein­schaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bo­deguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging die­ser risiko- und le­bensfreudige Mann dem Schicksal zahl­reicher bodegueros: Als bevor­zugte Sün­denböcke für den illegalen Klein­handel wurden sie nach einigen Jahren abge­setzt und kurzerhand für einige Zeit ins Ge­fängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bo­deguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichti­ger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bode­guero seinen ungewöhn­lichen Organisations- und Ge­schäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Na­menstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze auf­zustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solida­rität gibt es auch un­ter den älteren Gründungsmitglie­dern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwan­derung nach Havanna seit den dreißiger Jahren be­herbergt das Viertel heute, neben den Nach­kommen der Zigarren­dreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rück­ständig und mehr oder weniger unkulti­viert. Doch in letzter Zeit müssen die Habane­ros die früher herablas­send be­handelten gua­jiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Ver­wandte auf dem Land zu haben, die aller­lei nützliche Produkte be­sorgen können. Selbst die Sitte der guaji­ros, in den klei­nen Patios und Gemüsegär­ten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hüh­ner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Haba­neros geschätzt und zuneh­mend übernommen.
Im halblegalen und il­legalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händ­lerinnen meist nur サLuxusgegenständeHänd­lerinnen die bevorzug­ten Anlaufper­sonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der li­breta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr ille­gale Bereich zum ei­gentlichen Versor­gungsträger heran. Nun war man selbst bezüg­lich der elementar­sten Zutaten der kubani­schen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar stan­den diese Grundnah­rungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Liefe­rungen an die bodegas immer unvollstän­diger und seltener.
Frauenrollen und Männer­rollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaft­liche Situa­tion einer Familie bei weitem be­deutsamer sind als die werktäti­gen Män­ner und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestau­rants werden mitt­lerweile im Vier­tel betrieben. Andere Un­ternehmen, die vor­nehmlich von Frauen geführt wer­den, sind Schneidereien, Mani­küre- und Fri­seursa­lons. Welch wichtigen Teil der Ver­sorgung die Privathaushalte überneh­men, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe her­gestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zuneh­mend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben ar­beitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Vier­tels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Un­terschicht ernährten als Kleinproduzen­tin­nen und -händlerinnen die matrifokalen Fami­lien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Er­scheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirt­schaft war eher unregel­mäßig. Die Män­ner der Mittel- und Oberschicht hiel­ten sich neben der Familie mit ihrer offizi­ell angetrauten Frau oft noch weitere Fa­milien mit Nebenfrauen aus der Unter­schicht. Die Männer der Unter­schicht hin­gegen durch­liefen mehrere nicht legali­sierte, mono­game Beziehungen, die unio­nes libres. Bei Pro­blemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Fami­lie selbständig ernäh­ren zu können, war es vor der Revolution üb­lich, daß Mädchen ein Handwerk lern­ten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Er­werbstätigkeit wurde als regel­rechter Be­standteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Bezie­hungen und der Ar­beitsteilung zwischen den Geschlechtern in­nerhalb der matrifoka­len Familien ent­spricht ein spezifi­sches Selbstverständ­nis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunft­begabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe krei­sen daher die Dis­kurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwen­den seien, um einen Mann サfestzu­bindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt dei­nen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht ent­kommen. Dabei soll er aber den Ein­druck ha­ben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vor­liebe in der Öffent­lichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaf­tigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber pro­jizieren sie die ei­gene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne an­dere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüch­tig und rechtfertigen damit Vorschriften ih­rer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzei­ten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Re­gierung setzte der ma­trifokalen Familienor­ganisation das Ideal einer monogamen Klein­familie im Stil des europäischen Bürger­tums entge­gen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau glei­chermaßen in das Ar­beitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditio­nellen Geschlech­terbeziehung auf meh­rere Weisen entgegen. So hat sie die Legali­sierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnah­men auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensfor­men von サNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische Men­talitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaft­liche Be­deutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversor­gung ging die Regierung auf die Vorstel­lungen und die Gewohnheiten der サklei­nen LeuteFehler: Referenz nicht gefundene­ziali­stinnen und Speziali­sten gibt, die die Er­kenntnisse der Volks­medizin, der San­tería und der サwestlichen. Diese Art von Kranken­be­handlung war auch in den Zei­ten einer her­vorragend funktionieren­den staatlichen Gesund­heitsversorgung unter den Bewoh­nern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Wider­spruch zu sehen. Sogar das Renommierkranken­haus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizi­nischen Wissen­schaften der USA ausgerichtet und hervorragend aus­gestattet ist, ordne­ten die Leute ihrem eigenen Gesundheits­ver­ständnis unter. Be­zeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation die­ses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der An­sicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rech­nung mit ihrer Heili­gen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glückli­chen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile be­fürchten zu müssen.
Fast immer sind le­bensbedrohende Krank­heiten der Anlaß, einen religiösen Spe­zialisten aufzusuchen und sich in die Sante­ría einweihen zu las­sen. Jetzt, wo in den staatlichen Kranken­häusern Einweg­spritzen fehlen und die Bett­wäsche selbst mitge­bracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheits­systemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der so­zialistischen Regie­rung vehement be­kämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mo­bilisieren und als Weltanschau­ungs­system mit dem Sozialismus zu kon­kur­rieren vermag. Sie wurde zwar offizi­ell nicht verboten, doch schloß man Par­tei- und Santería-Mit­gliedschaft gegensei­tig aus. Da die Aus­übung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbe­son­dere für Familienmit­glieder, die in Regie­rungsinstitutionen ar­beiteten, gin­gen die Santeros zwangsweise mit großer Dis­kretion vor. Die Porzellan- oder Terra­kotta-Figu­ren, die Heilige re­präsentieren, die Suppenter­rinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengei­ster, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolu­tion, als Santería von der Ober­schicht und der katholischen Kir­che dis­kriminiert wurde – den Charakter des All­täglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unter­scheiden.
In den achtziger Jah­ren änderte die Regie­rung ihre rigide Hal­tung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Mu­sik und die Rituale der Sante­ría durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nut­zen und zugleich deren religiöse Bedeu­tungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Ein­hei­mische erachteten jetzt Santería als we­sentlichen Bestandteil der nationalen Identi­tät der Kubaner. Auch überstand die reli­giöse Integrität der Santeros offenbar un­beschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligen­festen in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclub­publikum dieselben hei­ligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz er­greifen und direkt zu ihnen spre­chen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mit­gliedschaft von Ange­hörigen der Santería zugelassen. Im Septem­ber 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbe­reiche für die Privatinitia­tive der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerin­nen und -produzen­tinnen im Viertel der tabaque­ros. Dies sind späte Zuge­ständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hof­fentlich regnet es Rin­dersteaks.

“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analy­sen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Ver­lag, Au­gust 1994

Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”

Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!

Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt

“Er war ein besonders hellsichtiger Mensch, der im Bett lebte und dachte, und er hatte so viel Hochachtung vor dem Tod, daß er ihn schon seit einiger Zeit übte,” so der spanische Schriftsteller Manuel Vicent über Onetti. Daß Onetti in den letzten Jah­ren seine Madrider Dachwohnung kaum noch verließ, es fast unmöglich war, ihn zu einem Interview zu bewegen, daß er viermal verheiratet war, viel rauchte und gerne Whisky trank, findet sich in fast je­dem der unzähligen Nachrufe, mit denen Anfang Juni die internationale Presse den alten Herrn würdigte – vor allem aber sein literarisches Werk, seine Romane und Er­zählungen, mit denen er zu einem der be­deutendsten lateinamerikanischen Autoren avancierte. Zwar ist er dem deutschen Pu­blikum weit weniger bekannt als die jün­geren “Boom”-Schriftsteller, die mit dem “magischen Realismus” den literarischen Markt eroberten, doch sagt dies mehr über die Sehnsüchte der LeserInnen nach Exo­tik aus denn über das Werk des Autors. Die erste Übersetzung erscheint hierzu­lande 1976 (“Die Werft”, Frankfurt/M. 1976), doch erst in den 80er Jahren gehen seine Bü­cher häufiger über den Laden­tisch. 1980 erhält Onetti in Spanien den “Premio Cer­vantes”, die höchste Aus­zeichnung für spanischsprachige Literatur. Auf die Fra-ge, was die Preisverleihung für ihn be­deute, sagte er lapidar “zehn Millionen Peseten”, eine Antwort, die auf distin­guierte Literaten geradezu beleidi­gend wirkte. Dabei hat er es oft wieder­holt: Es liege ihm nichts daran, Schrift­steller zu sein, nur das Schreiben sei ihm wichtig .
Santa María – das Universum
So gut wie alles, was Onetti geschrieben hat, ist von geradezu niederschmetternder Trostlosigkeit, und es ist fast unmöglich, zwei seiner Romane hintereinander zu le­sen, ohne dem Alkohol oder zumindest in tiefe Melancholie zu verfallen – “Unsere Ver­gangenheit mochte schmutzig, viel­leicht unumgänglich gewesen sein. Aber die Gegenwart war, wie gewöhnlich, schlimmer”.
Seine Themen: Santa María, die erfundene Stadt irgendwo zwischen Buenos Aires und Montevideo, und immer wieder Santa María. Mittelmäßigkeit, Dekadenz, Verlo­genheit, Langeweile, zerrüttete Ehen, die alltägliche Korruption, gestrandete Exi­stenzen. Dieselben Figuren tauchen auf, die gleichen Straßen und Plätze – die inter-textuellen Verweise stricken die sanmaria-nische Welt immer dichter. Doch ist auch Santa María eine Illusion, ein Para­dies der Abgründe. In “Lassen wir den Wind spre­chen” (Franfurt/M. 1986; “Dejemos hablar al viento”, Barcelona 1979) klärt der eine den anderen darüber auf, daß Santa María und all seine Bewohner die Erfindung ei-nes Dritten sind: “Das steht geschrieben, weiter nichts. Es gibt keine Beweise”. Der andere kehrt aber doch nach Santa María zurück und erfährt, daß auch der Dritte, der Stadtgründer, nur eine Romanfigur ist. Der ihm dies eröffnet, mißt die Zeit in Sei-ten. “Oh, alte Ge­schichte. Wir waren eine Zeitlang in einem Haus in den Dünen. Seltsamer Typ. Das liegt viele Seiten zu-rück. Hunderte.” Durch solche literar-is­chen Tricks gelingt es Onetti, den Rea-lismus als Fiktion zu entlarven, ohne ihn als erzählerisches Prinzip aufzugeben. Am Ende von “Lassen wir den Wind spre-chen” steht die Zerstörung Santa Marías durch ein Feuer, das, vom Wind ange-facht, die ganze Stadt erfaßt. Erstaunlich-erweise läßt Onetti sie in seinem letzten Roman wieder auferste­hen, mit einer klei-nen orthographischen Variante: Santa-maría. “Cuando ya no importe” (Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt) er-scheint 1993, eine Art Tagebuch, in dem der Erzähler gesteht: “Ich sah, daß die To-talität fast aller Dinge auf Santamaría und die Ereignisse dort zu­rückgeht. Und daß, geheimnisvollerweise und ohne große Lust, es einzugestehen, das einzige, woran mir wirklich liegt, diese Stadt ist, dieser Ort, dieses Provinz­nest”. Gleich auf der ersten Seite kom­mentiert der Erzähler als Alter Ego des Autors auch ein viel-gelob­tes literaturtheoretisches Stecken-pferd: “… dieser Witz, den die Rechten für uni­ver­sell halten, des­sen Anhänger sie gut zu be­zahlen wissen und den sie Post-moderne getauft haben”.
Autor, Portier und Kellner
Seine erste Erzählung veröffentlicht Juan Carlos Onetti 1932 in der Tageszeitung “La Prensa” in Buenos Aires, wo er da­mals lebte. Wieder in Montevideo, über­nimmt er 1939 einen Redaktionsposten in der neugegründeten Wochenzeitschrift “Marcha”. Zuvor arbeitet er als Portier, Kellner und Verkäufer, später dann bei der Nachrichtenagentur Reuter und schließlich als Direktor der städtischen Bi-bliotheken in Montevideo. Kurz nach dem Militärputsch in Uruguay wandert er für einige Monate ins Gefängnis: er hatte ei-ner Jury angehört, die eine – in den Augen der Militärs verwerfliche – Erzählung prä-mierte. Ab 1974 lebt Onetti in Madrid, seit 1982 in seinem Bett, überzeugt, daß “draußen” sowieso nichts passiere, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Und San-ta María? Im letzten Jahr noch einmal auf-erstanden, auch “wenn es schon nicht mehr darauf ankommt”. Für Dich, viel­leicht, Onetti. Ich jedoch gehe zum Regal, schlage das Buch noch einmal auf und da ist sie wieder – die Stadt Santa María. Vielleicht kommt es eben doch darauf an.

Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel

Als die zehnjährige Sarah in ihrem Ver­steck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttel­reime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem be­nachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Pate­nonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr ei­gener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Jan­vier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vor­fall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben ge­tränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinander­setzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Unte­rgebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unter­schicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tä­tigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Klo­ster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaf­fen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wa­gen sich die Mädchen wieder ans Tages­licht. Die zurückgewonnene Bewegungs­freiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” ver­dichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szena­rio des Alltags in einem totalitären Sy­stem. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Perso­nen gehen einher mit subtileren Ein­schüchterungs- und Erpressungsver­suchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Ver­hängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Mo­ment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragi­sche Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entspre­chend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Er­innerung zusammenzufügen. Die zehnjäh­rige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spiel­film, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach ei­ner Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Ge­schichte des Landes der progressive Prie­ster Jean-Bertrand Aristide als Sieger her­vor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsi­dent sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitun­gen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzu­stellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträch­tigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südame­rika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multi­kulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Ver­sion von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspek­tive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur be­schloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.

“Die Karibik mischen Souveränität und Abhängigkeit”

Schon der Aufbau hebt sich wohltuend von der Mehrheit der sonstigen Bücher ab. die eine Region thematisieren. Nicht die klassische Reihenfolge Geschichte, Politik und Wirtschaft mit einem gesellschaftlich- kulturellen Anhängsel wird gewählt. Vielmehr werden zu Beginn von Ulrich Fleischmann geographische und kulturhistorische Bestimmungskriterien für die Karibik vorgestellt, der er dann eine Beschreibung der soziokulturellen Entwicklung folgen läßt. Das Entstehen der karibisch-kreolischen Volkskultur unter den Bedingungen der Sklaverei und ihr Spannungsverhältnis zur dominanten Kolonialkultur stehen dabei im Mittelpunkt.

Der Beitrag von Wolf-Dietrich Sahr über Identität und Authentizität in der Ostkaribik versucht eine Annäherung in das Selbstverständnis der karibischen Bevölkerung zu geben. Das europäische Identitätskonzept wird hierbei hinterfragt und als untauglich für die Karibik zurückgewiesen. Identität als Identifikation des Individuums mit einem historisch gewachsenen Raum, einer Geschichte und einer Sprach-bzw. Bevölkerungsgruppe konnte in den kolonialisierten Gesellschaften der Karibik nicht entstehen. Der Autor plädiert stattdessen für ein Konzept der Authentizität. Dies beinhaltet den Kampf für die Freiheit des Individuums, die Selbstverwirklichung durch selbstbestimmte Arbeit, kulturelle Leistungen und wirtschaftlichen Erfolg sowie die Entwicklung politisch adäquater Formen der Selbstbestimmung unter Rückgriff auf authentische Formen der karibischen Ethnokulturen.

Impressionen und Alltagskultur

Nach dem entwicklungssoziologischen und kulturphilosophischen Eingangskapitel wissenschaftlicher Prägung, kann sich der/die LeserIn bei den darauffolgenden karibischen Impressionen entspannen. Der Literaturwissenschaftler Martin Franzbach beschreibt in Kuba gewonnene Reiseeindrücke aus dem Blickwinkel der Literatur Miguel Bamets und José Martís. Peter-Paul Zahl, Ex-Stadtguerillero der Bewegung “2. Juni” und seit 1985 auf Jamaica lebender Schriftsteller, zieht in einem Interview einen Vergleich zwischen dem Leben auf Jamaica und dem in Deutschland.

Anhand von Beiträgen über Kuba, Martinique, Jamaica und St. Lucia wird karibische Alltagskultur dargestellt. Die Ansätze der Autorlnnen decken dabei ein breites Spektrum ab. Dreht es sich bei den Beiträgen zu Kuba mit der Thematisierung von Großfamilie, Traditionen, Schwarzmarkt und dem afroamerikanischen Kult der santeria noch um Alltagskultur im engeren Sinne, so wird bei den anderen Beiträgen ein weitergehender Ansatz verfolgt.

So ist die “antillanische Schizophrenie” Gegenstand des Artikels von Helmtrud Rumpf über Martinique und Guadeloupe. Im dortigen Radio erfährt der/die HörerIn Aufklärung über Staus im östlichen Paris, im Fernsehen die Wettervorhersage für Frankreich. “Natürlich alles auf Französisch, wiewohl doch Kreolisch die gängige Sprache in den antillanischen Haus-halten ist. So französiert die Antillen auch sind, in Frankreich werden die AntillanerInnen -ob “GastarbeiterIn” oder IntellektuelleR -trotz ihres französischen Passes nicht als gleichwertig anerkannt. Durch ihre Hautfarbe stigmatisiert, bleibt den AntillanerInnen in Frankreich nur die Anpassung an die dortigen Normen oder die Rückkehr. Die Unabhängigkeit hält die Autorin deshalb für grundsätzlich wünschenswert. Die den Artikel beschließenden Fragen “Aber ist eine Unabhängigkeit heutzutage noch realisierbar? Und wie sollte sie aussehen?” machen aber ihre Zweifel an dieser “Option” deutlich.

