Die Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Die westlichen DurchschnittskonsumentInnen verlangen immer häufiger nach “Öko-Qualität”. Man reagiert zunächst vor allem mit Etiketten – Ecolabeling. Auch in den großen Supermärkten wird immer mehr “biologisch Abbaubares” und “ökologisch Angebautes” angeboten. Selbst die Automobilunternehmen bieten “grüne” Fahrzeuge an oder den Öko-Golf. Schließlich glänzt die deutsche Chemieindustrie momentan mit ganzseitigen Anzeigen in Tageszeitungen, um den LeserInnen die “Nachhaltigkeit” ihrer Produktionsweise nahezubringen. Jenseits des vielfachen Etikettenschwindels ist jedoch tatsächlich etwas in Bewegung gekommen. Durch Produktnormen und gesetzliche Bestimmungen wie etwa die Gefahrstoffverordnung oder das Chemikaliengesetz, in neuester Zeit zudem durch die Etablierung eines Ökoaudits (interne Betriebskontrollen zur Erstellung von Ökobilanzen) werden die Produktionskreisläufe in Unternehmen stärker unter die Lupe genommen. Eine wachsende Zahl von Firmen geht inzwischen Selbstverpflichtungen ein und kann sich nach Umstellung ihrer Produktion berechtigte Hoffnungen auf wachsende Marktanteile machen. Unterstützt wird dieser Prozeß durch die Vergabepolitik öffentlicher Verwaltungen. Auf nationaler Ebene gibt es seit 1977 ein Umweltzeichen, das weitgehend unabhängigen, wissenschaftlichen Kriterien genügt. Auf internationaler Ebene strebt man eine einheitliche Produktnormierung an und die EU hat schließlich 1992 ebenfalls ein Umweltzeichen eingeführt. Die Anforderungen, die an europäische Produkte gestellt werden, sollen ebenso für außerhalb der EU erzeugte Waren Gültigkeit haben. Davon sind zum Beispiel auch Agrarprodukte aus lateinamerikanischen Ländern betroffen.
Rahmenbedingungen für Agrarexporte des Südens
Zwischen 1970 und 1992 ist der Anteil Lateinamerikas am Welthandel von 5,6 auf 3,3% zurückgegangen. Das internationale Handelsklima ist durch einen wachsenden Protektionismus des Nordens geprägt gewesen, der die Länder Lateinamerikas jährliche Exporteinnahmen von ca. 40 Mrd. US-Dollar gekostet hat. Dabei sind es vor allem die nichttarifären Handelshemmnisse, die dem Süden zu schaffen machen. Ende 1990 hatte der GATT 284 solcher Exportrestriktionen registriert, wovon allein 59 auf landwirtschaftliche Produkte entfielen. Gleichzeitig subventionieren die Industrieländer ihre Agrarproduktion mit jährlich ca. 300 Mrd. US-Dollar. Darüber hinaus leiden vor allem arbeitsintensive Branchen, die aufgrund niedriger Lohnkosten bestimmten Ländern überhaupt erst eine Wettbewerbschance einräumen, unter Handelsbeschränkungen. Dies trifft vor allem auf die Textilbranche zu. Der Verfall der Agrarpreise seit den 80er Jahren hat Lateinamerika wegen seiner hohen Abhängigkeit von diesen Exporterlösen, die zwei Drittel der Gesamterlöse ausmachen, schwer getroffen. Die FAO beziffert den Preisrückgang in den letzten Jahren auf 26%. Die Schuldenlast und die einseitige Ausrichtung auf den Export weniger Agrarprodukte hat viele Länder dazu gezwungen, die Produktion von Primärgütern noch zu verstärken. Dies führte jedoch zu einem Überangebot und beschleunigte damit den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte weiter. Der wachsende ökonomische Druck auf die Länder des Südens hat einer immer bedingungsloseren Ausbeutung von Rohstoffen und einem rücksichtsloseren Umgang mit Ressourcen weiter den Weg geebnet. Bisher stellt gerade die nahezu uneingeschränkte Umweltzerstörung einen komparativen Kostenvorteil der Länder des Südens dar. Der Berücksichtigung externer Kosten stehen mehr denn je die Sachzwänge des Weltmarktes entgegen. Gleichzeitig beginnt die auch für ihren Außenhandel relevanter werdende Umweltpolitik der Industrieländer, die Länder des Südens unter einen neuen Anpassungsdruck zu stellen. Ein wichtiges Instrument ist in diesem Zusammenhang die Vergabe von Gütesiegeln für Waren, die auch lateinamerikanische Exportproduzenten in Zukunft zwingen wird, Nachweis über ökologische Produktionsmethoden zu führen.
Ökologischere Holzprodukte aus Chile?
Chile ist eines der Länder, dem es – von vielen inzwischen gar als “Modellfall” gefeiert – gelungen ist, insbesondere durch die Diversifizierung seiner Agrarexporte ein erstaunliches Wachstum zu erzielen. Neben dem traditionellen Exportrohstoff Kupfer sorgen vor allem Holzwirtschaft und Fischerei für die hohen Exporterlöse. Die holzverarbeitende Industrie wird als eine der Branchen betrachtet, mit der Chile den Einstieg in die “zweite Phase der exportorientierten Industrialisierung” gelingen könnte.
Überwiegend auf ausgelaugten Flächen wurden, seit Mitte der 70er Jahre mit staatlicher Förderung Pinus radiata- und Eukalyptus-Plantagen angelegt. Die intensive Forstproduktion erfolgte überwiegend zur heimischen Zellstoffproduktion sowie zum Export von Holzchips. Weitere 10% des Holzverbrauchs werden durch die Waldnutzung gesichert. Auch hier macht die Holzchip-Produktion den größten Anteil aus, dazu kommt die Möbelproduktion sowohl für den heimischen als auch den nordamerikanischen und europäischen Markt. Ungefähr 80% der Wälder werden von der lokalen Bevölkerung zur Entnahme einzelner Bäume oder von Totholz als Brennholz genutzt. Die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung hat zu einer Besitzkonzentration in den Händen weniger Unternehmen geführt, während Kleinbesitzer zur Aufgabe gezwungen waren und in die Städte migrierten. Die größten ökologischen Probleme bereiten ebenfalls die Plantagen. Ihre Anlage findet zwar auf überwiegend ausgelaugten Böden statt, womit die Forstunternehmer gerne ihre Tätigkeit rechtfertigen. Tatsächlich wurde sogar der Einsatz von Herbiziden reduziert. Es gibt jedoch in Chile bisher keine systematische und effektive Kontrolle über die tatsächliche Bewirtschaftungsweise und die Ausdehnung der Plantagenbewirtschaftung auf geschützte Waldgebiete.
Gütesiegel für den Forstsektor gibt es bisher nur von einzelnen Privatunternehmen oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Seit November 1993 bearbeitet die EU einen Vorschlag für ein Gütesiegel für Papierprodukte, das u.a. den Nachweis erfordert, daß der Rohstoff Holz aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung stammt. Die internationale Tropenholzkampagne der Umweltorganisationen könnte sich mittelfristig negativ auf den chilenischen Holzexport auswirken, da Chile im Ausland häufig fälschlicherweise für ein tropisches Land gehalten wird. Angesichts zunehmender Produktanforderungen und der Tatsache, daß man kaum auf den europäischen Markt wird verzichten können, wird die bisherige Strategie einzelner Forstunternehmen, sich Märkte in weniger umweltsensiblen Ländern vor allem in Asien zu suchen, längerfristig kein erfolgreicher Weg sein. Ob sich die chilenischen Unternehmen schließlich auf eine ökologischere Produktionsweise einlassen, wird jedoch auch von der Einigung über ein neues Forstgesetz und der Einführung einer Landnutzungsplanung abhängen.
Zellstoff ist das zweitwichtigste Exportprodukt
Von noch größerer Bedeutung für Chile ist die Produktion von Zellstoff zur Papierherstellung. Diese ist inzwischen nach Kupfer zum zweitgrößten Exportprodukt Chiles geworden. 70% der Gesamtproduktion wird exportiert, wobei Europa der wichtigste Markt für gebleichten Zellstoff ist. Die ökologischen Anforderungen auf dem europäischen Markt sind in den letzten Jahren gewachsen, gerade in Deutschland wird z.B. immer weniger chlorgebleichter Zellstoff nachgefragt. Schließlich ist in den letzten Jahren auch die Möbelproduktion expandiert, auch wenn ihr Anteil an den Exporterlösen für Chile noch nicht besonders relevant ist. Sollen gerade in diesem Bereich einer arbeitsintensiveren Produktion auf höherer Wertschöpfungsstufe Fortschritte erzielt werden, wird man sich jedoch verstärkt mit Produktauflagen auseinandersetzen müssen. Bereits bestehende ökologische Auflagen in mehreren europäischen Ländern beziehen sich auf Grenzwerte für das krebserzeugende Formaldehyd und Pentachlorphenol, dazu kommen die hochgiftigen Stoffe Lindan, Arsen, DDT und Schwermetalle, die beispielsweise in Deutschland nicht Bestandteil von Holzprodukten sein dürfen. In absehbarer Zeit wird dies wohl für die gesamte EU gelten. Schließlich wirkt sich sogar die deutsche Verpackungsverordnung auf diesen Bereich aus, da sie die Verwertung von Verpackungsmaterial festlegt. Dies betrifft beispielsweise Holzpaletten, die als Sondermüll entsorgt werden müssen, wenn sie mit Holzschutzmitteln behandelt wurden. Bisher gehen die chilenischen Möbelexporte zwar überwiegend in die USA, wo noch keine so hohen Anforderungen gestellt werden. Aner Chile setzt auch hier auf Exportsteigerungen in Richtung Europa.
In Chile scheint in einigen der angesprochenen Branchen ein ökologisches Problembewußtsein vorhanden zu sein. Dies ist im wesentlichen durch die öffentliche Diskussion über die gerade durch die Exportproduktion verursachten Umweltschäden, insbesondere die Waldschäden, entstanden. Bei manchen Unternehmen scheint zudem die Einsicht zu wachsen, daß eine bedingungslose Ausbeutung heimischer Ressourcen auch ökonomisch kontraproduktiv sein kann. Gerade ressourcenabhängige und exportorientierte Unternehmen, die die Anforderungen der internationalen Märkte kennen, können es deshalb sein, die sich auf nationaler Ebene für eine Umstellung der Produktionsmethoden stark machen. Unverändert stark scheint dagegen nach wie vor die Animosität gegen staatliche Eingriffe und Kontrollinstanzen zu sein. Hier vertrauen auch die chilenischen Unternehmer, die externe Produktauflagen per EU-Verordnung hinzunehmen gezwungen sind, lieber auf den freien Markt.
Ökologischere Nelken aus Kolumbien?
Einer der dynamischsten Sektoren der kolumbianischen Agrarexportwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten die Blumenproduktion. 1992 exportierte Kolumbien Blumen im Wert von mehr als 342 Millionen US-Dollar. Damit entwickelte sich der Blumensektor zur viertwichtigsten Exportbranche nach Erdöl, Kaffee und Bananen. Für die Weltbank verbirgt sich dahinter “eine der größten Entwicklungs-Erfolgsstories der letzten zwei Dekaden”.
Die ökologische Situation der Blumenproduktion ist jedoch durch einen extremen Gebrauch von Pestiziden, durch die Belastung von Böden und Gewässern durch toxische Stoffe und eine zunehmende Luftverschmutzung gekennzeichnet. Dies wirkt sich auf die nahegelegenen Ortschaften aus. Die absehbare Erschöpfung der einst üppigen Grundwasservorkommen, die zur Bewässerung verwendet wurden, ist ein weiteres Problem. Dazu kommt die extreme Ausbeutung der Arbeitskräfte, ursprünglich armer Bauern, inzwischen überwiegend Frauen aus den Armenvierteln Bogotas. Arbeitsschutzbestimmungen werden, wenn überhaupt vorhanden, kaum eingehalten. Vergiftungen durch toxische Stoffe sind an der Tagesordnung.
85% der kolumbianischen Blumenproduktion gehen heute in die USA, 13% in die EU. Gerade hier wachsen die ökologischen Anforderungen. In Holland ist man dabei, eine sogenannte “ökologische Blume”, das heißt, Kriterien für eine nachhaltigere Blumenproduktion zu entwickeln. Sie beziehen sich z.B. auf die Verwendung von Pestiziden und Dünger oder einen rationellen Energieverbrauch bei der Produktion. Dies könnte in absehbarer Zeit in ein Öko-Label für Blumen in der Europäischen Union münden.
