“Seit 25 Jahren gab es keinen solchen Polizeieinsatz mehr, selbst während der Militärdiktatur (1973-1984) haben die Milicos bei den verbotenen Demonstrationen zwar übel geprügelt und Gas und Gummigeschosse eingesetzt, aber nie scharf auf unbewaffnete DemonstrantInnen geschossen”, berichtet eine ältere Aktivistin. Die Regierung verkündete derweil in Abwesenheit des auf Wahlkampftour befindlichen Präsidenten, es habe mehr verletzte Polizisten als DemonstrantInnen gegeben und verteidigt ihr Vorgehen damit, daß sie entschlossen gegen internationalen wie nationalen Terrorismus vorgehen müsse. Innenminister Gianola sah zunächst keine Veranlassung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Er begab sich erst dann ins Abgeordnetenhaus, als am 7.September die notwendige Stimmenzahl, für die Erzwingung einer großen Anfrage zusammenkam, bei der er sich den Fragen der ParlamentarierInnen stellen mußte.
Zahlreiche Gewerkschaften, soziale Organisationen, u.a. auch das Linksbündnis Frente Amplio fordern den Rücktritt des Innenministers. Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften und viele nationale und internationale Verbände und Organisationen haben Protestschreiben geschickt und fordern eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Im Parlamentsausschuß für Menschenrechte werden Videoaufnahmen gesichtet, und ein Richter nimmt die Anzeigen von Betroffenen und Zeugen auf. Die spanische Regierung hingegen schickt Noten, in denen beteuert wird, daß viele Menschen in Uruguay “offensichtlich ungenügend oder falsch informiert sind”.
Der Entzug der Sendelizenz für Radio Panamericana CX 44 und die 48stündige Schließung von Radio CX 36 – beide hatten ständig aktuell über die Situation vor der Klinik El Filtro berichtet – lösten auch international heftige Proteste aus. Der Innenminister versucht offensichtlich im Zuge des Wahlkampfs in die Offensive zu gehen. Er spricht von ultralinken Splittergruppen (er meint damit in erster Linie die MLN Tupamaros), die die gewalttätigen Auseinandersetzungen provoziert hätten und beschuldigt zwei Radiosender, zur Gewalt angestiftet zu haben. Ein Staatsanwalt gibt bekannt, daß er Strafverfahren gegen verantwortliche Redakteure bzw. die Direktion von Radio Panamericana einleiten wird. Vorwurf: Falschinformation, Verunglimpfung von Staatsorganen etc.
Die baskischen Gefangenen in Uruguay
Der Fall der baskischen Gefangenen hatte in Uruguay erheblichen Wirbel ausgelöst. Am 15.Mai 1992 wurden in einer Großaktion der uruguayischen Polizei insgesamt 24 Baskinnen und Basken, teilweise mit ihren Kindern, festgenommen. Bis auf sechs wurden die meisten sehr schnell wieder freigelassen. Die Vorwürfe gingen vom Besitz falscher Personaldokumente bis zur Mitgliedschaft in der ETA. Schon bei den polizeilichen Ermittlungen gab es einige Unregelmäßigkeiten und Rechtsbrüche, so wurden z.B. auch die Kinder der Festgenommenen, einige davon waren minderjährig, erkennungsdienstlich behandelt und verhört. Bei den Hausdurchsuchungen und Verhören in Montevideo waren auch spanische Polizeibeamte zugegen, und Staatsanwalt Langón gab schon vor dem Abschluß der Verfahren im Fernsehen etwas voreilig bekannt, daß die Ausweisungen vollzogen würden.
Es gründete sich daraufhin relativ schnell ein unabhängiges Komitee zur Unterstützung der baskischen Gefangenen. Es wurden Veranstaltungen und Demonstrationen organisiert, Weihnachtspakete in den Knast geschickt und die “Kommission für Recht auf Asyl” sammelte letztes Jahr über 25.000 Unterschriften.
Zur Chronologie der Ereignisse
Nach 27 Monaten Gefängnis beginnen am 11. August die drei baskischen Gefangenen Jesús Goitia, Mikel Ibañez und Luis María Lizarralde einen Hungerstreik “bis zur letzten Konsequenz”, um nicht an Spanien ausgeliefert zu werden.
Freitag, 19.August:
Der Staatsanwalt unterschreibt die Aussetzung des Verfahrens, weswegen die Basken in Uruguay verurteilt waren (gefälschte Papiere). Die Basken können jetzt an die spanischen Behörden übergeben werden. Sie beschließen neben ihrem Hungerstreik, sofort einen Durststreik zu beginnen und werden in die Klinik “El Filtro” verlegt.
Samstag, 20.August:
Mehrere hundert Leute versammeln sich vor der Klinik, um ihre Solidarität mit den Basken zum Ausdruck zu bringen. Weder die Anwälte noch Abgeordnete der Frente Amplio dürfen mit den Gefangenen sprechen. Die Presse trifft vor dem Hospital ein, um Interviews zu machen und zu berichten.
Sonntag, 21.August:
Der Gesundheitszustand der drei Basken verschlechtert sich nach Auskunft der behandelnden Ärzte kontinuierlich. (Es ist der 11. Tag des Hungerstreiks).
Die mesa representativa des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT ruft für den kommenden Tag alle ArbeiterInnen zur Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Das Linksbündnis Frente Amplio erabschiedet eine Erklärung, in der das Recht auf Asyl für die drei Basken gefordert wird. Rund um die Uhr sind Menschen vor der Klinik präsent.
Montag, 22.August:
Die Gewerkschaft der LehrerInnen der staatlichen Schulen beschließt, an diesem Tag zu streiken. Auch die Uni beendet ihre Kurse um 10 Uhr. Am Krankenhaus Filtro werden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Der Erzbischof von Montevideo ruft dazu auf, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Innenminister Gianola bleibt dabei, daß die Solidaritätsdemos lediglich politische Motive hätten und kündigt an, daß die Auslieferung am Mittwoch, dem 24.8. durchgeführt werde. Am gleichen Tag wird bekannt, daß ein Flugzeug des spanischen Königs, ausgestattet mit Geräten für Intensivmedizin, die drei Basken abholen wird. 30.000 Unterschriften werden zur Unterstützung eines Gesetzesantrags vorgelegt, der die Auslieferung an Spanien untersagt. Während sich der Gesundheitszustand der drei Basken ständig verschlechtert, treffen immer mehr Menschen vor der Klinik ein. Ein großer Demonstrationszug trifft gegen 21.30 Uhr vor der Klinik ein. Alle Bemühungen, politisches Asyl fÜr die Basken zu erreichen, sind bislang gescheitert, die Regierung beharrt auf ihrer Haltung: “Es gibt einen Beschluß der Justiz zur Auslieferung der Basken, wer gegen die Ausführung dieses Beschlusses agiert, richtet sich gegen die Staatsgewalt.” Es wird berichtet, daß mehrere Beamte der spanischen Polizei in Montevideo anwesend seien, was jedoch nicht offiziell bestätigt wird. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT ruft zum Streik und zu einer Kundgebung vor dem Krankenhaus Filtro auf. Die Medien berichten laufend über die Auslieferung der Basken und über die Demonstrationen.
Dienstag, 23.August:
Viele Sektoren der Wirtschaft, wie Banken, Transport und Bildung beteiligen sich am Streik. Tausende ziehen während des Tages vor die Klinik Filtro. Innenminister Gianola nennt den Hungerstreik eine “Erpressung”.
Luis María Lizarralde hat Nierenfunktionsstörungen und Jesús Goitia wird wegen Herzbeschwerden auf die Intensivstation verlegt. Ein Versuch, das politische Asyl für die Basken über die Kommission für Menschenrechte im Abgeordnetenhaus zu erreichen, scheitert ebenfalls. Der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT entscheidet mit knapper Mehrheit den Generalstreik ab Mitternacht auszusetzen. Für den Mittwoch wird jedoch zu einer erneuten Kundgebung vor der Klinik aufgerufen. Der uruguayische Botschafter in Madrid teilt mit, er habe via Telefon Morddrohungen erhalten. Vertreter von Herri Batasuna erklären einen Tag später, daß die ETA nichts mit diesem anonymen Anruf zu tun habe und nicht Uruguay, sondern lediglich die spanische Regierung für die Situation verantwortlich sei.
Ein Parlamentsabgeordneter von Herri Batasuna ist in Montevideo eingetroffen und führt Gespräche mit Parlamentariern, um die Auslieferung der drei Basken zu verhindern.
Mittwoch, 24.August:
Die Lage im Umfeld der Klinik, die seit Samstag von starken Polizeieinheiten abgeriegelt ist, verschärft sich. Es gibt mehrere Verletzte, als die Polizei in den Morgenstunden einen Platz nahe der Klinik räumt. Immer mehr Menschen kommen während des Tages zum Filtro. Seit mehr als vier Tagen sind trotz naßkaltem Wetter rund um die Uhr Leute vor Ort.
Um 15.30 Uhr fordert Minister Gianola die Menschen auf, sich zurückzuziehen und teilt mit, daß die Polizei jedem Versuch, den Abtransport zu verhindern, mit allen Mitteln entgegentreten werde. Das Flugzeug aus Spanien trifft mit Verspätung ein, weil der Flughafen in Montevideo abgeriegelt und nach Bomben durchsucht wird. Gegen 17 Uhr befinden sich etwa 10.000 DemonstrantInnen vor der Klinik im Stadtteil Jacinto Vera. Die Polizei beginnt, mit Schlagstöcken, Gasgranaten und berittenen Spezialeinheiten gegen die Demonstration vorzugehen. Journalisten und Fernsehleute werden von der Polizei angegriffen. Obwohl es bereits die ersten ernsthaften Verletzten gibt, bleibt eine Menge Leute jeder Altersstufe vor der Klinik präsent. Es sind Menschen aus Betrieben und Schulen, VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen, SchülerInnen und StudentInnen, VertreterInnen von politischen Parteien etc.
Radio Panamericana erhält Drohanrufe und Morddrohungen gegen JournalistInnen.
Kurz nach 20 Uhr fahren fünf Krankenwagen, eskortiert von neun Polizeifahrzeugen, zur Klinik. Sie wählen genau die Zufahrtsstraße, auf der die Mehrheit der DemonstrantInnen versammelt ist. Die Polizei beginnt, in die Menge zu schießen. Spezialeinheiten der Polizei, teilweise beritten, prügeln auf die DemonstrantInnen ein. Es sind via Radio und Fernsehen Schüsse zu hören.