Reggae und Ragga

Christian Habekost setzt sich mit der Entwicklung jamaicanischer Populärmusik vom Rasta-Reggae zum Ragga-Reggae auseinander. Die Synchronität von politischem und musikalischem Wandel steht dabei im Zentrum seiner Ausführungen. Reichlich mit Liedtexten unterlegt, zeichnet er die Veränderung im Musikstil auf Jamaica nach. Als Zäsur macht er dabei die Jahre 1980181 aus. Die Zeit des “Demokratischen Sozialismus” auf Jamaica wurde 1980 mit der Abwahl ihres Begründers Michael Manleys Geschichte. 1981 starb mit Bob Marley der King of Reggae. Diese Ereignisse bedeuteten das Ende der kulturellen Aufbruchstimmung der siebziger Jahre. Manley hatte diese nachhaltig mit der Eröffnung von staatlichen Schulen für Musik, Tanz, Kunst und Drama gefördert. Bob Marley verhalf ihr zu weltweiter Verbreitung. Das nun entstandene Vakuum wurde im Verlauf der achtziger Jahre mit neuen, zeitgemäßen Werten besetzt. Sex, body & style dominierten fortan in den Liedtexten. Die Rasta-Forderungen nach Systemumsturz oder Rückkehr nach Afrika verloren zunehmend an Bedeutung. Die langsamen Rasta-Rhythmen wurden durch hektische, computergesteuerte Rhythmen ersetzt. Mit diesem musikalischen Wandel einher ging auch eine Veränderung des vorherrschen- den lifestyle. Der raggamuffin, die Bezeichnung für einen verrufenen Mann oder Jungen, wurde anstatt des Rasta-Rebellen zum neuen Ideal. Nicht mehr Systemumsturz, sondern Teilhabe am materiellen Reichtum um jeden bargeldlosen Preis ist die neue Ausrichtung. Anfangs von Mittel-und Oberschicht geächtet und gefürchtet, wie einst die Rastas, wurden die raggamuffins und der Ragga-Reggae Anfang der neunziger Jahre über seine in den USA und Europa erlangte Anerkennug auch in Jamaica hoffähig. Die kommerzielle Vereinnahmung ließ die Ragga-Subkultur zum style aufsteigen -wie einst auch die Rasta-Subkultur.

Karibische Weltsicht als Modell?

Migration ist in der Karibik etwas Alltägliches. Dabei ist sie sowohl Überlebensstrategie als auch Lebensform, wie Wolf- Dietrich Sahr am Beispiel einer Familie aus St. Lucia deutlich macht. Migration hat in der Karibik eine lange Tradition. . Durch die restriktiver gewordene Einwanderungspolitik von Großbritannien und den USA hat sie sich inzwischen in Richtung Innerkaribik verlagert. Die weltweiten Familiennetze haben bei den InselbewohnerInnen zu einer globalen Sichtweise geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht gar zu einem Modell für das 21. Jahrhundert werden, pflegt sie doch die Vermittlung zwischen den Kulturen und versucht nationalstaatliche Grenzen zu
überwinden.

Politik auf den Antillen

Die politischen Belange in der Karibik kommen nicht zu kurz. Von der Sander- stellung Puerto Ricos als assoziiertem Freistaat der USA über das jamaicanische Parteiensystem und die dominikanischen Eliten bis hin zur Situation auf den französischen Antillen und dem spannungs-geladenen Verhältnis Dominikanische Republik-Haiti -inselspezifische Eigenheiten werden kurz und prägnant dargestellt,
Alrich Nicolas’ Beitrag beleuchtet die ‘ Rolle des Vaudou auf Haiti. Aufgeräumt wird mit den in der westlichen Welt häufig anzutreffenden Klischeevorstellungen vom bösen,teuflischen Kult. Der aus einer Vielzahl afrikanischer Religionen in der Zeit der Sklaverei entstandene Vaudou war Ausgangspunkt einer neuen Identität für die Sklaven und bot eine Alternative zu den die Plantagenkultur dominierenden europäischen Werten. So waren viele Anführer der Gemeinschaften von marrons (entlaufener Sklaven) gleichzeitig auch Vaudou-Priester. Vaudou hat also nicht nur eine religiöse, sondern eben auch eine politische Dimension. Im Demokratisie-rungspmzess kurz vor und nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 wurde dies ebenfalls deutlich. Der Vaudou galt als Fluchtpunkt und Alternative ‘ zum ge-scheiterten Gesellschaftsprojekt der Eliten und wurde gar in die Verfassung aufgenommen. Trotz der öffentlichen Anerkennung des Vaudou nach langen Jahren der offiziellen Unterdrückung sieht der Autor die Zukunft des Vaudou als gefährdet an. Zum einen setzen ihm die protestantischen Sekten US-amerikanischer Prägung zu,zum anderen wird seine Basis. die bäuerliche Gesellschaft durch die geführt. Für den Autor könnte diese Weltsicht rapide verschlechternden ökonomischen Verhältnisse zunehmend aufgelöst.

US-amerikanische Außenpolitik

Die verschiedenen Phasen US-amerikanischer Außenpolitik gegenüber der Karibik thematisiert Hagen Späth. Der Krieg gegen Spanien 1898 mit der Eroberung Puerto Ricos und Kubas wird von ihm als Beginn der imperialistischen Phase definiert. Die Schaffung der Kanalzone in Panama, die Besetzungen Haitis 1915-1930 und der Dominikanischen Republik 1916- 1924 bildeten weitete Marksteine in dieser Epoche. Unter Roosevelt wurde 1933 dann die Phase der “‘guten Nachbarschaft” eingeläutet. Direkte Interventionen Wurden vermieden, die Propagierung des Freihandels stand im Vordergrund. Mit der Phase des Kalten Krieges ab Ende der vierziger Jahre kamen Interventionen wie-der aufs Tapet. Als normative Grundlage diente das Konzept der Western-Hemisphere, welches besagt, daß zwischen den USA und Lateinamerika eine prinzipielle Gemeinsamkeit demokratischer und wirtschaftsliberaler Grundwerte bestehe. Abweichungen von diesem Konzept wurden mit Invasion geahndet, so in Guatemala 1954, auf der Dominikanischen Republik 1965 und in Grenada 1983 -oder mit der Unterstützung der Contra im Falle Kubas und Nicaraguas. Die neunziger Jahre firmieren nun als Phase der “Neuen Weltordnung” und sind geprägt von der Strategie der Demokratisierung nach US-Muster, also Durchsetzung freier Märkte und freier UnternehmerInnen unter Beschneidung des staatlichen Einflusses. Gemäß dem Fazit des Autors blieb die Substanz der US-amerikanischen Außenpolitik im
Zeitverlauf unverändert, weshalb er auch den mit Clinton verbundenen Hoffnungen eine Absage erteilt.

Inselökonomien

Last but not least werden die Anpassungs- versuche der karibischen Ökonomien an den Weltmarkt betrachtet. Exportstrategien wie die Freien Produktionszonen, in denen die dort produzierenden Unternehmen vollkommen von Steuern und Abgaben befreit sind, werden ebenso einer kritischen Analyse unterzogen wie das ehemals ob seiner hohen Wachstumsraten gepriesene Entwicklungsmodell auf Puerto Rico und die Struktur der kleinbäuerlichen Ökonomie in Haiti. Die Anpassungsmaß- nahmen auf Kuba beschreibt Robert Lessmann. Dort wird verstärkt auf Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen gesetzt. Diesen werden unter anderem arbeitsrechtliche Sonderbedingungen und die Möglichkeit des Gewinntransfers zu- gestanden. Die Autonomie einheimischer Betriebe in Prioritätssektoren wie dem Tourismus und dem Exportsektor wurde zudem erweitert, so daß sie weitgehend unabhängig über ihre Deviseneinnahmen verfügen können. Der fortschreitende Verfall der kubanischen Wirtschaft konnte in-des dadurch nicht gestoppt werden, wes- halb Castro am 26. Juli 1993, anläßlich des vierzigsten Jahrestages des Angriffes auf die Moncada-Kaserne, eine Strukturreform verkündete, in dessen Zentrum die Dollarfreigabe steht. Da die Castro-Regierung die einzige politische Kraft ist, die überhaupt ein Konzept zur Krisenbewältigung hat, spricht sich der Autor für eine Unterstützung des Offnungsprozesses aus.

Die Stellung der Frau in der Neuen Internationalen Arbeitsteilung wird von Maritza Le Breton B. unter die Lupe genommen. Frauen werden in dieser Arbeitsteilung als “Natur”, als billig und beliebig verfügbare Objekte betrachtet und behandelt, was die Verfasserin als Prozess der “Hausfrauisierung” versteht. Besondere Bedeutung schreibt sie in diesem Zusammenhang dem Prostitutionstourismus und dem Frauenhandel zu. Ausgehend von der Dominikanischen Republik sieht sie die Karibik zu einem der wichtigsten Zentren dieser Ausprägung heranwachsen.

Der durchweg positive Gesamteindruck wird durch diverse Schreibfehler sowie Nachlässigkeiten beim Layout leicht getrübt. Zwei Artikel sind fortlaufend mit den Kopfzeilen des vorhergehenden Artikels ausgestattet und warum ein Artikel über die französischen Antillen ausgerechnet mit einem Bild eines jamaicanischen Herrenhauses abgeschlossen wird, bleibt im Dunkeln. Vielleicht sind diese Mängel ja einer semiprofessionellen Produktion geschuldet. Zumindest 1äßt der günstige Preis von 19 DM dies vermuten.

