Der schwarze Mittwoch

“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Po­lizeieinsatz mehr, selbst während der Mi­litärdiktatur (1973-1984) haben die Mili­cos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummi­geschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbe­waffnete DemonstrantInnen geschos­sen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwe­senheit des auf Wahlkampftour befindli­chen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und vertei­digt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen interna­tionalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenmi­nister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmen­zahl, für die Erzwingung einer großen An­frage zusammen­kam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stel­len mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Orga­nisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisa­tionen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Ver­bände und Organisationen haben Protest­schreiben geschickt und for­dern eine un­abhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Be­troffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt No­ten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hat­ten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splitter­gruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die ge­walttätigen Auseinandersetzungen provo­ziert hätten und beschuldigt zwei Ra­diosender, zur Gewalt angestiftet zu ha­ben. Ein Staats­anwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinforma­tion, Verun­glimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erhebli­chen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großak­tion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechts­brü­che, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, ei­nige da­von waren minderjährig, erkennungs­dienstlich be­handelt und verhört. Bei den Hausdurch­suchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Poli­zeibeamte zu­gegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfah­ren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisun­gen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstüt­zung der baskischen Gefangenen. Es wur­den Veranstaltungen und Demonstratio­nen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Ge­fangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hunger­streik “bis zur letzten Konse­quenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aus­setzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden überge­ben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Fren­te Amplio dürfen mit den Gefangenen spre­chen. Die Presse trifft vor dem Ho­spital ein, um Interviews zu ma­chen und zu be­richten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der be­handelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerk­schaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kund­gebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Am­plio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen ver­schärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglich­keiten auszuschöpfen. Innenmini­ster Gia­nola bleibt dabei, daß die Soli­daritätsdemos le­diglich politische Motive hätten und kün­digt an, daß die Ausliefe­rung am Mitt­woch, dem 24.8. durchge­führt werde. Am gleichen Tag wird be­kannt, daß ein Flug­zeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Ge­räten für Intensivmedi­zin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unter­schriften wer­den zur Unterstützung eines Gesetzesan­trags vor­gelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Wäh­rend sich der Gesund­heitszustand der drei Basken stän­dig ver­schlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, po­litisches Asyl fÜr die Basken zu errei­chen, sind bislang ge­scheitert, die Regie­rung beharrt auf ihrer Hal­tung: “Es gibt einen Beschluß der Ju­stiz zur Ausliefe­rung der Basken, wer ge­gen die Ausfüh­rung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsge­walt.” Es wird berich­tet, daß mehrere Be­amte der spanischen Polizei in Monte­video anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerk­schaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien be­richten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demon­strationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Ban­ken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunkti­onsstörungen und Jesús Goitia wird we­gen Herzbeschwerden auf die Intensivsta­tion verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu er­reichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ent­scheidet mit knapper Mehrheit den Gene­ralstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu ei­ner er­neuten Kundgebung vor der Klinik auf­gerufen. Der uru­guayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen An­ruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spa­nische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamenta­riern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten ab­geriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Kli­nik räumt. Immer mehr Menschen kom­men während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Ver­such, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentre­ten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspä­tung ein, weil der Flughafen in Montevi­deo abgeriegelt und nach Bomben durch­sucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gas­granaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletz­ten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politi­schen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen ge­gen Journali­stInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Kranken­wagen, eskortiert von neun Polizei­fahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise be­ritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was pas­siert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Poli­zei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Rich­tungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Po­lizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berich­ten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeiein­satz. Die Sender haben sich zu einer ge­meinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten drin­gend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurück­zuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden nie­mand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abge­stellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenko­lonne, welche die drei Basken zur Luft­waffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spani­schen Behör­den.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Mor­roni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Ver­letzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunken­ziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Kran­kenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensge­fahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festge­nommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni be­erdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich da­bei auf ein Dekret aus der Zeit der Mi­litärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsa­me Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus an­gemeldet werden müssen. Wenige Stun­den danach ordnet die Regie­rung die end­gültige Schließung von Radio Paname­ricana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesell­schaftsteile ab­zutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begrün­dung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirt­schaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsäch­lich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dicht­machen, weil einige wohlha­bende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen ha­ben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Ver­fahren gegen diese Anordnung. Die Mit­arbeiterInnen von Radio Panamericana setz­ten sich für den Erhalt ihrer Ar­beitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internatio­nale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radio­stationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und So­lidaritätserklärungen “tape­ziert”.

Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst

Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argenti­nisch-jüdisches Zentrum. In dem sieben­stöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlauf­stelle für bedürftige Menschen, ein Thea­ter und ein Arbeitsvermittlungsbüro un­tergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertre­tung der jüdischen Gemeinschaft in Ar­gentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jäh­riger Leiter des Instituts für jüdische Stu­dien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beer­digung teilgenommen.” Das Lebens­werk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig ver­lorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das At­tentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nut­zen, versprach: “Die geistigen und materi­ellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kur­zer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich da­gegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicher­heitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, er­klärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsge­benden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer ge­ladenen Stimmung gegenüber. Die Buh­rufe waren auf der Tribüne nicht zu über­hören.
Angesichts dieses zweiten großen Terror­anschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsi­denten noch vor kurzem als Erfolg ver­bucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das interna­tionale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusori­schen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außer­dem sei diese Entscheidung ohne Zu­stimmung des Kongresses per Dekret ver­ordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu ma­chen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignis­sen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interes­sant. Immerhin scheint der syrische Waf­fenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Me­nem zu sein. Der reiche Geschäfts­mann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, er­hielt die ar­gentinische Staatsbürgerschaft in der Re­kordzeit von 30 Tagen – eine er­staunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken ar­gentinischen Bürokratie. Den argentini­schen Reisepaß erhalten norma­lerweise selbst verheiratete AusländerIn­nen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienan­gehöriger der ehemaligen Prä­siden­ten­gattin. In elf Ta­gen erhielt er nicht nur das blaue Doku­ment, sondern auch noch einen verant­wortungsvollen Posten in der Zoll­behörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Dro­gen­geschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsan­walt Juán José Galeano außer der zweifel­haften Aussage eines ehemaligen irani­schen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag ver­wendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer irani­schen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauder­welsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die ira­nische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mit­glied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischspra­chige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentali­sten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachfor­schungen seien aber damals aufgrund in­nenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Prä­sidenten Menem mit Syrien” einge­stellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internatio­naler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdi­sche Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesell­schaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemü­hen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklä­rungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Natio­nalität oder seines Glaubens ver­dächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergan­genheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es un­ter Juan Domingo Perón zu Ausschreitun­gen gegenüber argentini­schen Juden. Über die “Rattenlinie” ge­langten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurch­schnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleich­zeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unter­schlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungs­antrag für einen deut­schen Nazi aus Italien vor: Der amerikani­sche Fernsehsender ABC hatte den ehe­maligen SS-Mann Erich Priebke in Bari­loche (Provincia de Río Negro) auf­gespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im Sep­tember eine besondere Überraschung: An­gehörige der 1944 exe­kutierten Italiener beabsichtigen, den ar­gentinischen Luft­kurort in Kürze zu besu­chen, um dem Auslieferungsgesuch Nach­druck zu ver­leihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppie­rungen in der Bundesrepublik und Argen­tinien sind bekannt. Ein Forschungspro­jekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeit­zeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argen­tinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie er­wähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachi­gen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runter­geht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventio­niert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanö­ver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzwei­felte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schän­dung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsitua­tionen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine be­sten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten un­zählige Porteños Werkzeuge und Lebens­mittel zu der israelischen Rettungsmann­schaft, die eigens eingeflo­gen worden war. Daß Angehörige von vermißten Per­sonen allerdings Anrufe er­hielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung ge­macht wurde: “Ich habe Ihre Tochter le­bend im Krankenhaus gesehen,” ver­deut­licht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, er­klärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nach­barschaft der AMIA fürchteten. Sportver­anstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeut­sche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. In­zwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetre­ten. Diese neue, schwer begreifbare Di­mension des Terrors stelle die Gesell­schaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheim­dienste durch eine eigenständige Bericht­erstattung zu durchbrechen und die Isola­tion der bedrohten Gruppe durch Solida­rität zu überwinden. Zudem sei die Mei­nung politisch unabhängiger Persönlich­keiten in solchen Krisensituationen äu­ßerst wichtig. “Die können eine psy­chologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politi­sches Kapital daraus schlagen wollen”