Originalton Fernsehkanal 10: “Was passiert gerade?” – “Es ist furchtbar, die Polizei schießt auf die Leute. Hört ihr nicht die Schüsse?” – “Wie, Schüsse, gibt es einen Schußwechsel?” – “Nun, ich werde mich jetzt nicht in die Schußlinie begeben, um zu sehen, ob aus verschiedenen Richtungen gefeuert wird.”
Der Stadtteil Jacinto Vera ist von der Polizei abgeriegelt, in zahlreichen Straßen ist der Strom abgestellt worden. Über Radio Panamericana CX 44 und Radio CX 36 Centenario berichten die ReporterInnen zum letzten Mal über diesen Polizeieinsatz. Die Sender haben sich zu einer gemeinsamen Ausstrahlung entschlossen. Es sind Schüsse und Schreie von Verletzten zu hören. Die JournalistInnen bitten dringend, Krankenwagen nach Jacinto Vera zu schicken. Radio Panamericana fordert alle Leute, vor allem die Jüngeren, auf, sich um Gottes Willen aus dieser Zone zurückzuziehen, in der die Polizei im Schutze der Dunkelheit regelrecht Jagd auf Menschen macht.
Sämtliche Zufahrtsstrassen zum Flughafen sind hermetisch abgesperrt. Aus östlicher Richtung kann für einige Stunden niemand mehr nach Montevideo fahren. In verschiedenen Straßenzügen rund um den Flughafen sind Strom und Telefon abgestellt. Helikopter kreisen permanent über dem Flugfeld. 12 Krankenwagen und 30 Polizeifahrzeuge bilden die Wagenkolonne, welche die drei Basken zur Luftwaffenbasis am Flughafen Carrasco fährt, wo das spanische Flugzeug bereitsteht. Zwei uruguayische Minister übergeben die drei Basken an die spanischen Behörden.
Die Opfer
Der Demonstrant Alvaro Fernández Morroni (24 Jahre) stirbt an den Folgen seiner Schußverletzungen. Es gibt über 100 Verletzte, viele davon mit Schußverletzungen, wobei die Dunkenziffer noch höher liegen dürfte, da nicht alle Verletzten in Krankenhäusern behandelt wurden. Esteban Mazza, Angestellter im medizinischen Dienst, ist schwer verletzt. Auf ihn ist viermal geschossen worden, als er einen Verletzten versorgen wollte. Ein 18jähriger Student schwebt in Lebensgefahr, er hat u.a. eine schwere Schußverletzung am Kopf. Zahlreiche Menschen waren vorübergehend festgenommen worden.
Am Donnerstag wird der Abgeordnete von Herri Batasuna des Landes verwiesen.
Am Freitag, den 26. August, wird Alvaro Fernando Morroni beerdigt. Viele tausend Menschen beteiligen sich am Trauerzug, der auch zu einer großen Demonstration gegen Repression und Gewalt wird.
Die Regierung ordnet am gleichen Tag die Schließung von Radio CX 44 und Radio CX 36 für 48 Stunden an. Sie beruft sich dabei auf ein Dekret aus der Zeit der Militärdiktatur, in dem festgelegt wurde, daß Duplex-Sendungen (gemeinsame Ausstrahlungen) 14 Tage im voraus angemeldet werden müssen. Wenige Stunden danach ordnet die Regierung die endgültige Schließung von Radio Panamericana CX 44 an. Formaljuristisch wurde der Sender geschlossen, weil beim Eintritt neuer Gesellschafter angeblich versäumt wurde, offiziell alte Gesellschaftsteile abzutreten und sich von der Behörde die entsprechenden Stempel zu besorgen. Die politische Begründung des Innenministers ist freilich eine andere – Agitation und Aufruf zur Gewalt.
Pikanterweise operiert die Regierung mit einer Verordnung, in der an anderer Stelle auch steht, daß keine Person oder wirtschaftliche Gruppe über mehr als zwei Medien verfügen darf. Wenn dies tatsächlich angewendet würde, könnten morgen die meisten Zeitungen und Radios dichtmachen, weil einige wohlhabende Leute gleich mehrere Sender und Zeitungen haben.
Auf juristischer Ebene laufen z.Zt. Verfahren gegen diese Anordnung. Die MitarbeiterInnen von Radio Panamericana setzten sich für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze ein, und es ist schon erstaunlich, wie breit auch die internationale Solidarität mit dem geschlossenen Sender ist. So sind Faxe aus aller Welt eingetroffen von Journalistenverbänden, Parteien, Gewerkschaften, anderen Radiostationen, dem Weltverband der Comunity Radios AMARC. In mehreren Ländern wurden spontan Flugblätter verteilt und zu Spenden aufgerufen. Die vergilbte Wand im Empfangsraum des Radios ist neu mit Briefen und Solidaritätserklärungen “tapeziert”.
Nach dem Bombenanschlag wächst die Angst
Der Schaden ist unermeßlich
Die “Mutual”, wie sie von den Porteños genannt wurde, war im Gegensatz zu der vor zwei Jahren gesprengten israelischen Botschaft keine ausländische Vertretung, sondern ein 1894 gegründetes argentinisch-jüdisches Zentrum. In dem siebenstöckigen Gebäude, das völlig zerstört wurde, waren unter anderem eine Anlaufstelle für bedürftige Menschen, ein Theater und ein Arbeitsvermittlungsbüro untergebracht. Auch die Dachorganisation aller jüdischen Vereinigungen DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), eine Art politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, befand sich im Gebäude in der Pasteur Straße. Samuel Rollansky, 92-jähriger Leiter des Instituts für jüdische Studien: “Seit dem Anschlag kommt es mir vor, als hätte ich an meiner eigenen Beerdigung teilgenommen.” Das Lebenswerk des polnischen Immigranten, die 70.000 Bände umfassende Bibliothek über jüdische Kultur, ist fast vollständig verlorengegangen.
Präsident Menem, der versuchte, das Attentat für einen weiteren Vorstoß zur Durchsetzung repressiver Politik zu nutzen, versprach: “Die geistigen und materiellen Urheber des Anschlags werden eine unangenehme Überraschung erleben. Ich bin sicher, daß die Geheimdienste in kurzer Zeit positive Ergebnisse vorweisen werden”. Die Opposition zeigte sich dagegen wenig beeindruckt vom hektischen Aktivismus der Regierung, der von der Ankündigung eines Anti-Terrorismus- Gesetzes bis zur Schaffung eines Sicherheitsrates ging. “Unsere Geheimdienste bewegen sich immer noch in einer Logik der kommunistischen Bedrohung”, erklärte José Manuel Ugarte von der “Radikalen Bürgerunion” (UCR). Aus der ebenfalls angekündigten Einführung der Todesstrafe wurde in der verfassungsgebenden Versammlung in Santa Fe schließlich doch nichts. Gerade Urheber solcher Attentate werden sich kaum von der Todesstrafe abschrecken lassen. Auf dem großen Trauermarsch, an dem 150.000 Menschen teilnahmen, sah sich das Staatsoberhaupt schließlich einer geladenen Stimmung gegenüber. Die Buhrufe waren auf der Tribüne nicht zu überhören.
Angesichts dieses zweiten großen Terroranschlags auf eine jüdische Einrichtung in Argentinien wird deutlich, daß das, was für die “Gerechtigkeitspartei” des Präsidenten noch vor kurzem als Erfolg verbucht werden konnte, sich inzwischen in ein großes Manko verwandelt hat: die Einmischung Argentiniens in das internationale Politikgeschäft. “Die Teilnahme von zwei argentinischen Fregatten an der ‘Operation Wüstensturm’ im Golf hat das Land in das größte Pulverfaß der illusorischen neuen Weltordnung gezerrt”, schrieb Horacio Verbitsky in seiner Sonntagskolumne in Página 12. Außerdem sei diese Entscheidung ohne Zustimmung des Kongresses per Dekret verordnet worden: “Dabei ging es nicht um argentinische Interessen, sondern darum, sich bei einer Supermacht beliebt zu machen – eine pathetische Hinterwäldler-Phantasie, um in internationalen Ereignissen mitmischen zu dürfen.”
Obskure Beziehungen
des Präsidenten
Gerade in Anbetracht der Äußerungen Menems nach dem Anschlag erscheinen die privaten und familiären Beziehungen des syrienstämmigen Präsidenten interessant. Immerhin scheint der syrische Waffenhändler Al Kassar mehr als nur ein Verwandter der Präsidentenfamilie Menem zu sein. Der reiche Geschäftsmann, dem eine Beteiligung am Lockerbie-Anschlag nachgesagt wird, erhielt die argentinische Staatsbürgerschaft in der Rekordzeit von 30 Tagen – eine erstaunliche Leistung der sonst nicht gerade flinken argentinischen Bürokratie. Den argentinischen Reisepaß erhalten normalerweise selbst verheiratete AusländerInnen erst nach etwa einem Jahr. Noch leichter hatte es da Ibrahim al Ibrahim, ein Familienangehöriger der ehemaligen Präsidentengattin. In elf Tagen erhielt er nicht nur das blaue Dokument, sondern auch noch einen verantwortungsvollen Posten in der Zollbehörde des internationalen Flughafens Ezeiza. Schließlich flog der famose nicht einmal des Spanischen mächtige Beamte wegen Korruption und Verwicklung in Drogengeschäfte auf.