Entscheidung für die Zukunft

Bis zum 2. Juli müssen sich alle Beitragszahle­rInnen entscheiden, ob sie im öffentlichen Rentensy­stem bleiben wollen oder Mitglied einer der über zwan­zig privatwirtschaft­lichen Administra­doras de Fondos de Jubilaciones y Pensio­nes (AFJP) werden wollen.
Nachdem der Ausverkauf der Staatsunter­nehmen inzwi­schen fast abgeschlossen ist, zieht sich der Staat als Akteur nun auch immer weiter aus dem sozialen Sektor zu­rück. Argentinien ist damit nach Chile das zweite Land des Cono Sur, das seine Rentenversiche­rung privatisiert. Doch während in Chile die Al­tersversorgung ausschlie?­lich nach dem neoliberalen Motto “JedeR spart für sich allein” funk­tioniert, wurde in Argentinien nach hefti­gen Diskussionen schlie?lich die Koexi­stenz eines öffentlichen und ei­nes privaten Systems gegen die Lobby der zukünftigen Versicherungsträger, vor allem nationale und inter­nationale Banken, durchge­setzt. Beide Länder haben sich damit von der Idee des Generationenvertrages zur Siche­rung der Renten verabschiedet, wobei aber die Rente in Argentinien noch stärker den Charakter einer Versicherung behält.
Dies war auch deshalb mög­lich, weil sich inzwischen gezeigt hat, da? die chi­lenischen privaten Rentenversicherungs-träger weit weniger rentabel für die Ein­zahlerInnen sind als vorher an­genommen worden war. Sie hatten auf eine Verzin­sung der Einzahlun­gen von jährlich minde­stens fünf Prozent speku­liert. Davon wird auch in Argentinien ausge­gangen. Die rentabelsten chilenischen Unterneh­men haben aber bisher nur um die vier Prozent, die schlechtesten sogar unter zwei Prozent er­reicht. Das unab­hängige Arbeitsfor­schungsinstituts PET in Chile geht in seinen Prognosen davon aus, da? eine Mehrheit der EinzahlerInnen später Auszahlungen unterhalb der Mindestrente erhalten wird. Das dreigliedrige ar­gentinische System wird das vermeiden.

Dreigeteilte Rente

Jede Rente wird sich in Zukunft aus drei Teilen zusammensetzen: in beiden Syste­men zahlt der Staat die Prestación Básica Uni­versal (PBU), eine Grund­rente von ungefähr 150 Peso (ca. 250 DM) und die Prestación Complementaria (PC), eine Ausgleichszah­lung für die bis zum Ein­tritt ins neue System geleisteten Beiträge. Diese Leistungen will der Staat aus den Arbeitgebe­rInnenbeiträgen und den höhe­ren Beiträgen Selb­ständiger finanzieren. Im dritten Teil der Renten­summe unter­scheiden sich das staatliche und das pri­vate System.
Für die Höhe der Zahlungen im staatli­chen System ist der Durchschnittslohn der letzten zehn Jahre vor der Pensionierung entschei­dend. Wer allerdings ins­gesamt weniger als 30 Jahre lang eingezahlt hat, bekommt nur die Grundrente ausgezahlt. Menschen, die lange arbeitslos sind, oder Un­terbrechungen machen, wie häufig Frauen zur Kin­dererziehung, gehen also das Risiko ein, ihre gesamten Einzah­lungen zu verlieren. Und bei 3660 Peso, das sind ungefähr 6200 DM, ist in der staatlichen Versicherung die maximale Auszahlung erreicht. Deshalb werden diejenigen mit einem hohen Ein­kommen in die Privatversicherungen gehen. Denn hier bestimmen die gesamte, indivi­duell ange­sparte Geldmenge, sowie die Lebens­erwartung und Familiensituation die Höhe der Rente.

Für wen lohnt sich was?

Der ideale Klient einer privaten AFJP ist deshalb heute unter 35 Jahre alt, nicht be­hindert, ledig, kinderlos, festangestellt mit guten Aufstiegschan­cen. Eine Frau mit glei­chen “Voraussetzungen” in gleicher Position wird al­lein aufgrund ihrer länge­ren Lebenserwartung schon eine geringere Rente be­kommen. Unglücklicherweise geht sie auch schon mit 60 in Rente, wäh­rend der Mann noch fünf Jahre weiterspa­ren kann. Doch eine jün­gere Ehefrau, de­ren Le­bensalter in die Berech­nung einbe­zogen wird, würde auch seine Rente ver­ringern.
Wer unter 3660 Peso ver­dient, wer gar nur den Mindestlohn von 200 Peso verdient oder häufig arbeitslos ist, wer riskiert, in den letzten zehn Jahren vor der Rente ar­beitslos zu sein und eine viel jüngere Frau heiraten will, obwohl er schon 55 ist; wer insgesamt weniger als 30 Jahre seines Le­bens arbeiten will…, kann versuchen, die individuel­len Vor- und Nachteile der Sy­steme zu vergleichen. Es wird kaum ge­lingen. Auch zum Vergleich der unter­schiedlichen Beitragssätze bleibt in zwei Monaten we­nig Zeit. Wenigstens sieht das Gesetz vor, da? die Mitglieder bis zu zwei Mal im Jahr die AFJP wechseln können.

Staatliche Kontrolle

Die Aufgabe der staatli­chen Kontrollbe­hörde Su­perintendencia de AFJP be­steht darin, über die Zu­lassung der Gesell­schaften zu entscheiden, die Tren­nung zwischen Ei­genkapital und Beiträgen bei den ein­zelnen AFJP zu überwachen und täglich die Transak­tionen der beste­henden Unternehmen auf dem Kapital­markt zu kon­trollieren. Die Superin­tendencia selbst finan­ziert sich durch Zahlungen der Versi­cherungsgesellschaften. Es bleibt zu hof­fen, daß ihre MitarbeiterInnen nicht bald schon in den nächsten großen argentini­schen Be­stechungsskandal verwickelt sein werden.
Die inzwischen über zwanzig zuge­lassenen AFJP erwarten kräftige Ge­winne. Alle nationalen und viele in­ternationale Banken betreiben eigene Ge­sellschaften, die, so hoffen sie, bald fünf Mil­lionen Mitglieder haben werden. Das würde ein mo­natliches Anlagevolumen von ungefähr 300 Millionen Peso bedeu­ten. Vom Bei­trag der EinzahlerInnen, 11 Prozent des Lohnes, behält die Gesell­schaft ungefähr ein Drittel ein, zwei Drit­tel bekommt die Ein­zahlerin ver­zinst. Konkurrenz zwi­schen Banken und Gewerkschaften
Den Konkurrenzkampf um Platz eins un­ter den AFJP werden voraussichtlich Siembra der Bankengruppe Citibank und Banco Rio so­wie Nación der Banco Nación austragen, die beide mit ungefähr 600.000 Mitgliedern rechnen. Um Platz drei werden sich wahrscheinlich Máxima, an der auch die Deutsche Bank beteiligt ist, Previnter von der Boston Bank und Consolidar mit Beteili­gung der Dresdener Bank schlagen. Allgemein wird davon ausgegangen, da? langfristig nur etwa zehn der heute einundzwanzig AFJP’s überleben werden.
Nicht nur Banken, sondern auch einige der gro?en Ge­werkschaften wie bei­spielsweise die Energiege­werkschaft Luz y Fuerza sind an AFJP’s beteiligt. Manche haben schon im vor­aus wie die Metallerge­werkschaft gegen Provision ihre Mit­glieder an eine der Versi­cherungen ver­schachert und hoffen, sich später direkt beteiligen zu können. Da­hinter steckt natürlich einerseits das Inter­esse, den Banken nicht die Ge­werkschaftsklientel und die absolute Macht auf dem Kapitalmarkt zu überlas­sen. Andererseits sind die Sozialwerke der Gewerk­schaften gefährdet, weil einige der AFJP’s auch gleichzeitig Kranken- und andere Versicherungen an­bieten wollen. Da wollen nun die gewerkschaftseige­nen Gesellschaften natür­lich mithalten.
Doch nicht alle Gewerk­schaften sind von der Pri­vatversicherung überzeugt. Die in­nerhalb des Gewerk­schaftsdachverbandes CGT agierende Oppositions­gruppe MTA (Movimiento de Trabajadores Argenti­nos), der zum Beispiel die Transportge­werkschaft an­gehört, empfiehlt ihren Mit­gliedern, mindestens noch ein halbes Jahr im staatlichen System zu ver­bleiben, um dann die Si­tuation einschätzen und die Verzinsung in den un­terschiedlichen AFJP’s vergleichen zu können.
Der oppositionelle Gewerk­schaftsverband CTA (Congreso de Trabajadores Argenti­nos), dem viele An­gestellte des Staates und der Provinzen angehören, hatte schon im Vorfeld eine Million Unterschrif­ten gegen die Privatisie­rung der Rentenversiche­rung gesammelt. Entspre­chend rät er seinen Mitgliedern die staatli­che Versicherung.