Der Wutausbruch des Juan Tama

Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine ge­tötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesi­gen Erd- und Schlammassen zu einer töd­lichen Lawine, die das Flußtal herunter­donnerte. Im Gegensatz zu damals er­eignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtig­sten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 blei­ben vermißt, und weitere 18 000 Men­schen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Tempe­raturen zwischen fünf und zehn Grad hau­sen hier 2000 Menschen in teils gespen­deten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Mos­coco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikpla­nen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Mo­ment reißen kann. Rotbraune Narben ver­unstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Gue­rilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco be­richtet, dort hätten Soldaten einen Ge­sundheitsposten demoliert und nach Waf­fen durchsucht. Die Lebensmittelvertei­lung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwi­schen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes so­wie den Führern der hier vertretenen Dorfgemein­schaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler In­dianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Stra­ßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ih­rer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zu­sammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine we­niger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privat­besitzern abkaufen, zu denen auch Dro­genhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebener­werbsquellen vieler Bauern dar. Die Na­turkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in die­sem Jahr wieder verstärkt angelegt wor­den waren. Die desolate ökonomische Si­tuation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwen­dige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Ab­kommen über die Ersetzung des Mohnan­baus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungs­zentrum in Tóez gehörte zu diesem Pro­gramm. Der Substitutionspro­zeß war je­doch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regie­rung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist um­stritten. Fest steht, daß WissenschaftlerIn­nen bereits 1986 eine Landkarte der Re­gion mit den jetzt verwüsteten Risikoge­bieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziem­lich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwort­lichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettanti­sche Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Me­dien waren denen der Regierung weit vor­aus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wie­deraufbau erst einklagen. Der von der Re­gierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region wi­derspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterIn­nen regierungs­naher Positionen die Mehr­heit. Dazu gehört auch der Bogotaner Ar­chäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit sei­nen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Haupt­attraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Erne­sto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitge­nommen zu haben, ohne die vorgeschrie­benen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. An­dere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Wei­ßen aus dem Gleichgewicht gebracht wor­den sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Wider­stand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und be­hauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzu­bringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Da­neben gibt es Parteipolitiker, Kirchen­obere und VertreterInnen der anderen eth­nischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierra­dentro stellt zweifellos einen Fort­schritt gegenüber der Bewältigung des Vul­kanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wil­ches: “Die Krise ist eine Zeit der Ge­fahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Me­stizen und Indianern.” In den kom­menden Monaten wird sich zeigen, ob die Kom­mission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederauf­baus.

“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit An­tonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizeprä­sidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängig­keit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Gue­rilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinan­dergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmäh­lich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflan­zen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianer­führer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht ein­verstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wie­deraufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission ka­nalisiert werden. Der CRIC hat dies be­reits auf seiner letzten Sitzung beschlos­sen.

Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg

Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.

Joint Implementation

Auch wenn das Vertragswerk eine müh­sam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten ver­pflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabi­lisieren, das einen gefährlichen, men­schenverursachten Eingriff in das Klima­system verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstem­peratur darf nur in einem Umfang erfol­gen, in dem die Ökosysteme und die glo­bale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu überneh­men.
* Die Industrieländer müs­sen auf jährlich stattfindenden Konferen­zen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderun­gen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie näm­lich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwen­dige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaaten­konferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den inter­nationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Re­duktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskus­sion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vorder­grund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomi­sches Kalkül: Da Treibhausgase unabhän­gig von ihrem Emissionsort, also nicht re­gional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treib­hausgas-Reduktionen durchgeführt wer­den. Deshalb kann, zumindest aus techni­scher Sicht, mit den billigsten Redukti­onsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Re­duktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuro­pas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wär­menutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationslän­dern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Indu­strie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungslän­der auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umwelt­politische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöf­fentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökono­mischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Ener­gie/CO2-Steuer einführen, so steht die In­dustrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwick­lungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Auf­forstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced im­pact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Re­publik Tschechien und die Reperatur un­dichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches In­strument zur Bekämpfung des Treibhaus­effektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderi­schen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Im­plementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Ent­stehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Im­plementation zudem die erwünschte Len­kungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Indu­strieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglich­keit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwor­tet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Pro­jektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit ei­nem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran ha­ben, von einem möglichst hohen Emissi­onsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen ent­stehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Um­fang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den In­dustrieländern als ökologisch nicht tragfä­hig erwiesen. Dezentrale Formen der En­ergieversorgung wie Kraftwärmekopp­lung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsinten­sive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technolo­gietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malay­sia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwick­lungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonia­lism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwick­lungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die In­dustrieländer jedoch einen mächtigen He­bel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation wer­den durchsetzen können.