Während der mit der Untersuchung des Bombenanschlags beauftragte Staatsanwalt Juán José Galeano außer der zweifelhaften Aussage eines ehemaligen iranischen Diplomaten noch Spuren nachgeht, die zum Käufer des beim Anschlag verwendeten Lieferwagens führen sollen, steht für Präsident Menem der Urheber des Verbrechens längst fest: “Wir können den fast vollständigen Beweis einer iranischen Mittäterschaft erbringen.” Wie eine solche halbe Beweisführung aussehen soll, ist selbst in diplomatischen Kreisen nicht verstanden worden. Der Jurist Menem scheint sich der Tragweite des Ausdrucks “semiplena prueba” nicht ganz bewußt gewesen zu sein. Seine freie Übersetzung aus dem Juristenkauderwelsch bedeutet in etwa “feste, nicht nachweisbare Vermutung”. Auch die iranische Regierung hat das so verstanden: “Wo sind die Beweise?”, fragte das Mitglied der Hisbollah Nahim Kassen. “Menem ist einem Trick der Vereinigten Staaten und Israels aufgesessen.” Die sonst eher zurückhaltende englischsprachige Tageszeitung Buenos Aires Herald zweifelte an der Iran-Connection. Der Iran, so deren Herausgeber Andrew Graham-Yooll, habe gar nicht genügend Einfluß auf die schiitischen Fundamentalisten. In Wirklichkeit habe Syrien hinter dem Attentat auf die israelische Botschaft 1992 gesteckt, diesbezügliche Nachforschungen seien aber damals aufgrund innenpolitischer Überlegungen und “wegen der persönlichen Verstrickungen des Präsidenten Menem mit Syrien” eingestellt worden. Terroristenexperten gehen davon aus, daß verschiedene Motive Argentinien zum bevorzugten Angriffsziel internationaler Fundamentalisten gemacht haben. Hier befindet sich die größte jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas. Die etwa 300.000 Mitglieder, die in ihrer Mehrzahl vollständig in die argentinische Gesellschaft integriert sind, lebten bisher ohne größere Schwierigkeiten mit den etwa 500.000 Moslems zusammen. Das Bemühen, dieses Zusammenleben jetzt nicht noch zu belasten, zeigt sich in den Erklärungen Rubén Berajas, Präsident der DAIA: “Keiner darf wegen seiner Nationalität oder seines Glaubens verdächtigt werden.”
Zweite Heimat deutscher Nazis
Neben der halbherzigen Grenzkontrollen wird als weiteres Motiv die Anwesenheit faschistischer Gruppierungen genannt. Der englische Terroristenexperte David Yallop: “Argentinien besitzt eine Vergangenheit bestehend aus einer übertriebenen Gastfreundschaft für NS-Kriegsverbrecher und einem ausgeprägten Antisemitismus während der Militärjuntas.” Schon in den vierziger und fünfziger Jahren kam es unter Juan Domingo Perón zu Ausschreitungen gegenüber argentinischen Juden. Über die “Rattenlinie” gelangten Hunderte von Nazis ausgestattet mit Pässen des Roten Kreuzes und der Hilfe des Vatikans nach Argentinien. Unter den 30.000 “Vermißten” der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) gibt es eine überdurchschnittliche Zahl jüdischer Opfer. Gleichzeitig fanden in Argentinien mehr als 5000 Nazi-Hierarchen Unterschlupf, unter ihnen Joseph Mengele, Oberst Rudel, Klaus Barbie, Adolf Eichmann und Josef Schwammberger. Seit dem 9. Mai liegt ein Auslieferungsantrag für einen deutschen Nazi aus Italien vor: Der amerikanische Fernsehsender ABC hatte den ehemaligen SS-Mann Erich Priebke in Bariloche (Provincia de Río Negro) aufgespürt, der nach eigenem Geständnis am Massaker an 335 Geiseln am Stadtrand von Rom beteiligt war. Priebke, der jetzt unter Hausarrest steht, erwartet im September eine besondere Überraschung: Angehörige der 1944 exekutierten Italiener beabsichtigen, den argentinischen Luftkurort in Kürze zu besuchen, um dem Auslieferungsgesuch Nachdruck zu verleihen.
Die intensiven Kontakte dieser “alten Kameraden” zu neo-nazistischen Gruppierungen in der Bundesrepublik und Argentinien sind bekannt. Ein Forschungsprojekt der DAIA, “testimonios” (etwa: Zeitzeugen) genannt, das sich mit dem Thema der deutschen Kriegsverbrecher in Argentinien befaßte, fand noch im Dezember letzten Jahres ausführliche Erwähnung in der New York Times unter dem Titel “Argentine Files Show Huge Effort to Harbor Nazi” (14.12.93). In der deutschen Presse wurde diese Untersuchung nie erwähnt. Die Lehrerin einer deutschsprachigen Begegnungsschule in Buenos Aires äußerte: “Wenn man in den Süden runtergeht nach Argentinien oder Chile, da gibt’s noch jede Menge von den alten Ex-Vertretern des tausendjährigen Reiches. Die sind da untergetaucht, leben unter falschem Namen, teilweise mit Wissen der deutschen Botschaft.” Unbekannt dürfte der deutschen Öffentlichkeit auch sein, daß die Goethe-Schule, deren Neubau für 1600 Schüler vor einigen Jahren mit 18 Millionen Mark von der BRD subventioniert wurde, bis heute keinen jüdischen Schüler aufgenommen hat.
Menem, der der israelischen Regierung öffentlich sein Beileid aussprach, scheint argentinische Juden derweil immer noch mit Israelis zu verwechseln. Lediglich ein Fauxpas des Präsidenten, der auch schon mal behauptet, Sokrates gelesen zu haben? Von Kritikern wird der diplomatische Fehltritt bestenfalls als Ablenkungsmanöver bezeichnet. “Wir wissen nicht, warum die Mörder getötet haben. Aber ist es nicht offensichtlich, daß wir alle die Opfer sind?”, schrieb der Cartoonist Rudy erbost in einem Kommentar.
Die Angst wächst
Hundert verschüttete Personen, verzweifelte Rettungsmanöver der Feuerwehr, täglicher Bombenalarm in jüdischen Schulen und Regierungsgebäuden, Schändung eines jüdischen Friedhofs in der Provinz La Pampa. Szenen eines neuen Alltags in Argentinien, zu dem inzwischen auch Skinheads gehören. “In Extremsituationen zeigen sich sowohl die grausamsten Seiten des Menschen, als auch seine besten Züge”, erklärte ein Psychologe kurz nach dem Anschlag. Tatsächlich brachten unzählige Porteños Werkzeuge und Lebensmittel zu der israelischen Rettungsmannschaft, die eigens eingeflogen worden war. Daß Angehörige von vermißten Personen allerdings Anrufe erhielten, in denen sie bewußt irregeführt wurden und ihnen neue Hoffnung gemacht wurde: “Ich habe Ihre Tochter lebend im Krankenhaus gesehen,” verdeutlicht, wie weit derlei Grausamkeit gehen kann.
Nachdem die Regierung ankündigte, daß noch im September möglicherweise mit einem neuen Attentat zu rechnen sei, macht sich in der Bevölkerung Angst breit. So kämpfen die Nachbarn des neuen provisorischen Gebäudes der AMIA darum, die “Mutual” irgendwo, “aber nicht bei uns” zu errichten. Der Leiter des katholischen Colegio La Salle, erklärte, daß viele Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen ließen, da sie die Nachbarschaft der AMIA fürchteten. Sportveranstaltungen mit jüdischen Clubs wurden abgesagt. “Opfer sollen keine Nachbarn mehr sein”, entrüstete sich die Süddeutsche Zeitung daraufhin im August.
Der argentinische Soziologe Juan Corradi sieht die Ursachen dieses unsolidarischen Verhaltens allerdings nicht nur in einer latent antisemitischen Grundhaltung. Inzwischen sei Argentinien in ein System des zwischenstaatlichen Terrors eingetreten. Diese neue, schwer begreifbare Dimension des Terrors stelle die Gesellschaft vor eine schlimme Entscheidung: “Entweder bist du Opfer oder einfach nur Zuschauer.” Um diesen Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, empfiehlt Corradi das Informationsmonopol der Geheimdienste durch eine eigenständige Berichterstattung zu durchbrechen und die Isolation der bedrohten Gruppe durch Solidarität zu überwinden. Zudem sei die Meinung politisch unabhängiger Persönlichkeiten in solchen Krisensituationen äußerst wichtig. “Die können eine psychologische Schutzfunktion übernehmen und symbolische Signale setzen, nicht nur für diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, sondern auch für die, die politisches Kapital daraus schlagen wollen”
Der Wutausbruch des Juan Tama
Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine getötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesigen Erd- und Schlammassen zu einer tödlichen Lawine, die das Flußtal herunterdonnerte. Im Gegensatz zu damals ereignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtigsten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 bleiben vermißt, und weitere 18 000 Menschen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Temperaturen zwischen fünf und zehn Grad hausen hier 2000 Menschen in teils gespendeten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Moscoco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikplanen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Moment reißen kann. Rotbraune Narben verunstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Guerilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco berichtet, dort hätten Soldaten einen Gesundheitsposten demoliert und nach Waffen durchsucht. Die Lebensmittelverteilung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwischen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes sowie den Führern der hier vertretenen Dorfgemeinschaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler Indianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Straßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ihrer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zusammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine weniger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privatbesitzern abkaufen, zu denen auch Drogenhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebenerwerbsquellen vieler Bauern dar. Die Naturkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in diesem Jahr wieder verstärkt angelegt worden waren. Die desolate ökonomische Situation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwendige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Abkommen über die Ersetzung des Mohnanbaus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungszentrum in Tóez gehörte zu diesem Programm. Der Substitutionsprozeß war jedoch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regierung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist umstritten. Fest steht, daß WissenschaftlerInnen bereits 1986 eine Landkarte der Region mit den jetzt verwüsteten Risikogebieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziemlich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwortlichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettantische Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Medien waren denen der Regierung weit voraus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wiederaufbau erst einklagen. Der von der Regierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region widerspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterInnen regierungsnaher Positionen die Mehrheit. Dazu gehört auch der Bogotaner Archäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit seinen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Hauptattraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Ernesto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitgenommen zu haben, ohne die vorgeschriebenen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. Andere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Weißen aus dem Gleichgewicht gebracht worden sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Widerstand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und behauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzubringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Daneben gibt es Parteipolitiker, Kirchenobere und VertreterInnen der anderen ethnischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierradentro stellt zweifellos einen Fortschritt gegenüber der Bewältigung des Vulkanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wilches: “Die Krise ist eine Zeit der Gefahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Mestizen und Indianern.” In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die Kommission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederaufbaus.
“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit Antonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizepräsidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängigkeit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Guerilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinandergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmählich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflanzen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianerführer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht einverstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wiederaufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission kanalisiert werden. Der CRIC hat dies bereits auf seiner letzten Sitzung beschlossen.
Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg
Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.
Joint Implementation
Auch wenn das Vertragswerk eine mühsam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabilisieren, das einen gefährlichen, menschenverursachten Eingriff in das Klimasystem verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur darf nur in einem Umfang erfolgen, in dem die Ökosysteme und die globale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu übernehmen.