Angst vor wirtschaftlicher Insta­bilität

Niemand bestreitet, da? das bisherige argentini­sche Rentenversicherungs­system nicht mehr funktio­niert. Seit Jahren ist die staatliche Rentenkasse fast leer, weil sie immer wieder dazu verwendet wurde, Lö­cher in anderen Bereichen des Haushalts aufzufüllen. Monatelang be­kamen viele RentnerInnen deshalb nicht einmal ihre erbärmliche Mindestrente von 100 Peso ausbezahlt.
Eine Garantie für gutes Management der staatlichen Versicherung gibt es jetzt aber auch nicht, genauso­wenig wie die Sicher­heit und Rentabilität der pri­vaten Versi­cherungen ga­rantiert sind. Vor allem die Angst vor wirtschaft­licher Instabilität macht die Entscheidung für viele Argenti­nierInnen so schwierig. Nach dem Bör­sensturz in diesem Jahr wurden die Rege­lungen für Investitionen und Börsen­spekulation der AFJP noch einmal verän­dert, und die Frage bleibt offen, was beim nächsten Börsenkrach passiert.
Die Regierung hat gleich­zeitig wenig un­ternommen, die Entscheidungfindung der EinzahlerInnen zu er­leichtern. Erst knapp einen Monat vor dem Beginn der Ent­scheidungsfrist hat sie eine spärliche Infor­mationskampagne begonnen. In ei­nem Comic wurden die Unterschiede zwi­schen bei­den Systemen dargestellt, das private System aber als vorteilhafter vermit­telt. Die weit wichtigere, allerdings eindeutig par­teiische Informati­onsquelle sind so die knapp 30.000 VertreterInnen der einzelnen AFJP’s, die das Land mit Men­gen von Werbematerial über­schwemmen.
Das Gesetz sichert den Privaten au?erdem noch einen entscheidenden Vor­teil zu:
Aus dem staatlichen System können die Beitragszahle­rInnen jederzeit ins pri­vate wechseln. Wer sich in den zwei Monaten aber nicht explizit für den Verbleib im staatlichen System ausspricht, landet au­tomatisch im privaten, ohne Möglichkeit der Rück­kehr.

Im Schmelztiegel der Reformen wird’s immer heißer

Am 2. Februar sollte der neue Präsident von Venezuela, Rafael Caldera, sein Amt in aller Ruhe antreten. Der Monat zuvor war von spontanen Aufständen und Brandanschlägen in der alten Kolonial­stadt Barcelona, nah der karibischen Kü­ste, der anliegenden Stadt Puerto La Cruz und dutzenden kleinen Städten im Inneren des Landes geprägt. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte: die Erhö­hung der lokalen Bustarife. Auch der Ver­such der Händler vor Ort, die neu einge­führte 10 Prozent Mehrwertsteuer zu er­heben, wurde mit spontanen Demonstra­tionen im ganzen Land beantwortet. Ihr war nur ein kurzes Schicksal beschieden. Kurz nach den Unruhen wurde sie wieder aufgeho­ben. Die Bevölkerung, die schon einein­halb Jahrzehnte lang mit ständigen Einkommensverkürzungen leben mußte, rea­gierte mit Gewalt.

Gewalt hat massiv zugenommen

Venezuela befindet sich in einem kata­strophalen Zustand. Die Gewalt, die nicht immer nur politisch erklärt werden kann, eskaliert. Letzte Weihnachten wurden über 100 Morde in Caracas begangen, und an nahezu jedem Wochenende werden 20 bis 30 Caraqueños getötet. Zum einen las­sen sich die Morde mit der fehlenden Po­lizeipräsenz in den armen Stadtteilen be­gründen. Der Polizeichef Orlando Her­nandez führt sie jedoch auf die “sich in den Städten ausbreitende soziale Zerset­zung” zurück. Die “soziale Dekomposi­tion” hängt mit der Verschlechterung des Le­bensstandards zusammen. War 1978, zur Zeit des Ölbooms, ein Maximum des durchschnittlichen Realeinkommens er­reicht, so fallen die Einkommen seitdem ständig, und es wird immer schwerer für die große Mehrheit, den täglichen Kampf ums Nötigste zu gewinnen. Im Gegensatz dazu fällt die geradezu luxuriöse Lebens­weise einer Minderheit von Venezolane­rInnen auf, die zum großen Teil von den marktorientierten Reformen profitiert ha­ben. Der Unterschied zwischen Arm und Reich nimmt kontinuierlich zu, Resigna­tion und Frustration machen sich breit. Die soziale Struktur insgesamt ist zerris­sen.

Die Mehrwertsteuer hat vielen den Rest gegeben

Die Einführung der Mehrwertsteuer sowie die Erhöhung von Benzin- und somit Transportpreisen waren zwei grundle­gende Punkte des marktorientierten Re­formprogramms, dem paquete, der alten Regierung von Carlos Andrés Pérez. In­ternationale Kreditinstitute befürworten diese Form der Besteuerung, da sie leicht zu erheben ist und daher einen sicheren Weg darstellt, den Staatshaushalt aus­zugleichen. BefürworterInnen der Steuer behaupten, daß dem Haushalt 1994 mit dem Wegfall der Steuer ohne die Erhö­hung der innerländischen Preise für staat­lich produziertes Öl 2 Milliarden US-Dollar fehlen würden. Präsident Caldera betonte jedoch, gerade das riskieren zu wollen und das Loch im Haushalt durch eine progressive Steuerpolitik füllen zu wollen, wobei er die Erhebung einer Lu­xussteuer oder einer erhöhten Einkom­menssteuer vorschlägt. Mit dem Antritt der Mitte-Links-Koalition findet die Haushaltsdebatte demnach in einem Spannungsfeld zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen statt. Die Besitzlosen haben das durch die Unruhen deutlich gemacht, die Besitzenden, indem sie klar­stellten, auf ihrem Rücken werde es kei­nen Haushaltsausgleich geben.

Revolten, Putschversuche, Unruhen

Auseinandersetzungen verlagern sich mehr und mehr auf die Straße. Die mili­tanten Aufstände im Januar waren die lo­gische Folge der prekären sozialen und politischen Situation in Venezuela wäh­rend der letzten fünf Jahre. Die drama­tischsten Unruhen kennen die traumati­sierten EinwohnerInnen Venezuelas, der am längsten existierenden konstitutionel­len Demokratie Südamerikas, kurz und knapp als 27F, 4F und 27N. Mit 27F sind die spontanen Aufstände und Plünderun­gen gemeint, die ganz Venezuela am 27. Februar 1989 heimsuchten und eine Re­aktion auf die Erhöhung der Bustarife wa­ren, sowie auf die Ankündigung des da­maligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, die IWF-Maßnahmen zur Reduzierung des staatlichen Defizits seien akzeptiert. Die offiziellen Angaben sprachen von 276 Toten durch die Aufstände, nach inoffi­zielle Einschätzungen waren es über 1000.
4F und 27N. Synonyme für zwei er­folglose Putschversuche – die inten­tonas -, die von populistischen Offizie­ren mittle­ren Ranges am 4. Februar und 27. No­vember 1992 getragen wurden. Obgleich die Unruhen schnell von loyalen Offi­zierseinheiten zerschlagen wurden und die Putschisten im Gefängnis lande­ten, sind sich viele VenezolanerInnen ei­nig, daß die intentonas, besonders der am 4. Februar, zu einer Verlang­samung der neoliberalen Reformen führte. “Auch wenn der Um­sturzversuch im Fe­bruar scheiterte”, so der Ex-Indstriemini­ster Moises Naim, “mobilisierte er gleich­zeitig andere Indi­viduen und Gruppen, die bis­her wenig am politischen Prozeß betei­ligt waren, und kurz darauf befanden sich tra­ditionelle PolitikerInnen in der Defen­sive.” Also rückte das paquete und eben nicht der Putsch in den Mittelpunkt inten­siver De­batten. Viele VenezolanerInnen glauben, daß Pérez nicht wegen der Un­terschlagung von 17,2 Millionen US-Dollar im Mai 1993 angeklagt worden wäre, hätte man ihn nicht für das Leid, das durch seine ökonomischen Reformen her­vorgerufen wurde, verantwortlich ge­macht.

