Agroexport unter ökologischem Anpassungsdruck

Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen Durchschnittskon­sumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Quali­tät”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecola­beling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbau­bares” und “ökologisch Angebautes” an­geboten. Selbst die Automo­bilun­ternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemiein­dustrie momentan mit ganz­seitigen An­zeigen in Tageszei­tungen, um den Le­serInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Pro­duktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwin­dels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewe­gung gekom­men. Durch Produktnormen und gesetzli­che Bestimmun­gen wie etwa die Gefahr­stoffverordnung oder das Chemikalienge­setz, in neuester Zeit zu­dem durch die Etablierung eines Ökoau­dits (interne Be­triebskontrollen zur Er­stellung von Öko­bilanzen) wer­den die Produktionskreis­läufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwi­schen Selbstver­pflichtungen ein und kann sich nach Um­stellung ihrer Pro­duktion be­rechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentli­cher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Um­weltzeichen, das weit­gehend unabhängi­gen, wissenschaftlichen Kri­terien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheit­liche Pro­duktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 eben­falls ein Umweltzei­chen eingeführt. Die Anforde­rungen, die an euro­päische Produkte ge­stellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU er­zeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarpro­dukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrar­exporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internatio­nale Handelsklima ist durch einen wach­senden Protektionismus des Nordens ge­prägt ge­wesen, der die Länder Lateiname­rikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Han­delshemmnisse, die dem Süden zu schaf­fen ma­chen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen re­gistriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte ent­fielen. Gleichzeitig subven­tionieren die Industrieländer ihre Agrar­produktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hin­aus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund nied­riger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbe­werbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen sei­ner hohen Ab­hängigkeit von diesen Ex­porterlösen, die zwei Drittel der Gesamt­erlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preis­rückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und be­schleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedin­gungsloseren Ausbeutung von Roh­stoffen und einem rücksichtsloseren Um­gang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bis­her stellt gerade die nahezu uneinge­schränkte Umwelt­zerstörung einen kom­parativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung exter­ner Kosten stehen mehr denn je die Sach­zwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Um­weltpolitik der Indu­strieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpas­sungs­druck zu stellen. Ein wichti­ges In­strument ist in diesem Zusammen­hang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinameri­kanische Ex­portpro­duzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktions­methoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” ge­feiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diver­sifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu er­zielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorien­tierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plan­tagen angelegt. Die inten­sive Forstproduktion erfolgte über­wiegend zur heimischen Zellstoffproduk­tion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten An­teil aus, dazu kommt die Mö­belproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und eu­ropäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölke­rung zur Ent­nahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaf­tung hat zu einer Besitz­konzentration in den Händen weni­ger Unternehmen ge­führt, während Klein­besitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte mi­grierten. Die größten ökologischen Pro­bleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden redu­ziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächli­che Bewirtschaftungs­weise und die Aus­dehnung der Plantagen­bewirtschaftung auf geschützte Waldge­biete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bis­her nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit No­vember 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Pa­pierprodukte, das u.a. den Nachweis er­fordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholz­kampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittel­fristig negativ auf den chilenischen Holz­export auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land ge­halten wird. Angesichts zuneh­mender Produktanforde­rungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäi­schen Markt wird ver­zichten können, wird die bisherige Strate­gie einzelner Forstun­ternehmen, sich Märkte in weniger um­weltsensiblen Län­dern vor allem in Asien zu suchen, länger­fristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unter­nehmen schließlich auf eine ökologischere Pro­duktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstge­setz und der Einführung einer Landnut­zungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Pa­pierherstellung. Diese ist inzwi­schen nach Kup­fer zum zweitgrößten Ex­portprodukt Chiles geworden. 70% der Ge­samtproduktion wird exportiert, wobei Eu­ropa der wichtigste Markt für ge­bleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforde­rungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewach­sen, ge­rade in Deutschland wird z.B. im­mer weniger chlorgebleichter Zell­stoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expan­diert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlö­sen für Chile noch nicht beson­ders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer ar­beitsintensiveren Produk­tion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich je­doch verstärkt mit Produktauflagen aus­einandersetzen müssen. Be­reits beste­hende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Län­dern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Penta­chlorphenol, dazu kommen die hochgifti­gen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die bei­spielsweise in Deutschland nicht Be­standteil von Holz­produkten sein dür­fen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverord­nung auf diesen Be­reich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmate­rial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holz­paletten, die als Son­dermüll entsorgt wer­den müssen, wenn sie mit Holzschutzmit­teln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelex­porte zwar überwie­gend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen ge­stellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Eu­ropa.
In Chile scheint in einigen der angespro­chenen Branchen ein ökolo­gisches Pro­blembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentli­chen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Ex­portproduktion verursachten Umweltschä­den, insbesondere die Wald­schäden, ent­standen. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Ein­sicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade res­sourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anfor­derungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Pro­duk­tionsmethoden stark machen. Unver­ändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollin­stanzen zu sein. Hier ver­trauen auch die chilenischen Unterneh­mer, die externe Produktauflagen per EU-Verord­nung hinzunehmen gezwun­gen sind, lie­ber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Ko­lumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexport­wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumen­produktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millio­nen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Ex­portbranche nach Erdöl, Kaffee und Ba­nanen. Für die Weltbank verbirgt sich da­hinter “eine der größten Entwicklungs-Er­folgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumen­produktion ist jedoch durch einen extre­men Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zuneh­mende Luft­verschmutzung gekennzeich­net. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöp­fung der einst üppigen Grundwas­servorkommen, die zur Bewässerung ver­wendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ur­sprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Ar­menvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbe­stimmungen werden, wenn über­haupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftun­gen durch toxische Stoffe sind an der Ta­gesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenpro­duktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologi­schen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu ent­wickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestizi­den und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in abseh­barer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsor­ganisation FIAN die Ar­beitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhal­tigkeit sowie die Einhaltung von Arbeits­schutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für ko­lumbianische Blumen” in diesem Heft). Die un­menschlichen sozialen Bedin­gungen bei der Blumenproduktion in Ko­lumbien und Kenia kamen schließ­lich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es for­derte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedin­gungen zu überprü­fen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolum­bianische Regierung den Vorwurf des Protek­tionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentli­chung einer “weißen Liste” von Unter­nehmen, die bestimmte soziale und ökolo­gische Mindest­standards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müs­sen die tatsächlich eingeleite­ten Schritte zur Ver­besserung der Arbeitssituation je­doch als un­angemessen bezeichnet wer­den.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommis­sion aufgrund un­befriedigender Ergeb­nisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industriepro­dukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechen­den Vergabekriterien für industrielle Pro­dukte. Oftmals richten sich diese auch in­nerhalb der EU vor al­lem nach den Inter­essen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Eu­ropa aus. Un­fähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustel­len, und Protektionismustenden­zen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Eti­kettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimi­schen Wälder, sowie die wachsenden in­ternationalen Produktan­forderungen, Un­ternehmen der Holzbranche dazu zwin­gen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Ent­wicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Um­stellung von Produktionsmethoden ge­führt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpas­sungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt ver­zichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Struk­turwandels im Exportbereich der latein­amerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu vernei­nen. Man muß jedoch er­kennen, daß die­ser umweltpoliti­sche Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Be­reich ansetzt, der in ex­tremer Weise konjunktu­rellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spiel­raum für latein­amerikanische Exportun­ternehmen, inno­vativ auf die neuen An­forderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es da­für bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oft­mals am politi­schen Willen nationaler Re­gierungen, über die Unter­zeichnung inter­nationaler Abkommen und die Festlegung gesetz­gebe­rischer Normen hinaus, die na­tionale Umweltpolitik mit Leben zu er­füllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrol­lieren und tatsächlich durch­zusetzen. Dies ist nicht zuletzt ent­scheidend, wenn es darum geht festzu­stellen, wie weitrei­chend die Produkti­onsumstellungen in­folge der ökologischen Produktanforde­rungen tatsächlich sind. Für die arbeitsin­tensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologi­sche Anpassungs­druck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbe­dingungen für die Be­schäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssi­cherung kommender Gene­rationen auch die Berücksichtigung sozi­aler Siche­rung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Pro­dukte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmit­tel vernichtet werden, erreichen nach langen Transport­wegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Ver­braucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroex­portbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeu­tung bil­liger Arbeitskräfte und ihrer na­türlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten je­doch von den Exportnationen selbst beein­flußt werden. Der Preisverfall tradi­tioneller lateinamerikanischer Agrarpro­dukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte War­nung genug sein, erneut zu sehr auf unbe­ständige Weltmarktkonjunkturen zu ver­trauen. Wie nachhaltig negativ EU-Ent­scheidungen Dritt-Welt-Produktion betref­fen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Län­der betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Ka­kaobutter durch billige Pflanzenöle zu er­setzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die mei­sten Land­wirte den Anbau von Weizen und Reis aufgege­ben, nachdem ihre Preise durch von Brüs­sel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventionier­tes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden wa­ren. Dies sind die Rahmenbe­dingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nach­haltigkeit verhindern. Der Bei­trag, den eine Öko-Etiket­tierung zu einem ökologi­schen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als be­scheiden angesehen werden.