* Die Industrieländer müssen auf jährlich stattfindenden Konferenzen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderungen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie nämlich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwendige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaatenkonferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den internationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Reduktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskussion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vordergrund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomisches Kalkül: Da Treibhausgase unabhängig von ihrem Emissionsort, also nicht regional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treibhausgas-Reduktionen durchgeführt werden. Deshalb kann, zumindest aus technischer Sicht, mit den billigsten Reduktionsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Reduktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuropas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wärmenutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationsländern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Industrie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungsländer auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umweltpolitische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöffentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökonomischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Energie/CO2-Steuer einführen, so steht die Industrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwicklungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Aufforstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced impact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Republik Tschechien und die Reperatur undichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches Instrument zur Bekämpfung des Treibhauseffektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderischen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Implementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Entstehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Implementation zudem die erwünschte Lenkungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Industrieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglichkeit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwortet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Projektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit einem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran haben, von einem möglichst hohen Emissionsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen entstehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Umfang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den Industrieländern als ökologisch nicht tragfähig erwiesen. Dezentrale Formen der Energieversorgung wie Kraftwärmekopplung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsintensive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technologietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malaysia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwicklungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonialism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwicklungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die Industrieländer jedoch einen mächtigen Hebel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation werden durchsetzen können.
“Romper el cerco”
Szenenwechsel: Eine alte Indígena in traditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zupackenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Geräusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bürgerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen beschäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinandermontiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deutlich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chancen für einen Friedensprozeß in Guatemala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Widerstandsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziösen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Presseoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevölkerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavideo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von BewohnerInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Campesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Beginn der Repression und Vertreibung Anfang der achtziger Jahre, von der Flucht in entlegene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Millionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerkennen. Im Laufe der Jahre haben diese gelernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die BewohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedensverhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Reformfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Guatemala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwaldregion der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisationsfähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wiederbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Parzellen Bauern vor, die vom Staat angesiedelt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die verschiedenen Campesinogruppen gegeneinander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstandsdörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Widerstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müssen versuchen, den Kreis zu durchbrechen, oder den Eindruck zunichtezumachen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufgeben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines verdeckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Oranienstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7
Einseitiger Blick auf Bolivien
Kurz und informativ will das “Latin America Bureau” aus London mit seiner Reihe “In Focus” die Länder Lateinamerikas und der Karibik präsentieren, Länderkunde zum Einstieg für Nicht-ExpertInnen. Nach der Eröffnung der neuen Reihe mit einem Band über Jamaica (vgl. LN 235) ist nun “In Focus. Bolivia” erschienen, verfaßt von den Niederländern Paul van Lindert und Otto Verkoren. Auf 75 Seiten versuchen die Autoren, in vier Kapiteln einen historischen Überblick, eine Analyse der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation und eine Einführung in Gesellschaft und Kultur unterzubringen, ein Vorhaben, das leider nicht ganz geglückt ist.
Der Schwerpunkt liegt in den drei Hauptkapiteln auf Wirtschaft und Politik. Geschichte und Gegenwart werden mit ihren Regierungen und Revolutionen, Politikern und Parteien kurz und doch detailreich beschrieben. Die Revolution von 1952, die Entwicklung der Koka- und Kokainwirtschaft, der Umbruch seit 1985 mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik: Die wichtigsten Fakten sind jeweils auf wenigen Seiten zusammengefaßt. Allerdings klafft im Bereich Wirtschaft eine große Lücke: Das Stichwort Ökologie scheint den Autoren fremd zu sein. Über das östliche Tiefland Boliviens schreiben sie ohne weiteren Kommentar, die moderne Landwirtschaft erreiche “thanks to the use of high-grade seed and seed plants, artificial fertiliser, herbicides and pesticides … very high yields per hectare” und fahren fort, die hohen Erträge seien möglich “due to a combination of capital investment, technology and natural fertility” (S.58/59). Die grüne Revolution läßt grüßen.
Noch mehr geraten van Lindert und Verkoren ins Schlingern, sobald sie den Bereich von hoher Politik und Wirtschaft verlassen. Bezeichnenderweise steht das dritte Kapitel, nachdem es schon zuvor vor allem um Wirtschaftspolitik ging, unter dem Titel “Economy and Society” und nicht etwa “Culture and Society”. Tatsächlich folgt mehr economy als society ohne weitere Bezugnahme auf Kultur. Was Wirtschaft und Kultur in einem Land mit indigener Bevölkerungsmehrheit miteinander zu tun haben, wird nicht zum Thema. Die LeserInnen erfahren in Sachen Gesellschaft gerade noch etwas über das Leben im informellen Sektor in den Städten. Aber Informationen zur ländlichen Gesellschaft, zu lokalen Machtstrukturen, zu ökonomischen Strategien von Indígenas, zu Indígenabewegungen und ihren Diskussionen? Leider Fehlanzeige.
Das Inhaltsverzeichnis läßt darauf hoffen, daß diese Lücken wenigstens nachträglich gefüllt werden, steht doch das vierte, kurze Kapitel unter dem Titel “Culture. An Indian Country”. Auf knappen sieben Seiten folgt aber eine Enttäuschung: Es geht ausschließlich um fiestas und um Musik, angereichert mit einigen Hinweisen auf ihre gesellschaftliche Bedeutung. Das “Indianische” an Bolivien: Folklore und Feste – und das war’s zum Thema Kultur.
“A Guide to the People, Politics and Culture” soll “In Focus. Bolivia” laut Untertitel sein. Ein geraffter Überblick über Geschichte, Wirtschaft und Politik Boliviens ist – mit Lücken – durchaus darin zu finden, aber von Gesellschaft und Kultur wissen EinsteigerInnen nach dem Lesen nicht viel mehr als vorher.
Paul van Lindert, Otto Verkoren: In Focus. Bolivia; 75 S.; Latin American Bureau, London 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenausstr. 2, 10961 Berlin. 16,80 DM.
Vorwärts, aber nicht vergessen!
Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Bananengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – genannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, eigene Straßen, Eisenbahnen, Telephonnetze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus seinem halb feudalen, halb kolonialen Zustand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlauben sollte. Der erste Präsident, der Universitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaften und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokratisch gewählten Nachfolger Jacobo Arbenz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natürlich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die enteigneten Unternehmen dem guatemaltekischen Fiskus für die betroffenen Ländereien selbst gemeldet hatten. Für die United Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisenhower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische Angelegenheiten, war ein Bruder des Präsidenten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Nationen, war Großaktionär des Unternehmens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Kapitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unterstützt ihn, und er muß sich bei der wachsenden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die Invasion planen, wird Arbenz selbst beschuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unübersehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabsakademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genügend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedobooten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pinilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen beseligt den Sieg der Demokratie in Guatemala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Organisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Erfahrung nie vergessen: die Macht des Imperiums, den Einfluß des Großunternehmens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder enteignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern erteilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht
Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters
Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.
Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.
Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.
Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.
Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”
Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.
Insektizide auf Santiago
Der Insektizideinsatz über Santiago wurde mit der Entdeckung von rund 20 Fruchtfliegen, Schädlingen an Obstbäumen, begründet. Sie waren den Angestellten des “Servicio Agrícola y Ganadero” (SAG – Land- und Viehwirtschaftsbehörde) am 21. Februar bei den regelmäßig stattfindenden Kontrollen aufgefallen. Zehn Tage ließ die Behörde danach verstreichen, um dann am 2. März völlig unvermittelt mit der Sprühaktion zu beginnen, ohne die zuständigen Ratsmitglieder und die Bevölkerung zu informieren. Am 5.März kündigte der Leiter des SAG an, innerhalb der nächsten vier Wochen seien weitere vier bis neun Sprühflüge über denselben Stadtvierteln notwendig. Die Versuche der BewohnerInnen, sich mit Papiertüchern vor dem Mund zu schützen, konnten dabei nicht mehr sein als eine hilflose Geste.
Schon nach der ersten Sprühaktion herrschte in den betroffenen Gebieten Empörung und Unverständnis. In den Zeitungen wurde relativ breit darüber berichtet, vor dem SAG-Gebäude fanden Kundgebungen von Umweltschutz-und Jugendorganisationen statt. Die zu Protestversammlungen zusammengekommenen lokalen BürgermeisterInnen sprachen sich allerdings mehrheitlich nicht gegen die Aktion als solche aus, sondern gegen den Mangel an Information und Absprache seitens des SAG. Bei den späteren Sprühflügen wurden die lokalen Stadtverwaltungen und die Öffentlichkeit vorher zumindest über den Termin informiert.
Tierfutter ins Haus!
Zur Kanalisation der Unruhe richteten die Kommunen ein Beschwerdetelefon ein. In den ersten drei Tagen gingen dort 460 Anrufe ein. Gemeldet wurden u.a. 97 Asthmaanfälle, 82 Fälle von Augenreizungen, mindestens zehn Menschen mit erhöhtem Blutdruck. Es gab auch einen Todesfall – jeglicher Zusammenhang mit der Besprühung wurde allerdings von den Behörden kategorisch abgestritten. Überhaupt wurde die Behörde nicht müde zu beteuern, wie absolut ungefährlich Malathion für Menschen und Tiere sei, und daß – trotz der gemeldeten und belegten Gesundheitsbeschwerden der BewohnerInnen – keinerlei Risiko bestehe. Paradox mutet da die Empfehlung an, als Vorsichtsmaßnahme kein Tierfutter draußen stehen zu lassen, keine Wäsche aufzuhängen und im Haus zu bleiben, wenn die Flugzeuge kommen. Das hochtoxische Nervengift beschrieb die Behörde als “Sexuallockstoff für die Fruchtfliegen”, was sich wesentlich freundlicher anhört, aber kaum haltbar sein dürfte.