Erwartungshaltung macht Wan­del schwierig

Es gibt viele Erklärungen für die wirt­schaftliche Krise in Venezuela. Ob ihnen geglaubt wird, hängt von der sozialen Si­tuation und der ideologischen Empfäng­lichkeit der einzelnen ab: Mal ist es die Abhängigkeit vom Öl und die ständig fehlende Planung; mal die Auslandsschul­den; mal die Korruption und ein aufgebla­sener Staatsapperat; mal die Abhängigkeit von transnationalem Kapital; oder mal neoliberale exportorientierte Wirt­schaftsstrategien. Einige Erklärungen tref­fen nur auf Venezuela zu, andere gelten für viele Länder Lateinamerikas.
Erklärungen, die sich speziell auf Vene­zuela beziehen, kreisen meist um Vene­zuelas Abhängigkeit vom Öl oder darum, daß sich ein ganzes Land daran gewöhnt hat, vom Öl zu leben. Eine generelle Er­wartungshaltung hat sich breit gemacht, von der Arbeit und den Investitionen an­derer zu leben. Im alten “Modell des Zu­rücklehnens und Abwartens” war der zen­tralisierte Staat in Form von politischen Parteien dafür zuständig, den nationalen Besitz zu verteilen und industrielles Wachstum zu fördern. Dilemma dieser Politik: Die berechtigte und wichtige Er­wartung, der Staat habe sich um die Rechte der Armen zu kümmern, war ver­breitet. Aber: Diese Rechte wurden nur passiv wahrgenommen, ohne die aktive Beteiligung, die für eine demokratische Gemeinschaft von so entscheidender Be­deutung ist. Die Parteien dominierten das politische und soziale Leben, die zivile Gesellschaft entpuppte sich als schwach und einflußlos, und es setzte sich eine kundenorientierte Politik durch. Die Kritik des neoliberalen Ökonomen Ri­cardo Hausmann an dieser Form des Po­pulismus ist nicht unberechtigt: “Die Bür­ger for­derten vom Staat einen annehmba­ren Le­bensstandard, trugen aber selbst nichts dazu bei. Der Populismus führte zu An­sprüchen ohne Verpflichtun­gen, Umver­teilung ohne Beschränkung des Haus­halts.” Als die staatlichen Res­sourcen während der 80er Jahre knapper wurden, verloren die Parteien an Glaubwürdigkeit, da sie die von ihnen erwartete Funktion – nur das Gute zu brin­gen – nicht mehr er­füllen konnten.

Statistiken belegen: Die Armut explodiert

Venezuelas staatliches Amt für Statistic und Information (OCEI) berichtet, daß 1993 acht Millionen VenezolanerInnen, ca. 40 Prozent der Bevölkerung, in Armut lebten, davon 20 Prozent in extremer Ar­mut. Dem OCEI zufolge hat die Armut zugenommen, da für 1986 eine Armuts­rate von 34 Prozent angenommen wird. Viele Studien gehen jedoch von doppelt so hohen Zahlen aus, so zum Beispiel die des Nationalen Institutes für Medizin, das erst kürzlich von einer “kritischen” Ar­mutsrate von 40 Prozent sprach. Damit sind Menschen gemeint, die an ernstzu­nehmender Unterernährung leiden, dazu­zurechnen seien aber nochmal 40 Prozent, die in relativer Armut leben. Zwar gibt es verschiedenste Möglichkeiten, Armut zu definieren und zu messen, eines bleibt aber klar: die Zahlen steigen dramatisch.
Es wäre zu oberflächlich, die Armut nur als Folge von sinkenden Staatseinkünften zu betrachten. Ein Teil ist sicherlich durch die Ineffizienz eines korrupten Staatsappa­rats bedingt.

Aufgeblähte Bürokratie lähmt Bildung

Die Weltbank berichtet zum Beispiel, daß Venezuela zwar 20 Prozent des Staats­haushalts für Bildung verwendet, was einmalig für Südamerika ist, davon aber wiederum 70 Prozent in die Verwaltung fließen. Überfüllte staatliche Schulen sind symptomatisch für den bürokratisch auf­geblasenen und uneffizienten Staat. Re­sultate dieser Bildungspolitik: 11 Prozent SchulabbrecherInnen und im ersten Schuljahr eine WiederholerInnenrate von 28 Prozent.
Die Kinder, die in der Schule bleiben, ha­ben weniger Lehrer und nur bedingt Ar­beitsmaterial. Die Tageszeitung El Nacio­nal aus Caracas meldet, daß viele Lehrer die Schulen verlassen und versuchen, im wachsenden informellen Sektor unterzu­kommen. Der Rückgang von Pflegeperso­nal in den staatlichen Krankenhäusern ist auf ein ähnliches Phä­nomen zurückzufüh­ren. Im Bereich der privaten Kinderbe­treuung ist heute bei­spielsweise mehr zu verdienen als die durchschnittlich 170 US-Dollar pro Mo­nat, die ein Lehrer oder eine Kranken­schwester nach Hause trägt. Folgt man den konservativen Schätzungen, so arbei­ten ca. 2,6 Millionen Menschen, was 38 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ent­spricht, im informellen Sektor, zwei Drittel davon im kommerziellen Sektor, was mei­stens dem Verkauf auf der Straße gleich­kommt. Zwar hat das paquete die Si­tuation verschärft, doch es gab schon zur Zeit des Amtsantritts von Pérez 1988 einen informellen Sektor, in dem 35,8 Prozent der venezolanischen ArbeiterIn­nen beschäftigt waren.

Zwei Reformideen im Clinch

Mitte der 80er Jahre stand fest, daß auf die ökonomische Krise des Landes mit neuen Ideen reagiert werden mußte. Zwei Re­formbewegungen, die sehr unterschiedli­che Ziele im Auge hatten, fanden Unter­stützung bei der Regierung: Die Dezen­tralisation des politischen Systems, die mehr Macht für die Bevölkerung vorsah, auf der einen Seite; auf der anderen die Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft, die die ökonomische Sicher­heit des Einzelnen beschneiden würde. Diese Kombination von Ansätzen war und ist gefährlich, da einerseits mehr Demo­kratie eingeführt werden soll, gleichzeitig aber soziale Rechte angetastet werden. Staatliche Planung und Korruption wurde von beiden Reformansätzen kritisiert. Keiner der beiden griff jedoch die Klas­senstruktur an.
Die 1984 gegründete “Präsidentiale Kommission für die Reform des Staates” (COPRE) förderte mit Erfolg die Refor­men, die die politische Kultur öffnen sollten; unter anderem wurde die Dezen­tralisation der Macht zugunsten der Ge­meinden, die Direktwahl von regionalen und lokalen Vertretern sowie von einigen Kongreßabgeordnetern beschlossen. Hiermit war mehr Partizipation möglich geworden, auch für Außenstehende, und der Graben zwischen ziviler und politi­scher Gesellschaft war überwunden.
Den anderen großen Vorstoß gegen die Krise stellte das neoliberale paquete dar, das offiziell “el gran viraje”- die große Wende bezeichnet wird und 1989 von der Regierung Carlos Andrés Pérez vorgestellt wurde. Es bestand die Hoff­nung, daß das paquete die Wirtschaft durch Öffnung, Privatisierung und Um­strukturierung sta­bilisieren könnte. Die Stabilität wurde an folgenden Kriterien gemessen: Stimmig­keit der Preise, Aus­gleich des Haushalts und die Autonomie der Geldinstitute.
Unter stimmigen Prei­sen wurden die Preise verstanden, die sich im Rahmen des Marktmechanismus (Prinzip Angebot-Nachfrage) einpendeln würden, wobei Kontrollen von Wechsel­kursen, Zinsraten und Preisen im privaten Sektor wegfallen sollten. Mit der Forde­rung nach Haus­haltsausgleich war die Re­duzierung öf­fentlicher Gelder, die Einfüh­rung der Mehrwertsteuer und auch die Er­höhung von Preisen im öffentlichen Dienstlei­stungssektor gemeint. Eine autonome Zentralbank sollte etabliert werden, frei vom Einfluß des parlamantarischen Sy­stems. Dahinter stand die Idee, die Geld­politik zu entpolitisieren, da­mit nötige aber unbeliebte Änderungen möglich würden, z.B. könnte die Inflation durch die Reduzierung der im Umlauf befinden­den Geldmenge gebremst werden und neues Vertrauen in die venezolani­sche Währung, den bolivar, entstehen. Im Großen und Ganzen stand ein Härte­programm bevor: Die arbeitende Bevölke­rung befürchtete, bei geringerer Kaufkraft mit weniger staatlichen Angeboten aus­kommen zu müssen.
Mit der Strukturreform sollte versucht werden, die Wirtschaft exportorientierter und kapitalfreundlicher zu gestalten. Da­her wurden Handelsgesetze gelockert, fi­nanzielle Märkte dereguliert, direkte Inve­stitionen freudig aufgenommen und ge­fördert und viele Staatsbetriebe privati­siert. Der Verzicht auf Wechselkurskon­trollen führte zu einem Verfall des bo­livar, die innere Kaufkraft wurde noch ge­ringer und der Exportsektor explodierte.

Für den sozialen Rand: Prinzip Hoffnung

Im paquete wurde die Subventionen abge­schafft, um sich statt dessen gezielter um marginalisierte Gruppen zu kümmern, was in der Praxis bedeutete, den sozialen Be­reich zugunsten religiöser Gruppen und Nicht-Regierungsorganisationen zu priva­tisieren.
Am stärksten wurde der Volkssektor von den Preissteigerungen getroffen. Da Ve­nezuelas privater Sektor eine oligopoli­sche Struktur aufweist, führte die Aufhe­bung der Preiskontrollen nicht zu Preisen, die der Markt steuerte, sondern zu wel­chen, die die Oligarchien vereinbarten. Ein markantes Beispiel: Die Preise für Medikamente: Sie stiegen in der Zeit zwi­schen 1989 und 1991 um 513 Prozent. Die Regierung Perez schaffte es nicht, politi­sche Strategien zu entwickeln, die die Armen vor den Folgen des paquete hätten schützen können bzw die Last ge­recht hätte verteilen können. Im Gegen­teil: Die Regierung nahm an, ökonomi­sches Wachstum werde automatisch zu sozialer Gerechtigkeit führen, die alte Idee aus den 50er Jahren vom trickle-down Ef­fekt. Da die meisten VenezolanerInnen schon mit ständig fallenden Löhnen zu kämpfen hatten, war schon die kleinste Preissteige­rung eine enorme Belastung, die den Kes­sel zum Überlaufen bringen konnte.