Die Verhandlungen laufen

Das Abkommen vom März (vgl. LN 239) über die allgemeine Einhaltung der Men­schenrechte, die Auflösung der Todes­schwadrone und illegalen Streitkräfte und die Einrichtung einer UNO-Mission in Guatemala waren nur ein brüchiges Funda­ment für weitere Verhandlungen. Bereits im Mai klagten verschiedene Sektoren der guatemaltekischen Gesell­schaft Regierung und Militär an, die Be­stimmungen nicht einzuhalten; neue Men­schenrechtsverletzungen wurden bekannt, und die UNO-Mission ließ auf sich warten.
Nach jahrelangem Widerstand hatte sich die URNG im März der Forderung der Regierungsseite gebeugt, die Frage der Wiederansiedlung der Flüchtlinge aus den allgemeinen Friedensverhandlungen aus­zuklammern. Seit über zehn Jahren befin­den sich hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko und im Landesinneren; zu ihnen gehören auch die Geheimen Widerstands­dörfer (CPR). Das Befürchtete trat ein: Die Armee war in den Verhandlungen im Frühjahr nicht bereit, irgendeine Verant­wortung für die Repressionen zu über­nehmen, die zu der riesigen Flüchtlings­welle geführt hatten. Sie erklärte den Ver­handlungsbereich zu einem allgemeinen humanitären Problem, so daß nach ihrer Vorstellung nur praktische Fragen gelöst werden müßten, ohne die Ursachen zu thematisie­ren. Die Verhandlungen zur Wieder­an­sied­lung waren vor allem durch folgende Streit­fra­gen belastet:
1. Die Militärs waren nicht bereit, die Rückkehrenden einschließlich der Be­wohnerInnen der CPR (die von ihnen als politischer Arm der Guerilla betrachtet werden) als Zivilbevölkerung anzuerken­nen.
2. Die Landbeschaffung für die retornos stand (und steht) vor großen Schwierig­keiten, weil das Land, von dem die Men­schen 1981/82 vertrie­ben wurden, unter staatlicher Aufsicht neu besiedelt worden ist – durch sogenannte Modelldörfer und durch Militärstütz­punkte.
3. Die Forderung der Flüchtlingsorganisa­tionen, einzelne Personen als Zeugen der Vertreibung auftreten zu lassen, wurde seitens der Armee zurückgewiesen. “Verständlich”, denn die meisten der Ver­antwortlichen sitzen noch auf ihren Po­sten.
Zwei Abkommen im Juni
Aufgrund dieser Diskrepanzen kam es Anfang Juni zu einem kurzzeitigen Ab­bruch der Verhandlungen. Erstaunlicher­weise wurde Mitte Juni in Oslo dennoch ein Abkommen zur Wiederansiedlung ge­schlossen. Es scheint aber so, daß die Re­gierungsseite großen Druck auf die URNG ausgeübt hat, um überhaupt ir­gendein Ergebnis vorweisen zu können, freilich um den Preis wirklicher Lösun­gen. Zum einen treten die Vereinbarungen erst nach Abschluß des Friedensvertrages in Kraft, der für Dezember dieses Jahres geplant ist, womit sich der Rückkehrprozeß unerträglich ver­zögert; zum anderen sind in dem Abkom­men keinerlei Regelungen über eine Ent­militarisierung der Rückkehrgebiete ge­troffen worden. Dies ist aber eine der Hauptforderungen der Flüchtlinge und der URNG, zumal die letzten beiden Jahre ge­zeigt haben, daß die Militärpräsenz für die, die schon zurückgekehrt sind, eine reale Bedrohung bedeutet, von der psychi­schen Wirkung einmal abgesehen.
Wenige Tage nach dem Abkommen zur Wiederansiedlung unterzeichneten die Parteien ein zweites, in dem sie die Ein­richtung einer Wahrheitskommission be­schlossen. Auch dieses eine Farce, denn es tritt gleichfalls erst nach dem Friedens­vertrag in Kraft. Zudem soll die Kommis­sion lediglich sechs Monate arbeiten dür­fen, was zu einem sehr lückenhaften Er­gebnis führen muß – ganz im Sinne derer, die für die aufzudeckenden Verbrechen verantwortlich sind.
Im Sommer nahm die Zahl der Menschen­rechtsverletzungen nicht ab, wie nach den beiden Juni-Abkommen zu erwarten ge­wesen wäre. Man verzeichnete sogar eine neue Welle von Gewalttaten, die rasch zum Abbruch der Verhandlungen führte: GewerkschafterInnen wurden ermordet, VertreterInnen internationaler Organisa­tionen bedroht, und im Ixcán kam es zu schweren Gefechten zwischen der Armee und der URNG.
Neue Verhandlungsrunde unter UNO-Vermittlung
Am 19. September stimmte die UN-Voll­versammlung, fast ein halbes Jahr nach den Beschlüssen vom März, der “Mission der Vereinten Nationen für Guatemala” (MINUGUA) zu. Bereits am 20. Septem-ber traf eine Vorbereitungsde­legation mit zehn TeilnehmerInnen im Land ein, geleitet von dem Argentinier Leonardo Franco. Er löste Jean Arnault ab, der bis dahin bei der UNO für Gua­temala zuständig war und nach anfängli­chem Desinteresse doch heftig auf Lösun­gen gedrängt hatte. Die Hintergründe die­ses Wechsels wurden jedoch nicht be­kannt.
Am Tag nach der Ankunft begannen die Gespräche der UN-Vertreter mit Präsident de Léon und anderen leitenden Regie­rungsmitgliedern. Am 28. und 29. September fand in Mexiko die erste neue Runde der Verhandlungen zwischen URNG und Regierung statt.
Das Klima der ersten Begegnung war von gegenseitigen Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsaktionen der letzten Monate ge­prägt. Darüber hinaus zeichnete sich ab, daß die Regierungsseite nun sehr auf einen termingerechten Abschluß des Frie­densvertrages im Dezember drängt und daß sich die Verhandlungen eher um die Einhaltung des Termins als um inhaltliche Fragen drehen werden.
Wie nun weiter? Offenbar hat die URNG eine schlechte Position, da sie militärisch nicht sehr schlagkräftig zu sein scheint, Regierung und UNO jedoch vor allem an schnellen Ergebnissen interessiert sind; der “Erfolg” von El Salvador soll sich in Guatemala wiederholen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die URNG im­mer weiter hinter ihre ursprünglichen Forderungen zu­rückweichen muß, daß beispielsweise die Flüchtlinge zwar zurückkehren, daß aber die Zustände, die sie zur Flucht gezwun­gen haben, nicht geändert werden.
Wird es die Guerilla wagen, die Ver­handlungen abzubrechen, wenn die Ver­handlungspositionen zu weit von ihren Grundforderungen abweichen?

Kurzerhand abgewickelt

Das CRIES hatte sich in den letzten zehn Jahren einen Namen geschaffen, und wer sich für Wirtschafts- und So­zialforschung in und über Zentralame­rika interessierte, für den war das CRIES die Anlaufstelle in Nicaragua. Bekannt wurde es außerdem durch die dem Zentrum angegliederten Medien. Die Zeitschrift “Pensamiento Propio” und der elektronische Knoten “Nicarao”, der aus Managua die alterna­tive e-mail aus und in ganz Zentralame­rika weiterleitete, waren für die interna­tionalen Debatten wichtige Informati­onsquellen.
“Pensamiento Propio” hat mittlerweile ihr Erscheinen eingestellt, “Nicarao” funktio­niert nach kurzer Unterbre­chung mit neuer Belegschaft weiter. Komplett geschlossen ist das Doku­mentationszentrum (CEDOC) inner­halb des CRIES, das durch Aus­tauschabonnements aus dem ganzen ame­rikanischen Kontinent über viele sonst nicht in Nicaragua erhältliche sehr gute Zeitschriften verfügte. Ge­schlossen wurde auch der Verlag. Das Bitterste von allem aber: Im Juni wur­den die knapp siebzig Angestellten entlassen, nach wochen­langem Ar­beitskampf inklusive Aussper­rung. Ein Großteil der Forschungsvorha­ben sind eingestellt und die Zukunft ist unge­wiß. Pas­send zur politischen Krise in Nicaragua und der allgemeinen Kon­fliktunfähigkeit, leisteten sich Direkto­rium und Gewerk­schaft in den vergan­genen Monaten eine öffentliche Schlamm­schlacht, die ihres­gleichen sucht.
In den 80er Jahren enstand das CRIES als eine Regionalkoordination für zu­letzt fast vierzig sozial- und wirtschaftswissen­schafliche For­schungsinstitute in Zentral­amerika und der Karibik. Straff unter je­suitischer Leitung organisiert, zuletzt mit einem der führenden zentralamerikani­schen Intellektuellen, Pater Xavier Goro­stiaga, als Präsident, finanzierte es sich in erster Linie durch ausländische Geld­geber. Es war das sandinistennahe Wirt­schaftsforschungsinstitut schlechthin, auch wenn die dort ent­wickelten Wirt­schaftsprogramme re­gelmäßig auf den Parteitagen der FSLN verworfen wurden.
Anlaufstelle für Gewerkschaften und Basisgruppen
Die kreativsten Zeiten erlebte das CRIES kurz vor und nach der großen “Wende” in Nicaragua, also zwischen 1989 und 1992. In dieser Zeit war die Regionalkoordina­tion selbstverständli­cher Referenzpunkt für Gewerkschaf­ten und Basisgruppen, die sich dort theoretische und praktische Ratschläge holten, wie mit der neuen Re­gierung und der harten neoliberalen An­passungspolitik umgegangen werden konnte. Ausländisches Geld zur Förde­rung floß reichlich. In dieser Zeit des Um­bruchs entstanden die For­schungsprojekte aus der gemeinsamen Diskussion zwi­schen den Wissen­schaftlerInnen und den Basisgruppen im Land. Eine wahre Blüte­zeit, vergli­chen mit den Anfängen des In­stituts, die von Forschungsvorgaben durch die jesuitische Direktion gekennzeichnet waren.
Die Krise, die letztlich mit der Schlie­ßung des Institutes endete, begann bereits 1993. Der Tod des damaligen geschäftsführen­den Direktors Arturo Gallese, der bei ei­nem Flugzeugabsturz ums Leben kam, und der Weggang des zweiten geschäfts­führenden Direktors Gerado Timossi nach Mexiko hinter­ließen große Lücken. Die an deren Stelle berufene Direktion mit Kathe­rina Grisby und Salvador Arías zeigte we­nig Geschick mit dem Manage­ment des CRIES. Unter ihrer Leitung kam es zu einer bis dahin nie gekannten perso­nellen Ausdehnung auf rund siebzig An­gestellte, von denen aber “nur” vierzehn wissen­schaftliche Mit­arbeiterInnen waren. Die anderen wa­ren in der Verwaltung, als Si­cherheits-, Fahr- oder Putzpersonal be­schäftigt. Da sich das CRIES in erster Li­nie über Finanzmittel für konkrete For­schungsprojekte finanzierte und wenig di­rekte institutionelle Förderung er­hielt, er­wies sich diese Aufblähung bald als fatal. Ebenso wurden mehrere Wissenschaftle­rInnen weiterbeschäftigt, obwohl ihre Projekte bereits ausgelau­fen waren. Die elektronische Post, ei­gentlich eine Abtei­lung des CRIES die schwarze Zahlen schreibt, mahnte ihre Kundschaft nicht genügend und hatte so tausende Dollar Außenstände ange­häuft, anstatt Gewinn zu erwirtschaf­ten. Das Dokumentations­zen­trum produzierte teure Zusammenfas­sun­gen der Tageszeitungen, die aber niemand kaufte, außer den Archi­ven der Tageszei­tungen selbst.
Heute hier, morgen dort
Obwohl das Institut sehr rasch unter Fi­nanzdruck geriet, eröffnete der CRIES-Präsident Xavier Goro­stiaga kurzerhand im März 1994 ein neues CRIES in El Sal­vador. Die Mittel dafür nahm er aus dem Haushalt des CRIES/Managua mit, ohne dies je­doch mit dem Großteil der Mitarbei­terInnen ab­gesprochen zu haben. Nicht verwunder­lich ist es deshalb, daß dies in Managua eindeutig als geplante Aushöhlung von CRIES/Nicaragua ge­wertet wurde. Mut­maßungen, daß Goro­stiaga in San Salva­dor den bishe­rigen In­terimsrektor der ka­tholischen Universität ablösen und damit die Nachfolge des im November 1989 vom salvadorianischen Militär ermordeten Ignacio Ellacuría an­treten wollte, steiger­ten in Managua zu­sätzlich das Mißtrauen gegenüber Goro­stiaga. Ein weiteres Ar­gument, das für einen tak­tischen Coup spricht, ist, daß ein Forschungsinstitut in San Salvador heut­zutage mehr internatio­nale Repu­tation und damit auch Geld und Macht verspricht, als ein Institut in einem Land, das internatio­nal aus der Mode ge­kommen ist und des­sen wis­senschaftlicher Standard, unter geän­derten politischen Vorzeichen, keinen besonderen Ruf mehr genießt. Goro­stiagas Rolle beim Mana­gement der fi­nanziellen Krise und insbe­sondere während der Aus­tragung des sich ver­schärfenden Arbeits­konfliktes, war mehr als unglücklich.
Als Rektor der ebenfalls krisengeschüt­telten katholischen Uni­versität ständig überlastet, konnte er seiner Verantwortung gegenüber CRIES und anderen Instituten nicht genügend nachkommen. Statt gedul­dig und konstruktiv nach einer akzeptab­len Lösung aus der Krise zu suchen, gab es im Juni den Holzhammer: Schlie­ßung, Entlassung und Aussperrung al­ler Ange­stellten und ArbeiterInnen.
Derzeit tourt Gorostiaga wieder durch Eu­ropa, auf der Suche nach Finanziers für ein stark reduziertes CRIES in Managua und ein schickes Neues in San Salvador. Sicher wäre es allen dienlich, würden die Geldgeber für ein neues CRIES-Projekt etwas genauer nach den Statuten dieser Institute fra­gen. Denn Regionalforschung über Demokratisierungsprozesse, Struk­turanpassungspolitik und Weltbank inner­halb einer autoritär bestimmten Institution ist ein Projekt, das auch in Zentralamerika nur wenig Zukunft verspricht.