Exporterfolg Obst
Der Obstexport ist im “Modell Chile” ein so wichtiger Pfeiler der Wirtschaft geworden, daß die Behörden zu so drastischen Maßnahmen greifen. Der Präsident der Sociedad Nacional de Agricultura (SNA, Nationale Landwirtschaftsgesellschaft) Ernesto Correa sprach offen aus, worum es geht. Er bezeichnet die Besprühung der Stadtviertel als “tolle Sache” und beglückwünschte den SAG dazu. Correa weiter: “Wieviele Proteste es auch geben mag, es ist unbedingt notwendig, einen guten Hygienestand zu haben, um Märkte (für Fruchtexporte-Verf.) zu öffnen und weiterhin in andere Länder zu exportieren… um den komparativen Vorteil (Chiles gegenüber anderen Obstexportländern) zu sichern.” Auch der Präsident der Vereinigung der Exporteure, Ronald Brown, warb bei der Bevölkerung um Verständnis für die “Lösung dieses Problems, das die Wirtschaft des Landes beeinträchtigen kann”. Der Leiter des SAG, Sánchez, prognostizierte, die Lage auf den internationalen Märkten werde sich verkomplizieren, gelinge es nicht, die Fruchtfliege schnell unter Kontrolle zu bringen. Denn die Importeure chilenischen Obstes, allen voran die USA, die allein 60 Prozent der chilenischen Früchte abnehmen, reagierten empfindlich. So mußte das Auftauchen der Fruchtfliege umgehend dem Landwirtschaftsministerium der USA gemeldet werden. Wird die Fruchtfliege dann nicht mit allen Mitteln bekämpft, werden Importbeschränkungen ausgesprochen.
Die Konkurrenten würde es freuen. Südafrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Brasilien und Argentinien bieten ebenfalls Obst an. Für Chile ist es zunehmend schwieriger geworden, seine Früchte auf dem immer weiter abgeschotteten EG-Markt, nach den USA zweitwichtigster Handelspartner, loszuwerden. 1993 belegte die EG die chilenischen Äpfel mit Schutzzöllen, die Folge waren Verluste von 129 Mio. US-Dollar für die chilenischen Exporteure. Nur noch halb soviele chilenischen Kiwis dürfen verglichen mit dem Vorjahr auf den EG-Markt, und das noch dazu zu einem schlechteren Preis. Neue Märkte sollen diese Verluste ausgleichen. Die Exporte in die lateinamerikanischen Nachbarstaaten konnten von 1993 auf 1994 um 54 Prozent gesteigert werden. Angesichts des enormen Konkurrenzdrucks der beteiligten Länder untereinander dürften diese Märkte jedoch begrenzt bleiben. Im März 1994 führte der Fund einer einzigen Raupe in einer Ladung chilenischen Obstes in Mexiko zu einem Importverbot für die gesamte betroffene Fracht im Gesamtwert von sechs Millionen US-Dollar.
Der Obstanbau für den Export wurde während der Pinochet-Diktatur im Rahmen der neoliberalen Umgestaltung besonders gefördert und machte eine atemberaubende Entwicklung durch. Der “Erfolg” war so groß, daß der Obstexport als einer der Motoren des Modells bezeichnet wurde. In den 80er Jahren entwickelten sich die Obstanbau und Fischerei zu den nach dem Kupferbergbau zweitwichtigsten Exportbereichen.
1973 exportierte Chile lediglich 45,1 Tonnen frisches Obst, 1992 1,2 Mio. Tonnen. Chile hat heute einen Weltmarktanteil am Handel mit nicht-tropischen Früchten von 13 Prozent. Der Exportwert der Früchte machte 1987 527 Mio. US-Dollar aus. Der Anteil des Obstes am Gesamtexport Chiles belief sich 1989 auf 11 Prozent. 1991 hatte sich dieser Betrag fast verdoppelt (993 Mio. US-$) und fiel 1992 wieder leicht.
Monokulturen für Devisen
Die Exporte verteilen sich auf fünf Früchte: Pflaumen, Kiwis, Äpfel, Birnen und vor allem Weintrauben, die 1992 allein 425 Mio. US-Dollar ausmachten. Die Zahl der Arbeitsplätze im Obstanbau, von denen die meisten saisonal begrenzt sind, stieg dagegen nur von 33.000 zwischen 1970 und 1973 auf 88.000 im Jahr 1993.
Die extreme Erhöhung der Produktivität in den achtziger Jahren ist darauf zurückzuführen, daß in der Zeit der Pinochet-Diktatur transnationale Konzerne riesige Ländereien aufkauften, um dort pestizid- und düngeintensive Monokulturen für den Export entstehen zu lassen. Zur Zeit gibt es etwa 300 Exportunternehmen, von denen nur 30 Prozent überhaupt einen nennenswerten Marktanteil haben. Die größten zehn Unternehmen teilen sich dabei 60 Prozent des Exportvolumens.
Viele ehemalige Kleinbauern ziehen inzwischen als Saisonkräfte durch das ganze Land, je nachdem, wo gerade Erntezeit ist. Zwar gab es auch schon vor der Umstrukturierung SaisonarbeiterInnen, aber damals kamen auf eine Saisonkraft vier LandarbeiterInnen mit fester Arbeit. Heute ist dieses Verhältnis umgekehrt. Die Zahl der SaisonarbeiterInnen in diesem Bereich bewegt sich zwischen 500.000 und 800.000 bei einer Gesamtbevölkerung von nur 13 Mio. Menschen. Angesichts dieser Zahlen werden auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken besser verständlich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Chile lediglich bei ca. fünf Prozent. Die Saisonarbeitskräfte, die keine feste Arbeit haben und immer wieder Zeiten der Arbeitslosigkeit überbrücken müssen, finden in dieser Berechnung keinerlei Berücksichtigung.
Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen
Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basiskomitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstritten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit PolitkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratInnen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte angedroht, seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stundenlangen Debatten und zahlreichen gescheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Vázquez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchgebracht: Nin Novoa, Mitglied der regierenden Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident Lacalle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos aufgibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Mariano Arana, ein Architekt und Stadtplaner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fortschrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnisses, wie zum Beispiel die MLN-Tupamaros und die UNIR, wehrten sich mit Händen und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen innerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Verhandlungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Führungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnispolitik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politische Bündnisse, in denen man sich engagieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis heraus”. In seiner Abschlußrede stellte Vázquez dann Themen wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidarität und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Eindringlich verlangte er Geschlossenheit und erinnerte an die Geschichte dieser Organisation, die stets eng mit ihren Persönlichkeiten verbunden gewesen sei – wie zum Beispiel dem Gründer der MLN-Tupamaros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Vázquez unter großem Beifall den Delegierten zu. Einige der anwesenden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errichtete die Frente in mehreren Arbeitsgruppen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte beschloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politischer Organisationen, zusammenzuarbeiten. Auslandseinsätze uruguayischer Soldaten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klären.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mercosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegiertenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schuldendienstes und ein machtvoller Zusammenschluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß innerhalb der Frente gerne mit “kritischer Unterstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argentinien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und möglicher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Delegierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mercosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vizepräsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Hauptstadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.
Jenseits des sozialistischen Staates
Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Armreifen aus Meeresmuscheln, verschiedenfarbige Glasperlen, einen schneeweißen Pyjama und ein weiteres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Dinge benötigt. Wenn irgend möglich, soll ich dies alles bei meinem nächsten Besuch nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cousine, “muß seinen Heiligen machen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deutschen Medien über die wirtschaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließlich erreichen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in denen Schreiberinnen voller Sinn fürs Profane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Ausgehschuhe – und auch mal um eine Sonnenbrille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Niedergangs der sozialistischen Zentralwirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren bekennen sie sich immer mehr offen zu den bisher vielfach diskriminierten Glaubensvorstellungen, die so sehr ein Teil von ihnen sind, daß man Santería als die geheime und verkannte Volksreligion der Kubaner ansehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittlerweile sogar in den früher ausschließlich Diplomaten und ausländischen Touristen vorbehaltenen diplotiendas präsent ist. Im Monat zuvor hatte die Regierung die Dollarisierung der kubanischen Wirtschaft legalisiert und allen Kubanern den Besitz der US-Währung erlaubt. An der Kasse der größten diplotienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleichfalls mit Dollars gesegnete junge Kubanerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Synthetikhaut tragen, und ein förmlich gekleideter Herr, der auffällt, weil er die begehrten und überteuerten Produkte – überwiegend US-amerikanischen Ursprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozialistischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unterhält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angehobenen Preise für aguardiente de caña, einem Zuckerrohrschnaps, der für viele Rituale der Santería unentbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bunten Glasperlen geschmückt. Als Novizinnen der Santería müssen sie mehrere Monate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Entspannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps beladenes Einkaufswägelchen als nächstes zur Kassiererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmutende Zusammensetzung in der Warteschlange der diplotienda kann man als typisch kubanisch ansehen. Sie steht für die Gleichzeitigkeit uns widersprüchlich erscheinender Weltanschauungssysteme und Organisationsformen des Sozialismus, Kapitalismus und der Santería, die nicht erst seit jüngster Zeit gemeinsam die kubanische Gesellschaft prägen. Alle drei Systeme sind auch während des sozialistischen Staates für die Lebensorientierung vieler Kubaner wichtig geblieben, erfuhren aber im Laufe der Zeit unterschiedliche Gewichtungen. Dies wird besonders deutlich bei den sogenannten “kleinen Leuten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch entgegensteuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veranschaulichen, will ich ein wenig von den Bewohnern eines Stadtviertels von Havanna, des barrio de los tabaqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern dieses Viertels verbindet mich von 1981 an ein besonderes Verhältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seither regelmäßig nach Kuba und besuche dort für einige Wochen auch meine Verwandten; denn meine Mutter war Kubanerin. An dieser Stelle meiner Familienbiographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Revolution, in die Position einer Exilkubanerin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnahmefällen besuchen. Dieses für sie schmerzhafte persönliche Schicksal hat auch meine Sichtweise von Kuba beeinflußt. Es hat sicherlich meine Zuneigung zu den kleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Bevölkerungsgruppen nicht zu polarisieren, sondern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zusammenwirken.