Nur eine kurze Durststrecke?

Die Verteidiger des paquete hatten immer betont, daß es eine kurze Durst­strecke ge­ben werde, die sich aber nach wenigen Jahren durch die Früchte des ökonomi­schen Wachstums auszahlen würde. Al­lerdings ist das ökonomische Wachstum nun auf bedrückende Weise zum Still­stand gekommen, was vielleicht auch mit den Unruhen der Bevölkerung zusam­menhängt. Nach 3 Jahren, in denen das Wirtschaftswachstum 8 Prozent betra­gen hatte – die höchste Wachstumsrate Latein­amerikas -, ging das BSP auf 2,2 Prozent zurück, das Haushaltsdefizit wuchs auf 1,9 Milliarden US-Dollar an und die In­flationsrate stieg auf 46 Prozent, der zweithöchste Wert in der Geschichte des Landes.
Das paquete scheiterte, da es die so­ziale Sicherheit zerstörte, die bei der Ein­führung von kapitalistischen Strukturen unbedingt vorhanden sein muß. Perez, der immer die Richtung der historischen Ent­wicklung einzuschätzen wußte, wollte sich zum Ende des 20. Jahrhunderts auf der Seite der GewinnerInnen wissen. In seiner Erklärung an die Weltgemeinschaft stellte er fest, daß “schmerzhafte Um­strukturierungen, die den freien Markt zum Ziel haben, sich auszahlen, und daß ein demokratisches Regime die unbelieb­ten Entsscheidungen, die die Wirtschafts­reform verlangt, fällen kann, ohne dadurch die Macht abgeben zu müssen.”
Aber wenn sich diese schmerzhaften Verände­rungen in einer demokratischen Umge­bung auszahlen sollen, so muß der Ein­druck entstehen können, daß das Leid ge­teilt wird und von wahrnehmbaren Verän­derungen begleitet ist. Falls die Mitte-Links-Koalition Rafael Calderas den Ka­pitalismus anders gestalten will als die Rechte, so sollte sie sich um ein so­ziales Netz bemühen und solidarisches Verhal­ten im täglichen Leben zum Grundprinzip machen. Der freie Markt in seiner Dynamik zerstört diese Solidarität. Das paquete mag technisch machbar ge­wesen sein, es übersah jedoch die soziale Komponente und ignorierte die Erwartun­gen der Bevölkerung sowie die Tatsache, daß es keinen politischen Kon­sens für das Programm gab.

Schlaues aus dem Norden

Ein weiterer Grund für das Scheitern des paquete war, daß der Umbruch in der So­wjetunion falsch interpretiert wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges ging man von dem unzweifelhaften Sieg des “freien Marktes” und des “demokratischen Sy­stems” aus, staatliche Intervention und jede Form autoritärer Staatsführung war verpönt. Diesem vereinfachten Schema folgend, fanden Deutschland, Thatchers England und Japan zur Macht, indem sie sich auf unabhängige private InvestorIn­nen stützen; demgegenüber verharrten Polen, Labor Partys England und Vene­zuela bei alten Konzepten einer ineffizi­enten, staatlich geführten Wirtschafsform. Nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika wurden historische Erfah­rungen ignoriert, um, so Jorge Castañeda, “sich dem ideologischen Fieber der 90er Jahre hinzugeben.”
Die überbordernde Menge an Problemen hat zu überstürzten Lösungsversuchen ge­führt. So argumentiert der Ökonom Vik­tor Fijardo, daß das paquete proble­matisch war, weil es nicht für Venezuela, sondern für ein künstliches, stereotypes Staatsge­bilde entworfen wurde: Für ein Land, daß unabhängige, risikofreudige In­vestorInnen besitzt, wo der Markt nach dem Konkur­renzprinzip perfekt funktio­niert, und die Armen Verschlechterungen protestlos hinnehmen. Zwar gab es in je­dem latein­amerikanischen Land geson­derte Wider­sprüche, der ökonomische Kollaps in den 80er Jahren war jedoch ein kontinentaler Trend, der auf die Schul­denkrise zurück­zuführen ist. Die den gan­zen Kontinent betreffenden Gemeinsam­keiten legten eine Gesamtlösung für alle betroffenen Länder nah, die unter dem Namen “Konsens aus Washington” be­kannt ge­worden ist und die am Markt ori­entierte Anpassung der Wirtschaft der einzelnen Länder vorschlug. Der “Konsens aus Washington” – Strukturan­passung als All­heilmittel – kommt einem sehr allgemein gefaßten Plädoyer gleich, die lokalen Un­terschiede zwischen den Ländern werden kaum beachtet. Pérez’ Minister betonten zwar des öfteren die spezifischen Bedin­gungen Venezuelas, wandten dann aber doch die allgemeinen “Gesetze” an.

Caldera in der Zwickmühle

In dieser immer drastischer werdenden ökonomischen Situation wurde der Au­ßenstehende Rafael Caldera zum Präsi­denten gewählt, Causa R, die Arbeiter­partei, bekam 22 Prozent der Stimmen, und generell hatten DissidentInnen größe­ren Ein­fluß auf den Ausgang der Wahl. Im Wahl­kampf hatte sich Caldera auf die Seite de­rer gestellt, die das paquete ableh­nen, was ja schon deutlich wurde, als er es nach dem ersten Putschversuch in einer Fernsehansprache massiv kritisierte. Aber Anklage allein wird nicht ausreichen, Caldera muß seine Wahlversprechen ein­halten und eine fortschrittliche Alternative zur Mehrwertsteuer anbieten. Er muß einen Weg finden, wie Defizite ausgegli­chen werden können, ohne den Preis für Benzin – der unter den Produktionskosten liegt – sowie all das, was vom Öl abhängt, unbezahlbar zu machen. Zudem liegt es an ihm, Wachstum zu stimulieren, ohne da­bei die soziale Solidarität und den Schutz der Bevölkerung zu vergessen.
Mit den Umsetzungen der Reformen ist die Rolle des Staates, des privaten Kapi­tals und der lokalen Gemeinde wieder in Frage gestellt worden. In Venezuela, ei­nem Land, wo die große Mehrheit in Ar­mut lebt und Sozialismus nicht aktuell ist, werden momentan drei mögliche Optio­nen diskutiert: Von rechts nach links ge­sehen fordert die erste Fraktion ein neoli­berales Programm nach dem Vorbild Pi­nochets oder Fujimoris. Auf diese Posi­tion stößt man automatisch, wenn man sich auf Gespräche mit Leuten aus dem Bereich des Business einläßt. Die zweite Position favorisiert “Neoliberalismus mit men­schlichem Antlitz”, es wird von einem so­zialen Netz gesprochen, das die Armen auffangen soll, außerdem sollte die Not­wendigkeit marktorientierter Reformen den Armen besser vermittelt werden. Diese Position geht auf die beiden tradi­tionellen Parteien, AD und Copei, zurück. Beide Positionen brechen nicht mit der neoliberalen Logik, die besagt, daß eine Durststrecke unvermeidlich ist und die Last nicht von den Reichen getragen wer­den kann, da sonst die privaten Investitio­nen gefährdet wären. Folglich muß die Notwendigkeit der Durststrecke den Ar­men verständlich gemacht und von ihnen getragen werden.

Auf der Suche nach der kreativen, menschlichen Lösung

Als letztes bleibt der sozialdemokratische Vorschlag, der die Beteiligung der Armen nicht nur in Form eines Dialogs vorsieht, sondern die Interessen der Armen in dem Modell vertreten sehen möchte. Da ein aufrichtiges neoliberales Programm nur mit autoritären Methoden umgesetzt wer­den kann, in ähnlicher Weise, wie Pino­chet und Salinas Politik verstanden, so bleibt als einzige demokratische Alterna­tive ein Modell des “sozialen Kapitalis­mus”, oder auch der Sozialdemokratie. Die meisten sozialistischen und regime­kritischen Christdemokraten, die die Ko­alition um Caldera bilden, sowie deren Koalitionspartner Causa R vertreten diese Position. Vielleicht holt Caldera auch ei­nige Modelle aus einer ganz alten Kiste: Einbindung der Armen durch höhere Ein­kommen, die die Kaufkraft erhöhen und somit die Wirtschaft ankurbeln; Förderung des inländischen Marktes und die Protek­tion ausgewählter venezolanischer Fir­men. Auch Elemente des paquete sol­len herangezogen werden: Die Entwick­lung einer Mikroindustrie, ausgewählte Privati­sierung und die Öffnung des Marktes nach außen. Privates Kapital soll weiterhin den Motor der Wirtschaft bil­den, jedoch kon­trolliert von einem demo­kratischen, öf­fentlichen Sektor. Caldera glaubt, daß eine gerechtere Verteilung möglich ist, wenn das wirtschaftliche Wachstum dafür ge­nutzt wird, das Humankapital zu fördern, sprich im Bil­dungsbereich und Gesund­heitswesen eine Priorität zu setzen.
Im Gegensatz zu den Erfahrungen in an­deren lateinamerikanischen Ländern ha­ben die politischen Reformen eine ver­stärkte Demokratisierung in Venezuela bewirkt, insbesondere in der Zeit, in der die wirtschaftlichen Härtemaßnahmen eingeführt wurden. Die politischen Unru­hen sind eine Folge. Die aktive Teilnahme von Basisorganisationen, unabhängigen Vereinigungen und politischen Parteien, die nicht von Eliten kontrolliert werden, läßt die Hoffnung für eine demokratische, basisorientierte Lösung realistisch er­scheinen. Auf alle Fälle wird vieles von der Caldera-Koalition und Causa R ab­hängen. Die Mitte-Links-Koalition muß versuchen, kreative, menschliche Lösun­gen zu finden, um die akuten Probleme wie die Inflation und den Haushaltsaus­gleich bewältigen zu können, langfristig ist die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums unabdingbar. Das alte Para­digma des Systems, in dem der Staat für alles Sorge trägt, ist noch nicht vollständig überwunden. Es besteht die Chance, die momentane “Systemkrise” kreativ zu nut­zen, da durch die Dezentralisierung ein neuer Blick auf die Basis möglich wurde. Die Form des neuen politischen Systems wird entscheidenden Einfluß darauf ha­ben, wie Venezuela seine Krise überwin­den wird.