“Was ist der Unterschied zwischen Gott und Gorostiaga? – Gott ist mit uns, Gorostiaga auf Reisen.”

Der diskrete Charme des Neoliberalismus

Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letz­ten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entschei­dende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswah­len entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirt­schaftsminister ausgearbeitet und als Kan­didat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflati­onsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produk­ten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für bra­si­lianische Verhältnisse schon wun­der­same Stabilisierung entschied offen­sicht­lich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform ein­ge­leitet, sondern ein Schauspiel zu Wahl­kampf­zwecken aufgezogen, lief offen­sicht­lich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancie­rung des Plano Real ist wohl ein Lehr­stück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht wer­den kann, in dem die Mehrheit der Be­völke­rung von den Segnungen des Real­kapita­lismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance ver­wehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offen­sichtlich die Wirkung des Planes unter­schätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unter­stützt wurde Cardoso massiv von den Me­dien, allen voran dem mächtigen Fernseh­sender Globo, und der derzeitigen Regie­rung, die neue Zuversicht im Lande ver­breiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahl­kampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelli­genter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung er­hielt. So erklärten die Ikonen der brasilia­nischen Musik Caetano Veloso und Gil­berto Gil ihre Präferenz für Cardoso, le­diglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bür­gerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kan­didaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, ver­tritt dennoch den Anspruch, die sozialde­mokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapi­talismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisie­rung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont viel­mehr, daß die aktive Rolle eines effekti­ven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Unge­rechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitspro­gramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhält­nisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg er­möglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der libera­len Front”), der zweitgrößten Partei Brasi­liens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs for­miert hatte. Die PFL ist weniger eine po­litische Partei mit programmatischen Aus­sagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensicht­lich selbst keinen eigenen Kandidaten auf­stellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit ge­schickter und flexibler als die anderen bür­gerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kan­didaten und die Unterstützung in den wirt­schaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefähr­dete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Mo­dernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen kei­neswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klien­tilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glau­benssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzu­stände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr ge­wählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabili­sierungsplanes vor den Wahlen war si­cherlich der Hauptgrund für die Nieder­lage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regie­rung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen ge­gen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeits­migrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und admini­stra­tive Er­fahrungen, das sei kein Typ für das Prä­si­dentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annä­hernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzet­tel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich verei­nigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Ein­zel­kandidatur bestritt, erreichte über­raschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität wa­ren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das po­litische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerli­chen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT ge­rade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hier­zulande genannt werden), die angeblich die Partei beherr­schen, haben eine größere Akzep­tanz Lu­las verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zu­weisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundes­deutschen Presse über die Ausein­ander­setzungen innerhalb der Bündnis­Grünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Lin­ken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokrati­sche Fahr­wasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist ent­standen und gewachsen als eine Formie­rung jenseits und gegen sozialdemokrati­sche und orthodox-kommunistische Strö­mungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotz­kis­ten, über Ökoso­zialisten bis hin zu sozial­demokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Wider­sprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Bra­silien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grund­positionen ausmachen: für die Par­teilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grund­sätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Bra­si­lien und dem vom IWF oktroierten neo­libe­ralen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als kon­sequente Re­formkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Ver­teilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivi­le­gierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Ortho­doxie beherrscht, die es ihnen zum Bei­spiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminali­sierung der Abtreibung aus dem Pro­gramm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Po­sitio­nen innerhalb der Partei ver­teidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasi­lien ratsamer als gegen­seitige Schuldzu­weisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Prä­sidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorIn­nen wählen (bisher 1), und in drei Bun­desstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem so­zialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens be­einflussen kann. Mit einer gestärkten Par­lamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konse­quente Oppositionspolitik gegen das neo­li­berale Modernisierungsprojekt zu or­ga­ni­sieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zu­letzt an den starken sozialen Be­wegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organi­siertes Wider­stands­potential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im or­ganisierten Sektor der Ge­sellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Inte­grationskraft für die brasilianische Gesell­schaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenz­ten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwik­kelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen po­litische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren las­sen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits er­wähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsi­denten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Wider­stand ge­gen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio ge­wählt, kennzeich­nete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative In­kom­pe­tenz, explodie­rende Gewalt und ein zu lange durchge­haltenes Bündnis mit dem un­säglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Dis­kurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernseh­sender Globo und den IWF ge­rieten im­mer mehr zur Politfolklore. Über­raschen­derweise hat aber seine Par­tei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis er­zielt. In Paraná wurde der populäre Ex­bür­ger­mei­ster von Curtiba, Jaime Lermer, be­reits im ersten Wahlgang zum Gouverneur ge­wählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem ge­wann die PDT in Mato Grosso (in einem brei­ten Bündnis, das auch die PT ein­schloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahl­gang. Der Kan­didat in Sâo Paulo ist ein wüster De­magoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandida­ten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat re­alistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilia­nischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine prag­matische Op­position zu Cardoso wei­ter zu ei­ner mögli­chen Alternative bei des­sen Scheitern zu entwickeln. Garotinho we­nigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Bra­siliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durch­gang geschei­tert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird im­mer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken de­generieren, ohne nationale Kraft.

Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)

Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sek­toren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahl­kampagne gelang es nicht, ein re­alisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozial­politik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und In­flationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsen­tiert und waren unfähig, der konkreten Exi­stenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne ge­macht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”

Kasten 2

Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbe­sondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbei­ten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Par­tei haben. Dasselbe gilt für die Unter­nehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampa­gne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommu­nalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodo­xen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”

Kasten 3

Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Oppo­sition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit ge­funden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten her­aus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.