In Deutschland hat die Menschenrechtsorganisation FIAN die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Blumenindustrie öffentlich gemacht und soziale Nachhaltigkeit sowie die Einhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen eingefordert (vgl. den Artikel “Alles paletti? Gütesiegel für kolumbianische Blumen” in diesem Heft). Die unmenschlichen sozialen Bedingungen bei der Blumenproduktion in Kolumbien und Kenia kamen schließlich im Juli 1993 im Europäischen Parlament zur Sprache. Es forderte die Europäische Kommission auf, die Produktionsbedingungen zu überprüfen und gegebenenfalls ein Importverbot auszusprechen. Dagegen setzt die kolumbianische Regierung den Vorwurf des Protektionismus. Inzwischen versucht man jedoch von kolumbianischer Seite außerdem, durch die Veröffentlichung einer “weißen Liste” von Unternehmen, die bestimmte soziale und ökologische Mindeststandards einhalten, dem externen Druck durch ein europäisches Öko-Label zuvorzukommen. Bisher müssen die tatsächlich eingeleiteten Schritte zur Verbesserung der Arbeitssituation jedoch als unangemessen bezeichnet werden.
Neuer Protektionismus oder mehr Nachhaltigkeit
“Das europäische Label ist ein Flop”, so die Süddeutsche Zeitung am 29.9.1994, nachdem sich die Europäische Kommission aufgrund unbefriedigender Ergebnisse bei der Vergabe entschlossen hatte, das Umweltgütezeichen für Industrieprodukte nun zu privatisieren. Was nach der Brüsseler Verordnung von 1992 bis zum Schluß strittig blieb, sind die entsprechenden Vergabekriterien für industrielle Produkte. Oftmals richten sich diese auch innerhalb der EU vor allem nach den Interessen der jeweiligen heimischen Industrie. Dies sagt einiges über den tatsächlichen Stand der Entwicklung in Europa aus. Unfähigkeit, nationale Produktion ökologisch umzustellen, und Protektionismustendenzen untereinander herrschen noch bei denen vor, die im internationalen Handel verstärkt Ökostandards setzen wollen.
Sind überhaupt Fortschritte in Richtung nachhaltiger Produktion durch Öko-Etikettierung zu erzielen? Am chilenischen Beispiel ist erkennbar, daß die öffentliche Diskussion über die Zerstörung der heimischen Wälder, sowie die wachsenden internationalen Produktanforderungen, Unternehmen der Holzbranche dazu zwingen, sich in einen Politikprozeß zur Durchsetzung ihrer Kriterien bei der Entwicklung von Gütesiegeln zu begeben. Teilweise hat dies auch schon zur Umstellung von Produktionsmethoden geführt. Exportunternehmen, das zeigt auch das kolumbianische Beispiel, werden sich in Zukunft einem zunehmenden Anpassungsdruck nicht entziehen können, wenn sie nicht auf den europäischen Markt verzichten wollen. Die Frage, ob ökologische Produktanforderungen einen Hebel zur Durchsetzung eines ökologischen Strukturwandels im Exportbereich der lateinamerikanischen Länder darstellen können, ist zwar nicht von vorne herein zu verneinen. Man muß jedoch erkennen, daß dieser umweltpolitische Hebel gerade in einem sehr sensiblen ökonomischen Bereich ansetzt, der in extremer Weise konjunkturellen Weltmarktentwicklungen ausgesetzt ist. Der Spielraum für lateinamerikanische Exportunternehmen, innovativ auf die neuen Anforderungen zu reagieren, ist sehr gering. Oft fehlt es dafür bereits an Information oder know how. Zugleich mangelt es oftmals am politischen Willen nationaler Regierungen, über die Unterzeichnung internationaler Abkommen und die Festlegung gesetzgeberischer Normen hinaus, die nationale Umweltpolitik mit Leben zu erfüllen, die Einhaltung von Verordnungen zu kontrollieren und tatsächlich durchzusetzen. Dies ist nicht zuletzt entscheidend, wenn es darum geht festzustellen, wie weitreichend die Produktionsumstellungen infolge der ökologischen Produktanforderungen tatsächlich sind. Für die arbeitsintensiven Branchen besteht schließlich die Gefahr, daß der ökologische Anpassungsdruck zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Sicherung und der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten führen könnte. Der Begriff der “Nachhaltigkeit” beinhaltet jedoch neben der Zukunftssicherung kommender Generationen auch die Berücksichtigung sozialer Sicherung der heute Lebenden.
Inwieweit ist eine Agrarexportwirtschaft, die sich in erheblichem Maße auf Produkte konzentriert, die auch in Europa hergestellt werden können, überhaupt mit nachhaltigem Wirtschaften im globalen Maßstab vereinbar. Während in der EU subventionierte Nahrungsmittel vernichtet werden, erreichen nach langen Transportwegen Holz, Fisch, Blumen oder Früchte aus Lateinamerika den europäischen Verbraucher. Wie lange sich die vielgelobten, dynamischen Agroexportbranchen, die sich bisher vor allem durch die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und ihrer natürlichen Ressourcen ihre Nische im Weltmarkt sichern konnten, dort werden behaupten können, ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die am wenigsten jedoch von den Exportnationen selbst beeinflußt werden. Der Preisverfall traditioneller lateinamerikanischer Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao, Zucker oder Baumwolle in den 80er Jahren sollte Warnung genug sein, erneut zu sehr auf unbeständige Weltmarktkonjunkturen zu vertrauen. Wie nachhaltig negativ EU-Entscheidungen Dritt-Welt-Produktion betreffen können, haben kürzlich erst wieder zwei – in diesem Fall afrikanische – Länder betreffende Fälle gezeigt: Durch die in Kürze erfolgende Übernahme der in Großbritannien geltenden Schokoladen-Regelung in der EU wird es Herstellern erlaubt, die bisher zu verwendende Kakaobutter durch billige Pflanzenöle zu ersetzen. Dies bedeutet für die afrikanischen Kakaoproduzenten einen Einnahmeausfall von ca. 20%.
Im Senegal haben die meisten Landwirte den Anbau von Weizen und Reis aufgegeben, nachdem ihre Preise durch von Brüssel mit 6,4 Mrd. Mark jährlich subventioniertes Exportgetreide unter die Produktionskosten gedrückt worden waren. Dies sind die Rahmenbedingungen, die Schritte in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit verhindern. Der Beitrag, den eine Öko-Etikettierung zu einem ökologischen Umstrukturierungsprozeß leisten könnte, muß dagegen eher als bescheiden angesehen werden.
Die Verhandlungen laufen
Das Abkommen vom März (vgl. LN 239) über die allgemeine Einhaltung der Menschenrechte, die Auflösung der Todesschwadrone und illegalen Streitkräfte und die Einrichtung einer UNO-Mission in Guatemala waren nur ein brüchiges Fundament für weitere Verhandlungen. Bereits im Mai klagten verschiedene Sektoren der guatemaltekischen Gesellschaft Regierung und Militär an, die Bestimmungen nicht einzuhalten; neue Menschenrechtsverletzungen wurden bekannt, und die UNO-Mission ließ auf sich warten.
Nach jahrelangem Widerstand hatte sich die URNG im März der Forderung der Regierungsseite gebeugt, die Frage der Wiederansiedlung der Flüchtlinge aus den allgemeinen Friedensverhandlungen auszuklammern. Seit über zehn Jahren befinden sich hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko und im Landesinneren; zu ihnen gehören auch die Geheimen Widerstandsdörfer (CPR). Das Befürchtete trat ein: Die Armee war in den Verhandlungen im Frühjahr nicht bereit, irgendeine Verantwortung für die Repressionen zu übernehmen, die zu der riesigen Flüchtlingswelle geführt hatten. Sie erklärte den Verhandlungsbereich zu einem allgemeinen humanitären Problem, so daß nach ihrer Vorstellung nur praktische Fragen gelöst werden müßten, ohne die Ursachen zu thematisieren. Die Verhandlungen zur Wiederansiedlung waren vor allem durch folgende Streitfragen belastet:
1. Die Militärs waren nicht bereit, die Rückkehrenden einschließlich der BewohnerInnen der CPR (die von ihnen als politischer Arm der Guerilla betrachtet werden) als Zivilbevölkerung anzuerkennen.
2. Die Landbeschaffung für die retornos stand (und steht) vor großen Schwierigkeiten, weil das Land, von dem die Menschen 1981/82 vertrieben wurden, unter staatlicher Aufsicht neu besiedelt worden ist – durch sogenannte Modelldörfer und durch Militärstützpunkte.
3. Die Forderung der Flüchtlingsorganisationen, einzelne Personen als Zeugen der Vertreibung auftreten zu lassen, wurde seitens der Armee zurückgewiesen. “Verständlich”, denn die meisten der Verantwortlichen sitzen noch auf ihren Posten.
Zwei Abkommen im Juni
Aufgrund dieser Diskrepanzen kam es Anfang Juni zu einem kurzzeitigen Abbruch der Verhandlungen. Erstaunlicherweise wurde Mitte Juni in Oslo dennoch ein Abkommen zur Wiederansiedlung geschlossen. Es scheint aber so, daß die Regierungsseite großen Druck auf die URNG ausgeübt hat, um überhaupt irgendein Ergebnis vorweisen zu können, freilich um den Preis wirklicher Lösungen. Zum einen treten die Vereinbarungen erst nach Abschluß des Friedensvertrages in Kraft, der für Dezember dieses Jahres geplant ist, womit sich der Rückkehrprozeß unerträglich verzögert; zum anderen sind in dem Abkommen keinerlei Regelungen über eine Entmilitarisierung der Rückkehrgebiete getroffen worden. Dies ist aber eine der Hauptforderungen der Flüchtlinge und der URNG, zumal die letzten beiden Jahre gezeigt haben, daß die Militärpräsenz für die, die schon zurückgekehrt sind, eine reale Bedrohung bedeutet, von der psychischen Wirkung einmal abgesehen.
Wenige Tage nach dem Abkommen zur Wiederansiedlung unterzeichneten die Parteien ein zweites, in dem sie die Einrichtung einer Wahrheitskommission beschlossen. Auch dieses eine Farce, denn es tritt gleichfalls erst nach dem Friedensvertrag in Kraft. Zudem soll die Kommission lediglich sechs Monate arbeiten dürfen, was zu einem sehr lückenhaften Ergebnis führen muß – ganz im Sinne derer, die für die aufzudeckenden Verbrechen verantwortlich sind.
Im Sommer nahm die Zahl der Menschenrechtsverletzungen nicht ab, wie nach den beiden Juni-Abkommen zu erwarten gewesen wäre. Man verzeichnete sogar eine neue Welle von Gewalttaten, die rasch zum Abbruch der Verhandlungen führte: GewerkschafterInnen wurden ermordet, VertreterInnen internationaler Organisationen bedroht, und im Ixcán kam es zu schweren Gefechten zwischen der Armee und der URNG.
Neue Verhandlungsrunde unter UNO-Vermittlung
Am 19. September stimmte die UN-Vollversammlung, fast ein halbes Jahr nach den Beschlüssen vom März, der “Mission der Vereinten Nationen für Guatemala” (MINUGUA) zu. Bereits am 20. Septem-ber traf eine Vorbereitungsdelegation mit zehn TeilnehmerInnen im Land ein, geleitet von dem Argentinier Leonardo Franco. Er löste Jean Arnault ab, der bis dahin bei der UNO für Guatemala zuständig war und nach anfänglichem Desinteresse doch heftig auf Lösungen gedrängt hatte. Die Hintergründe dieses Wechsels wurden jedoch nicht bekannt.
Am Tag nach der Ankunft begannen die Gespräche der UN-Vertreter mit Präsident de Léon und anderen leitenden Regierungsmitgliedern. Am 28. und 29. September fand in Mexiko die erste neue Runde der Verhandlungen zwischen URNG und Regierung statt.
Das Klima der ersten Begegnung war von gegenseitigen Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsaktionen der letzten Monate geprägt. Darüber hinaus zeichnete sich ab, daß die Regierungsseite nun sehr auf einen termingerechten Abschluß des Friedensvertrages im Dezember drängt und daß sich die Verhandlungen eher um die Einhaltung des Termins als um inhaltliche Fragen drehen werden.
Wie nun weiter? Offenbar hat die URNG eine schlechte Position, da sie militärisch nicht sehr schlagkräftig zu sein scheint, Regierung und UNO jedoch vor allem an schnellen Ergebnissen interessiert sind; der “Erfolg” von El Salvador soll sich in Guatemala wiederholen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die URNG immer weiter hinter ihre ursprünglichen Forderungen zurückweichen muß, daß beispielsweise die Flüchtlinge zwar zurückkehren, daß aber die Zustände, die sie zur Flucht gezwungen haben, nicht geändert werden.
Wird es die Guerilla wagen, die Verhandlungen abzubrechen, wenn die Verhandlungspositionen zu weit von ihren Grundforderungen abweichen?