Henkel läßt weiterschnüffeln – fast überall

Auf dem International Forum for Child Welfare sprachen sich im letzten Jahr 45 Nationen für ein gemeinsames Vorgehen gegen die “zunehmende Zerstörung des lateinamerikanischen Kindes durch die Droge Klebstoff’ aus. Zudem wurde in vielen Veröffentlichungen vor den gesundheitlichen Folgeschäden der Klebstoffschnüffelei gewarnt. So schreibt Uwe von Dücker als Ergebnis seiner Untersuchung zur Aufdeckung der Schicksale lateinamerikanischer Straßenkinder im ded-Brief (Deutscher Entwicklungsdienst) 3/93: “Man weiß heute, daß Klebstoff, Lösungsmittel, Aerosole, Narkotine und ähnliche Stoffe Rauschmittel ganz besonderer Art sind. ihr Suchtpotential war je- doch den Herstellern so nicht bekannt. Bei dem Klebstoff handelt es sich um ein dem deutschen “Pattex” ähnliches Produkt, das in Lateinamerika unter unterschiedlichen Markenbezeichnungen vertrieben wird: In Argentinien ist es “Poxiran”, in Chile “Neopren”, in Peru “terocal”. […I Medizinische Untersuchungen über die Folgen der Klebstoffschnüffelei fanden wir trotz unserer regelmäßigen Nachfragen bei den die Straßenkinder behandelnden Ärzten in Lateinamerika nicht. Die Ärzte berichten uns jedoch von irreparablen Schädigungen der Stimmbänder, der Lunge, der Nieren, und der Zerebralfunktionen. Bei regelmäßiger Inhalation würden sich diese Schädigungen in besorgniserregender Geschwindigkeit verstärken und bereits nach einem Jahr als bleibende Behinderungen manifestieren.”
Uwe von Dücker ist Mitbegründer und Vorsitzender der “Internationalen Gesellschaft zur Förderung des lateinamerikanischen Kindes -educación para todos e.V.”.
Diese Organisation schrieb zusammen mit dem “deutschen Kinderschutzbund” und “CODECAL”, einem pädagogischen Ausbildungszentrum aus Bogota, im vergangenen September zum ersten Mal den Henkel-Konzern an: “Wir vertreten das Ziel, den allerorts in Lateinamerika auf die Straßen strömenden Kindern zu einer menschenwürdigen Zukunft zu verhelfen. Hierbei versuchen wir die am stärksten betroffene Gruppe, die auf der Straße lebenden Kinder, zu erreichen, und mit gezielten Programmen der Sozialarbeit zu unterstützen.” Weiter fordern sie eine Stellungnahme Henkels zu der weltweiten Produktion von Klebstoff und der Möglichkeit einer Entgiftung oder Einstellung der Produktion.
Henkel antwortet daraufhin: “Wir haben entschieden, zum 01.10.94 alle dem Endverbraucher in Zentralamerika angebotenen Kontaktkleber lösungsmittelfrei zu produzieren und auf den Markt zu bringen. Wir sind uns bewußt, daß wir damit einen Teil der Kunden aus dem Kleingewerbe verlieren werden, sind aber bereit, diese Verluste hinzunehmen.”
“Educación para todos” nahm diese Entscheidung zwar mit “Genugtung” entgegen, wies aber entschieden darauf hin, daß sich die Entgiftung von Pattex nicht allein auf den mittelamerikanischen Raum beziehen kann, wo Henkel nach eigenen Angaben nur mit 5-7 Prozent an der Klebstoffproduktion beteiligt ist. Es bleibt also abzuwarten, ob es Henkel nun wirklich um die Gesundheit der Straßenkinder geht, oder es sich einzig und allein um eine imageaufbessemde Alibiaktion handelt.
Vom 12.-17. September wird zum Thema Streetwork mit Straßenkindern ein internationaler Kongreß in Santiago/Chile stattfinden. Dort wird das zunehmende Problem der Klebstoffschnüffelei
zentrales Thema sein.

Domingos Pellegrini Jr.

Auf die Frage, wer er ist, und was er macht. antwortet er: “Bin geschieden, habe vier Kinder und spreche Englisch.” Er sieht in der Literatur die “größte Brücke der Welt” und behauptet: “Tudocomencou com o homen”(“Alles begann mit dem Mensch/Mann”, wobei er hier den “Mann”meint). “Da gab es Adam und Eva, zwei Söhne, einer tötet den anderen und daraus entstand die Menschheit.” Domingos Pellegrini Jr. ist einer der fünf Autoren, die im Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HdKW) bei der Veranstaltung “Eine Reise ohne Ende” Auszüge ihrer Texte vorlasen. Zusammen mit der brasilianischen Buchkammer lud das HdKW AutorInnen ein, die sie als Vertreterinnen brasilianischer “Wurzeln der Gegenwart” sehen. So schreiben die Herausgeber der Anthologie “Nachdenken über eine Reise ohne Ende” (Babel-Verlag; 24,80 DM): “Vielerorts ist das Klischee lebendig, Brasilien sei ein Land ohne Wurzeln, ein Synonym für Neubeginn oder für den Glauben an den Wechsel und an die Vorzüge rasanter Veränderungen.” Sie wollen “zeigen, da6 es m diesem relativ jungen Land eine Prägung durch vielfältige lebendige Traditionen gibt, die oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber hinter der dynamischen Fassade des Alltags vorhanden sind.” Domingos Pellegrini Jr. wurde 1949 in Londrina.Paraná geboren und lebt dort noch heute als freier Journalist, Schriftsteller und Kinderbuchautor. Er studierte Literaturwissenschaften und beschäftigt sich in seinen Texten u.a. mit der brasilianischen Familie, als deren “Chronist der letzten Jahrzehnte” er von einigen brasilianischen LiteraturkritikerInnen bezeichnet wird. 1987 wurde er mit dem brasilianischen Jugendbuchpreis aus- gezeichnet. Neben seiner Kurzgeschichte “Mann am Meer”, die er auf der Veranstaltung vortrug und die auch in der Anthologie auf deutsch veröffentlicht ist, gibt es nur wenig auf deutsch übersetzte Texte von ihm: “Zärtliche Marmelade”, Berlin, Zürich: Edition dia, 1991; “Die größte Brücke der Welt” in Erhard Engler, Hg.: Erkundungen, Berlin 1988. Die Veranstaltung wird im Juni mit der dritten und letzten AutorInnengruppe zuendegehen. (8.-11.Juni im HdKW, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin.)

“Gleichheit ist eine Utopie”

Das kürzeste Interview mit Domingos Pellegrini Jr.

LN: Wie sind Sie Autor geworden?
Domingos Pellegrini: Deus que sabe -allein Gott weiß es-. Als ich das Lesen lernte, begann ich sofort, die Zeitungsränder mit irgendwelchen Worten vollzukritzeln. Ich war sieben. Ja, ich denke, daß es Gott war.

Was halten Sie von der brasilianischen Literatur von heute?
Es werden nicht mehr gute und schlechte Autoren in Brasilien geboren als in Deutschland.

Gibt es typisch brasilianische Literatur?
Nein. Jeder Autor hat seine eigene Mystik. Márquez zum Beispiel hat seine eigene, Jorge Amado hat eine andere, die von der Kultur Nord-Ost-Brasiliens geprägt ist.

Was ist Ihre Mystik?
Die großen Worte, die auf -ade [sprich: adsche] enden.

Welche?
Liberdade, sinceridade, honestidade, productividade, amizade. (Freiheit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit. Produktivität, Freundschaft). Nur nicht die egualidade (Gleichheit).”

Warum nicht?
Gleichheit ist eine Utopie! Es gibt nicht zwei Menschen, die sich für zehn Dollar, die ich ihnen in die Hand drücke dasselbe kaufen. Die Menschen sind unterschiedlich, das ist nunmal so.”

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