“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

Einseitiger Blick auf Bolivien

Kurz und informativ will das “Latin Ame­rica Bureau” aus London mit seiner Reihe “In Focus” die Länder Lateinamerikas und der Karibik präsentieren, Länderkunde zum Einstieg für Nicht-ExpertInnen. Nach der Eröffnung der neuen Reihe mit einem Band über Jamaica (vgl. LN 235) ist nun “In Focus. Bolivia” erschienen, verfaßt von den Niederländern Paul van Lindert und Otto Verkoren. Auf 75 Seiten versu­chen die Autoren, in vier Kapiteln einen historischen Überblick, eine Analyse der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation und eine Einführung in Gesell­schaft und Kultur unterzubringen, ein Vorhaben, das leider nicht ganz geglückt ist.
Der Schwerpunkt liegt in den drei Haupt­kapiteln auf Wirtschaft und Politik. Ge­schichte und Gegenwart werden mit ihren Regierungen und Revolutionen, Politikern und Parteien kurz und doch detailreich be­schrieben. Die Revolution von 1952, die Entwicklung der Koka- und Kokainwirt­schaft, der Umbruch seit 1985 mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik: Die wichtigsten Fakten sind jeweils auf weni­gen Seiten zusammengefaßt. Allerdings klafft im Bereich Wirtschaft eine große Lücke: Das Stichwort Ökologie scheint den Autoren fremd zu sein. Über das öst­liche Tiefland Boliviens schreiben sie ohne weiteren Kommentar, die moderne Landwirtschaft erreiche “thanks to the use of high-grade seed and seed plants, artifi­cial fertiliser, herbicides and pesticides … very high yields per hectare” und fahren fort, die hohen Erträge seien möglich “due to a combination of capital investment, technology and natural fertility” (S.58/59). Die grüne Revolution läßt grüßen.
Noch mehr geraten van Lindert und Ver­koren ins Schlingern, sobald sie den Be­reich von hoher Politik und Wirtschaft verlassen. Bezeichnenderweise steht das dritte Kapitel, nachdem es schon zuvor vor allem um Wirtschaftspolitik ging, un­ter dem Titel “Economy and Society” und nicht etwa “Culture and Society”. Tatsächlich folgt mehr economy als so­ciety ohne weitere Bezugnahme auf Kul­tur. Was Wirtschaft und Kultur in ei­nem Land mit indigener Bevölkerungs­mehrheit miteinander zu tun haben, wird nicht zum Thema. Die LeserInnen erfah­ren in Sa­chen Gesellschaft gerade noch etwas über das Leben im informellen Sektor in den Städten. Aber Informationen zur ländli­chen Gesellschaft, zu lokalen Macht­strukturen, zu ökonomischen Stra­tegien von Indígenas, zu Indígenabewe­gungen und ihren Diskussionen? Leider Fehl­anzeige.
Das Inhaltsverzeichnis läßt darauf hoffen, daß diese Lücken wenigstens nachträglich gefüllt werden, steht doch das vierte, kurze Kapitel unter dem Titel “Culture. An Indian Country”. Auf knappen sieben Seiten folgt aber eine Enttäuschung: Es geht ausschließlich um fiestas und um Musik, angereichert mit einigen Hin­weisen auf ihre gesellschaftliche Bedeu­tung. Das “Indianische” an Bolivien: Folklore und Feste – und das war’s zum Thema Kultur.
“A Guide to the People, Politics and Cul­ture” soll “In Focus. Bolivia” laut Unter­titel sein. Ein geraffter Überblick über Ge­schichte, Wirtschaft und Politik Boliviens ist – mit Lücken – durchaus darin zu fin­den, aber von Gesellschaft und Kultur wissen EinsteigerInnen nach dem Lesen nicht viel mehr als vorher.

Paul van Lindert, Otto Verkoren: In Focus. Bolivia; 75 S.; Latin American Bureau, London 1994. Be­zug: LN-Vertrieb, Gneisenausstr. 2, 10961 Berlin. 16,80 DM.

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

Insektizide auf Santiago

Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Frucht­fliegen, Schädlingen an Obstbäumen, be­gründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfin­denden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zu­ständigen Ratsmitglieder und die Bevölke­rung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber be­richtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Pro­testversammlungen zusammengekomme­nen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Abspra­che seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadt­verwaltungen und die Öffentlichkeit vor­her zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 An­rufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asth­maanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Be­sprühung wurde allerdings von den Be­hörden kategorisch abgestritten. Über­haupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Mala­thion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Ge­sundheitsbeschwerden der BewohnerIn­nen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vor­sichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhän­gen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft gewor­den, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und be­glückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportie­ren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexport­ländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Pro­blems, das die Wirtschaft des Landes be­einträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich ver­komplizieren, gelinge es nicht, die Frucht­fliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, rea­gierten empfindlich. So mußte das Auf­tauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA ge­meldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgespro­chen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Süd­afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Bra­silien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 be­legte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chileni­schen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste aus­gleichen. Die Exporte in die lateinameri­kanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkur­renzdrucks der beteiligten Länder unter­einander dürften diese Märkte jedoch be­grenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer La­dung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte be­troffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde wäh­rend der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberau­bende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtig­sten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Ton­nen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chi­les belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 al­lein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurück­zuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich da­bei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen in­zwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Um­strukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Ar­beitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Ar­beitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berück­sichtigung.

Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen

Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basis­komitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstrit­ten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit Po­litkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratIn­nen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte ange­droht, seine Kandidatur für das Präsiden­tenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stun­denlangen Debatten und zahlreichen ge­scheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Váz­quez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchge­bracht: Nin Novoa, Mitglied der regieren­den Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident La­calle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos auf­gibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Ma­riano Arana, ein Architekt und Stadtpla­ner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fort­schrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnis­ses, wie zum Beispiel die MLN-Tupama­ros und die UNIR, wehrten sich mit Hän­den und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen in­nerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Ver­hand­lungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Füh­rungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnis­politik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politi­sche Bünd­nisse, in denen man sich enga­gieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis her­aus”. In seiner Abschlußrede stellte Váz­quez dann The­men wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidari­tät und soziale Ge­rechtigkeit in den Mit­telpunkt. Eindring­lich verlangte er Ge­schlossenheit und er­innerte an die Ge­schichte dieser Organi­sation, die stets eng mit ihren Persönlich­keiten verbunden ge­wesen sei – wie zum Beispiel dem Grün­der der MLN-Tupama­ros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Váz­quez unter großem Bei­fall den Delegierten zu. Einige der anwe­senden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errich­tete die Frente in mehreren Arbeitsgrup­pen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte be­schloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politi­scher Organisationen, zusammenzuarbei­ten. Auslandseinsätze uruguayischer Sol­daten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klä­ren.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mer­cosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegier­tenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und ande­rer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schulden­dienstes und ein machtvoller Zusammen­schluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß inner­halb der Frente gerne mit “kritischer Un­terstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argenti­nien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und mögli­cher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Dele­gierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Colora­dopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mer­cosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vize­präsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Haupt­stadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.