Schwarze Feministinnen gehen eigene Wege

LN: Viele Frauen von CRIOLA haben früher bei CEAP (Centro de Articulâ­cao das Populacoês Marginalizadas) mitge­arbeitet, das sich für die Rechte der Stra­ßenkinder und der schwarzen Frauen einsetzt. Was war der Anlaß, CRIOLA als eigene Organisation zu gründen?
Neusa das Dores Pereira: Alle zehn Frauen von CRIOLA haben irgendwann einmal mit CEAP zu­sammengearbeitet, zwei von ihnen gehörten 1989 zu den Gründerinnen von CEAP. Alle Frauen kommen aus den verschiedensten sozialen Bewe­gungen, sie waren im Gesundheits­bereich aktiv, in der Gewerkschaft und in Bürgerinitiativen. Wir sahen die Notwen­digkeit, uns autonom zu organisieren. Denn als schwarze Frau konnten wir ent­weder an der fe­ministischen Bewegung teilnehmen, wo die weißen Frauen alles bestim­men oder an der Bewegung der Schwarzen, wo die Männer im Vorder­grund stehen. CEAP veröffentlicht viel über Repression und die Morde an Stra­ßenkindern. Hauptsächlich ging es um die Situation der Jungen auf der Straße und in diesem Zusammenhang wurde die Frau nur als Mutter gesehen. Wir wollten mehr zur Situation von schwarzen Frauen ar­beiten. Daher entstand 1992 CRIOLA, um neue Wege zu suchen.
Wie sieht die Arbeit von CRIOLA aus?
In der Struktur, die wir seit Dezember 1993 haben, ist CRIOLA in ver­schiedene Gruppen unterteilt: Im Kulturbereich geht es um schwarze Alltags-Kultur, die Aus­einandersetzung mit der afro-brasiliani­schen Reli­gion und den Aufbau von Kunstkooperativen. SOS-Gesundheit ar­beitet zur Aidsprävention und zur Kampa­gne gegen Sterilisation. Wir nehmen teil am Netzwerk gegen rassistische und sexu­elle Gewalt und an der Kam­pagne gegen Sextourimus und Kinderprostitution. SOS-CRIOLA bietet Unterstützung und Bera­tung für schwarze Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, initiiert werden Selbsthilfegruppen und the­rapeutische Gruppen. Criola, Criolinha, Criolona arbeiten derzeit mit Mädchen und jungen Frauen und beabsichtigt in Zukunft ebenfalls mit älteren Frauen zu arbeiten. Weiter gibt es das Dokumentati­onszentrum und Dàgbá Criola. Dàgbá ist ein Wort aus dem Yoruba, das “Wachsen” bedeutet. Ideen müssen wachsen und bra­silianische und internationale Netzwerke entstehen. Wir beteiligen uns an der schwarzen Frauenbewegung in Latein­amerika und der Karibik, an der Kampa­gne gegen häusliche Gewalt, an der Be­wegung “Pro Mädchen” und führen Workshops zu “Geschlecht und Rasse” mit Streetworkern durch.
Mein Traum ist es, das Dokumentati­onszentrum aufzubauen. Es beruht auf drei Schwerpunkten: 1. die schwarze Ge­schichte, besonders die der schwarzen Frauen zu dokumentieren, 2. die Verbin­dung zu anderen Gruppen herzustellen und Informationen in einer Sprache wei­terzugeben, die von den sozialen Bewe­gungen verstanden wird und 3. eine ei­gene Analyse von Daten, die sich von den offiziellen, manipulierten Statistiken ab­setzt, welche oft ein verzerrtes Bild der Realität wiedergeben.
Während der Dokumentationsarbeit bei CEAP haben wir immer wieder in den Zeitungen von Morden an schwarzen Frauen gelesen. Deshalb haben wir bei der Justiz genaue Daten nach Alter und Haut­farbe der ermor­deten Frauen angefordert. Erst nachdem ein Abge­ordneter unser Anliegen unterstützt hat, erhielten wir überhaupt eine Reaktion auf unsere Nach­frage und dann waren die Informationen unvollständig, ohne Angabe der Hautfarbe und des Alters. Aufgrund der Orte und Charakteristika, wo die Verbrechen statt­fanden, wissen wir aber, daß sehr viele junge und viele schwarze Frauen ermordet wurden. Daher finden wir es wichtig, ein eigenes Dokumentationszentrum aufzu­bauen. Wir richten uns mit unseren Infor­mationen speziell an Frauen, die wenig le­sen und nicht den Umgang mit Computern gewöhnt sind und wollen das Dokumen­tationszentrum entmystifizieren. Wir wol­len die Frauen direkt erreichen und mit ih­nen zusammenarbeiten in ihren Bereichen wie Haushalt, Gewerkschaft und Kirche.
Wie sehen die Kontakte zur feministi­schen Bewegung aus?
Wir arbeiten mit der feministischen Be­wegung in der Kampagne gegen Sterilisa­tion zusammen. Wenn wir Daten über die Situation der Schwarzen brauchen, wen­den wir uns an die Bewegung der Schwar­zen. Wir bewegen uns zwischen beiden Bewegungen. Die schwarze Frauenbewe­gung ist gleichzeitig schwarze und femini­stische Bewegung. Das Wort “feministisch” erschreckt noch immer, es gibt viele negative Assoziationen wie les­bisch, eurozentrisch, Frauen, die Männer has­sen. Deshalb möchten viele Frauen das Wort feministisch nicht benut­zen und sprechen lieber von Frauenbewegung oder weiblicher Bewegung. Wir haben eine feministische Orientierung und versuchen ständig, den Frauen klarzumachen, daß sie feministisch sind.
Andererseits ist es sehr schwierig, mit der feministischen Bewegung zusammenzuar­beiten. Frauen aus der Unterschicht ma­chen oft die Erfahrung, daß sie wegen ih­rer Ansichten von den weißen Feministin­nen als nicht feministisch abgelehnt wer­den. “Nein, ihr seid keine Feministin­nen”, heißt es, als gäbe es ein “Feministómetro”, ein Meßgerät für Fe­minismus. Wenn Landarbeiterinnen, Gefangene, Prostitu­ierte in die fe­ministische Bewegung ein­treten, verziehen sich oftmals die Radikalfeministin­nen.
Wir schwarzen Frauen haben in der femi­nistischen Bewegung immer wieder die Erfahrung gemacht, daß bei den Diskus­sionen etwas fehlte, ebenso wie innerhalb der Bewegung der Schwarzen, wo der Diskurs über das Geschlecht immer ausblieb. Die schwarze Frauenbewegung muß ihren eigenen Weg entwickeln. Zur Zeit müssen wir uns eigenständig organi­sieren, um un­sere eigenen Ideen und Aktivitäten, um eine eigene Sprache entwickeln zu kön­nen. Später können Wege wieder gemein­sam beschritten werden. Wenn wir jetzt unsere Räume öffnen, werden sie von Männern oder weißen Frauen verein­nahmt.
Unser Verhältnis zur weißen feministi­schen Bewegung ist weiterhin schmerz­lich. Wenn wir bei feministischen Treffen einen Workshop an­bieten, kommen aus­schließlich schwarze Frauen, die weißen Frauen zeigen kein Interesse. Aber sobald wir ein eigenes Treffen für schwarze Frauen organisieren, möchte plötzlich jede teilnehmen. Sie werfen uns vor, wie ab­surd es sei, andere auszuschließen, kriti­sieren uns als zu radikal. Genauso ist es mit den Männern. Aber wenn wir inner­halb eines Treffens der Bewegung der Schwarzen über das Thema schwarze Frauen diskutieren wollten, waren wir immer unter uns.
Ihr beteiligt Euch an der Kampagne ge­gen Sextourismus und Kin­derprostitution. Wie ist die Situation in Rio und was sind Eure Ziele bei der Kampagne?
Für uns Frauen von CRIOLA ist das ein ganz neues Thema. Ich habe an verschie­denen Konferenzen zum Thema Sextou­rismus teilgenommen, unter anderem in Deutschland. Sextourismus wird hier als Phänomen wahrgenommen, aber nicht zur Diskussion gestellt. Deshalb werden wir im Dezember dazu ein Treffen in Rio ver­anstalten.
In Copacabana, wo ich mich am besten auskenne, haben viele Mädchen und Jun­gen mit Sextourismus zu tun, gerade in Rio sind viele Jungen im Sextourismus tätig. Es wird als etwas selbstverständli­ches betrach­tet und nur im Zusammen­hang mit Verbrechen erwähnt. Eine weit ver­breitete Einstellung ist, “ach, die Mäd­chen wollen dieses Leben” und in der Tat, suchen die Mädchen einen Gringo zum Heiraten. In dem Hoch­haus, in dem ich lebe, wohnen etwa 20 bis 30 junge Frauen, die sich nicht als Prostituierte ver­stehen, sondern als Mädchen, die “Programme” mit Touristen durchführen und ihr Traum ist es, einen Tou­risten zu heiraten. Da gibt es diese Märchenvor­stellung. Sie glauben, daß es in Deutsch­land viele Adlige gibt, die zwar verarmt sind, aber im Vergleich zu Brasilien noch viel Geld besitzen und in einem Schloß mit Hausangestellten wohnen.
Die weißen Männer kommen nach Brasi­lien und suchen dort eine schwarze junge Frau, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Viele glauben an diesen Mär­chenprinzen, der aus Deutschland kommt, aus der Schweiz oder aus Italien.
Wenn Du ihnen sagst, daß dies eine große Lüge sei, antworten sie, daß sie die Chance nicht ungenutzt lassen wollen und sie noch jung seien. Die ei­gene Familie glaubt daran. Sie glauben, daß es der Tochter sehr gut gehen wird, wenn sie nach Deutschland heiratet. Und dann be­kommen sie Briefe, in denen steht, wie gut es ihnen geht. So schließt sich der Kreis der Illusionen.
Anders ist die Situation der Frauen aus der Mittelschicht, die besser ihre Interessen wahrnehmen können. Sie sprechen ver­schiedene Spra­chen, sind mit ihren Fami­lien gereist und kennen schon andere Län­der. Sie wollen Karriere machen und am Konsum teilhaben, sie haben kon­krete Vorstellungen, etwa jemanden zu heiraten, um nach New York zu ziehen. Es ist ein Unterschied, ob die Mädchen reisen wol­len, Eu­ropa kennenlernen möchten und wissen, diese erreichen sie durch einen Gringo, den sie kennenlernen, oder ob sie sich vorstellen, einen Ade­ligen zu heiraten und in einem Schloß zu leben.
Die schwarzen Mädchen aus den armen Schichten verhandeln nicht. Das ist der Unterschied zu einer erwachsenen Prosti­tuierten, die weiß, welchen Preis sie ver­langen kann. Die Mädchen auf der Straße haben dagegen überhaupt keine Verhand­lungsposition. Sie verlieben sich in die Europäer, die sie beachten, ihnen 10 Cru­zeiros geben und ein Essen bezahlen.
Welche Rolle spielt die Ideologie des “Weißerwerdens”, des embranci­mento, dabei?
Eine ganz Beachtliche, denn die schwar­zen jungen Frauen auf der Straße glauben, daß sie selbst nichts wert sind. Sie über­nehmen das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat, die sie als dreckig, dumm, ge­fährlich, als Analphabeten betrachtet. Wenn dann ein blonder Euro­päer mit blauen Augen kommt, zärtlich zu ihnen ist und ihnen Geld gibt, fühlen sie sich geehrt.
Eine andere Besonderheit in Rio ist, daß viele junge Frauen im Sex­tourismus von außerhalb kommen, weil sie wissen, daß dort die Sex­touristen anzutreffen sind. Viele kommen aus dem Nordosten Brasi­liens. Sie haben entweder die Familien verlassen oder werden von ihrer Fa­milie nach Rio direkt zur Copacabana geschickt. Wir haben schon Mäd­chen im Alter von 6 und 8 Jahren angetroffen.
In Brasilien wurde im letzten Jahr eine parlamentarische Untersu­chungs­kom­mission eingerichtet (CPI), um zur Kinder­prostitution zu er­mitteln. Liegen die Ergebnisse der CPI mittler­weile vor?
Ich glaube nicht, daß der Bericht schon vorliegt, außerdem gibt es viele Informa­tionen, die man nicht veröffentlichen möchte. In Rio hat die Untersuchungs­kommission über Kinderprostitution ihre Arbeit ein­fach abgebrochen. Niemand weiß genau warum; es gibt verschiedene Interessengruppen. Innerhalb eines Jahres sind in einem Stadtteil von Rio 28 Mäd­chen zwischen 8 und 12 Jahren ver­schwunden. Dazu gibt es keine weiteren Untersuchungen. Die Polizei weiß nichts, da keine Lei­chen gefunden wurden. So gibt es viele Spekulationen über Organ­handel etc., was aber zu nichts führt. Wichtig wären genaue Untersuchungen.
Eine solche Untersuchung über Kinder­prostitution müßte mit Vorsicht gemacht werden. Erstens darf nicht registriert wer­den, wann und wohin Frauen reisen. Sonst bekommt jede schwarze Frau, die zum Flughafen kommt, Probleme mit einem Visum etc.. Viele Jugendliche bitten, keine Infor­mationen zu veröffentlichen, weil ihre Familien nicht wissen, was sie in Rio tun. Drittens müßte untersucht wer­den, welche Männer Kunden und welche Händler sind. Letztere sind Männer, die Familie und Kinder zu Hause haben und in Brasilien oder in den Philippinen sechsjährige Mädchen sexuell ausbeuten.
Heutzutage gibt es auch deutsche Frauen, die als Sextouristinnen nach Brasilien rei­sen. Frauen vergewaltigen nicht, aber sie beuten auf eine andere Weise die Jungen aus. Nicht nur Sextourismus, sondern auch der Handel wird mittlerweile von Frauen, besonders deutschen, betrieben.
Sextourismus gibt es in Brasilien erst seit zehn Jahren, nachdem Thailand einen schlechten Ruf wegen Aids bekommen hat. Heute steht Brasilien an zweiter Stelle bei Menschenhandel und bei sexuellem Miß­brauch von Kindern durch Touristen.
Wenn es um Gewalt an Straßenkindern geht, wird bei uns hauptsächlich über die Situation der Jungen berichtet. Wie sieht die Repression bzw. Gewalt gegen Mäd­chen, die auf der Straße leben, aus?
In Rio ist die Situation anders als in Re­cife. Hier ist die Zahl der Mädchen, die auf der Straße sind höher als die der Jun­gen. In Rio de Janeiro gibt es mehr Stra­ßenjungen. Die Mädchen bleiben zu Hause, passen auf die Kleinen auf und machen den Haushalt. Die Jungen ge­hen auf die Straße. Im Nordosten ist es umge­kehrt. Die Jungen gehen aufs Feld und ar­beiten auf den Zuckerrohrplantagen und die Mädchen gehen auf die Straße und betteln.
Im Nordosten, speziell in Recife, ist die Gewalt gegen Kinder immer sehr groß gewesen. Die Mädchen in Recife verlet­zen sich selbst, um von der Polizei in Ruhe gelassen zu werden. Ich kannte ein Mädchen, das sich jedesmal, wenn sie einen Polizisten sah, eine Scherbe nahm und in den Arm schnitt. Sie verletzte sich, weil die Polizei sie dann ins Kran­kenhaus bringen mußte und erzählte:”Wenn nicht, wollen sie mit mir schlafen und ich möchte nicht.” Jetzt ist sie tot, sie wurde ermordet.
Ich habe einige Zeit in Recife bei SOS-Criança gearbeitet. Wir trafen viele Mäd­chen mit zerschnittenen Armen und Ge­sichtern. Sie verletzen sich überall, an den Beinen und Schenkeln, wegen der Repres­sion der Polizei.
In Rio de Janeiro ist es umgekehrt. Dort sind weniger Mädchen auf der Straße. Sie werden als schwach angesehen und anders be­handelt. Neuerdings hat sich dies geän­dert, und die Gewalt richtet sich auch spe­ziell gegen Mädchen. Die Zahl der ange­griffenen und ermorde­ten Mädchen hat sich nach Angaben von CEAP erhöht. Heute sind bei einem Massaker auch die Leichen von Mädchen zu finden.
Wie sieht es aus mit der strukturellen Gewalt gegenüber schwarzen Frauen?
Es gibt noch eine andere Form von Ge­walt, die sich gegen schwarze Frauen richtet, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind. Zwar gibt es die “Delegacia de Mulheres”, das Polizeirevier für Frauen, aber es ist nur zuständig, wenn Frauen jemanden anzeigen wollen, nicht aber für Frauen, die straffällig wurden. Diese Frauen kommen auf die normalen Polizeireviere, wo sie mehr leiden als die Männer. Dort wer­den die Schwarzen dis­kriminiert, und die Gewalt dort bedeutet Folter. Je jünger die Frauen sind, desto mehr werden sie benutzt, gedemütigt und gefoltert.
Die Regierung behauptet, es gäbe keine institutionalisierte Gewalt, aber es gibt sie.
Was mich wirklich bekümmert, ist, was alles als selbstverständlich angesehen wird. Die Leute wollen nicht mehr belä­stigt werden, sie denken, wenn jemand Probleme hat ist es seine eigene Schuld.
Eine Bekannte hat über eine 13jährige Prostituierte erzählt: “Ich kenne sie schon seit sie fünf Jahre alt ist und da war sie schon Prostituierte, sie war immer so. Es gefällt ihr, Prostituierte zu sein. Sie ging nicht zur Schule, weil sie nicht wollte. Sie war schon immer eine Rebellin.” Also ist es ihre eigene Schuld? Bis sie tot aufge­funden wird? Ist das etwa ein Ziel, das sie sich ausgesucht hat?
Dazu kommt der Diskurs über Sterilisa­tion. Es heißt sehr schnell: Warum wurde diese Frau nicht sterilisiert? Eine Frau mit so vielen Kindern muß sterilisiert werden. Die Schuld liegt immer bei der Frau. Der schwarzen brasilia­nischen Frau wird die Schuld an der Armut Brasiliens zuge­schrieben. Wir versuchen zu erklären, daß das nicht stimmt. In den letzten zwan­zig Jahren wurde Brasilien immer ärmer, ob­wohl die Geburtenrate ge­sunken ist. Frü­her hatten die Frauen 10, 12, 20 Kinder, heute haben sie nur zwei Kinder. Wir wollen erreichen, daß sich die schwarzen Frauen nicht auch noch schuldig fühlen für die Armut.