Kurzerhand abgewickelt
Das CRIES hatte sich in den letzten zehn Jahren einen Namen geschaffen, und wer sich für Wirtschafts- und Sozialforschung in und über Zentralamerika interessierte, für den war das CRIES die Anlaufstelle in Nicaragua. Bekannt wurde es außerdem durch die dem Zentrum angegliederten Medien. Die Zeitschrift “Pensamiento Propio” und der elektronische Knoten “Nicarao”, der aus Managua die alternative e-mail aus und in ganz Zentralamerika weiterleitete, waren für die internationalen Debatten wichtige Informationsquellen.
“Pensamiento Propio” hat mittlerweile ihr Erscheinen eingestellt, “Nicarao” funktioniert nach kurzer Unterbrechung mit neuer Belegschaft weiter. Komplett geschlossen ist das Dokumentationszentrum (CEDOC) innerhalb des CRIES, das durch Austauschabonnements aus dem ganzen amerikanischen Kontinent über viele sonst nicht in Nicaragua erhältliche sehr gute Zeitschriften verfügte. Geschlossen wurde auch der Verlag. Das Bitterste von allem aber: Im Juni wurden die knapp siebzig Angestellten entlassen, nach wochenlangem Arbeitskampf inklusive Aussperrung. Ein Großteil der Forschungsvorhaben sind eingestellt und die Zukunft ist ungewiß. Passend zur politischen Krise in Nicaragua und der allgemeinen Konfliktunfähigkeit, leisteten sich Direktorium und Gewerkschaft in den vergangenen Monaten eine öffentliche Schlammschlacht, die ihresgleichen sucht.
In den 80er Jahren enstand das CRIES als eine Regionalkoordination für zuletzt fast vierzig sozial- und wirtschaftswissenschafliche Forschungsinstitute in Zentralamerika und der Karibik. Straff unter jesuitischer Leitung organisiert, zuletzt mit einem der führenden zentralamerikanischen Intellektuellen, Pater Xavier Gorostiaga, als Präsident, finanzierte es sich in erster Linie durch ausländische Geldgeber. Es war das sandinistennahe Wirtschaftsforschungsinstitut schlechthin, auch wenn die dort entwickelten Wirtschaftsprogramme regelmäßig auf den Parteitagen der FSLN verworfen wurden.
Anlaufstelle für Gewerkschaften und Basisgruppen
Die kreativsten Zeiten erlebte das CRIES kurz vor und nach der großen “Wende” in Nicaragua, also zwischen 1989 und 1992. In dieser Zeit war die Regionalkoordination selbstverständlicher Referenzpunkt für Gewerkschaften und Basisgruppen, die sich dort theoretische und praktische Ratschläge holten, wie mit der neuen Regierung und der harten neoliberalen Anpassungspolitik umgegangen werden konnte. Ausländisches Geld zur Förderung floß reichlich. In dieser Zeit des Umbruchs entstanden die Forschungsprojekte aus der gemeinsamen Diskussion zwischen den WissenschaftlerInnen und den Basisgruppen im Land. Eine wahre Blütezeit, verglichen mit den Anfängen des Instituts, die von Forschungsvorgaben durch die jesuitische Direktion gekennzeichnet waren.
Die Krise, die letztlich mit der Schließung des Institutes endete, begann bereits 1993. Der Tod des damaligen geschäftsführenden Direktors Arturo Gallese, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, und der Weggang des zweiten geschäftsführenden Direktors Gerado Timossi nach Mexiko hinterließen große Lücken. Die an deren Stelle berufene Direktion mit Katherina Grisby und Salvador Arías zeigte wenig Geschick mit dem Management des CRIES. Unter ihrer Leitung kam es zu einer bis dahin nie gekannten personellen Ausdehnung auf rund siebzig Angestellte, von denen aber “nur” vierzehn wissenschaftliche MitarbeiterInnen waren. Die anderen waren in der Verwaltung, als Sicherheits-, Fahr- oder Putzpersonal beschäftigt. Da sich das CRIES in erster Linie über Finanzmittel für konkrete Forschungsprojekte finanzierte und wenig direkte institutionelle Förderung erhielt, erwies sich diese Aufblähung bald als fatal. Ebenso wurden mehrere WissenschaftlerInnen weiterbeschäftigt, obwohl ihre Projekte bereits ausgelaufen waren. Die elektronische Post, eigentlich eine Abteilung des CRIES die schwarze Zahlen schreibt, mahnte ihre Kundschaft nicht genügend und hatte so tausende Dollar Außenstände angehäuft, anstatt Gewinn zu erwirtschaften. Das Dokumentationszentrum produzierte teure Zusammenfassungen der Tageszeitungen, die aber niemand kaufte, außer den Archiven der Tageszeitungen selbst.
Heute hier, morgen dort
Obwohl das Institut sehr rasch unter Finanzdruck geriet, eröffnete der CRIES-Präsident Xavier Gorostiaga kurzerhand im März 1994 ein neues CRIES in El Salvador. Die Mittel dafür nahm er aus dem Haushalt des CRIES/Managua mit, ohne dies jedoch mit dem Großteil der MitarbeiterInnen abgesprochen zu haben. Nicht verwunderlich ist es deshalb, daß dies in Managua eindeutig als geplante Aushöhlung von CRIES/Nicaragua gewertet wurde. Mutmaßungen, daß Gorostiaga in San Salvador den bisherigen Interimsrektor der katholischen Universität ablösen und damit die Nachfolge des im November 1989 vom salvadorianischen Militär ermordeten Ignacio Ellacuría antreten wollte, steigerten in Managua zusätzlich das Mißtrauen gegenüber Gorostiaga. Ein weiteres Argument, das für einen taktischen Coup spricht, ist, daß ein Forschungsinstitut in San Salvador heutzutage mehr internationale Reputation und damit auch Geld und Macht verspricht, als ein Institut in einem Land, das international aus der Mode gekommen ist und dessen wissenschaftlicher Standard, unter geänderten politischen Vorzeichen, keinen besonderen Ruf mehr genießt. Gorostiagas Rolle beim Management der finanziellen Krise und insbesondere während der Austragung des sich verschärfenden Arbeitskonfliktes, war mehr als unglücklich.
Als Rektor der ebenfalls krisengeschüttelten katholischen Universität ständig überlastet, konnte er seiner Verantwortung gegenüber CRIES und anderen Instituten nicht genügend nachkommen. Statt geduldig und konstruktiv nach einer akzeptablen Lösung aus der Krise zu suchen, gab es im Juni den Holzhammer: Schließung, Entlassung und Aussperrung aller Angestellten und ArbeiterInnen.
Derzeit tourt Gorostiaga wieder durch Europa, auf der Suche nach Finanziers für ein stark reduziertes CRIES in Managua und ein schickes Neues in San Salvador. Sicher wäre es allen dienlich, würden die Geldgeber für ein neues CRIES-Projekt etwas genauer nach den Statuten dieser Institute fragen. Denn Regionalforschung über Demokratisierungsprozesse, Strukturanpassungspolitik und Weltbank innerhalb einer autoritär bestimmten Institution ist ein Projekt, das auch in Zentralamerika nur wenig Zukunft verspricht.
“Was ist der Unterschied zwischen Gott und Gorostiaga? – Gott ist mit uns, Gorostiaga auf Reisen.”
Der diskrete Charme des Neoliberalismus
Der strahlende Sieger
Mit dem Wahlergebnis vom 3. Oktober bestätigte sich ein Trend, der in den letzten Wochen immer unabwendbarer wurde. Der am 1. Juli mit der Einführung einer neuen Währung in seine entscheidende Phase getretene Wirtschaftsplan (Plano Real) hat die Präsidentschaftswahlen entschieden. Der Wahlkampf geriet zur “Melodie mit nur einer Note”, die Wahl wurde zu einem Plebiszit über den Plano Real. Cardoso hatte ihn als Wirtschaftsminister ausgearbeitet und als Kandidat zu seinem Haupttrumpf gemacht. Pünktlich drei Monate vor den Wahlen ließ die Einführung der neuen, an den US-Dollar gekoppelten Währung die Inflationsrate, die die schwindelerregende Marke von 45 Prozent im Monat erreicht hatte, drastisch fallen. Alle öffentlichen Tarife und die Preise von vielen Produkten des täglichen Lebens sind seit dem 1.Juli nicht mehr gestiegen. Diese für brasilianische Verhältnisse schon wundersame Stabilisierung entschied offensichtlich die Wahl. Alle Kritik der Opposition, hier werde keine Wirtschaftsreform eingeleitet, sondern ein Schauspiel zu Wahlkampfzwecken aufgezogen, lief offensichtlich ins Leere. Das Volk glaubte lieber dem Optimismus versprühenden Cardoso als den Warnungen der Linken. Die Lancierung des Plano Real ist wohl ein Lehrstück, wie bürgerliche Politik in einem Land mehrheitsfähig gemacht werden kann, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von den Segnungen des Realkapitalismus ausgeschlossen ist. Eine Mischung aus Imagination und realer (zumindest kurzfristiger) Stabilisierung ließ Fernando Henrique zwar nicht als den großen Retter des Vaterlandes erscheinen (diese Figur hatte mit Collor Schiffbruch erlitten), aber als weisen und klugen Politiker, der das Land in eine bessere Zukunft führen kann und dem auf keinen Fall die Chance verwehrt werden darf, das angefangene Werk zu Ende zu führen. Die PT hatte offensichtlich die Wirkung des Planes unterschätzt und die Kraft der Anklage und des rationalen Argumentes überschätzt. Unterstützt wurde Cardoso massiv von den Medien, allen voran dem mächtigen Fernsehsender Globo, und der derzeitigen Regierung, die neue Zuversicht im Lande verbreiten ließen. Der unerschütterliche Charme des Kandidaten war dabei hilfreich. In der letzten Phase des Wahlkampfes profilierte sich Cardoso schon eher als Landesvater, der auch seinen Konkurrenten Lula lobte, denn als harter Wahlkämpfer.
Die häßliche Allianz
Gewiß, Cardoso ist kein wüster Populist, kein wilder Demagoge sondern ein intelligenter Intellektueller, der durch seinen Charme und seine Geschichte auch im fortschrittlichen Lager Unterstützung erhielt. So erklärten die Ikonen der brasilianischen Musik Caetano Veloso und Gilberto Gil ihre Präferenz für Cardoso, lediglich Chico Buarque blieb Lula treu. Der Sieg Cardosos ist auch ein Ausdruck davon, daß die größten Parteien des bürgerlichen Lagers, erschüttert durch die Korruptionsskandale, nicht in der Lage waren, eigene, erfolgversprechende Kandidaturen aufzubauen. So fiel die Wahl auf den Vertreter der PSDB, einer relativ kleinen Partei, die bisher lediglich den kleineren Bundesstaat Ceará regierte. Die PSDB, die überhaupt keine Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft hat, vertritt dennoch den Anspruch, die sozialdemokratische Partei Brasiliens zu sein. In Wirklichkeit ist sie wohl eher die “ideologischste” Partei des bürgerlichen Lagers. Sie hat am konsequentesten die Modernisierung des brasilianischen Kapitalismus auf ihre Fahnen geschrieben: Eine vollständige Integration in den Weltmarkt, die beschleunigte Privatisierung und die Deregulierung des Arbeits- und Sozialrechts sind die keineswegs allzu originellen Hauptachsen ihres Programms. Dabei redet Cardoso keinem primitiven Neoliberalismus das Wort, betont vielmehr, daß die aktive Rolle eines effektiven Staates in einem Land wie Brasilien unverzichtar sei, um die soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Das große Markenzeichen der PSDB-Regierung von Ceará ist dann auch ein Gesundheitsprogramm, mit dem die Kindersterblichkeit deutlich gesenkt wurde. Aber es waren nicht allein die für brasilianische Verhältnisse solide Regierung von Ceará und der Charme Cardosos, die den Wahlsieg ermöglichten, sondern ein breites Bündnis mit traditionellen Parteien der Rechten, insbesondere der PFL (“Partei der liberalen Front”), der zweitgrößten Partei Brasiliens, die sich im Prozeß des Übergangs zu einer zivilen Regierung 1984 aus einer Abspaltung der Partei der Militärs formiert hatte. Die PFL ist weniger eine politische Partei mit programmatischen Aussagen als ein Verein zur Sicherung des Zugangs zur Macht für die traditionellen Eliten des Landes. Sie vereinigt vor allem die Politiker, die es geschafft haben, seit der Militärdiktatur in allen Regierungen vertreten zu sein. Für die PFL war das Bündnis interessant, weil sie offensichtlich selbst keinen eigenen Kandidaten aufstellen konnte, der Aussichten hatte, Lula zu schlagen. Sie erwies sich damit geschickter und flexibler als die anderen bürgerlichen Parteien, die mit ihren eigenen Kandidaturen Schiffbruch erlitten.