Jenseits des sozialistischen Staates

Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Arm­reifen aus Meeres­muscheln, verschieden­farbige Glasperlen, ei­nen schneeweißen Py­jama und ein wei­teres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Din­ge benö­tigt. Wenn irgend mög­lich, soll ich dies alles bei meinem näch­sten Be­such nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cou­sine, “muß sei­nen Heiligen ma­chen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deut­schen Medien über die wirt­schaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließ­lich errei­chen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in de­nen Schreiberinnen vol­ler Sinn fürs Pro­fane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Aus­gehschuhe – und auch mal um eine Sonnen­brille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Nie­der­gangs der sozia­listischen Zentral­wirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren be­kennen sie sich im­mer mehr offen zu den bis­her vielfach dis­kriminierten Glaubens­vorstellungen, die so sehr ein Teil von ih­nen sind, daß man San­tería als die ge­heime und ver­kannte Volksre­ligion der Ku­baner an­sehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittler­weile so­gar in den früher ausschließlich Diploma­ten und ausländischen Touri­sten vorbehal­tenen di­plotiendas präsent ist. Im Mo­nat zu­vor hatte die Regie­rung die Dollari­sierung der kubanischen Wirtschaft legali­siert und allen Kuba­nern den Besitz der US-Währung er­laubt. An der Kasse der größ­ten diplo­tienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleich­falls mit Dol­lars gesegnete junge Kuba­nerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Syn­thetik­haut tragen, und ein förmlich geklei­deter Herr, der auffällt, weil er die begehr­ten und überteuerten Pro­dukte – überwieg­end US-amerikanischen Ur­sprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozia­listischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unter­hält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angeho­benen Preise für aguardiente de caña, ei­nem Zuckerrohr­schnaps, der für viele Ri­tuale der Santería un­entbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bun­ten Glasperlen ge­schmückt. Als Novi­zinnen der Santería müssen sie mehrere Mo­nate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Ent­spannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps be­ladenes Einkaufswägel­chen als näch­stes zur Kas­siererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmu­tende Zusammensetzung in der Warte­schlange der di­plotienda kann man als ty­pisch kubanisch an­sehen. Sie steht für die Gleich­zeitigkeit uns widersprüchlich er­scheinender Weltan­schauungssysteme und Or­ganisationsformen des Sozialismus, Kapi­talismus und der San­tería, die nicht erst seit jüngster Zeit ge­meinsam die ku­banische Gesell­schaft prägen. Alle drei Sys­teme sind auch während des so­zialistischen Staates für die Lebensorien­tierung vieler Kubaner wichtig geblieben, er­fuhren aber im Laufe der Zeit unter­schied­liche Gewichtungen. Dies wird be­sonders deutlich bei den soge­nannten “kleinen Leu­ten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch ent­gegen­steuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veran­schaulichen, will ich ein wenig von den Be­wohnern eines Stadt­viertels von Havanna, des barrio de los ta­baqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern die­ses Viertels verbin­det mich von 1981 an ein beson­deres Ver­hältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seit­her re­gelmäßig nach Kuba und besu­che dort für ei­nige Wochen auch meine Ver­wandten; denn meine Mutter war Kuba­nerin. An dieser Stelle mei­ner Familien­biographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Re­volution, in die Posi­tion einer Exilkubane­rin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnah­mefällen be­suchen. Dieses für sie schmerzhafte per­sönli­che Schicksal hat auch meine Sicht­weise von Kuba beeinflußt. Es hat sicher­lich meine Zuneigung zu den kleinen Leu­tenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Be­völkerungs­gruppen nicht zu polarisieren, son­dern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zu­sammenwirken.
Das barrio de los ta­baqueros war nie ein privi­legiertes Vier­tel. Die Bewoh­ner der Gründungszeit erzäh­len, daß es in den zwanziger Jahren von Tabak­fabrikanten an­ge­legt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusie­deln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf lei­sten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Aus­spruch hört, der Groß­vater habe damals das Grund­stück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstam­mung und in Schuld­knechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätig­keit als Kleinhändler von seinem Patrón freikau­fen können. Auch während sei­ner Arbeit in der Tabakfa­brik bot er, unter­stützt von seinen äl­testen Kindern, an ei­nem fahrba­ren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Ha­vanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim ein­tönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktober­revolution beflügelte ihre Hoff­nung auf eine gerechte, egalitäre Gesell­schaft. So verwun­dert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre gebore­nen Sohn den Vornamen Le­nin gab. Er selbst hatte bereits als Jugend­licher – mit prophetischer Weit­sicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Ca­stro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jah­ren hei­ratete, stammte aus beschei­denen Verhält­nissen. Sie wuchs we­niger bei ih­rem gutsi­tuierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als viel­mehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Her­kunft und Haut­farbe man sich in der Fa­milie hart­näckig ausschweigt. Wie viele Kubaner ver­suchen die Familienmit­glieder beharrlich, sich zu “verweß­lichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVer­weißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karita­tiven Einrichtungen der katholischen Kir­che, deren Vertreter großen Wert auf Di­stanz zum サAber­glaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, ko­kett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstel­lungen der Oberschicht orientierte, verhin­derte jedoch keines­wegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich je­weils einem bestimm­ten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, un­ter an­derem als großzügig, einneh­mend, kokett, lebenslustig und un­treu.
Die Töchter der Cari­dad oder Ochúns tru­gen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Men­schen ein­greift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohl­zustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbe­sondere in be­zug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Hei­ligen großzügige Es­sens- und Getränkega­ben dar, die anschlie­ßend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche wa­ren. So hielt auch ich lange Zeit die reini­genden Abreibun­gen mit Weihwasser und Köl­nisch Was­ser, die mir meine Mutter regelmä­ßig zu­kommen ließ, da­mit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Be­standteil orthodoxer katho­lischer Prakti­ken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach ge­sellschaftlichem Auf­stieg und wirtschaft­licher Absiche­rung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragma­tisch über Kleinunter­nehmertum zu verwirk­lichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel übli­chen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar unge­wöhnliche, aber trotz­dem nicht untypische Familienge­schichte hin. Unter gemeinsamer Anstren­gung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Ha­vanna und damit zu ei­nem bescheidenen Wohl­stand. In der Folge des Schwarzen Frei­tags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, ver­loren sie jedoch ihre ge­samten Erspar­nisse. Danach konnte sich die Familie ins­besondere durch den wirt­schaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die El­tern hatten großen Wert darauf ge­legt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch inter­national Er­folg. Die Musikerinnen verhalfen der Fa­milie wieder zu wirtschaftlichem Auf­stieg. An dessen Höhe­punkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltaus­stel­lung nach New York und er­füllte einer seiner Töchter den Le­benstraum einer Audi­enz beim Papst.
Das Liedgut der Frau­enband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstel­lungen der Sante­ría. Just als nach gut 30 Jah­ren das Musikge­schäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernah­men in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialisti­sche Staat förderte die Mu­sikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei ei­nem festen, relativ hohen Einkommen Aner­kennung und Beschäfti­gung als Mu­sikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialis­mus und für die Proteste der Stu­denten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirt­schaftlichen und politischen Krise be­stimmt waren, ver­hielten sie sich ab­wartend und konzen­trierten sich darauf, die alltäglichen Her­ausforderungen zu be­wältigen. Wie die mei­sten in ihrem Vier­tel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revo­lutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wan­delte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Un­terstützung für die ersten Veränderun­gen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so er­zählt man sich, über Nacht vom Katholizis­mus zum Gue­varismus und spen­dete – zum un­gläubigen Erstaunen der Familienangehöri­gen – ih­ren Schmuck für den Aufbau des So­zialismus. Bis zu ih­rem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Cari­dad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozia­listin der Familie und somit die Speziali­stin für Behördengänge und Kon­takte mit Parteistel­len.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revo­lution bei vielen Fa­milien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienange­hörige bekannten sich nun öffentlich un­zwei­deutig zum Sozialis­mus und erhielten bevor­zugten Zugang zu Woh­nungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Lu­xus­gütern wie Fernse­hern, Kühl­schränken und Autos. Die Mehr­heit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regie­rung jedoch eher spo­radisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Po­litik.