Das barrio de los tabaqueros war nie ein privilegiertes Viertel. Die Bewohner der Gründungszeit erzählen, daß es in den zwanziger Jahren von Tabakfabrikanten angelegt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusiedeln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf leisten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Ausspruch hört, der Großvater habe damals das Grundstück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstammung und in Schuldknechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätigkeit als Kleinhändler von seinem Patrón freikaufen können. Auch während seiner Arbeit in der Tabakfabrik bot er, unterstützt von seinen ältesten Kindern, an einem fahrbaren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Havanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim eintönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktoberrevolution beflügelte ihre Hoffnung auf eine gerechte, egalitäre Gesellschaft. So verwundert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre geborenen Sohn den Vornamen Lenin gab. Er selbst hatte bereits als Jugendlicher – mit prophetischer Weitsicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Castro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jahren heiratete, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wuchs weniger bei ihrem gutsituierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als vielmehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Herkunft und Hautfarbe man sich in der Familie hartnäckig ausschweigt. Wie viele Kubaner versuchen die Familienmitglieder beharrlich, sich zu “verweßlichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVerweißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karitativen Einrichtungen der katholischen Kirche, deren Vertreter großen Wert auf Distanz zum サAberglaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, kokett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstellungen der Oberschicht orientierte, verhinderte jedoch keineswegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich jeweils einem bestimmten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, unter anderem als großzügig, einnehmend, kokett, lebenslustig und untreu.
Die Töchter der Caridad oder Ochúns trugen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Menschen eingreift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohlzustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbesondere in bezug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Heiligen großzügige Essens- und Getränkegaben dar, die anschließend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche waren. So hielt auch ich lange Zeit die reinigenden Abreibungen mit Weihwasser und Kölnisch Wasser, die mir meine Mutter regelmäßig zukommen ließ, damit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Bestandteil orthodoxer katholischer Praktiken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlicher Absicherung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragmatisch über Kleinunternehmertum zu verwirklichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel üblichen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar ungewöhnliche, aber trotzdem nicht untypische Familiengeschichte hin. Unter gemeinsamer Anstrengung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Havanna und damit zu einem bescheidenen Wohlstand. In der Folge des Schwarzen Freitags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, verloren sie jedoch ihre gesamten Ersparnisse. Danach konnte sich die Familie insbesondere durch den wirtschaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch international Erfolg. Die Musikerinnen verhalfen der Familie wieder zu wirtschaftlichem Aufstieg. An dessen Höhepunkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltausstellung nach New York und erfüllte einer seiner Töchter den Lebenstraum einer Audienz beim Papst.
Das Liedgut der Frauenband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstellungen der Santería. Just als nach gut 30 Jahren das Musikgeschäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernahmen in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialistische Staat förderte die Musikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei einem festen, relativ hohen Einkommen Anerkennung und Beschäftigung als Musikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialismus und für die Proteste der Studenten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirtschaftlichen und politischen Krise bestimmt waren, verhielten sie sich abwartend und konzentrierten sich darauf, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen. Wie die meisten in ihrem Viertel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revolutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wandelte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Unterstützung für die ersten Veränderungen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so erzählt man sich, über Nacht vom Katholizismus zum Guevarismus und spendete – zum ungläubigen Erstaunen der Familienangehörigen – ihren Schmuck für den Aufbau des Sozialismus. Bis zu ihrem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Caridad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozialistin der Familie und somit die Spezialistin für Behördengänge und Kontakte mit Parteistellen.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revolution bei vielen Familien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienangehörige bekannten sich nun öffentlich unzweideutig zum Sozialismus und erhielten bevorzugten Zugang zu Wohnungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Luxusgütern wie Fernsehern, Kühlschränken und Autos. Die Mehrheit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regierung jedoch eher sporadisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Politik.
Bei der sozialistischen Staatspartei waren die Werte des individuellen Unternehmertums und des orthodoxen Katholizismus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der früheren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Regierenden als rückschrittlich, primitiv und gewaltverherrlichend verpönt. Die öffentliche Haltung eines Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozioökonomische Stellung entscheidend. Dies bewirkte, daß die Bewohner des Viertels in ihren Diskursen zunehmend die drei für sie wichtigen Weltanschauungssysteme – den kubanischen Sozialismus, den US-amerikanischen Kapitalismus und die Santería – isolierten, einander gegenüberstellten und plakativ nur für ein System Partei ergriffen.
Der idealtypische Diskurs des Sozialistenuser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwiegende Mißstände durch persönliche Alleingänge zu beseitigen. In Kuba hungert niemand, alle haben die gleichen Bildungschancen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den Sozialisten im materiellen Bereich bewunderten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzuführen, denn im Gegensatz zu Fidel (und Che, der eine Sonderrolle spielt) sind die normalen Menschen äußerst fehlbar.
Für den US-KapitalistenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kubaners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Garderobe und einem Auto. Da die Kubaner als Unternehmer unübertrefflich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie bereits in Miami unter Beweis stellen konnten.
Der idealtypische Diskurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Weltanschauungssysteme groß gegeneinander abzuwägen, denn beide sind der Santería untergeordnet. So kreisen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Verwandte, Glaubensgenossen und andere beeinflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahestehen. Doch als ausgesprochener Pragmatiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdischen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenfließen, das zeigte sich beim Abschluß der Panamerikanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit Sojaschrot gestreckten Hackfleischrationen und die mit Süßkartoffelmehl versetzten Brötchen, die nach einem Tag zu backsteinähnlicher Härte mutierten, war kurzfristig vergessen. Auch die dem US-Kapitalismus zugetanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überragenden Erfolg der Sportler fast ausschließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilligen Einsätze mehrfach ausgezeichnete Arbeiterin erklärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armbanduhr die farbigen Bänder seines Heiligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner unmerklich die Hand gehoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegensätze zwischen den Verfechtern des Sozialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zusammenarbeit zwischen erklärten Sozialisten und “Nicht-Sozialisten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger angewiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diplomatenviertel einnehmen zu können. Als einträglich erweisen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukommen, um sie dann in den Schwarzmarkt einspeisen zu können. Außerdem brauchen sie für ihr illegales Kleinunternehmertum die Protektion durch die Parteigänger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter beschaffen und produzieren, die die Zentralwirtschaft entweder gar nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stellt. Die erklärten Sozialisten wiederum benötigen die Geschäftemacher, um in den Genuß von illegal beschafften Waren zu kommen, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen beiden Gruppen jedoch ungleich verteilt. Überspitzt könnte man sagen, daß, während die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast stehen. Im Alltag aber ist das Zusammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die familiäre Solidarität und die Einsicht abgesichert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäftemacher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Krise, oder 1981, dem Jahr meines ersten Besuches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftlichen Wohlstandes bezeichnen): die staatlich gelenkte Zentralwirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widmeten die Revolutionäre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksamkeit. Bezüglich den Zielvorstellungen wurden sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und anderswo – ein Eispalast eingerichtet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regelmäßigkeit ein Kühlwagen auf, dessen Ladung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbstverständlichen monatlichen Rationen von Bier, Rum und Zigaretten waren während der Zeiten eines von der Sowjetunion mitgetragenen wirtschaftlichen Wohlstandes nicht unwesentlich für die breite Unterstützung, der sich die sozialistische Regierung erfreuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organisation der wirtschaftlichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Regierung von Anfang an die gleichwertige Integration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrauenEin Grund dafür war, daß ein in die Arbeitswelt der Staatsbetriebe integriertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garantierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaffung über die libreta, das Bezugsscheinheft, war normalen Werktätigen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie engagierten Parteimitgliedern. Neben ihrer サeigentlichenFehler: Referenz nicht gefundenfreiwilligerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial genannten Wirtschaftskrise Anfang der neunziger Jahre läßt sich folgendermaßen beschreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Männer in die überladenen Busse oder steigen auf Lastwagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgaswolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ihnen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherinnen reihen sich mit den libretas mehrerer Familienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sinkende Anzahl von Brötchen in geordneten Bahnen zu halten.
Zeitraubendes Schlangestehen gehört jedoch nicht zu den größeren Herausforderungen für die Hausfrauen. Aufgrund der unregelmäßigen Belieferung der bodegas, der Verteilerstellen, müssen sie zunächst einmal ausmachen, wo überhaupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Bewohnerinnen des Viertels nicht ganz ungelegen. Ihre Lebensart, ihre nie endende Gesprächsbereitschaft, sowie das Sozialleben, das sich in den meist offenstehenden Häusern und unter den Vordächern abspielt, fördern die Kommunikation, die wahrscheinlich sowieso als das vorherrschende Grundbedürfnis der Kubanerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informationsnetz ist so engmaschig und reaktionsschnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zuletzt deswegen hoffnungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwagen, behindert durch unzählige Schlaglöcher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaffung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen herangewachsen und füllt ein Gutteil des Vormittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die offene Haustür. Eine Nachbarin meldet aufgeregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Ersatz verwendeten russischen Kartoffeln stechende Bauchschmerzen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Appetitlosigkeit geführt haben soll. Die Nachbarin bekommt einige der frühmorgens erstandenen Brötchen und übernimmt dafür einen Stapel libretas für den Malanga-Einkauf. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon. Eine Verwandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gaslastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus ausgegangen ist, wird eiligst jemand zum LKW geschickt, der versuchen muß, den Fahrer mit ein paar Geldscheinen zu einem kleinen Umweg zu bewegen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Umständlich kramt er aus einer verdeckt gehaltenen Stofftasche selbstgebastelte Papierblumen heraus. Die Hausbewohnerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet gestern nacht sind einer Freundin die verstorbenen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen angerufen und berichtet, sie befürchte, die Eltern könnten eines ihrer Kinder krankmachen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papierblumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also werden sie dem Rentner abgekauft. Kurz danach übertritt eine andere Nachbarin ohne große Formalitäten die Schwelle des Hauses. Sie holt wieder einmal die Dosenmilch ab, auf die die Kleinkinder ein Anrecht haben. Die meisten Mütter des Viertels sind sich sicher, ebenso wie inzwischen auch viele kubanische Ernährungswissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömmlich ist. Für einen relativ hohen Preis verkaufen die Mütter die Dosenmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süßspeisen wie flan – einer Art Pudding – verarbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Hausfrauen arbeitsteilig organisiert. Dabei kooperieren an erster Stelle die Familienmitglieder. Am Rande dazu gehören die novios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmitgliedern ihrer Künftigen in einer Art Vorbrautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbarkeit getestet werden. Manche Familien leisten sich professionelle Schlangesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstleistungssparte spezialisiert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegenseitige Unterstützung
Bei der Beschaffung von Gütern besonders behilflich sind sich die Mitglieder von Santería-Gemeinschaften, die eine rituelle Verwandtschaft zueinander pflegen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künftiges Mitglied aus einem attraktiven Produktions- oder Dienstleistungszweig kommt, tun dies auch Gemeinschaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Gemeinschaften des Viertels ist bekannt dafür, daß sie mit Erfolg Vertreter der wichtigsten Berufssparten zur regelmäßigen Teilnahme an religiösen Treffen hat bewegen können: Angestellte von Fleisch- und Wurstfabriken, Großbäckereien, Hotels, Restaurants und Bars. In diesen schweren Zeiten, in denen die früher gerühmte Gastfreundschaft des Viertels zwangsweise suspendiert ist, finden die einzigen großen Einladungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemeinschaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bodeguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging dieser risiko- und lebensfreudige Mann dem Schicksal zahlreicher bodegueros: Als bevorzugte Sündenböcke für den illegalen Kleinhandel wurden sie nach einigen Jahren abgesetzt und kurzerhand für einige Zeit ins Gefängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bodeguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichtiger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bodeguero seinen ungewöhnlichen Organisations- und Geschäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Namenstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze aufzustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solidarität gibt es auch unter den älteren Gründungsmitgliedern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwanderung nach Havanna seit den dreißiger Jahren beherbergt das Viertel heute, neben den Nachkommen der Zigarrendreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rückständig und mehr oder weniger unkultiviert. Doch in letzter Zeit müssen die Habaneros die früher herablassend behandelten guajiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Verwandte auf dem Land zu haben, die allerlei nützliche Produkte besorgen können. Selbst die Sitte der guajiros, in den kleinen Patios und Gemüsegärten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hühner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Habaneros geschätzt und zunehmend übernommen.