Das Bündnis mit der PFL sicherte Cardoso die größte Fernsehzeit aller Kandidaten und die Unterstützung in den wirtschaftlich und politisch rückständigsten Teilen des Landes. Gleichzeitig gefährdete sie aber auch die ideologischen Grundlagen seines Regierungsprojekts. Denn für die konsequente Durchsetzung einer kapitalistischen Modernisierung müßte die zukünftige Regierung auch mit den sektorellen und korporativistischen Interessen brechen, für deren Vertretung gerade die PFL steht. Es könnte also sein, daß das Bündnis, das die Wahl Cardosos gesichert hat, die Umsetzung seines Modernisierungsprojektes gefährdet. So stand die PFL in den letzten Regierungen keineswegs für eine Verminderung des Staatsapparates, sondern für dessen klientilistische Funktionalisierung. Allerdings bekennen sich inzwischen die Führer der PFL eindeutig zu den neoliberalen Glaubenssätzen, weil sie wohl erkannt haben, daß es auf die Dauer schwierig ist, eine nationale Politik gänzlich ohne jegliches ideologisches Projekt zu verfolgen. Ob es sich dabei aber mehr um eine Fassade als um ein wirkliches Projekt handelt, wird die Zukunft zeigen müssen.
Fernando Henrique Cardoso hat viele Trümpfe in der Hand. Er ist mit einer großen Mehrheit gewählt, hat die volle Unterstützung von IWF und Weltbank und wird über eine solide politische Mehrheit verfügen. Seine Aufgabe ist es, in Brasilien kapitalistische Normalzustände herzustellen: Währungsstabilität plus forcierte Weltmarktintegration plus Privatisierungen. Die PSDB und ihr gewählter Präsident werden dabei nicht müde zu beteuern, daß sie keineswegs neoliberale Hardliner sind. Ob allerdings das Bündnis mit der PFL politischen Spielraum für auch nur vorsichtige soziale Reformen läßt, muß bezweifelt werden. Zumindest eine Agrarreform, die natürlich auch von der PSDB versprochen wird, ist mit der in der PFL organisierten Agrar-oligarchie nicht zu machen.
Die Niederlage der PT und
die Zukunft der Linken
Die geschickte Lancierung eines Stabilisierungsplanes vor den Wahlen war sicherlich der Hauptgrund für die Niederlage Lulas.
Von der PT werden als weitere Ursachen angeführt:
– Die massive Unterstützung von Regierung und Massenmedien für Cardoso.
– Die Mobilisierung von Vorurteilen gegen Lula: Ein Metallarbeiter, Arbeitsmigrant, Sohn einer bitterarmen Familie, ohne Hochschulabschluß und administrative Erfahrungen, das sei kein Typ für das Präsidentenamt.
Bedenklich ist, daß es der PT nicht annähernd gelungen ist, das gesamte Potential von Proteststimmen zu mobilisieren. Die Zahl der ungültigen und leeren Stimmzettel wird sich auf etwa 20 Prozent belaufen, die der Enthaltungen auf 15 Prozent, ein sehr hoher Anteil für ein Land in dem strikte Wahlpflicht gilt. (Das offizielle Endergebnis stand auch eine Woche nach den Wahlen nicht fest!) Einen großen Anteil von Proteststimmen konnte auch der drittplazierte Kandidat auf sich vereinigen: Der erzreaktionäre Politclown Eneas, der eine parteienunabhängige Einzelkandidatur bestritt, erreichte überraschende sieben Prozent der Stimmen und ließ damit alle anderen Kandidaten des bürgerlichen Lagers weit hinter sich. Neben zur Schau gestellter Skurrilität waren ein radikaler law-and-order-Diskurs sowie aggressive Anklagen gegen das politische System sein Markenzeichen.
Die “Radikalen” sind an allem schuld?
Natürlich werden auch bei der PT selbst die Ursachen für die Niederlage gesucht. Hier unterscheiden sich aber nun die Analysen je nach politischem Standort: Sieht der “rechte”, “moderate” Flügel der Partei das Fiasko eher in einer fehlenden Bündnispolitik mit Teilen des bürgerlichen Lagers begründet, analysieren die Parteilinken, daß die Schwäche der PT gerade darin lag, daß sie die soziale Polarisierung im Land nicht politisch ausdrücken und umsetzen konnten. Für die Presse ist der Fall eh klar: Die “bösen Radikalen” (oder “Schiiten”, wie sie hierzulande genannt werden), die angeblich die Partei beherrschen, haben eine größere Akzeptanz Lulas verhindert. Das Ausspielen des “guten” Lulas gegen die böse Partei war schon während des Wahlkampfes eines der Hauptthemen der Presse. Tatsächlich sind derartige Zuweisungen so holzschnitzartig verkürzt wie die Berichterstattung der bundesdeutschen Presse über die Auseinandersetzungen innerhalb der BündnisGrünen. Die PT ist eine komplexe, nicht einfach zu verstehende, pluralistische linke Partei. Auch die von deutschen Linken immer wieder gestellte Frage, ob denn die PT nun endgültig ins sozialdemokratische Fahrwasser geraten sei, provoziert schon die Simplifizierung. Die PT ist entstanden und gewachsen als eine Formierung jenseits und gegen sozialdemokratische und orthodox-kommunistische Strömungen, einen großen Einfluß hatten linkskatholische Gruppen. Die PT hat eine besondere brasilianische Geschichte, die nicht in (europäische) Prokrustesbetten zurechtgestutzt werden sollte. Bis heute hat sich die PT das Recht, interne Tendenzen zu bilden, bewahrt. Sie ist ein Sammelbecken verschiedenster linker Strömungen, von mandelistischen Trotzkisten, über Ökosozialisten bis hin zu sozialdemokratischen Reformaposteln. Und trotz aller Widersprüche ist die PT die politische Partei der vielfältigen sozialen Bewegungen in Brasilien. In dieser Vielfalt lassen sie zwei Grundpositionen ausmachen: für die Parteilinken ist die Metapher des “Bruchs” zentral. Die Partei steht für den grundsätzlichen Bruch mit den hegemonialen Interessen in Brasilien und dem vom IWF oktroierten neoliberalen Modells.
Für die “Rechte” steht die Entwicklung einer reformerischen sozialen Kompetenz im Vordergrund. Die PT muß sich auf der Ebene, auf der sie bereits Macht ausübt (Bürgermeister) als konsequente Reformkraft beweisen, die neue Prioritäten in der Sozialpolitik setzen kann und damit den Staat von einem privatisierten Verteilungsmechanismus der Eliten in ein Verteidigungsinstrument der Unterprivilegierten transformiert ( vgl. auch die Stellungnahmen der PT-Spitze zur Wahl ). Die Unterscheidung zwischen Linken und Rechten in der Partei läßt leicht reale Debatten verschwinden. So sind viele der Parteilinken von einer ungetrübten Orthodoxie beherrscht, die es ihnen zum Beispiel auf dem letzten Parteitag leicht machte, die Forderung nach Entkriminalisierung der Abtreibung aus dem Programm zu streichen, leichter jedenfalls als viele “Rechte”, die feministische Positionen innerhalb der Partei verteidigen. Nach der Wahl wäre für die Partei sicherlich eine Diskussion über die Möglichkeiten (nach der Fixierung auf einen möglichen Präsidenten Lula) linker Politik in Brasilien ratsamer als gegenseitige Schuldzuweisungen.
Wahlerfolge der Linken
Löst man sich von den gescheiterten Hoffnungen beim Kampf um die Präsidentschaft, dann zeigt das Wahlergebnis auch positive Aspekte. Die PT wird die Anzahl ihrer Abgeordneten von 35 auf etwa 70 erhöhen, sie wird vier SenatorInnen wählen (bisher 1), und in drei Bundesstaaten sind ihre Kandidaten in die Stichwahl um den Gouverneursposten gelangt, in einem (Espirito Santo) mit sehr guten Erfolgsaussichten. Bisher hat die PT noch nie einen Gouverneur gestellt. In den Senat wird mit Benedita da Silva eine ehemalige Hausangestellte einziehen. Daß ein schwarze Frau in Rio mit diesem sozialen Hintergrund in den Senat gewählt wird (jeder Bundesstaat wählte nur zwei SenatorInnen!), macht schon deutlich, wie die PT die politische Kultur Brasiliens beeinflussen kann. Mit einer gestärkten Parlamentsfraktion steht die brasilianische Linke nun vor der Aufgabe, eine konsequente Oppositionspolitik gegen das neoliberale Modernisierungsprojekt zu organisieren.
Daß Brasilien in Lateinamerika bisher einen Sonderfall darstellt, liegt nicht zuletzt an den starken sozialen Bewegungen. In Brasilien dominiert die der PT nahestehende Gewerkschaftsbewegung (zusammengeschlossen im Dachverband CUT). Es gibt also durchaus ein organisiertes Widerstandspotential. Eine große Herausforderung hat die PT zwar erkannt, aber nicht gelöst: Ihre Stärke liegt im organisierten Sektor der Gesellschaft, in den Großbetrieben, im öffentlichen Dienst, in einem Sektor, der immer mehr seine Integrationskraft für die brasilianische Gesellschaft verliert. In den Kleinstbetrieben, im informellen Sektor, bei den Ausgegrenzten und Marginalisierten hat die Linke bisher wenig organisierende Kraft entwikkelt. Nur wenn die Ausgeschlossenen politische Kraft gewinnen, wird sich ein wirksamer Widerstand organisieren lassen.
Die Anderen
Angesichts der Polarisierung zwischen Lula und Cardoso konnten die anderen Kandidaten mit Ausnahme des bereits erwähnten Eneas nur Statistenrollen spielen. Die Wahl bedeutet auch das Ende eines Politikers, der eine herausragende Rolle in der jüngsten brasilianischen Geschichte gespielt hat: Leonel Brizola konnte ganze drei Prozent der Stimmen erringen. Brizola hatte in den sechziger Jahren das Erbe des Nationalpopulismus des früheren Präsidenten Getulio Vargas angetreten, er hatte als Gouverneur erbitterten Widerstand gegen den Militärputsch geleistet und war bei der Rückkehr aus dem Exil einer der großen Pole der Opposition. Zweimal zum Gouverneur von Rio gewählt, kennzeichnete sein zweites Mandat den Niedergang: Administrative Inkompetenz, explodierende Gewalt und ein zu lange durchgehaltenes Bündnis mit dem unsäglichen Collor ließen den Stern Brizolas sinken. Sein linkspopulistischer Diskurs, seine wütenden Anklagen gegen den Fernsehsender Globo und den IWF gerieten immer mehr zur Politfolklore. Überraschenderweise hat aber seine Partei, die PDT, ein beachtliches Ergebnis erzielt. In Paraná wurde der populäre Exbürgermeister von Curtiba, Jaime Lermer, bereits im ersten Wahlgang zum Gouverneur gewählt, in Sâo Paulo steht der Kandidat der PDT im 2. Wahlgang. Außerdem gewann die PDT in Mato Grosso (in einem breiten Bündnis, das auch die PT einschloß), und sie hat in zwei kleineren Staaten gute Chancen im zweiten Wahlgang. Der Kandidat in Sâo Paulo ist ein wüster Demagoge, der seine Karriere bei den Militärs begonnen hat, und nur die in Sâo Paulo bedeutungslose PDT wählte, um einen politischen Raum zu haben. Ihm werden auch wenig Chancen gegen den Kandidaten der PSDB, Mario Covas, eingeräumt. Interessanter ist der Kandidat der PDT in Rio, Garotinho, ein junger Newcomer mit populistischem Diskurs, aber eindeutig linkem Akzent. Er sucht für den zweiten Wahlgang die Unterstützung der PT (und wird sie auch bekommen), um eine “Front der Linken” aufzubauen. Garotinho hat realistische Chancen, in Rio zu gewinnen. Mit der Achse Rio – Paraná wäre die PDT wieder ein Schwergewicht in der brasilianischen Politik und hätte die große Chance, sich durch eine pragmatische Opposition zu Cardoso weiter zu einer möglichen Alternative bei dessen Scheitern zu entwickeln. Garotinho wenigstens läßt keine Zweifel, daß die Präsidentschaft sein großes Ziel ist.
Auch der Kandidat der größten Partei Brasiliens erlitt ein Fiasko: Mit nur fünf Prozent blieb der Kandidat der PMDB, Orestes Quercia auf der Strecke. In Sâo Paulo, das die PMDB seit 12 Jahren regierte, ist ihr Kandidat im ersten Durchgang gescheitert. Allerdings wird die PMDB weiterhin die stärkste Fraktion im neuen Parlament bilden. Aber sie wird immer mehr zu einer Partei lokaler Kaziken degenerieren, ohne nationale Kraft.