Bei der sozialisti­schen Staatspartei wa­ren die Werte des in­dividuellen Unterneh­mertums und des ortho­doxen Katholizis­mus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der frü­heren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Re­gierenden als rück­schrittlich, primitiv und gewaltverherrli­chend verpönt. Die öf­fentliche Haltung ei­nes Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozi­oökonomische Stel­lung entscheidend. Dies be­wirkte, daß die Bewoh­ner des Viertels in ihren Dis­kursen zuneh­mend die drei für sie wichti­gen Weltanschau­ungssysteme – den ku­banischen Sozialismus, den US-ameri­kanischen Kapitalismus und die Santería – iso­lierten, einander gegenüberstell­ten und plakativ nur für ein System Partei ergrif­fen.
Der idealtypische Dis­kurs des Soziali­stenu­ser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwie­gende Miß­stände durch per­sönliche Allein­gänge zu beseitigen. In Kuba hungert nie­mand, alle haben die gleichen Bildungschan­cen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den So­zialisten im materiel­len Bereich bewunder­ten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzu­führen, denn im Ge­gen­satz zu Fidel (und Che, der eine Son­der­rolle spielt) sind die normalen Men­schen äu­ßerst fehlbar.
Für den US-Kapitali­stenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kuba­ners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Gar­derobe und einem Auto. Da die Kubaner als Un­ternehmer unübertreff­lich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie be­reits in Miami unter Beweis stellen konn­ten.
Der idealtypische Dis­kurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Welt­anschau­ungssysteme groß gegeneinander ab­zuwä­gen, denn beide sind der Santería un­ter­geordnet. So krei­sen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Ver­wandte, Glaubens­genossen und andere be­einflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahe­stehen. Doch als ausgesprochener Prag­matiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdi­schen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenflie­ßen, das zeigte sich beim Abschluß der Pan­ameri­kanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit So­jaschrot ge­streckten Hack­fleischrationen und die mit Süß­kartof­felmehl versetzten Brötchen, die nach ei­nem Tag zu backstein­ähnlicher Härte mu­tierten, war kurzfri­stig ver­gessen. Auch die dem US-Kapitalis­mus zu­getanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überra­genden Erfolg der Sportler fast aus­schließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilli­gen Einsätze mehr­fach ausge­zeich­nete Arbeiterin er­klärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armband­uhr die farbigen Bän­der seines Hei­ligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner un­merklich die Hand ge­hoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegen­sätze zwischen den Verfech­tern des So­zialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zu­sammenarbeit zwischen erklärten Soziali­sten und “Nicht-Soziali­sten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger ange­wiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diploma­ten­viertel einnehmen zu können. Als ein­träglich erwei­sen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukom­men, um sie dann in den Schwarz­markt ein­speisen zu können. Au­ßerdem brau­chen sie für ihr ille­gales Kleinunterneh­mertum die Protektion durch die Parteigän­ger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter be­schaffen und produ­zieren, die die Zen­tralwirtschaft ent­weder gar nicht oder nicht in ausreichen­der Menge zur Verfüg­ung stellt. Die er­klärten Sozialisten wie­derum benötigen die Geschäf­temacher, um in den Genuß von illegal be­schafften Waren zu kom­men, ohne sich selbst die Hände schmut­zig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen bei­den Gruppen jedoch un­gleich verteilt. Über­spitzt könnte man sa­gen, daß, wäh­rend die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast ste­hen. Im All­tag aber ist das Zu­sammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die famili­äre Solidarität und die Einsicht abgesi­chert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäfte­macher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Kri­se, oder 1981, dem Jahr meines ersten Be­suches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftli­chen Wohlstandes be­zeichnen): die staat­lich gelenkte Zentral­wirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widme­ten die Revolutio­näre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksam­keit. Bezüglich den Zielvor­stellungen wur­den sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und an­derswo – ein Eispalast eingerich­tet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regel­mäßigkeit ein Kühlwagen auf, des­sen La­dung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbst­verständlichen monat­lichen Ratio­nen von Bier, Rum und Zigaret­ten waren während der Zeiten eines von der Sowjet­union mitgetra­genen wirtschaftli­chen Wohlstandes nicht un­wesentlich für die breite Unterstützung, der sich die soziali­stische Regierung er­freuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organi­sation der wirtschaft­lichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Re­gierung von Anfang an die gleichwertige In­tegration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrau­enEin Grund dafür war, daß ein in die Ar­beitswelt der Staats­betriebe inte­griertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garan­tierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaf­fung über die libreta, das Bezugs­scheinheft, war normalen Werktäti­gen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie en­gagierten Par­teimitgliedern. Neben ihrer サeigent­lichenFehler: Referenz nicht gefundenfrei­willigerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial ge­nannten Wirtschafts­krise Anfang der neun­ziger Jahre läßt sich folgendermaßen be­schreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Män­ner in die überladenen Busse oder steigen auf Last­wagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgas­wolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ih­nen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherin­nen reihen sich mit den libretas mehrerer Fami­lienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sin­kende Anzahl von Brötchen in geord­neten Bahnen zu hal­ten.
Zeitraubendes Schlan­gestehen gehört je­doch nicht zu den größeren Heraus­for­derungen für die Hausfrauen. Auf­grund der unregelmäßi­gen Belieferung der bo­de­gas, der Vertei­lerstellen, müssen sie zu­nächst einmal ausma­chen, wo über­haupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Be­wohnerin­nen des Viertels nicht ganz un­gelegen. Ihre Lebensart, ihre nie en­dende Gesprächsbe­reitschaft, sowie das Sozial­leben, das sich in den meist offenste­henden Häusern und un­ter den Vordäch­ern ab­spielt, fördern die Kommu­nikation, die wahrscheinlich sowieso als das vor­herrschende Grundbedürf­nis der Ku­ba­nerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informa­tionsnetz ist so eng­maschig und reaktions­schnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zu­letzt deswegen hoff­nungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwa­gen, behindert durch unzäh­lige Schlaglö­cher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaf­fung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen heran­gewachsen und füllt ein Gutteil des Vor­mittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die of­fene Haustür. Eine Nachbarin meldet auf­geregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Er­satz verwendeten rus­sischen Kartoffeln stechende Bauch­schmer­zen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Ap­petit­losigkeit ge­führt haben soll. Die Nach­barin bekommt ei­nige der frühmor­gens erstandenen Brötchen und über­nimmt da­für einen Stapel libretas für den Malanga-Ein­kauf. Eine halbe Stunde später klin­gelt das Telefon. Eine Ver­wandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gas­lastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus aus­gegangen ist, wird ei­ligst jemand zum LKW geschickt, der versu­chen muß, den Fahrer mit ein paar Geld­scheinen zu ei­nem kleinen Umweg zu bewe­gen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Um­ständlich kramt er aus einer verdeckt ge­haltenen Stoff­tasche selbstge­bastelte Pa­pierblumen heraus. Die Hausbewoh­nerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet ge­stern nacht sind einer Freundin die verstor­benen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen ange­rufen und berichtet, sie be­fürchte, die El­tern könnten eines ihrer Kinder krankma­chen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papier­blumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also wer­den sie dem Rentner abgekauft. Kurz da­nach übertritt eine andere Nachbarin ohne große For­malitä­ten die Schwelle des Hauses. Sie holt wie­der einmal die Dosen­milch ab, auf die die Kleinkinder ein An­recht haben. Die mei­sten Mütter des Vier­tels sind sich sicher, ebenso wie inzwi­schen auch viele kubanische Ernährungs­wissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömm­lich ist. Für einen relativ hohen Preis verkau­fen die Mütter die Do­senmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süß­speisen wie flan – ei­ner Art Pudding – ver­arbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Haus­frauen arbeitsteilig organisiert. Dabei ko­operieren an erster Stelle die Familien­mit­glieder. Am Rande dazu gehören die no­vios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmit­gliedern ihrer Künfti­gen in einer Art Vor­brautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbar­keit ge­testet werden. Manche Familien leisten sich professio­nelle Schlan­gesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstlei­stungssparte speziali­siert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegen­seitige Unter­stützung