Im halblegalen und illegalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händlerinnen meist nur サLuxusgegenständeHändlerinnen die bevorzugten Anlaufpersonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der libreta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr illegale Bereich zum eigentlichen Versorgungsträger heran. Nun war man selbst bezüglich der elementarsten Zutaten der kubanischen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar standen diese Grundnahrungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Lieferungen an die bodegas immer unvollständiger und seltener.
Frauenrollen und Männerrollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaftliche Situation einer Familie bei weitem bedeutsamer sind als die werktätigen Männer und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestaurants werden mittlerweile im Viertel betrieben. Andere Unternehmen, die vornehmlich von Frauen geführt werden, sind Schneidereien, Maniküre- und Friseursalons. Welch wichtigen Teil der Versorgung die Privathaushalte übernehmen, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe hergestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zunehmend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben arbeitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Viertels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Unterschicht ernährten als Kleinproduzentinnen und -händlerinnen die matrifokalen Familien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Erscheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirtschaft war eher unregelmäßig. Die Männer der Mittel- und Oberschicht hielten sich neben der Familie mit ihrer offiziell angetrauten Frau oft noch weitere Familien mit Nebenfrauen aus der Unterschicht. Die Männer der Unterschicht hingegen durchliefen mehrere nicht legalisierte, monogame Beziehungen, die uniones libres. Bei Problemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Familie selbständig ernähren zu können, war es vor der Revolution üblich, daß Mädchen ein Handwerk lernten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Erwerbstätigkeit wurde als regelrechter Bestandteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Beziehungen und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern innerhalb der matrifokalen Familien entspricht ein spezifisches Selbstverständnis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunftbegabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe kreisen daher die Diskurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwenden seien, um einen Mann サfestzubindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt deinen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht entkommen. Dabei soll er aber den Eindruck haben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vorliebe in der Öffentlichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaftigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber projizieren sie die eigene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne andere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüchtig und rechtfertigen damit Vorschriften ihrer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzeiten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Regierung setzte der matrifokalen Familienorganisation das Ideal einer monogamen Kleinfamilie im Stil des europäischen Bürgertums entgegen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau gleichermaßen in das Arbeitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditionellen Geschlechterbeziehung auf mehrere Weisen entgegen. So hat sie die Legalisierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnahmen auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensformen von サNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-HausfrauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische MentalitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaftliche Bedeutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung ging die Regierung auf die Vorstellungen und die Gewohnheiten der サkleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenezialistinnen und Spezialisten gibt, die die Erkenntnisse der Volksmedizin, der Santería und der サwestlichen. Diese Art von Krankenbehandlung war auch in den Zeiten einer hervorragend funktionierenden staatlichen Gesundheitsversorgung unter den Bewohnern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Sogar das Renommierkrankenhaus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizinischen Wissenschaften der USA ausgerichtet und hervorragend ausgestattet ist, ordneten die Leute ihrem eigenen Gesundheitsverständnis unter. Bezeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation dieses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der Ansicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rechnung mit ihrer Heiligen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glücklichen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Fast immer sind lebensbedrohende Krankheiten der Anlaß, einen religiösen Spezialisten aufzusuchen und sich in die Santería einweihen zu lassen. Jetzt, wo in den staatlichen Krankenhäusern Einwegspritzen fehlen und die Bettwäsche selbst mitgebracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheitssystemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der sozialistischen Regierung vehement bekämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mobilisieren und als Weltanschauungssystem mit dem Sozialismus zu konkurrieren vermag. Sie wurde zwar offiziell nicht verboten, doch schloß man Partei- und Santería-Mitgliedschaft gegenseitig aus. Da die Ausübung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbesondere für Familienmitglieder, die in Regierungsinstitutionen arbeiteten, gingen die Santeros zwangsweise mit großer Diskretion vor. Die Porzellan- oder Terrakotta-Figuren, die Heilige repräsentieren, die Suppenterrinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengeister, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolution, als Santería von der Oberschicht und der katholischen Kirche diskriminiert wurde – den Charakter des Alltäglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unterscheiden.
In den achtziger Jahren änderte die Regierung ihre rigide Haltung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Einheimische erachteten jetzt Santería als wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität der Kubaner. Auch überstand die religiöse Integrität der Santeros offenbar unbeschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligenfesten in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclubpublikum dieselben heiligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz ergreifen und direkt zu ihnen sprechen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mitgliedschaft von Angehörigen der Santería zugelassen. Im September 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbereiche für die Privatinitiative der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerinnen und -produzentinnen im Viertel der tabaqueros. Dies sind späte Zugeständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hoffentlich regnet es Rindersteaks.
“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analysen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Verlag, August 1994
Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”
Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!
Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt
“Er war ein besonders hellsichtiger Mensch, der im Bett lebte und dachte, und er hatte so viel Hochachtung vor dem Tod, daß er ihn schon seit einiger Zeit übte,” so der spanische Schriftsteller Manuel Vicent über Onetti. Daß Onetti in den letzten Jahren seine Madrider Dachwohnung kaum noch verließ, es fast unmöglich war, ihn zu einem Interview zu bewegen, daß er viermal verheiratet war, viel rauchte und gerne Whisky trank, findet sich in fast jedem der unzähligen Nachrufe, mit denen Anfang Juni die internationale Presse den alten Herrn würdigte – vor allem aber sein literarisches Werk, seine Romane und Erzählungen, mit denen er zu einem der bedeutendsten lateinamerikanischen Autoren avancierte. Zwar ist er dem deutschen Publikum weit weniger bekannt als die jüngeren “Boom”-Schriftsteller, die mit dem “magischen Realismus” den literarischen Markt eroberten, doch sagt dies mehr über die Sehnsüchte der LeserInnen nach Exotik aus denn über das Werk des Autors. Die erste Übersetzung erscheint hierzulande 1976 (“Die Werft”, Frankfurt/M. 1976), doch erst in den 80er Jahren gehen seine Bücher häufiger über den Ladentisch. 1980 erhält Onetti in Spanien den “Premio Cervantes”, die höchste Auszeichnung für spanischsprachige Literatur. Auf die Fra-ge, was die Preisverleihung für ihn bedeute, sagte er lapidar “zehn Millionen Peseten”, eine Antwort, die auf distinguierte Literaten geradezu beleidigend wirkte. Dabei hat er es oft wiederholt: Es liege ihm nichts daran, Schriftsteller zu sein, nur das Schreiben sei ihm wichtig .
Santa María – das Universum
So gut wie alles, was Onetti geschrieben hat, ist von geradezu niederschmetternder Trostlosigkeit, und es ist fast unmöglich, zwei seiner Romane hintereinander zu lesen, ohne dem Alkohol oder zumindest in tiefe Melancholie zu verfallen – “Unsere Vergangenheit mochte schmutzig, vielleicht unumgänglich gewesen sein. Aber die Gegenwart war, wie gewöhnlich, schlimmer”.
Seine Themen: Santa María, die erfundene Stadt irgendwo zwischen Buenos Aires und Montevideo, und immer wieder Santa María. Mittelmäßigkeit, Dekadenz, Verlogenheit, Langeweile, zerrüttete Ehen, die alltägliche Korruption, gestrandete Existenzen. Dieselben Figuren tauchen auf, die gleichen Straßen und Plätze – die inter-textuellen Verweise stricken die sanmaria-nische Welt immer dichter. Doch ist auch Santa María eine Illusion, ein Paradies der Abgründe. In “Lassen wir den Wind sprechen” (Franfurt/M. 1986; “Dejemos hablar al viento”, Barcelona 1979) klärt der eine den anderen darüber auf, daß Santa María und all seine Bewohner die Erfindung ei-nes Dritten sind: “Das steht geschrieben, weiter nichts. Es gibt keine Beweise”. Der andere kehrt aber doch nach Santa María zurück und erfährt, daß auch der Dritte, der Stadtgründer, nur eine Romanfigur ist. Der ihm dies eröffnet, mißt die Zeit in Sei-ten. “Oh, alte Geschichte. Wir waren eine Zeitlang in einem Haus in den Dünen. Seltsamer Typ. Das liegt viele Seiten zu-rück. Hunderte.” Durch solche literar-ischen Tricks gelingt es Onetti, den Rea-lismus als Fiktion zu entlarven, ohne ihn als erzählerisches Prinzip aufzugeben. Am Ende von “Lassen wir den Wind spre-chen” steht die Zerstörung Santa Marías durch ein Feuer, das, vom Wind ange-facht, die ganze Stadt erfaßt. Erstaunlich-erweise läßt Onetti sie in seinem letzten Roman wieder auferstehen, mit einer klei-nen orthographischen Variante: Santa-maría. “Cuando ya no importe” (Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt) er-scheint 1993, eine Art Tagebuch, in dem der Erzähler gesteht: “Ich sah, daß die To-talität fast aller Dinge auf Santamaría und die Ereignisse dort zurückgeht. Und daß, geheimnisvollerweise und ohne große Lust, es einzugestehen, das einzige, woran mir wirklich liegt, diese Stadt ist, dieser Ort, dieses Provinznest”. Gleich auf der ersten Seite kommentiert der Erzähler als Alter Ego des Autors auch ein viel-gelobtes literaturtheoretisches Stecken-pferd: “… dieser Witz, den die Rechten für universell halten, dessen Anhänger sie gut zu bezahlen wissen und den sie Post-moderne getauft haben”.