Reaktionen aus der PT auf das Wahlergebnis
(Quelle: Jornal do Brasil vom 8.10.)
Kasten 1
Jos Genoino, Abgeordneter der PT, der die meisten Stimmen erhielt, Führer des “rechten” Flügels der PT: “Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, daß wir einer breiten und mächtigen Front gegenüberstanden, die sich um die Kandidatur Fernando Henrique Cardosos scharte, so dürfen wir es doch nicht unterlassen, unsere eigenen Fehler einzugestehen. 1. Das Fehlen einer Bündnispolitik, die in der Lage gewesen wäre, Vertrauen in weiten Sektoren der Gesellschaft zu schaffen. 2. Unserer Wahlkampagne gelang es nicht, ein realisierbares Regierungsprogramm vorzustellen, das auf Probleme Antworten gibt wie die Reform des Staates, die soziale Krise, Sozialpolitik, ökonomisches Wachstum mit Einkommensverteilung, Stabilisierung und Inflationsbekämpfung. Zu diesen Punkten haben wir nur allgemeine Aussagen präsentiert und waren unfähig, der konkreten Existenz des Reals Rechnung zu tragen. 3. Wir haben eine wenig kreative Kampagne gemacht, bei der wir nicht die administrativen Erfahrungen der PT herausgestellt haben, und konnten somit den Vorurteilen gegen die PT und Lula nicht entgegentreten. 4. Materielle Ausstattung und Leitung unserer Kampagne waren wenig professionell.”
Kasten 2
Aloizio Mercadante (Vize Lulas): “Wir müssen die Partei neu strukturieren, insbesondere im Norden und Nordosten, wo eine Oligarchie die Medien beherrscht und die Zivilgesellschaft schwach ist. Die PT muß mit der Zivilgesellschaft interagieren…Wir müssen Mechanismen schaffen, damit die Leute, die an der Kampagne teilgenommen haben, permanent in der Partei arbeiten, Künstler zum Beispiel und die Leute aus dem Kulturbereich. Auch die Religiösen und die Jugend müssen mehr Gewicht in der Partei haben. Dasselbe gilt für die Unternehmer, die mit einem Unterstützungskomitee eine große Beteiligung an der Kampagne hatten.”
Schluß mit den Tendenzen?
“Ich glaube nicht, daß wir interne Meinungstendenzen auslöschen werden, aber wir müssen die Tendenzen als Formen der Organisation überwinden. Diese Kampagne ist das Ende eines Zyklus, nach dem wir über eine neue Struktur nachdenken müssen. Wir müssen zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den von uns geleiteten Kommunalverwaltungen und zu unseren Abgeordneten haben.”
PT als linke Sozialdemokratie?
“Ich glaube, die traditionellen Modelle der Linken sind überholt und die PT entstand schon, indem sie sie in Frage stellte. Deshalb haben wir im Gegensatz zu den orthodoxen Parteien der Linken in aller Welt überlebt und sind eine große Kraft in unserem Land… Ich weiß nicht ob man uns als linke Sozialdemokratie etikettieren kann… Wir müssen eine Partei sein, die mehr die Institutionen achtet. Die PT kann nicht nur eine Partei des Protestes sein, sie muß alternative Vorschläge machen. Wir müssen unsere Hegemonie nicht durch Negation, sondern durch Affirmation aufbauen.”
Wird es Änderungen im Programm geben?
“Das heißt auch, wir müssen unser Programm ändern. Wir werden zwar niemals die These vom Minimalstaat akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß das national-populistische Modell ausgespielt hat. Wir müssen eine Idee des Öffentlichen schaffen, statt uns auf den Staat zu fixieren.”
Kasten 3
Lula da Silva: In der ersten Pressekonferenz nach der Wahl, kennzeichnete Lula seine zukünftige Rolle als “Wächter der Bürgerrechte” und versprach eine “nicht-systematische Opposition, die sich nicht nach unseren Programm ausrichten wird, das keine Mehrheit gefunden hat, sondern nach dem Programm Cardosos, damit seine Versprechungen nicht vergessen werden.” Lula stellte dabei folgende Versprechungen des Kandidaten heraus: Verdoppelung des Mindestlohnes (von 70 auf 140 US-Dollar), die Schaffung von 12 Millionen Arbeitsplätzen, die Ansiedlung von 400.000 Familien auf dem Lande und ausreichende Schulplätze für alle Kinder. Gleichzeitig erklärte er, daß er kaum an einer Regierung Cardoso teilnehmen könne, die auf den jetzigen Allianzen aufbaut.
Schwarze Feministinnen gehen eigene Wege
LN: Viele Frauen von CRIOLA haben früher bei CEAP (Centro de Articulâcao das Populacoês Marginalizadas) mitgearbeitet, das sich für die Rechte der Straßenkinder und der schwarzen Frauen einsetzt. Was war der Anlaß, CRIOLA als eigene Organisation zu gründen?
Neusa das Dores Pereira: Alle zehn Frauen von CRIOLA haben irgendwann einmal mit CEAP zusammengearbeitet, zwei von ihnen gehörten 1989 zu den Gründerinnen von CEAP. Alle Frauen kommen aus den verschiedensten sozialen Bewegungen, sie waren im Gesundheitsbereich aktiv, in der Gewerkschaft und in Bürgerinitiativen. Wir sahen die Notwendigkeit, uns autonom zu organisieren. Denn als schwarze Frau konnten wir entweder an der feministischen Bewegung teilnehmen, wo die weißen Frauen alles bestimmen oder an der Bewegung der Schwarzen, wo die Männer im Vordergrund stehen. CEAP veröffentlicht viel über Repression und die Morde an Straßenkindern. Hauptsächlich ging es um die Situation der Jungen auf der Straße und in diesem Zusammenhang wurde die Frau nur als Mutter gesehen. Wir wollten mehr zur Situation von schwarzen Frauen arbeiten. Daher entstand 1992 CRIOLA, um neue Wege zu suchen.
Wie sieht die Arbeit von CRIOLA aus?
In der Struktur, die wir seit Dezember 1993 haben, ist CRIOLA in verschiedene Gruppen unterteilt: Im Kulturbereich geht es um schwarze Alltags-Kultur, die Auseinandersetzung mit der afro-brasilianischen Religion und den Aufbau von Kunstkooperativen. SOS-Gesundheit arbeitet zur Aidsprävention und zur Kampagne gegen Sterilisation. Wir nehmen teil am Netzwerk gegen rassistische und sexuelle Gewalt und an der Kampagne gegen Sextourimus und Kinderprostitution. SOS-CRIOLA bietet Unterstützung und Beratung für schwarze Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt wurden, initiiert werden Selbsthilfegruppen und therapeutische Gruppen. Criola, Criolinha, Criolona arbeiten derzeit mit Mädchen und jungen Frauen und beabsichtigt in Zukunft ebenfalls mit älteren Frauen zu arbeiten. Weiter gibt es das Dokumentationszentrum und Dàgbá Criola. Dàgbá ist ein Wort aus dem Yoruba, das “Wachsen” bedeutet. Ideen müssen wachsen und brasilianische und internationale Netzwerke entstehen. Wir beteiligen uns an der schwarzen Frauenbewegung in Lateinamerika und der Karibik, an der Kampagne gegen häusliche Gewalt, an der Bewegung “Pro Mädchen” und führen Workshops zu “Geschlecht und Rasse” mit Streetworkern durch.
Mein Traum ist es, das Dokumentationszentrum aufzubauen. Es beruht auf drei Schwerpunkten: 1. die schwarze Geschichte, besonders die der schwarzen Frauen zu dokumentieren, 2. die Verbindung zu anderen Gruppen herzustellen und Informationen in einer Sprache weiterzugeben, die von den sozialen Bewegungen verstanden wird und 3. eine eigene Analyse von Daten, die sich von den offiziellen, manipulierten Statistiken absetzt, welche oft ein verzerrtes Bild der Realität wiedergeben.
Während der Dokumentationsarbeit bei CEAP haben wir immer wieder in den Zeitungen von Morden an schwarzen Frauen gelesen. Deshalb haben wir bei der Justiz genaue Daten nach Alter und Hautfarbe der ermordeten Frauen angefordert. Erst nachdem ein Abgeordneter unser Anliegen unterstützt hat, erhielten wir überhaupt eine Reaktion auf unsere Nachfrage und dann waren die Informationen unvollständig, ohne Angabe der Hautfarbe und des Alters. Aufgrund der Orte und Charakteristika, wo die Verbrechen stattfanden, wissen wir aber, daß sehr viele junge und viele schwarze Frauen ermordet wurden. Daher finden wir es wichtig, ein eigenes Dokumentationszentrum aufzubauen. Wir richten uns mit unseren Informationen speziell an Frauen, die wenig lesen und nicht den Umgang mit Computern gewöhnt sind und wollen das Dokumentationszentrum entmystifizieren. Wir wollen die Frauen direkt erreichen und mit ihnen zusammenarbeiten in ihren Bereichen wie Haushalt, Gewerkschaft und Kirche.
Wie sehen die Kontakte zur feministischen Bewegung aus?
Wir arbeiten mit der feministischen Bewegung in der Kampagne gegen Sterilisation zusammen. Wenn wir Daten über die Situation der Schwarzen brauchen, wenden wir uns an die Bewegung der Schwarzen. Wir bewegen uns zwischen beiden Bewegungen. Die schwarze Frauenbewegung ist gleichzeitig schwarze und feministische Bewegung. Das Wort “feministisch” erschreckt noch immer, es gibt viele negative Assoziationen wie lesbisch, eurozentrisch, Frauen, die Männer hassen. Deshalb möchten viele Frauen das Wort feministisch nicht benutzen und sprechen lieber von Frauenbewegung oder weiblicher Bewegung. Wir haben eine feministische Orientierung und versuchen ständig, den Frauen klarzumachen, daß sie feministisch sind.
Andererseits ist es sehr schwierig, mit der feministischen Bewegung zusammenzuarbeiten. Frauen aus der Unterschicht machen oft die Erfahrung, daß sie wegen ihrer Ansichten von den weißen Feministinnen als nicht feministisch abgelehnt werden. “Nein, ihr seid keine Feministinnen”, heißt es, als gäbe es ein “Feministómetro”, ein Meßgerät für Feminismus. Wenn Landarbeiterinnen, Gefangene, Prostituierte in die feministische Bewegung eintreten, verziehen sich oftmals die Radikalfeministinnen.
Wir schwarzen Frauen haben in der feministischen Bewegung immer wieder die Erfahrung gemacht, daß bei den Diskussionen etwas fehlte, ebenso wie innerhalb der Bewegung der Schwarzen, wo der Diskurs über das Geschlecht immer ausblieb. Die schwarze Frauenbewegung muß ihren eigenen Weg entwickeln. Zur Zeit müssen wir uns eigenständig organisieren, um unsere eigenen Ideen und Aktivitäten, um eine eigene Sprache entwickeln zu können. Später können Wege wieder gemeinsam beschritten werden. Wenn wir jetzt unsere Räume öffnen, werden sie von Männern oder weißen Frauen vereinnahmt.
Unser Verhältnis zur weißen feministischen Bewegung ist weiterhin schmerzlich. Wenn wir bei feministischen Treffen einen Workshop anbieten, kommen ausschließlich schwarze Frauen, die weißen Frauen zeigen kein Interesse. Aber sobald wir ein eigenes Treffen für schwarze Frauen organisieren, möchte plötzlich jede teilnehmen. Sie werfen uns vor, wie absurd es sei, andere auszuschließen, kritisieren uns als zu radikal. Genauso ist es mit den Männern. Aber wenn wir innerhalb eines Treffens der Bewegung der Schwarzen über das Thema schwarze Frauen diskutieren wollten, waren wir immer unter uns.
Ihr beteiligt Euch an der Kampagne gegen Sextourismus und Kinderprostitution. Wie ist die Situation in Rio und was sind Eure Ziele bei der Kampagne?
Für uns Frauen von CRIOLA ist das ein ganz neues Thema. Ich habe an verschiedenen Konferenzen zum Thema Sextourismus teilgenommen, unter anderem in Deutschland. Sextourismus wird hier als Phänomen wahrgenommen, aber nicht zur Diskussion gestellt. Deshalb werden wir im Dezember dazu ein Treffen in Rio veranstalten.