Bei der Beschaffung von Gütern beson­ders behilflich sind sich die Mitglie­der von Santería-Gemeinschaf­ten, die eine rituelle Verwandtschaft zuein­ander pfle­gen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künf­tiges Mitglied aus ei­nem attraktiven Pro­duktions- oder Dienst­leistungszweig kommt, tun dies auch Gemein­schaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Ge­meinschaften des Vier­tels ist bekannt da­für, daß sie mit Er­folg Vertreter der wichtigsten Berufs­sparten zur regelmäßi­gen Teilnahme an reli­giösen Treffen hat be­wegen können: Ange­stellte von Fleisch- und Wurstfabri­ken, Großbäcke­reien, Ho­tels, Restaurants und Bars. In diesen schwe­ren Zeiten, in de­nen die früher gerühmte Gastfreund­schaft des Viertels zwangsweise suspen­diert ist, fin­den die einzigen großen Einla­dungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemein­schaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bo­deguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging die­ser risiko- und le­bensfreudige Mann dem Schicksal zahl­reicher bodegueros: Als bevor­zugte Sün­denböcke für den illegalen Klein­handel wurden sie nach einigen Jahren abge­setzt und kurzerhand für einige Zeit ins Ge­fängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bo­deguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichti­ger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bode­guero seinen ungewöhn­lichen Organisations- und Ge­schäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Na­menstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze auf­zustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solida­rität gibt es auch un­ter den älteren Gründungsmitglie­dern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwan­derung nach Havanna seit den dreißiger Jahren be­herbergt das Viertel heute, neben den Nach­kommen der Zigarren­dreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rück­ständig und mehr oder weniger unkulti­viert. Doch in letzter Zeit müssen die Habane­ros die früher herablas­send be­handelten gua­jiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Ver­wandte auf dem Land zu haben, die aller­lei nützliche Produkte be­sorgen können. Selbst die Sitte der guaji­ros, in den klei­nen Patios und Gemüsegär­ten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hüh­ner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Haba­neros geschätzt und zuneh­mend übernommen.
Im halblegalen und il­legalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händ­lerinnen meist nur サLuxusgegenständeHänd­lerinnen die bevorzug­ten Anlaufper­sonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der li­breta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr ille­gale Bereich zum ei­gentlichen Versor­gungsträger heran. Nun war man selbst bezüg­lich der elementar­sten Zutaten der kubani­schen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar stan­den diese Grundnah­rungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Liefe­rungen an die bodegas immer unvollstän­diger und seltener.
Frauenrollen und Männer­rollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaft­liche Situa­tion einer Familie bei weitem be­deutsamer sind als die werktäti­gen Män­ner und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestau­rants werden mitt­lerweile im Vier­tel betrieben. Andere Un­ternehmen, die vor­nehmlich von Frauen geführt wer­den, sind Schneidereien, Mani­küre- und Fri­seursa­lons. Welch wichtigen Teil der Ver­sorgung die Privathaushalte überneh­men, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe her­gestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zuneh­mend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben ar­beitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Vier­tels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Un­terschicht ernährten als Kleinproduzen­tin­nen und -händlerinnen die matrifokalen Fami­lien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Er­scheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirt­schaft war eher unregel­mäßig. Die Män­ner der Mittel- und Oberschicht hiel­ten sich neben der Familie mit ihrer offizi­ell angetrauten Frau oft noch weitere Fa­milien mit Nebenfrauen aus der Unter­schicht. Die Männer der Unter­schicht hin­gegen durch­liefen mehrere nicht legali­sierte, mono­game Beziehungen, die unio­nes libres. Bei Pro­blemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Fami­lie selbständig ernäh­ren zu können, war es vor der Revolution üb­lich, daß Mädchen ein Handwerk lern­ten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Er­werbstätigkeit wurde als regel­rechter Be­standteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Bezie­hungen und der Ar­beitsteilung zwischen den Geschlechtern in­nerhalb der matrifoka­len Familien ent­spricht ein spezifi­sches Selbstverständ­nis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunft­begabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe krei­sen daher die Dis­kurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwen­den seien, um einen Mann サfestzu­bindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt dei­nen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht ent­kommen. Dabei soll er aber den Ein­druck ha­ben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vor­liebe in der Öffent­lichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaf­tigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber pro­jizieren sie die ei­gene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne an­dere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüch­tig und rechtfertigen damit Vorschriften ih­rer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzei­ten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Re­gierung setzte der ma­trifokalen Familienor­ganisation das Ideal einer monogamen Klein­familie im Stil des europäischen Bürger­tums entge­gen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau glei­chermaßen in das Ar­beitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditio­nellen Geschlech­terbeziehung auf meh­rere Weisen entgegen. So hat sie die Legali­sierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnah­men auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensfor­men von サNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische Men­talitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaft­liche Be­deutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversor­gung ging die Regierung auf die Vorstel­lungen und die Gewohnheiten der サklei­nen LeuteFehler: Referenz nicht gefundene­ziali­stinnen und Speziali­sten gibt, die die Er­kenntnisse der Volks­medizin, der San­tería und der サwestlichen. Diese Art von Kranken­be­handlung war auch in den Zei­ten einer her­vorragend funktionieren­den staatlichen Gesund­heitsversorgung unter den Bewoh­nern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Wider­spruch zu sehen. Sogar das Renommierkranken­haus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizi­nischen Wissen­schaften der USA ausgerichtet und hervorragend aus­gestattet ist, ordne­ten die Leute ihrem eigenen Gesundheits­ver­ständnis unter. Be­zeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation die­ses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der An­sicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rech­nung mit ihrer Heili­gen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glückli­chen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile be­fürchten zu müssen.
Fast immer sind le­bensbedrohende Krank­heiten der Anlaß, einen religiösen Spe­zialisten aufzusuchen und sich in die Sante­ría einweihen zu las­sen. Jetzt, wo in den staatlichen Kranken­häusern Einweg­spritzen fehlen und die Bett­wäsche selbst mitge­bracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheits­systemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der so­zialistischen Regie­rung vehement be­kämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mo­bilisieren und als Weltanschau­ungs­system mit dem Sozialismus zu kon­kur­rieren vermag. Sie wurde zwar offizi­ell nicht verboten, doch schloß man Par­tei- und Santería-Mit­gliedschaft gegensei­tig aus. Da die Aus­übung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbe­son­dere für Familienmit­glieder, die in Regie­rungsinstitutionen ar­beiteten, gin­gen die Santeros zwangsweise mit großer Dis­kretion vor. Die Porzellan- oder Terra­kotta-Figu­ren, die Heilige re­präsentieren, die Suppenter­rinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengei­ster, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolu­tion, als Santería von der Ober­schicht und der katholischen Kir­che dis­kriminiert wurde – den Charakter des All­täglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unter­scheiden.
In den achtziger Jah­ren änderte die Regie­rung ihre rigide Hal­tung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Mu­sik und die Rituale der Sante­ría durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nut­zen und zugleich deren religiöse Bedeu­tungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Ein­hei­mische erachteten jetzt Santería als we­sentlichen Bestandteil der nationalen Identi­tät der Kubaner. Auch überstand die reli­giöse Integrität der Santeros offenbar un­beschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligen­festen in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclub­publikum dieselben hei­ligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz er­greifen und direkt zu ihnen spre­chen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mit­gliedschaft von Ange­hörigen der Santería zugelassen. Im Septem­ber 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbe­reiche für die Privatinitia­tive der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerin­nen und -produzen­tinnen im Viertel der tabaque­ros. Dies sind späte Zuge­ständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hof­fentlich regnet es Rin­dersteaks.