Schwarze Tränen des Bolero, ay!

Die langgezogenen Sirenen der Schiffe im Hafen hören sich an wie klagende Trompeten. Die Avenida del Puerto ist wie die Staffage eines film noir , düster und verlassen. Havanna erliegt der unge­wissen Nacht: vereinzelte Rad­fahrer ohne Licht (der Dynamo zehrt Kräfte), schnaufende Busse bulgarischen Fabrikats kommen neben dem Hotel Bruzón zum Sterben, das Neonlicht eines Tangolokals blinkt grün und rot, jineteras, die Touristenliebchen, begeben sich auf den Weg zur Marina Heming­way (“Ay, la culebra!”) oder in ihr Wohnviertel (La Víbora). Havanna wirkt wie die Ruine einer Stadt, wie die verfallene Alt­stadt von Panama City nach der Invasion der yanquis, aber mit mehr Schwüle und Schwermut. Havanna wirkt wie der Nachhall einer seuf­zenden Trompete, wie der letzte Schluck Rum oder Kaf­fee, pura ago­nía, während zu vorgerückter Stunde in den luftge­kühlten Bunkern der Stadt die Machete geschliffen wird (Raúl Ca­stro) – und die Fe­der: Roberto Fernández Retamar, stets in seinem aus der Mode ge­kommenen Anzug und zu kurz gebundener Krawatte (out ist in), be­schwört José Martí und die Zeit der Mambises. Aber die Sierra Mae­stra bringt keine Helden und große Taten mehr hervor, sondern San­tería, Bauern­markt und Boleros: Oriente, ay, yo me voy a morir… (Cheo Mar­quetti). Vorbei sind die Zeiten, als der Troubadour Sindo Garay die Bucht von Santiago de Cuba durchschwamm, um den aufstän­dischen Truppen Maceos als Bote zu dienen: Sindo Garay schüttelte die Hand von Martí und Fidel (so zu lesen bei Carmela de León/Letras Cuba­nas) und komponierte eine eigene Bayamesa. Natür­lich hinterließ Sindo Garay, coño, nicht nur Lieder, sondern auch im Alter noch zerbrochene Herzen und einige Kinder. Geblieben sind Oriente (immer wieder Oriente, aber immer anders) und die lágrimas ne­gras, die schwarzen Tränen von Matamoros: ewi­ger Seufzer des Son und der Salsa, von Matamoros, wie gesagt, er­dichtet, später inter­pretiert von Abe­lardo Barroso, Henry Fiol (der die Stimme Barrosos in Spa­nish Harlem wiederentdeckt) oder Roberto Torres. Die schwar­zen Tränen beweinen die Selbstverloren­heit nach der Be­gegnung mit der Femme fatale oder der idealen Frau, sie erzählen vom Leiden nach der Trennung, sie sind schwarz vor Kummer, vor Haß und vor Ver­zweif­lung. Die schwarzen Tränen vermischen sich mit li­cor, dem Balsam der Verlassenen, und der Un­glückliche lehnt an der Bar, voller Schmerz, im Zwiegespräch mit dem Wirt: Tabernero, sag mir, coño, was von beidem ist grausamer – der unheilvolle Schnaps oder die Unehr­lichkeit der Frau? Das ist die Lektüre des Le­bens auf “Macho” (etwa so, wie man Cortázars Le­bensbuch Rayuela lesen muß). Die schwarzen Tränen gehorchen der Logik des caballero und verach­ten das Weib, die hembra (der not­wendige Gegenpart zum Macho), aber zugleich lieben sie die Frau: Te odio, sin embargo te quiero. Schwarze Tränen sind ambivalent. Sie sind das männliche Stoff­wech­sel­produkt von Verlangen und Re­signation, von Todestrieb, feu­riger Leidenschaft und Wimmern nach Geborgenheit, vielleicht auch die Trauer um eine nicht geglückte Sado-Maso-Kiste oder, wie Sozial­wissenschaftler sagen würden, eine nicht symme­trisch gestal­tete Beziehung. So gesehen ist auch die Losung Fidels, “Sozia­lis­mus oder Tod”, eigent­lich ein Bolero mit pechschwarzen Tränen, aber mit dem Beiklang eines Kriegs- oder Notrufes und den entspre­chenden In­strumenten. Kuba, so scheint es Fidel, verkommt zur Hure, durch den Einfluß Miamis, westlicher pluriporquerías (Fidels Be­zeichnung für “Mehrparteiensystem”) und Oppositioneller im eige­nen Land. Doch schwarze Tränen gibt es in Kuba überall, denn fast je­der fühlt sich betrogen: die naiven Tou­risten von den ausge­fuchsten jineteras (“Ay, la culebra!”), die Parteimitglieder von den eigenen Losun­gen, die Gesellschaft vom Staat, die dialog­bereite gemä­ßigte Oppo­sition von Robertico Ro­baina, der die Ge­spräche seit Ma­drid nicht mehr fortgeführt hat, und Fidel, ay, von dieser Mulat­tin, die in die Hoheits­gewässer des Feindes abzudrif­ten droht. Sindo Garay hatte bei seinen Frauen noch die Oberhand, auch im Al­ter, wie ge­sagt, aber das ist hundert Jahre her. Fidel schützt sich vor Be­trug oder Emanzipation mit seinen traditionel­len Insi­gnien: Sierra-Maestra-Bart, Kampfanzug (ebenso sympathisch wie der Anzug von Retamar) und schußsichere Weste. Aber während die alten Bole­ros die Geliebte durch Text und Musik oder durch Schmalz und Un­terwürfigkeit erneut gewinnen wol­len, versucht es Fidel mit einer Drohung. Fidel nimmt in seiner Losung Socialismo o muerte nur das tragisch-dramatische Element des Bolero auf. Der Bolero dage­gen besingt trotz aller erlittenen Schmach und aller schwarzer Tränen ein starkes Gefühl der Zunei­gung, das den Sänger mit der Geliebten verbindet, auch wenn diese schon längst ver­schwunden ist, denn darin liegt die Großmut und das feeling des Kava­liers. Barbarito Diez verwandelt Aurora, diesen populären Bo­lero, in einen Danzonete, und Celina González, die Muse des guate­que campesino, singt ihn als Son. Aurora ist die Geliebte/Mor­gen­röte, die uns immer einen Schritt voraus ist, ay.
Roman Rhode