In Copacabana, wo ich mich am besten auskenne, haben viele Mädchen und Jungen mit Sextourismus zu tun, gerade in Rio sind viele Jungen im Sextourismus tätig. Es wird als etwas selbstverständliches betrachtet und nur im Zusammenhang mit Verbrechen erwähnt. Eine weit verbreitete Einstellung ist, “ach, die Mädchen wollen dieses Leben” und in der Tat, suchen die Mädchen einen Gringo zum Heiraten. In dem Hochhaus, in dem ich lebe, wohnen etwa 20 bis 30 junge Frauen, die sich nicht als Prostituierte verstehen, sondern als Mädchen, die “Programme” mit Touristen durchführen und ihr Traum ist es, einen Touristen zu heiraten. Da gibt es diese Märchenvorstellung. Sie glauben, daß es in Deutschland viele Adlige gibt, die zwar verarmt sind, aber im Vergleich zu Brasilien noch viel Geld besitzen und in einem Schloß mit Hausangestellten wohnen.
Die weißen Männer kommen nach Brasilien und suchen dort eine schwarze junge Frau, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Viele glauben an diesen Märchenprinzen, der aus Deutschland kommt, aus der Schweiz oder aus Italien.
Wenn Du ihnen sagst, daß dies eine große Lüge sei, antworten sie, daß sie die Chance nicht ungenutzt lassen wollen und sie noch jung seien. Die eigene Familie glaubt daran. Sie glauben, daß es der Tochter sehr gut gehen wird, wenn sie nach Deutschland heiratet. Und dann bekommen sie Briefe, in denen steht, wie gut es ihnen geht. So schließt sich der Kreis der Illusionen.
Anders ist die Situation der Frauen aus der Mittelschicht, die besser ihre Interessen wahrnehmen können. Sie sprechen verschiedene Sprachen, sind mit ihren Familien gereist und kennen schon andere Länder. Sie wollen Karriere machen und am Konsum teilhaben, sie haben konkrete Vorstellungen, etwa jemanden zu heiraten, um nach New York zu ziehen. Es ist ein Unterschied, ob die Mädchen reisen wollen, Europa kennenlernen möchten und wissen, diese erreichen sie durch einen Gringo, den sie kennenlernen, oder ob sie sich vorstellen, einen Adeligen zu heiraten und in einem Schloß zu leben.
Die schwarzen Mädchen aus den armen Schichten verhandeln nicht. Das ist der Unterschied zu einer erwachsenen Prostituierten, die weiß, welchen Preis sie verlangen kann. Die Mädchen auf der Straße haben dagegen überhaupt keine Verhandlungsposition. Sie verlieben sich in die Europäer, die sie beachten, ihnen 10 Cruzeiros geben und ein Essen bezahlen.
Welche Rolle spielt die Ideologie des “Weißerwerdens”, des embrancimento, dabei?
Eine ganz Beachtliche, denn die schwarzen jungen Frauen auf der Straße glauben, daß sie selbst nichts wert sind. Sie übernehmen das Bild, das die Gesellschaft von ihnen hat, die sie als dreckig, dumm, gefährlich, als Analphabeten betrachtet. Wenn dann ein blonder Europäer mit blauen Augen kommt, zärtlich zu ihnen ist und ihnen Geld gibt, fühlen sie sich geehrt.
Eine andere Besonderheit in Rio ist, daß viele junge Frauen im Sextourismus von außerhalb kommen, weil sie wissen, daß dort die Sextouristen anzutreffen sind. Viele kommen aus dem Nordosten Brasiliens. Sie haben entweder die Familien verlassen oder werden von ihrer Familie nach Rio direkt zur Copacabana geschickt. Wir haben schon Mädchen im Alter von 6 und 8 Jahren angetroffen.
In Brasilien wurde im letzten Jahr eine parlamentarische Untersuchungskommission eingerichtet (CPI), um zur Kinderprostitution zu ermitteln. Liegen die Ergebnisse der CPI mittlerweile vor?
Ich glaube nicht, daß der Bericht schon vorliegt, außerdem gibt es viele Informationen, die man nicht veröffentlichen möchte. In Rio hat die Untersuchungskommission über Kinderprostitution ihre Arbeit einfach abgebrochen. Niemand weiß genau warum; es gibt verschiedene Interessengruppen. Innerhalb eines Jahres sind in einem Stadtteil von Rio 28 Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren verschwunden. Dazu gibt es keine weiteren Untersuchungen. Die Polizei weiß nichts, da keine Leichen gefunden wurden. So gibt es viele Spekulationen über Organhandel etc., was aber zu nichts führt. Wichtig wären genaue Untersuchungen.
Eine solche Untersuchung über Kinderprostitution müßte mit Vorsicht gemacht werden. Erstens darf nicht registriert werden, wann und wohin Frauen reisen. Sonst bekommt jede schwarze Frau, die zum Flughafen kommt, Probleme mit einem Visum etc.. Viele Jugendliche bitten, keine Informationen zu veröffentlichen, weil ihre Familien nicht wissen, was sie in Rio tun. Drittens müßte untersucht werden, welche Männer Kunden und welche Händler sind. Letztere sind Männer, die Familie und Kinder zu Hause haben und in Brasilien oder in den Philippinen sechsjährige Mädchen sexuell ausbeuten.
Heutzutage gibt es auch deutsche Frauen, die als Sextouristinnen nach Brasilien reisen. Frauen vergewaltigen nicht, aber sie beuten auf eine andere Weise die Jungen aus. Nicht nur Sextourismus, sondern auch der Handel wird mittlerweile von Frauen, besonders deutschen, betrieben.
Sextourismus gibt es in Brasilien erst seit zehn Jahren, nachdem Thailand einen schlechten Ruf wegen Aids bekommen hat. Heute steht Brasilien an zweiter Stelle bei Menschenhandel und bei sexuellem Mißbrauch von Kindern durch Touristen.
Wenn es um Gewalt an Straßenkindern geht, wird bei uns hauptsächlich über die Situation der Jungen berichtet. Wie sieht die Repression bzw. Gewalt gegen Mädchen, die auf der Straße leben, aus?
In Rio ist die Situation anders als in Recife. Hier ist die Zahl der Mädchen, die auf der Straße sind höher als die der Jungen. In Rio de Janeiro gibt es mehr Straßenjungen. Die Mädchen bleiben zu Hause, passen auf die Kleinen auf und machen den Haushalt. Die Jungen gehen auf die Straße. Im Nordosten ist es umgekehrt. Die Jungen gehen aufs Feld und arbeiten auf den Zuckerrohrplantagen und die Mädchen gehen auf die Straße und betteln.
Im Nordosten, speziell in Recife, ist die Gewalt gegen Kinder immer sehr groß gewesen. Die Mädchen in Recife verletzen sich selbst, um von der Polizei in Ruhe gelassen zu werden. Ich kannte ein Mädchen, das sich jedesmal, wenn sie einen Polizisten sah, eine Scherbe nahm und in den Arm schnitt. Sie verletzte sich, weil die Polizei sie dann ins Krankenhaus bringen mußte und erzählte:”Wenn nicht, wollen sie mit mir schlafen und ich möchte nicht.” Jetzt ist sie tot, sie wurde ermordet.
Ich habe einige Zeit in Recife bei SOS-Criança gearbeitet. Wir trafen viele Mädchen mit zerschnittenen Armen und Gesichtern. Sie verletzen sich überall, an den Beinen und Schenkeln, wegen der Repression der Polizei.
In Rio de Janeiro ist es umgekehrt. Dort sind weniger Mädchen auf der Straße. Sie werden als schwach angesehen und anders behandelt. Neuerdings hat sich dies geändert, und die Gewalt richtet sich auch speziell gegen Mädchen. Die Zahl der angegriffenen und ermordeten Mädchen hat sich nach Angaben von CEAP erhöht. Heute sind bei einem Massaker auch die Leichen von Mädchen zu finden.
Wie sieht es aus mit der strukturellen Gewalt gegenüber schwarzen Frauen?
Es gibt noch eine andere Form von Gewalt, die sich gegen schwarze Frauen richtet, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten sind. Zwar gibt es die “Delegacia de Mulheres”, das Polizeirevier für Frauen, aber es ist nur zuständig, wenn Frauen jemanden anzeigen wollen, nicht aber für Frauen, die straffällig wurden. Diese Frauen kommen auf die normalen Polizeireviere, wo sie mehr leiden als die Männer. Dort werden die Schwarzen diskriminiert, und die Gewalt dort bedeutet Folter. Je jünger die Frauen sind, desto mehr werden sie benutzt, gedemütigt und gefoltert.
Die Regierung behauptet, es gäbe keine institutionalisierte Gewalt, aber es gibt sie.
Was mich wirklich bekümmert, ist, was alles als selbstverständlich angesehen wird. Die Leute wollen nicht mehr belästigt werden, sie denken, wenn jemand Probleme hat ist es seine eigene Schuld.
Eine Bekannte hat über eine 13jährige Prostituierte erzählt: “Ich kenne sie schon seit sie fünf Jahre alt ist und da war sie schon Prostituierte, sie war immer so. Es gefällt ihr, Prostituierte zu sein. Sie ging nicht zur Schule, weil sie nicht wollte. Sie war schon immer eine Rebellin.” Also ist es ihre eigene Schuld? Bis sie tot aufgefunden wird? Ist das etwa ein Ziel, das sie sich ausgesucht hat?
Dazu kommt der Diskurs über Sterilisation. Es heißt sehr schnell: Warum wurde diese Frau nicht sterilisiert? Eine Frau mit so vielen Kindern muß sterilisiert werden. Die Schuld liegt immer bei der Frau. Der schwarzen brasilianischen Frau wird die Schuld an der Armut Brasiliens zugeschrieben. Wir versuchen zu erklären, daß das nicht stimmt. In den letzten zwanzig Jahren wurde Brasilien immer ärmer, obwohl die Geburtenrate gesunken ist. Früher hatten die Frauen 10, 12, 20 Kinder, heute haben sie nur zwei Kinder. Wir wollen erreichen, daß sich die schwarzen Frauen nicht auch noch schuldig fühlen für die Armut.
Schwarze Tränen des Bolero, ay!