“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analy­sen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Ver­lag, Au­gust 1994

Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”

Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!

Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt

“Er war ein besonders hellsichtiger Mensch, der im Bett lebte und dachte, und er hatte so viel Hochachtung vor dem Tod, daß er ihn schon seit einiger Zeit übte,” so der spanische Schriftsteller Manuel Vicent über Onetti. Daß Onetti in den letzten Jah­ren seine Madrider Dachwohnung kaum noch verließ, es fast unmöglich war, ihn zu einem Interview zu bewegen, daß er viermal verheiratet war, viel rauchte und gerne Whisky trank, findet sich in fast je­dem der unzähligen Nachrufe, mit denen Anfang Juni die internationale Presse den alten Herrn würdigte – vor allem aber sein literarisches Werk, seine Romane und Er­zählungen, mit denen er zu einem der be­deutendsten lateinamerikanischen Autoren avancierte. Zwar ist er dem deutschen Pu­blikum weit weniger bekannt als die jün­geren “Boom”-Schriftsteller, die mit dem “magischen Realismus” den literarischen Markt eroberten, doch sagt dies mehr über die Sehnsüchte der LeserInnen nach Exo­tik aus denn über das Werk des Autors. Die erste Übersetzung erscheint hierzu­lande 1976 (“Die Werft”, Frankfurt/M. 1976), doch erst in den 80er Jahren gehen seine Bü­cher häufiger über den Laden­tisch. 1980 erhält Onetti in Spanien den “Premio Cer­vantes”, die höchste Aus­zeichnung für spanischsprachige Literatur. Auf die Fra-ge, was die Preisverleihung für ihn be­deute, sagte er lapidar “zehn Millionen Peseten”, eine Antwort, die auf distin­guierte Literaten geradezu beleidi­gend wirkte. Dabei hat er es oft wieder­holt: Es liege ihm nichts daran, Schrift­steller zu sein, nur das Schreiben sei ihm wichtig .
Santa María – das Universum
So gut wie alles, was Onetti geschrieben hat, ist von geradezu niederschmetternder Trostlosigkeit, und es ist fast unmöglich, zwei seiner Romane hintereinander zu le­sen, ohne dem Alkohol oder zumindest in tiefe Melancholie zu verfallen – “Unsere Ver­gangenheit mochte schmutzig, viel­leicht unumgänglich gewesen sein. Aber die Gegenwart war, wie gewöhnlich, schlimmer”.
Seine Themen: Santa María, die erfundene Stadt irgendwo zwischen Buenos Aires und Montevideo, und immer wieder Santa María. Mittelmäßigkeit, Dekadenz, Verlo­genheit, Langeweile, zerrüttete Ehen, die alltägliche Korruption, gestrandete Exi­stenzen. Dieselben Figuren tauchen auf, die gleichen Straßen und Plätze – die inter-textuellen Verweise stricken die sanmaria-nische Welt immer dichter. Doch ist auch Santa María eine Illusion, ein Para­dies der Abgründe. In “Lassen wir den Wind spre­chen” (Franfurt/M. 1986; “Dejemos hablar al viento”, Barcelona 1979) klärt der eine den anderen darüber auf, daß Santa María und all seine Bewohner die Erfindung ei-nes Dritten sind: “Das steht geschrieben, weiter nichts. Es gibt keine Beweise”. Der andere kehrt aber doch nach Santa María zurück und erfährt, daß auch der Dritte, der Stadtgründer, nur eine Romanfigur ist. Der ihm dies eröffnet, mißt die Zeit in Sei-ten. “Oh, alte Ge­schichte. Wir waren eine Zeitlang in einem Haus in den Dünen. Seltsamer Typ. Das liegt viele Seiten zu-rück. Hunderte.” Durch solche literar-is­chen Tricks gelingt es Onetti, den Rea-lismus als Fiktion zu entlarven, ohne ihn als erzählerisches Prinzip aufzugeben. Am Ende von “Lassen wir den Wind spre-chen” steht die Zerstörung Santa Marías durch ein Feuer, das, vom Wind ange-facht, die ganze Stadt erfaßt. Erstaunlich-erweise läßt Onetti sie in seinem letzten Roman wieder auferste­hen, mit einer klei-nen orthographischen Variante: Santa-maría. “Cuando ya no importe” (Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt) er-scheint 1993, eine Art Tagebuch, in dem der Erzähler gesteht: “Ich sah, daß die To-talität fast aller Dinge auf Santamaría und die Ereignisse dort zu­rückgeht. Und daß, geheimnisvollerweise und ohne große Lust, es einzugestehen, das einzige, woran mir wirklich liegt, diese Stadt ist, dieser Ort, dieses Provinz­nest”. Gleich auf der ersten Seite kom­mentiert der Erzähler als Alter Ego des Autors auch ein viel-gelob­tes literaturtheoretisches Stecken-pferd: “… dieser Witz, den die Rechten für uni­ver­sell halten, des­sen Anhänger sie gut zu be­zahlen wissen und den sie Post-moderne getauft haben”.
Autor, Portier und Kellner
Seine erste Erzählung veröffentlicht Juan Carlos Onetti 1932 in der Tageszeitung “La Prensa” in Buenos Aires, wo er da­mals lebte. Wieder in Montevideo, über­nimmt er 1939 einen Redaktionsposten in der neugegründeten Wochenzeitschrift “Marcha”. Zuvor arbeitet er als Portier, Kellner und Verkäufer, später dann bei der Nachrichtenagentur Reuter und schließlich als Direktor der städtischen Bi-bliotheken in Montevideo. Kurz nach dem Militärputsch in Uruguay wandert er für einige Monate ins Gefängnis: er hatte ei-ner Jury angehört, die eine – in den Augen der Militärs verwerfliche – Erzählung prä-mierte. Ab 1974 lebt Onetti in Madrid, seit 1982 in seinem Bett, überzeugt, daß “draußen” sowieso nichts passiere, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Und San-ta María? Im letzten Jahr noch einmal auf-erstanden, auch “wenn es schon nicht mehr darauf ankommt”. Für Dich, viel­leicht, Onetti. Ich jedoch gehe zum Regal, schlage das Buch noch einmal auf und da ist sie wieder – die Stadt Santa María. Vielleicht kommt es eben doch darauf an.

Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel

Als die zehnjährige Sarah in ihrem Ver­steck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttel­reime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem be­nachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Pate­nonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr ei­gener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Jan­vier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vor­fall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben ge­tränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinander­setzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Unte­rgebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unter­schicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tä­tigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Klo­ster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaf­fen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wa­gen sich die Mädchen wieder ans Tages­licht. Die zurückgewonnene Bewegungs­freiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” ver­dichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szena­rio des Alltags in einem totalitären Sy­stem. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Perso­nen gehen einher mit subtileren Ein­schüchterungs- und Erpressungsver­suchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Ver­hängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Mo­ment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragi­sche Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entspre­chend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Er­innerung zusammenzufügen. Die zehnjäh­rige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spiel­film, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach ei­ner Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Ge­schichte des Landes der progressive Prie­ster Jean-Bertrand Aristide als Sieger her­vor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsi­dent sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitun­gen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzu­stellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträch­tigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südame­rika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multi­kulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Ver­sion von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspek­tive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur be­schloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.

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