Aurora Morgenröte

Ay Aurora, me has echado al abandono, Ach, Aurora, du hast mich
in die Verbannung geworfen,
Yo que tanto y tanto te he querido, Mich, der dich so sehr geliebt hat,
Con tu negra traición me has engañado, Mit deinem schwarzen Verrat hast du mich betrogen,
En el fondo del alma me has herido. Tief in meinem Herzen hast du mich
verwundet.

Has tratado de engañar el alma mía, Du hast versucht, mein Herz zu betrügen,
Castígala gran Dios con mano fiera, Gro゚er Gott, strafe sie mit eisener Hand,
Que sufra mucho pero que no muera, Sie soll viel leiden, doch sie soll nicht
sterben,
Ay Aurora, yo te quiero todavía. Ach, Aurora, ich liebe dich noch immer.

Von Bücherzügen und Lesestunden

“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italieni­scher Maler des 16. Jahrhunderts außer­halb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des ge­schriebenen Wortes und der schönen Kün­ste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ur­sprung in der königlichen Bibliothek Por­tugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napo­leons Truppen in die portugiesische Kolo­nie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der dies­jährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Mög­lichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskam­pagnen (in Brasilien können etwa 19 Pro­zent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millio­nen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Ge­schriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gele­senen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übri­gens genauso hoch geschätzt, in Deutsch­land gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasi­lien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neu­stes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den ge­druckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanz­kräftigen Reeder oder eben einen Unter­nehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind will­kommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Er­folg. Die Unternehmer haben längst mit­gekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verste­hen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden frei­lich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Er­zählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den Arbei­terInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buch­feindlich verschrienen Medium Fernse­hen. Längst jedoch haben die Lesefach­leute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Geg­nerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deut­scher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeich­neten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammen­setzen.

Haiti geballt

The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Be­richten, Dokumenten, ver­traulichen Memos, Nieder­schriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilde­rung der Ausgangslage, die Ak­teure und die Krise nach dem Militär­putsch im Sep­tember 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag auf­zunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tum­melplatz von Kolo­ni­al­mäch­ten und den strategischen Interessen der USA. Die Be­völkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialge­schichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revo­lution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familien­clans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und na­tür­lich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem un­gewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im Sep­tember 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch ge­schickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hinter­trie­ben. Da­bei stießen sie sogar in höchste Regie­rungskreise vor. Ron Brown, Handelsmi­nister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Wa­shing­ton. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juri­sten, die mit vertraulichen Memos und so­genannten Hintergrund­in­formationen Ein­fluß auf die US-Administration und Kon­greßabge­ord­ne­te nehmen. Detailliert und substantiell wer­fen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbei­tenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Struk­tu­ren und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitiani­sche Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine fe­ste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die be­rüchtigten Attachés waren ihre Scher­gen, die sie durch ein ausgeklügeltes Sy­stem von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Com­mittee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit mili­tärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen be­rüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Pri­vatarmee der Duvaliers, waren den Mili­tärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevöl­kerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindun­gen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitiani­sche Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozial­produkts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Ver­wandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die Heraus­geber­Innen dem Phänomen der Exil­haitianerInnen nicht einmal zehn Sei­ten wid­men. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwi­schen den unterschiedlichen Strömun­gen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volks­bewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. La­valas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsiden­tenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Ar­tikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zer­strittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die Akteur­Innen schließt mit Ari­stide selbst. Die Heraus­geberInnen haben sich für die Übernahme eines im Re­portagestil gehaltenen Portraits ent­schieden – eine glückliche Wahl. Das Cha­risma und die Ausstrah­lung des Sa­le­si­a­ner­prie­sters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Mes­sias scheint er über allem zu schweben. Seine Stel­lung als Antipode zur Amtskir­che wird jedoch nicht the­matisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifel­haften Aktivitäten der Amtskirche wäh­rend der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerun­det.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzwei­felten Versuche von Aristide, dem New­comer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unter­zugehen, das sind die permanenten Versu­che des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psycho­pathen zu diffamieren. Der Block über die Metho­den, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber geglie­dert. Insbesondere der Beitrag des US-Journali­sten John Canham-Clyne verdeut­licht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichts­er­klä­rungen zu Freiheit und Demokratie ent­fernt waren.
Die wirtschaftlichen In­teressen der USA, das Zu­sammenspiel zwischen US-ameri­kanischer Wirt­schaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part un­ter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerz­lich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänder­lich gestellt scheinen. Optimi­stInnen re­deten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedan­ken; Haiti ist zwar Billig­lohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibi­sche Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemi­sphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situa­tion während der Militär­diktatur nicht unmit­telbar einsichtig erscheint, er­schließt sich den LeserIn­nen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfron­tiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertre­ter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Poli­zeichef von Port-au-Prince, Michel Fran­çois, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indi­rekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Ein­heit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Men­schenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechts­situation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommier­ter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschen­rechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach po­litischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als ga­rantiert oder als verletzt betrachtet wur­den.
Ein Sammelband ist ein Sam­melband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsi­denten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegan­gen sind – einige Eckdaten aus der Ge­schichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundin­formationen über die politische Entwik­klungen der letzten Jahre hat der Sammel­band eine schmerzliche Lücke geschlos­sen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den Le­serInnen darüber die Querver­bindungen zwischen den Beiträgen er­schlossen hät­ten.
Die Haiti Files: 33 AutorIn­nen, 33 Bei­träge, 33 Ansichten, Haiti geballt – we­ni­ger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich an­gesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer ent­schieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu brin­gen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bü­cher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch ein­fallsreiche Titel­montagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Au­tor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte ge­genüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Bu­ches hat sein Äußeres offenbar nicht ge­schadet. Nach Verlagsan­gabe geht der Sam­melband sehr gut.