Die langgezogenen Sirenen der Schiffe im Hafen hören sich an wie klagende Trompeten. Die Avenida del Puerto ist wie die Staffage eines film noir , düster und verlassen. Havanna erliegt der ungewissen Nacht: vereinzelte Radfahrer ohne Licht (der Dynamo zehrt Kräfte), schnaufende Busse bulgarischen Fabrikats kommen neben dem Hotel Bruzón zum Sterben, das Neonlicht eines Tangolokals blinkt grün und rot, jineteras, die Touristenliebchen, begeben sich auf den Weg zur Marina Hemingway (“Ay, la culebra!”) oder in ihr Wohnviertel (La Víbora). Havanna wirkt wie die Ruine einer Stadt, wie die verfallene Altstadt von Panama City nach der Invasion der yanquis, aber mit mehr Schwüle und Schwermut. Havanna wirkt wie der Nachhall einer seufzenden Trompete, wie der letzte Schluck Rum oder Kaffee, pura agonía, während zu vorgerückter Stunde in den luftgekühlten Bunkern der Stadt die Machete geschliffen wird (Raúl Castro) – und die Feder: Roberto Fernández Retamar, stets in seinem aus der Mode gekommenen Anzug und zu kurz gebundener Krawatte (out ist in), beschwört José Martí und die Zeit der Mambises. Aber die Sierra Maestra bringt keine Helden und große Taten mehr hervor, sondern Santería, Bauernmarkt und Boleros: Oriente, ay, yo me voy a morir… (Cheo Marquetti). Vorbei sind die Zeiten, als der Troubadour Sindo Garay die Bucht von Santiago de Cuba durchschwamm, um den aufständischen Truppen Maceos als Bote zu dienen: Sindo Garay schüttelte die Hand von Martí und Fidel (so zu lesen bei Carmela de León/Letras Cubanas) und komponierte eine eigene Bayamesa. Natürlich hinterließ Sindo Garay, coño, nicht nur Lieder, sondern auch im Alter noch zerbrochene Herzen und einige Kinder. Geblieben sind Oriente (immer wieder Oriente, aber immer anders) und die lágrimas negras, die schwarzen Tränen von Matamoros: ewiger Seufzer des Son und der Salsa, von Matamoros, wie gesagt, erdichtet, später interpretiert von Abelardo Barroso, Henry Fiol (der die Stimme Barrosos in Spanish Harlem wiederentdeckt) oder Roberto Torres. Die schwarzen Tränen beweinen die Selbstverlorenheit nach der Begegnung mit der Femme fatale oder der idealen Frau, sie erzählen vom Leiden nach der Trennung, sie sind schwarz vor Kummer, vor Haß und vor Verzweiflung. Die schwarzen Tränen vermischen sich mit licor, dem Balsam der Verlassenen, und der Unglückliche lehnt an der Bar, voller Schmerz, im Zwiegespräch mit dem Wirt: Tabernero, sag mir, coño, was von beidem ist grausamer – der unheilvolle Schnaps oder die Unehrlichkeit der Frau? Das ist die Lektüre des Lebens auf “Macho” (etwa so, wie man Cortázars Lebensbuch Rayuela lesen muß). Die schwarzen Tränen gehorchen der Logik des caballero und verachten das Weib, die hembra (der notwendige Gegenpart zum Macho), aber zugleich lieben sie die Frau: Te odio, sin embargo te quiero. Schwarze Tränen sind ambivalent. Sie sind das männliche Stoffwechselprodukt von Verlangen und Resignation, von Todestrieb, feuriger Leidenschaft und Wimmern nach Geborgenheit, vielleicht auch die Trauer um eine nicht geglückte Sado-Maso-Kiste oder, wie Sozialwissenschaftler sagen würden, eine nicht symmetrisch gestaltete Beziehung. So gesehen ist auch die Losung Fidels, “Sozialismus oder Tod”, eigentlich ein Bolero mit pechschwarzen Tränen, aber mit dem Beiklang eines Kriegs- oder Notrufes und den entsprechenden Instrumenten. Kuba, so scheint es Fidel, verkommt zur Hure, durch den Einfluß Miamis, westlicher pluriporquerías (Fidels Bezeichnung für “Mehrparteiensystem”) und Oppositioneller im eigenen Land. Doch schwarze Tränen gibt es in Kuba überall, denn fast jeder fühlt sich betrogen: die naiven Touristen von den ausgefuchsten jineteras (“Ay, la culebra!”), die Parteimitglieder von den eigenen Losungen, die Gesellschaft vom Staat, die dialogbereite gemäßigte Opposition von Robertico Robaina, der die Gespräche seit Madrid nicht mehr fortgeführt hat, und Fidel, ay, von dieser Mulattin, die in die Hoheitsgewässer des Feindes abzudriften droht. Sindo Garay hatte bei seinen Frauen noch die Oberhand, auch im Alter, wie gesagt, aber das ist hundert Jahre her. Fidel schützt sich vor Betrug oder Emanzipation mit seinen traditionellen Insignien: Sierra-Maestra-Bart, Kampfanzug (ebenso sympathisch wie der Anzug von Retamar) und schußsichere Weste. Aber während die alten Boleros die Geliebte durch Text und Musik oder durch Schmalz und Unterwürfigkeit erneut gewinnen wollen, versucht es Fidel mit einer Drohung. Fidel nimmt in seiner Losung Socialismo o muerte nur das tragisch-dramatische Element des Bolero auf. Der Bolero dagegen besingt trotz aller erlittenen Schmach und aller schwarzer Tränen ein starkes Gefühl der Zuneigung, das den Sänger mit der Geliebten verbindet, auch wenn diese schon längst verschwunden ist, denn darin liegt die Großmut und das feeling des Kavaliers. Barbarito Diez verwandelt Aurora, diesen populären Bolero, in einen Danzonete, und Celina González, die Muse des guateque campesino, singt ihn als Son. Aurora ist die Geliebte/Morgenröte, die uns immer einen Schritt voraus ist, ay.
Roman Rhode
Aurora Morgenröte
Ay Aurora, me has echado al abandono, Ach, Aurora, du hast mich
in die Verbannung geworfen,
Yo que tanto y tanto te he querido, Mich, der dich so sehr geliebt hat,
Con tu negra traición me has engañado, Mit deinem schwarzen Verrat hast du mich betrogen,
En el fondo del alma me has herido. Tief in meinem Herzen hast du mich
verwundet.
Has tratado de engañar el alma mía, Du hast versucht, mein Herz zu betrügen,
Castígala gran Dios con mano fiera, Gro゚er Gott, strafe sie mit eisener Hand,
Que sufra mucho pero que no muera, Sie soll viel leiden, doch sie soll nicht
sterben,
Ay Aurora, yo te quiero todavía. Ach, Aurora, ich liebe dich noch immer.
Von Bücherzügen und Lesestunden
“Die Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro ist die achtgrößte Bibliothek der Welt: Acht Millionen Bücher, 200 Stiche von Albrecht Dürer, viele Partituren alter Meister und die größte Sammlung italienischer Maler des 16. Jahrhunderts außerhalb Europas.” Affonso Romano Sant’Anna, Präsident der “Fundaçao da Biblioteca Nacional” und Dichter, ist sichtlich stolz auf den Tempel des geschriebenen Wortes und der schönen Künste.
Eigentlich haben die BrasilianerInnen die geschichtsträchtigen Werke Napoleon zu verdanken: Die Bestände haben ihren Ursprung in der königlichen Bibliothek Portugals. Don Joao IV. floh 1808 vor Napoleons Truppen in die portugiesische Kolonie nach Übersee – mitsamt Hofstaat und eben der Bibliothek.
Doch ging es in dem Treffen zwischen Sant’Anna und Horst Kreibich, Leiter der deutschen “Stiftung Lesen”, auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse weniger um die Schätze illustrer Buchkunst. Möglichkeiten der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leseförderung wollten sie austüfteln, und ein erstes Gespräch über allseits so beliebte Projekte stand auf dem Programm.
Die brasilianische Lesestiftung sieht ihre Aufgabe nicht in Alphabetisierungskampagnen (in Brasilien können etwa 19 Prozent der BewohnerInnen nicht lesen und schreiben), sondern darin, die 50 Millionen “funktionalen Analphabeten” im Land an das Lesen heranzuführen. “Funktionale Analphabeten” sind jene, die zwar Geschriebenes entziffern können, aber den Sinn und die Zusammenhänge des Gelesenen nicht verstehen. Für Europa wird die Zahl von der “Stiftung Lesen” übrigens genauso hoch geschätzt, in Deutschland gibt es nach Angaben von Horst Kreibich zwischen 3 und 5 Millionen “funktionale Analphabeten”.
Der “Biblioteca Nacional” sind in Brasilien 3000 öffentliche Bibliotheken und 900 Unibibliotheken angeschlossen. Neustes Projekt der Leseförderung: “Wir wollen Bücherzüge, quasi Bibliotheken auf Schienen, einrichten, die von Rio de Janeiro nach Minas Gerais fahren”, erzählt Sant’Anna. Bei den einzelnen Stationen soll es dann ein Begleitprogramm geben, beispielsweise gemeinsames Lesen und Lesungen, um die Leute mit den gedruckten Zeichen vertraut zu machen. Ähnliches ist mit Schiffen geplant – ein Schiff der Marine soll demnächst mit der zivil-pädagogischen Fracht an der Küste entlang und die Flüsse hinauffahren. Ach ja, und falls jemand zufällig einen finanzkräftigen Reeder oder eben einen Unternehmer aus der Eisenbahnbranche kennt…
Natürlich fehlt es auch der brasilianischen Lesestiftung an Geld – Spenden sind willkommen. Kein Wunder also, daß der Hauptjob von Sant’Anna in Bittgängen zu Privatunternehmen besteht (Kreibich nickt bestätigend). Manchmal hat er sogar Erfolg. Die Unternehmer haben längst mitgekriegt, daß mit der Lesefähigkeit der Arbeiter auch die Produktivität steigt. Denn, wer eine Gebrauchsanweisung nicht nur entziffern, sondern auch verstehen kann, arbeitet effektiver. Wer liest, soll zudem mehr Kreativität und Phantasie entwickeln – heißt es.
Lesestunden in den Betrieben finden freilich in der Mittagspause statt, gegessen wird dann eben später. Literarische Erzählungen und weniger Anspruchsvolles wird erst vorgelesen, dann mit den ArbeiterInnen besprochen, in der Hoffnung, ihr Interesse zu wecken und zu fördern.
Ein Teil des Budgets geht für Werbung drauf- vornehmlich in dem oft als buchfeindlich verschrienen Medium Fernsehen. Längst jedoch haben die Lesefachleute begriffen (in Lateinamerika um ein vielfaches schneller als in Europa), daß zwischen Buch und Fernsehen keine Gegnerschaft mehr besteht. Das eine kann durchaus in den Dienst des anderen treten.
Mit dem gemeinsamen Projekt von deutscher und brasilianischer Lesestiftung wurde es dann erst mal doch nichts. Die “ersten gemeinsamen Gespräche” zeichneten sich durch Unverbindlichkeit aus. Auch von Erfahrungsaustausch konnte kaum die Rede sein. Dafür wollen sich die Herren dann noch mal extra zusammensetzen.
Haiti geballt
The Haiti Files – das ist ein Sammelung aus Berichten, Dokumenten, vertraulichen Memos, Niederschriften und Reportagen. Das Gerüst für die vielen, kurzen Kapitel bilden vier Hauptteile – die Schilderung der Ausgangslage, die Akteure und die Krise nach dem Militärputsch im September 1991 – komplettiert durch eine Chronologie der Ereignisse.
Eine Ikone des Internationalismus führt in die Tragik des Karibikstaates ein. Noam Chomsky versucht, den roten Faden von der Conquista bis zum heutigen Tag aufzunehmen – leider gleitet er ihm immer wieder aus den Händen. In der Tradition linker Analyse erscheint Haiti als Tummelplatz von Kolonialmächten und den strategischen Interessen der USA. Die Bevölkerung bleibt in Chomskys Beitrag – entgegen aller Erkenntnisse der Sozialgeschichte – nur in der Rolle des Opfers. Gelungener, weil authentischer, ist ein Beitrag über den Diktator Francois “Papa Doc” Duvalier. “Unser Doc, der Du bist lebenslang im Nationalpalast, geheiligt sei Dein Name jetzt und für alle Zukunft … gib uns heute unser neues Haiti und vergib niemals die Sünden der Anti-Patrioten, die täglich auf unser Land spucken.” Keine Parodie, sondern der Schluß einer von der Diktatur vertriebenen Broschüre mit dem Titel “Katechismus der Revolution”.
Haiti – mehr als Militär
und Aristide
Im zweiten Teil des Buches gelingt der Versuch ein Bild von den Kräften zu zeichnen, die in den vergangenen Jahren die Politik in Haiti bestimmt haben: mächtige Familienclans, das Militär, die haitianische Exilgemeinde in den USA, die Volksbewegungen und natürlich Jean Bertrand Aristide.
In der Weltöffentlichkeit erschien die Krise Haitis seit dem Militärputsch vor drei Jahren als ein Machtkampf zwischen reaktionären Militärs und einem ungewöhnlichen Präsidenten im Exil. Das wurde dem Einfluß der großbürgerlichen Clans auf Haiti nicht gerecht. Nicht nur, daß die Brandts, die Mevs, die Accras und einige andere den Militärputsch im September 1991 unterstützt hatten; sie haben auch bis zur Invasion der USA durch geschickte Lobby-Arbeit in Washington die Rückkehr von Aristide hintertrieben. Dabei stießen sie sogar in höchste Regierungskreise vor. Ron Brown, Handelsminister im Kabinett von Bill Clinton, wühlte lange Jahre als Lobbyist für “Baby Doc”, Sohn und Nachfolger von “Papa Doc” Duvalier, in der Machtzentrale Washington. Fast jede Familie hat eine solche Wühlmaus in Washington – Juristen, die mit vertraulichen Memos und sogenannten Hintergrundinformationen Einfluß auf die US-Administration und Kongreßabgeordnete nehmen. Detailliert und substantiell werfen die Haiti Files Licht auf diese dezent und im Dunklen arbeitenden Kräfte.
Die sauber recherchierte Information über Strukturen und Hierarchie ist auch die Stärke des Abschnitts über das haitianische Militär. Gerade auf dem Land, auf dem 75 Prozent der Bevölkerung leben, hatte die Junta durch ein feingesponnenes Netz sogenannter chefs de section eine feste Basis. Brutal und ohne Legitimation durch die Verfassung regierten sie im Stile kleiner Diktaturen ihre Bezirke. Die berüchtigten Attachés waren ihre Schergen, die sie durch ein ausgeklügeltes System von Korruption und Postenschieberei an sich banden. Besonders ein Bericht des in New York ansässigen Lawyers Committee for Human Rights veranschaulicht die Effizienz und Kaltschnäuzigkeit militärischer Hierarchie.
Die unter den Duvalier-Diktaturen berüchtigten Tonton Macoutes, eine Art Privatarmee der Duvaliers, waren den Militärs nach dem Sturz von “Baby-Doc” ein Dorn im Auge und wurden 1987 unter der Junta von General Namphy verboten. Wenn auch nicht mehr organisiert, blieben sie das Schreckgespenst der armen Bevölkerung, tauchten als Attachés wieder auf und erreichten unter dem Deckmäntelchen einer neuen Partei der Rechten, der FRAPH, beinahe wieder den alten Einfluß. Der Aufbau der Haiti Files erweist sich hier als Manko, die Informationen über Militär, Tonton Macoutes und FRAPH sind reich an Details, die Querverbindungen werden aber nur angerissen.