Autor, Portier und Kellner
Seine erste Erzählung veröffentlicht Juan Carlos Onetti 1932 in der Tageszeitung “La Prensa” in Buenos Aires, wo er damals lebte. Wieder in Montevideo, übernimmt er 1939 einen Redaktionsposten in der neugegründeten Wochenzeitschrift “Marcha”. Zuvor arbeitet er als Portier, Kellner und Verkäufer, später dann bei der Nachrichtenagentur Reuter und schließlich als Direktor der städtischen Bi-bliotheken in Montevideo. Kurz nach dem Militärputsch in Uruguay wandert er für einige Monate ins Gefängnis: er hatte ei-ner Jury angehört, die eine – in den Augen der Militärs verwerfliche – Erzählung prä-mierte. Ab 1974 lebt Onetti in Madrid, seit 1982 in seinem Bett, überzeugt, daß “draußen” sowieso nichts passiere, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Und San-ta María? Im letzten Jahr noch einmal auf-erstanden, auch “wenn es schon nicht mehr darauf ankommt”. Für Dich, vielleicht, Onetti. Ich jedoch gehe zum Regal, schlage das Buch noch einmal auf und da ist sie wieder – die Stadt Santa María. Vielleicht kommt es eben doch darauf an.
Alltäglicher Faschismus aus Kindersicht: Tapfere Großmütter, gute und böse Onkel
Als die zehnjährige Sarah in ihrem Versteck auf dem Dachboden der Großeltern spielt, gehen ihr Gedankenfetzen durch den Kopf: makaber-unschuldige Schüttelreime, diffuse Erinnerungen, die sich zu Szenen von bedrohlicher Rätselhaftigkeit verdichten. Gleißende Sonne dringt durch die Ritzen der verriegelten Fensterläden und wirft ein staubiges Licht auf das Durcheinander aus alten Möbeln und Kleidungsstücken, vergilbten Illustrierten, Spielzeug und einer Pistole.
Mit Schrecken und Verwirrung erinnert Sarah sich an einen Tag vor ungefähr zwei Jahren: Einer Ahnung folgend, trat das Mädchen damals auf den Balkon des Dachbodens und erblickte auf dem benachbarten Hinterhof einen leibhaftigen Tonton Macoute, der gerade ihren Patenonkel Sorel zusammenschlug. Auch der dabeistehende Militärhauptmann war der Kleinen bestens bekannt: Jansson, ihr eigener Vater. Nach einer Schrecksekunde löst sich aus Sarahs Kehle ein Schrei. “Bring sie zum Schweigen”, befiehlt Janvier, der Tonton Macoute, dem Vater.
Mehr als dreißig Jahre nach diesem Vorfall versucht Sarah, sich zu erinnern: Daran, was in den folgenden zwei Jahren passierte und wie sie diese Ereignisse als Kind wahrnahm.
Collagenhaft und assoziativ, in ruhig durchkomponierten, mit satten Farben getränkten Bildern erzählt Raoul Peck die Geschichte Sarahs und ihrer Familie. Schauplatz ist eine haitianische Kleinstadt zu Beginn der sechziger Jahre, also in der Anfangsphase der Duvalier-Diktatur. Noch rivalisieren die Tonton Macoutes, “Papa Docs” berüchtigte paramilitärische Terrorbande, mit dem offiziellen Militär um die Vorherrschaft in der Hafenstadt. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Sarahs Vater, dem aus wohlhabender Familie stammenden lokalen Kommandanten und seinem Untergebenen Janvier, einem ehrgeizigen und skrupellosen Mann, der aus der Unterschicht stammt.
Nach der Verhaftung von Sarahs Pate Sorel wegen angeblicher subversiver Tätigkeiten und dem Vorfall im Hinterhof, dessen Zeugin das Mädchen wird, fliehen Jansson und seine Frau. Ihre drei Töchter lassen sie in der Obhut der Großmutter Camille zurück, die sie zunächst im Kloster, später auf dem Dachboden versteckt. Ein Versuch der couragierten Frau, die Kinder heimlich außer Landes zu schaffen, scheitert auf dramatische Weise. Erst nach einem Amnestieerlaß Duvaliers wagen sich die Mädchen wieder ans Tageslicht. Die zurückgewonnene Bewegungsfreiheit beinhaltet neue Gefahren, denn die Stadt ist mittlerweile vollständig unter der Kontrolle der Tontons Macoutes.
Der Film “Der Mann auf dem Quai” verdichtet verschiedene Erlebnisse Sarahs und ihrer Großmutter Camille, Fragmente alltäglicher Erfahrungen zu einem Szenario des Alltags in einem totalitären System. Offener Terror, das Foltern und “Verschwindenlassen” mißliebiger Personen gehen einher mit subtileren Einschüchterungs- und Erpressungsversuchen. Dies zeigt sich besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Janvier und Camille. Dazu Regisseur Raoul Peck: “Die einzelnen Sätze werden immer durch eine Stille unterbrochen. Man wartet auf die Anwort, um wieder anzugreifen. Es ist ein Pokerspiel, das jedesmal gespielt wird. Da ist der Ursprung all dieser Angst. Es ist dieses Etwas, das in der Luft liegt und einem jeden Moment auf den Kopf fallen kann.”
Jede mißliebige Handlung kann zum Verhängnis werden. Als Camille, die einen Laden besitzt, sich weigert, die getragenen Stöckelschuhe von Janviers zickiger Frau umzutauschen, ahnt sie im gleichen Moment, daß sie damit wahrscheinlich zu weit gegangen ist…
Der einzige Mensch, der innerhalb dieser beklemmenden Atmosphäre eine gewisse Narrenfreiheit besitzt, ist zynischerweise Sarahs Pate Sorel, jetzt von allen “Gracieux” genannt. Durch die Folter wurde er zum schwachsinnigen Krüppel, der in einer Hütte am Quai haust. Täglich humpelt er durch die Straßen, eine tragische Gestalt, die auch bei alten Freunden wie Camille nur auf eine Mischung aus Mitleid, Ekel und Angst stößt. Manchmal vertreibt sich Janvier damit die Zeit, Sorel zu demütigen, indem er ihn zum Beispiel um einen Zigarettenstummel betteln läßt. Sorels zerstörte Gestalt ist ein lebendiges Zeugnis des allgegenwärtigen Terrors, trägt zur Einschüchterung bei. Entsprechend wird sogar geduldet, daß der Schwachsinnige sich am Nationalfeiertag eines der überall aushängenden Plakate von “Papa Doc” an den Hintern heftet und damit durch die beflaggten Straßen zieht.
Sarah versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zusammenzufügen. Die zehnjährige versteht nicht, wie aus dem Paten Sorel der Kretin Gracieux wurde, warum ihre Eltern sie fluchtartig im Stich ließen, warum der gutaussehende Janvier sich ihr mit dem Charme eines Wolfes aus dem Märchen zu nähern versucht.
“Der Mann auf dem Quai” ist ein Spielfilm, den Regisseur und Drehbuchautor Raoul Peck aus authentischen Details, aus den Erinnerungen verschiedener Personen zusammensetzte. Ende der fünfziger Jahre, als Peck ungefähr in Sarahs Alter war, emigrierte seine Familie aus Haiti nach Afrika. Nach längeren Aufenthalten in Zaire, den Vereinigten Staaten und Frankreich studierte er in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Als der Filmemacher 1991 das Drehbuch zu “Der Mann auf dem Quai” fertigstellte, sah es so aus, als sei das Szenario der Handlung Geschichte: 1986 hatte Haiti die Duvalier-Diktatur abgeschüttelt. Nach einer Zeit der Instabilität ging 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes der progressive Priester Jean-Bertrand Aristide als Sieger hervor. Die Aufbruchstimmung färbte auch auf das Filmprojekt ab: Der neugewählte Präsident sagte seine Unterstützung für die Dreharbeiten auf Haiti zu. Parallel dazu waren laut Peck eine Reihe von Initiativen im Film- und Videobereich geplant, um der haitianischen Medienkultur auf die Beine zu helfen. Der Militärputsch im gleichen Jahr warf alles über den Haufen. Das Drehteam von “Der Mann auf dem Quai” war gezwungen, in die benachbarte Dominikanische Republik auszuweichen.
Die Tatsache, daß sein zweiter Spielfilm international zahlreiche Filmpreise und positive Kritiken erntete, ist für Peck nicht nur Grund zur Euphorie: “Ich war erstaunt über die positive Kritik gewisser Zeitungen, bis ich verstand, was sie fasziniert. Es ist dieses Bild der Dritten Welt, die sich Leid zufügt, die Barbarei eines exotischen Landes, und das mußte ich dann immer wieder korrigieren.” Der Filmemacher betont, daß “Der Mann auf dem Quai” sich keineswegs nur auf Haiti bezieht: “Es ging zu allererst darum, das kollektive Gedächtnis eines Volkes wiederherzustellen, bevor es verloren geht – natürlich für alle Haitianer, aber auch für alle, die diese Art von Willkür erleiden, die die menschlchen Beziehungen beeinnträchtigt, Familien zerstört und Gesellschaften destabilisiert: in Jugoslawien, in Südamerika und sogar in der Pariser Metro…”
Pecks derzeitiger Wohnort Paris ist für ihn – ähnlich wie Berlin – ein Ort des multikulturellen Austausches, aber auch des alltäglichen Rassismus. In der ersten Version von “Der Mann auf dem Quai” sollte diese Stadt hoffnungsvoller Endpunkt der Handlung sein: Nach gelungener Flucht werden Sarah und ihre Schwester auf dem Pariser Flughafen von ihrem Vater in Empfang genommen. “Ich konnte so schließen, weil sich die Realität geändert hatte und ich nicht mehr in der Perspektive des Exils lebte.” – Nach Aristides Sturz und der Rückkehr der Diktatur beschloß Peck, das Ende des Films noch einmal umzuschreiben.