The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bu­reau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM

Mehr als eine Liebesgeschichte

“Von der Liebe und anderen Dämonen”, so der Titel des neuesten Romans vom kolumbianischen Vorzeigeschriftsteller. In seiner unverwechselbar bildreichen Spra­che, in der Lebensfreude und Schwermut untrennbar miteinander verwoben sind, erzählt García Márquez die Geschichte der zwölfjährigen Sierva María de Todos los Angeles, die im Haus ihrer Eltern, dem Marqués de Casalduero und dessen Frau Bernarda Cabrera als eine Fremde heran­wächst.
Von ihrem Vater vernachlässigt, von ihrer Mutter gehaßt, wächst sie unter den Skla­ven des Hauses auf, deren Sprache und Religion sie verinnerlicht.
Das Unglück beginnt, als Sierva María an ihrem zwölften Geburtstag von einem tollwütigen Hund gebissen wird. Ihr Va­ter, der daraufhin seine Zuneigung zu ihr entdeckt, unterwirft sie in panischer Angst, seine Tochter könne erkranken, den qualvollen Behandlungen sämtlicher Wunderheiler und Quacksalber von Car­tagena.
Als Sierva María sich verzweifelt wehrt, beginnt sich plötzlich der Bischof der Diözese für sie zu interessieren: hinter dem kratzbürstigen Widerstand des Kin­des glaubt er, das Wirken Satans zu erken­nen. Deshalb drängt er den Marqués, seine Tochter zur Beobachtung in das nahegele­gene Kloster der Klarissinnen zu geben, was dieser schweren Herzens auch tut.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als der mit den Exorzismen betraute Pater Cayetano Delaura sich in das Kind ver­liebt, woraufhin er in eine schwere Glau­benskrise stürzt.
In dieser “zauberhaften Geschichte über irdische, himmlische und geistige Leiden­schaften”, so der Klappentext, ist García Márquez, nach seinem etwas schwerfälli­gen Roman über den lateinamerikanischen Befreier Simon Bolívar, nun wieder zu dem zurückgekehrt, worauf er sich am be­sten versteht: phantastische Bilder, wie aus einem vergangenen Traum, werden zu lateinamerikanischen Realitäten verdich­tet. So ist es vielleicht kein Zufall, daß auch der Ort der Handlung derselbe ist wie in García Márquez’ großem Erfolgs­roman “Die Liebe in den Zeiten der Cho­lera”.
Der Roman ist freilich mehr, als nur die Geschichte einer unmöglichen Liebe. An­hand dieser und um sie herum zeichnet Márquez ein Bild der eigentlichen und ungleich verheerenderen Dämonen, die Lateinamerika seit dessen gewaltsamer Christianisierung vor fünfhundert Jahren heimsuchen.
Aberglaube, Unterwürfigkeit, innerkirch­liche Machtkämpfe und eine entartete Re­ligiosität zur Zeit der spanischen Inquisi­tion erheben allüberall ihr Haupt und es ist förmlich zu spüren, wie sich die Hoff­nungslosigkeit gleich einem dieser “apo­kalyptischen Tropenstürme” unauf­haltsam heranschiebt.
Mit journalistischem Scharfsinn fängt García Márquez Stimmungen ein und hält das Tempo in seinem Roman, der nie schleppend wirkt. Und das paßt dann auch zu den Worten, die er seiner Geschichte vorausschickt und in denen er den wahren Ursprung seines Berichtes be­hauptet. Er gebe doch nur eine Legende wieder, die in den Dörfern der kolumbia­nischen Karibik seit Jahrhunderten exi­stiere.
Andererseits wirkt die Erzählung biswei­len übereilt, ja sogar gehetzt, als ob der Autor sich selbst vor den Dämonen, die er beschwört, nicht sicher fühle und sich zum Ende des Romans hinflüchte.
So bleibt beim Leser der Eindruck, eben erst den Entwurf eines großen und le­senswerten Romans kennengelernt zu ha­ben.

Gabriel Garcia Marquez, Von der Liebe und anderen Dämonen, Kiepenheuer & Witsch, 224 S. 38 DM, ISBN 34620236-08

Easy-living auf Jamaica

Der schöne Mann
Im ersten Krimi schildert Zahl den Zu­sammenhang von Gewalt und Politik auf der Karibikinsel. Der “schöne Mann”, der tot an einem Strand gefunden wird, ist James DoubletroubleFehler: Referenz nicht gefundenGunmenFehler: Referenz nicht gefundenRuffneckFehler: Referenz nicht gefundeni­nes Freundes Prento, seiner Gelieb­ten Valerie und seiner Sekretä­rin Donna nur wenig Mühe, den Fall zu lösen.
Nichts wie weg
Der Aufhänger für den zweiten Krimi ist der Sextourismus. Fraser erhält den lukra­tiven Auftrag, die reiche Erbin Mrs. Dex­ter aufzuspüren. Die hatte sich nach ihrer Ankunft auf Ja­maica einen Rent-a-dreadFehler: Referenz nicht gefunden ein paar Tagen zur illegalen Arbeit in die USA ge­fahren ist, hat Fraser “dicke Eier”. Für Fraser ganz unerwar­tet – sie ist doch schon lange scharf auf ihn – hält Donna ihn noch ei­nige Tage hin, seine Qual kennt kaum noch Grenzen. Donna wartet allerdings nur auf ihre fruchtbaren Tage, sie kann sich nichts schöneres vorstel­len, als von Fraser geschwän­gert zu werden. Natürlich erle­digt Fraser auch diese Aufgabe mit Bravour!
Sex and Crime
Hatte man beim ersten Buch noch das Ge­fühl, daß es sich tatsächlich um einen Krimi han­delte, ist der plot im zweiten Buch völlig untergeordnet. Zweifelsohne, Peter-Paul Zahl kann gut und witzig schreiben, doch er vergißt – vor allem beim zweiten Buch -, die eigent­lichen Ge­schichten zu entwic­keln. Wer einen guten Krimi er­wartet, wird enttäuscht. Fra­sers Fälle sind nur Beiwerk, im Mittelpunkt steht sein “easy-living” Dennoch wird Zahl sei_nem Anspruch, “eine Sitten_schilderung von unten zu brin_gen, die Ge_sellschaft in ihren Strukturen zu zeigen” durchaus gerecht – auch wenn die sozial_kritischen Abschnitte manchmal etwas aufgesetzt wirken. Nervig ist allerdings – Vor allem im zweiten Buch, die Dauer­geilheit (fast) aller Personen. Wo die ero­tischen Szenen vielleicht Sinnlichkeit und Spaß am Sex beschreiben sollen, wirken sie eher wie der Versuch, die Vor­lieben einhändiger Leser zu be­friedigen.
Peter-Paul Traven?
Unverständlich ist auch der bei jeder Ge­legenheit von Peter-Paul Zahl geäuerte Anspruch, mit seinem Krimizyklus ein “jamaicanischer B. Traven” wer­den zu wollen. Ist es Eitelkeit oder PR-Strategie, daß er selbst die­sen Anspruch im Voraus und öf­fentlich erhebt?
B. Traven war das – gut gehü­tete – Pseudonym des Anarchi­sten Ret Marut, der nach der Nie­derschlagung der Münchner Räterepublik 1919 aus Deutsch­land floh und nach vielen Jah­ren in Mexiko landete, wo der Großteil seiner Romane und Er­zählungen spielt. (Insbesondere der sechsbändige Chiapas-Zyklus hat durch den Aufstand der Za­patistInnen neue Aktualität ge­wonnen.)
Dabei gibt es durchaus Parallelen zwischen Ret Ma­rut/B. Traven und Peter-Paul Zahl. Ret Marut konnte sich einem Hin­richtungskommando der Freikorps nur durch Flucht entziehen. Zahl verließ Deutschland nach einem langen Knastauf­enthalt. Beide sind Anarchisten und in ih­ren Büchern ist beiden die Sympathie für Paul Lafargues Forderung nach einem “Recht auf Faulheit” anzumerken.
Es bleibt zu hoffen, daß Peter-Paul Zahl seinem Privatdetektiv Fraser einmal die Chance gibt, einen spannenden Kriminalfall zu lö­sen. Der nächste Krimi er­scheint im Frühjahr 1995, Thema ist Anbau und Ex­port von Ganja (Marihuana).

Peter-Paul Zahl: Der schöne Mann u. Nichts wie weg, jeweils 24,80 DM, Berlin 1994, Verlag Das Neue Berlin, ISBN 3-359-00746-8

“Europa gehört mit seiner Asylpolitik auf die Anklagebank”

Das “Ständige Tribunal der Völker” wurde von dem italienischen Senator und un­dogmatischen Sozialisten Lelio Basso ge­gründet und versteht sich als Nachfolge­organisation der Bertrand-Russell-Tribu­nale. In Form einer symbolischen Ge­richtsverhandlung bieten die Basso-Tribu­nale den Opfern von Menschenrechtsver­letzungen ein quasi-juristisches Forum, bei dem konkrete Fälle von Verstößen ge­gen (inter)nationale Rechtsnormen unter­sucht und die damit verbundenen politi­schen Zusammenhänge analysiert werden. In der Bundesrepublik wurde das Basso-Tribunal vor allem durch seine Verhand­lung zur Politik von IWF und Weltbank bekannt, die 1988 parallel zur IWF- und Weltbanktagung in Berlin stattfand.
Die Vorgeschichte
Die Idee eines Tribunals zum europäi­schen Asylrecht entstand im Juni 1993 auf einem Seminar verschiedener Berliner Flüchtlings- und Antirassismusgruppen, in dem es um die Weiterarbeit nach der Grundgesetzänderung beim Asylrecht ging. Schnell war klar, daß sich ein sol­ches Tribunal nicht nur mit der bundesre­publikanischen Asylpolitik beschäftigen sollte, sondern daß die Einschränkung des Artikels 16 GG in Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Abschottungspolitik analysiert werden muß. Nachdem sich die Basso-Stiftung bereit erklärt hatte, die of­fizielle Trägerschaft des Tribunals zu übernehmen, gründeten die Mitglieder verschiedener Berliner Asyl- und Antiras­sismusgruppen einen Vorbereitungskreis, der die organisatorischen Vorarbeiten für die fünftägige Veranstaltung übernahm. Inzwischen wird das Tribunal von einem breiten Bündnis bundesrepublikanischer und europäischer Gruppen und Organisa­tionen unterstützt. Da trotz der breiten Unterstützung nach wie vor rund 50.000 DM zur Finanzierung des Tribunals feh­len, ist der Vorbereitungskreis dringend auf weitere Spenden angewiesen.
Das Tribunal
Im ersten Teil der öffentlichen Verhand­lung des Tribunals werden die verschie­denen Problemfelder der Asylrechtspraxis der europäischen Staaten, wie zum Bei­spiel Einreisehindernisse, Abschiebung, Anerkennungspraxis, “Rück­führungs­ab­kom­men”, Lebensbedin­gungen während des Verfahrens, Flugha­fenregelung, Kon­zept der “verfolgungsfreien Länder” und der “sicheren Drittstaaten” oder die po­lizeili­che Behandlung von Asylsuchenden un­tersucht. Neben Berichten zur allgemeinen Situation von Flüchtlingen in diesen Län­dern, werden im Zuge der Beweiserhe­bung exemplarische Fall­bei­spiele aus den genannten Staaten vor­ge­stellt und die be­troffenen Asylsuchenden zu ihren kon­kreten Problemen mit den zuständigen Stellen angehört. Obwohl die im Rahmen des Tribunals untersuchten Fälle längst nicht die gesamte Bandbreite der mit der europäischen Asylpolitik ver­bun­denen Probleme abdecken können, gibt ein Aus­zug aus der derzeit vor­liegenden Liste einen Eindruck von den Aus­wirkungen der Abschottungspolitik der europäischen Staaten: Neben Flücht­lings­schicksalen aus dem Iran, Senegal, Rumänien, Kurdistan und Haiti ist da der Fall eines Flüchtlings aus Zaire, der nach der Ablehnung seines Asylantrags (in der Schweiz) abgeschoben und in seinem Hei­mat­land gefoltert wurde, oder der Fall eines peruanischen Flüchtlings, der von der spanischen Poli­zei mißhandelt wurde.
Im zweiten Teil des Tribunals wird der politische Kontext von Flucht und Ab­schottungspolitik analysiert. Hierbei ste­hen Fragen nach den Fluchtursachen ebenso auf dem Programm wie der Zu­sammenhang zwischen der Einschränkung des Asylrechts und des Abbaus von De­mokratie und sozialen Rechten oder die systematische Illegalisierung von Flücht­lingen.
Ausgehend von einer umfassenden Ana­lyse der Problematik von Flucht und Ab­schottungspolitik ist von dem abschlie­ßenden Urteilsspruch der Jury des Tribu­nals nicht nur eine moralische Bewertung der Asylpraxis der europäischen Staaten, sondern auch eine Reihe von Vorschlägen für eine humane Asylpolitik und die Wei­terentwicklung der Genfer Flüchtlings­konvention zu erwarten.
Johannes Zerger

Das Basso-Tribunal findet vom 8. bis 12.12.94 statt. Um das Gelingen des Tribu­nals sicher­zustellen, ist die Vorberei­tungs­gruppe dringend auf per­sonelle und fi­nan­zielle Unterstützung angewie­sen. Nä­here Informationen gibt es beim Se­kretariat des Basso-Tribunals, c/o AStA TU; Marchstr. 6, 10587 Berlin, Tel.: 314 24437. Steuerlich absetzbare Spenden werden erbe­ten auf das Konto der Antiras­sistischen Initia­tive: Bank für Sozialwirt­schaft (BLZ 100 205 00), Konto-Nr.: 303 96 05, Stichwort: Basso-Tribunal

Programm
Donnerstag, 8.12.:
I. Eröffnung, Anklage und rechtlicher Rahmen
1. Offizielle Begrüßung
2. Vorstellung der Hauptanklagepunkte
3. Allgemeiner Bericht über den aktuellen Stand des Flüchtlingsrechts
II. Länderbericht zur Beweiserhebung aus den europäischen Staaten BRD, Frankreich, Schweiz und Spanien mit An­hörung der ZeugInnen
Freitag, 9.12.
Länderberichte (Fortsetzung)
III. Expertenberichte zu Fluchtursachen und restriktiver Asylpolitik
1. Menschenrechtsverletzungen und Flucht (Vortrag und Befragung)
2. Ökonomische Fluchtursachen (Vortrag und Befragung)
Samstag, 10.12.
3. Restriktive Asylpolitik und Demokratie (Vortrag und Befragung)
4. Restriktive Asylpolitik und Abbau sozi­aler Rechte (Vortrag und Befragung)
IV. Plädoyer von Anklage und Verteidi­gung
Sonntag, 11.12.
V. Nichtöffentliche Ausarbeitung des Ur­teilsspruchs durch die Jury des Tribunals
– Politisches und kulturelles Rahmen­programm
Montag, 12.12.
VI. Verkündung des Urteilsspruchs der Jury des Tribunals und Pressekonferenz

Der Wutausbruch des Juan Tama

Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine ge­tötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesi­gen Erd- und Schlammassen zu einer töd­lichen Lawine, die das Flußtal herunter­donnerte. Im Gegensatz zu damals er­eignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtig­sten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 blei­ben vermißt, und weitere 18 000 Men­schen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Tempe­raturen zwischen fünf und zehn Grad hau­sen hier 2000 Menschen in teils gespen­deten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Mos­coco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikpla­nen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Mo­ment reißen kann. Rotbraune Narben ver­unstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Gue­rilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco be­richtet, dort hätten Soldaten einen Ge­sundheitsposten demoliert und nach Waf­fen durchsucht. Die Lebensmittelvertei­lung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwi­schen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes so­wie den Führern der hier vertretenen Dorfgemein­schaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler In­dianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Stra­ßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ih­rer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zu­sammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine we­niger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privat­besitzern abkaufen, zu denen auch Dro­genhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebener­werbsquellen vieler Bauern dar. Die Na­turkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in die­sem Jahr wieder verstärkt angelegt wor­den waren. Die desolate ökonomische Si­tuation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwen­dige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Ab­kommen über die Ersetzung des Mohnan­baus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungs­zentrum in Tóez gehörte zu diesem Pro­gramm. Der Substitutionspro­zeß war je­doch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regie­rung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist um­stritten. Fest steht, daß WissenschaftlerIn­nen bereits 1986 eine Landkarte der Re­gion mit den jetzt verwüsteten Risikoge­bieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziem­lich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwort­lichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettanti­sche Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Me­dien waren denen der Regierung weit vor­aus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wie­deraufbau erst einklagen. Der von der Re­gierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region wi­derspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterIn­nen regierungs­naher Positionen die Mehr­heit. Dazu gehört auch der Bogotaner Ar­chäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit sei­nen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Haupt­attraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Erne­sto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitge­nommen zu haben, ohne die vorgeschrie­benen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. An­dere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Wei­ßen aus dem Gleichgewicht gebracht wor­den sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Wider­stand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und be­hauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzu­bringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Da­neben gibt es Parteipolitiker, Kirchen­obere und VertreterInnen der anderen eth­nischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierra­dentro stellt zweifellos einen Fort­schritt gegenüber der Bewältigung des Vul­kanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wil­ches: “Die Krise ist eine Zeit der Ge­fahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Me­stizen und Indianern.” In den kom­menden Monaten wird sich zeigen, ob die Kom­mission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederauf­baus.

“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit An­tonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizeprä­sidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängig­keit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Gue­rilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinan­dergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmäh­lich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflan­zen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianer­führer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht ein­verstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wie­deraufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission ka­nalisiert werden. Der CRIC hat dies be­reits auf seiner letzten Sitzung beschlos­sen.

Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg

Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.

Joint Implementation

Auch wenn das Vertragswerk eine müh­sam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten ver­pflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabi­lisieren, das einen gefährlichen, men­schenverursachten Eingriff in das Klima­system verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstem­peratur darf nur in einem Umfang erfol­gen, in dem die Ökosysteme und die glo­bale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu überneh­men.
* Die Industrieländer müs­sen auf jährlich stattfindenden Konferen­zen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderun­gen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie näm­lich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwen­dige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaaten­konferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den inter­nationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Re­duktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskus­sion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vorder­grund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomi­sches Kalkül: Da Treibhausgase unabhän­gig von ihrem Emissionsort, also nicht re­gional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treib­hausgas-Reduktionen durchgeführt wer­den. Deshalb kann, zumindest aus techni­scher Sicht, mit den billigsten Redukti­onsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Re­duktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuro­pas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wär­menutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationslän­dern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Indu­strie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungslän­der auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umwelt­politische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöf­fentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökono­mischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Ener­gie/CO2-Steuer einführen, so steht die In­dustrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwick­lungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Auf­forstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced im­pact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Re­publik Tschechien und die Reperatur un­dichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches In­strument zur Bekämpfung des Treibhaus­effektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderi­schen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Im­plementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Ent­stehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Im­plementation zudem die erwünschte Len­kungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Indu­strieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglich­keit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwor­tet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Pro­jektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit ei­nem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran ha­ben, von einem möglichst hohen Emissi­onsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen ent­stehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Um­fang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den In­dustrieländern als ökologisch nicht tragfä­hig erwiesen. Dezentrale Formen der En­ergieversorgung wie Kraftwärmekopp­lung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsinten­sive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technolo­gietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malay­sia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwick­lungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonia­lism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwick­lungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die In­dustrieländer jedoch einen mächtigen He­bel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation wer­den durchsetzen können.

“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Jenseits des Staates?

Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der latein­amerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradig­mas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der na­tionalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Frei­räume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Um­bauprozeß der achtziger Jahre noch stär­ker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war tra­ditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerf­bar, sondern lobenswert, weil freiheits­stiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, be­stehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoff­nung, Erwartungen, Rechte und Ansprü­che auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, indivi­duell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wett­bewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privati­sierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogen­banden, Glücksspielkartellen und Todes­schwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesell­schaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bil­dungs- und Gesundheitssystem zuneh­mend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Ver­mittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funk­tionieren.” Vor allem aber wirken sie sy­stemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und er­schweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor an­hand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisatio­nen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Frei­räume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleich­zeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nicht­regierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisatio­nen die NGOs insbesondere zur Finanzie­rung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als posi­tiv: mit der Macht des Geldes korrum­pierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz La­teinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppo­sitionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also ten­denziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom er­leben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbrei­tete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokra­tisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hil­femarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfah­rung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive unter­sucht Lothar Witte den Privatisierungs­prozeß der letzten Jahre: Anhand der Re­form der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deut­lich, daß die Ausformung der notwendi­gen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privat­kapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der ein­kommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Ver­dienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automa­tisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und wider­sprüchlichen Autonomieprozeß an der ni­caraguanischen Atlantikküste nach. Histo­risch von der Zentralregierung in Mana­gua kaum beachtet, begann erst die sandi­nistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher In­stitutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffne­ten Widerstand gegen die Revolutionsre­gierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Auto­nomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politi­schen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die At­lantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs be­schließt eine – bereits in den Lateiname­rika Nachrichten Nr. 241/242 vorabge­druckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzei­tigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Ge­sprächen mit FreundInnen und Familien­mitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu ei­nem wichtigen Bezugspunkt ihrer All­tagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreli­gion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklori­sierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Er­freulicherweise werden nicht nur die ne­gativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rück­zug des Staates bietet. Dies hätte aller­dings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Wider­stand entgegenzusetzen. Auf sie wird al­lerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewe­gungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in je­dem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Gua­temala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen er­wartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Ge­winn lesen.

Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Sei­ten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7

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