Portraits der Machtlosen
Nur wenig Raum bekommt die haitianische Exilgemeinde in den USA. Nahezu 1,5 Millionen HaitianerInnen leben in der Diaspora, die meisten davon in den USA. Ein erheblicher Anteil des Bruttosozialprodukts in Haiti kommt – ähnlich wie auf Kuba – aus den Geldbeuteln von Verwandten und FreundInnen aus den USA. Umso bedauerlicher, daß die HerausgeberInnen dem Phänomen der ExilhaitianerInnen nicht einmal zehn Seiten widmen. Die Darstellung bleibt in der Beschreibung von Polit-Machtkämpfen zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Exilgemeinde stecken.
Auch der nächste Block über die Volksbewegungen Haitis kommt nicht über strukturelle Beschreibungen hinaus. Lavalas, die Sturzflut, das ist die heterogene Volksbewegung die den charismatischen Aristide fast über Nacht in den Präsidentenpalast geschwemmt hat. Der übrigens bereits in den LN 238 veröffentlichte Artikel von Marx V. Aristide und Laurie Richardson gibt zwar einen Überblick über die strukturelle Vielfalt von Lavalas, läßt die LeserInnen aber im Stich, wenn sie die Antwort auf die Frage suchen: Lebt die Lavalas-Bewegung oder existiert sie nur noch in den Diskussionspapieren der zerstrittenen Strömungen innerhalb der Bewegung?
Der Block über die AkteurInnen schließt mit Aristide selbst. Die HerausgeberInnen haben sich für die Übernahme eines im Reportagestil gehaltenen Portraits entschieden – eine glückliche Wahl. Das Charisma und die Ausstrahlung des Salesianerpriesters sind im Beitrag von Amy Wilentz greifbar, gleich einem Messias scheint er über allem zu schweben. Seine Stellung als Antipode zur Amtskirche wird jedoch nicht thematisiert. Hier hätte ein kleiner Ausflug in die zweifelhaften Aktivitäten der Amtskirche während der Zeit des Militärregimes das Bild bestimmt abgerundet.
Der Eiertanz der US-Politik
Die AkteurInnen sind vorgestellt und im dritten Teil steigen die Haiti Files in die Krise ein. Die Krise, das ist die Zeit der Militärdiktatur, das sind die verzweifelten Versuche von Aristide, dem Newcomer auf der politischen Weltbühne, nicht im diplomatischen Ränkespiel unterzugehen, das sind die permanenten Versuche des US-Geheimdienstes CIA, aber auch des Pentagons, Aristide als Psychopathen zu diffamieren. Der Block über die Methoden, Motive und Machenschaften der USA ist informativ und sauber gegliedert. Insbesondere der Beitrag des US-Journalisten John Canham-Clyne verdeutlicht, wie weit die USA in ihrem Handeln von den pathetisch formulierten Absichtserklärungen zu Freiheit und Demokratie entfernt waren.
Die wirtschaftlichen Interessen der USA, das Zusammenspiel zwischen US-amerikanischer Wirtschaftspolitik und den Empfehlungen der Weltbank nimmt der nächste Part unter die Lupe. Hier wagen die Haiti Files, was mensch sonst oft schmerzlich vermißt: Den Blick in die Zukunft, auf die Weichen, die unabänderlich gestellt scheinen. OptimistInnen redeten bereits vom “Taiwan der Karibik”. Doch da ist der Wunsch eindeutig Vater des Gedanken; Haiti ist zwar Billiglohnland, der US-Markt nahe, aber das gilt ebenso für jedes andere karibische Eiland. Warum sich ausgerechnet Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, zum Tiger der Karibik mausern sollte, bleibt ein Rätsel.
Auch wenn die unmittelbare Verknüpfung dieses Blocks mit der politischen Situation während der Militärdiktatur nicht unmittelbar einsichtig erscheint, erschließt sich den LeserInnen ein differenziertes Bild von den Zwängen, mit denen auch ein Jean Bertrand Aristide konfrontiert sein wird.
Die Haiti-Connection – Drogenhandel und Militär
Haiti ist zunehmend als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel ins Gerede gekommen. Mehr als Vermutungen und Gerüchte sind der Öffentlichkeit dabei noch nicht untergekommen. Die Haiti Files schaffen hier Abhilfe. Nüchtern und ohne sich nur auf Verdächtigungen zu stützen, listen sie auf, was bekannt ist und was von Untersuchungsausschüssen des US-Kongresses zusammengetragen wurde – und das belegt, daß hochrangige Vertreter des abgedankten Militärregimes tief in den Drogenhandel verstrickt waren. Aus einem Memo des US-Justizministeriums etwa geht hervor, daß der verhaßte Polizeichef von Port-au-Prince, Michel François, im Drogengeschäft mitgemischt hat. Dabei hatte der CIA wahrscheinlich indirekt mitgeholfen: Mitte der 80er baute der US-Geheimdienst eine Anti-Drogen-Einheit im haitianischen Militär auf. Jetzt steht diese Einheit im Verdacht, eine der Schaltzentralen des Drogenhandels auf Haiti gewesen zu sein.
Der letzte Block des Krisenteils rollt die Scheinheiligkeit US-amerikanischer Menschenrechtspolitik auf. Anhand eines Memos der US-Botschaft in Port-au-Prince wird deutlich, daß den Behörden in den USA daran lag, die Menschenrechtssituation in Haiti zu verharmlosen. Die Glaubwürdigkeit selbst solch renommierter und anerkannter Organisationen wie amnesty international wurde angezweifelt. Das Problem waren nicht die Menschenrechte auf Haiti, sondern die Flüchtlinge vor der Küste der USA. Der Abschnitt verdeutlicht eindrucksvoll wie je nach politischer Großwetterlage in den USA, die Menschenrechte in Haiti entweder als garantiert oder als verletzt betrachtet wurden.
Ein Sammelband ist ein Sammelband ist ein…
Der vierte und letzte Teil des Buches, die Chronologie der Ereignisse, beginnt am 15. Oktober 1990, dem Tag als Aristide seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten bekanntgab. Die Chronologie reißt am 11. Mai 1994, dem Redaktionsschluß für die Haiti Files ab. So sei hier der Lauf der Zeit vervollständigt. Am 15. Oktober 1994, vier Jahre nach seiner Erklärung, Präsident werden zu wollen, kehrt Aristide als solcher wieder nach Haiti zurück. Schade, daß die HerausgeberInnen nicht weiter in die Vergangenheit zurückgegangen sind – einige Eckdaten aus der Geschichte Haitis wären von großem Nutzen für die LeserInnen.
Als Nachschlagewerk für Hintergrundinformationen über die politische Entwikklungen der letzten Jahre hat der Sammelband eine schmerzliche Lücke geschlossen. Jedoch wäre ein Register eine große Hilfe gewesen, gerade weil sich den LeserInnen darüber die Querverbindungen zwischen den Beiträgen erschlossen hätten.
Die Haiti Files: 33 AutorInnen, 33 Beiträge, 33 Ansichten, Haiti geballt – weniger ist manchmal mehr.
Das Latin American Bureau hatte sich angesichts der Aktualität des Themas Haiti im Frühsommer entschieden, das Buch früher als geplant auf den Markt zu bringen – zu Lasten der Aufmachung. Die Bücher des Londoner Verlags bestechen im allgemeinen durch einfallsreiche Titelmontagen und sauberen, modernen Druck; nicht so die Haiti Files. James Ferguson, Autor mehrerer Latin America Bureau-Titel, erklärte gegenüber den LN auf der Frankfurter Buchmesse, dies sei der Preis für die Aktualität. Dem Verkauf des Buches hat sein Äußeres offenbar nicht geschadet. Nach Verlagsangabe geht der Sammelband sehr gut.
The Haiti Files: Decoding the Crisis, hrsg. v. James Ridgeway; Essential Books, Washington D.C., 1994. Latin America Bureau, London, 1994. Bezug: LN-Vertrieb, Gneisenaustraße 2, 10961 Berlin. 16,80 DM
Mehr als eine Liebesgeschichte
“Von der Liebe und anderen Dämonen”, so der Titel des neuesten Romans vom kolumbianischen Vorzeigeschriftsteller. In seiner unverwechselbar bildreichen Sprache, in der Lebensfreude und Schwermut untrennbar miteinander verwoben sind, erzählt García Márquez die Geschichte der zwölfjährigen Sierva María de Todos los Angeles, die im Haus ihrer Eltern, dem Marqués de Casalduero und dessen Frau Bernarda Cabrera als eine Fremde heranwächst.
Von ihrem Vater vernachlässigt, von ihrer Mutter gehaßt, wächst sie unter den Sklaven des Hauses auf, deren Sprache und Religion sie verinnerlicht.
Das Unglück beginnt, als Sierva María an ihrem zwölften Geburtstag von einem tollwütigen Hund gebissen wird. Ihr Vater, der daraufhin seine Zuneigung zu ihr entdeckt, unterwirft sie in panischer Angst, seine Tochter könne erkranken, den qualvollen Behandlungen sämtlicher Wunderheiler und Quacksalber von Cartagena.
Als Sierva María sich verzweifelt wehrt, beginnt sich plötzlich der Bischof der Diözese für sie zu interessieren: hinter dem kratzbürstigen Widerstand des Kindes glaubt er, das Wirken Satans zu erkennen. Deshalb drängt er den Marqués, seine Tochter zur Beobachtung in das nahegelegene Kloster der Klarissinnen zu geben, was dieser schweren Herzens auch tut.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als der mit den Exorzismen betraute Pater Cayetano Delaura sich in das Kind verliebt, woraufhin er in eine schwere Glaubenskrise stürzt.
In dieser “zauberhaften Geschichte über irdische, himmlische und geistige Leidenschaften”, so der Klappentext, ist García Márquez, nach seinem etwas schwerfälligen Roman über den lateinamerikanischen Befreier Simon Bolívar, nun wieder zu dem zurückgekehrt, worauf er sich am besten versteht: phantastische Bilder, wie aus einem vergangenen Traum, werden zu lateinamerikanischen Realitäten verdichtet. So ist es vielleicht kein Zufall, daß auch der Ort der Handlung derselbe ist wie in García Márquez’ großem Erfolgsroman “Die Liebe in den Zeiten der Cholera”.
Der Roman ist freilich mehr, als nur die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Anhand dieser und um sie herum zeichnet Márquez ein Bild der eigentlichen und ungleich verheerenderen Dämonen, die Lateinamerika seit dessen gewaltsamer Christianisierung vor fünfhundert Jahren heimsuchen.
Aberglaube, Unterwürfigkeit, innerkirchliche Machtkämpfe und eine entartete Religiosität zur Zeit der spanischen Inquisition erheben allüberall ihr Haupt und es ist förmlich zu spüren, wie sich die Hoffnungslosigkeit gleich einem dieser “apokalyptischen Tropenstürme” unaufhaltsam heranschiebt.
Mit journalistischem Scharfsinn fängt García Márquez Stimmungen ein und hält das Tempo in seinem Roman, der nie schleppend wirkt. Und das paßt dann auch zu den Worten, die er seiner Geschichte vorausschickt und in denen er den wahren Ursprung seines Berichtes behauptet. Er gebe doch nur eine Legende wieder, die in den Dörfern der kolumbianischen Karibik seit Jahrhunderten existiere.
Andererseits wirkt die Erzählung bisweilen übereilt, ja sogar gehetzt, als ob der Autor sich selbst vor den Dämonen, die er beschwört, nicht sicher fühle und sich zum Ende des Romans hinflüchte.
So bleibt beim Leser der Eindruck, eben erst den Entwurf eines großen und lesenswerten Romans kennengelernt zu haben.
Gabriel Garcia Marquez, Von der Liebe und anderen Dämonen, Kiepenheuer & Witsch, 224 S. 38 DM, ISBN 34620236-08
Easy-living auf Jamaica
Der schöne Mann
Im ersten Krimi schildert Zahl den Zusammenhang von Gewalt und Politik auf der Karibikinsel. Der “schöne Mann”, der tot an einem Strand gefunden wird, ist James DoubletroubleFehler: Referenz nicht gefundenGunmenFehler: Referenz nicht gefundenRuffneckFehler: Referenz nicht gefundenines Freundes Prento, seiner Geliebten Valerie und seiner Sekretärin Donna nur wenig Mühe, den Fall zu lösen.
Nichts wie weg
Der Aufhänger für den zweiten Krimi ist der Sextourismus. Fraser erhält den lukrativen Auftrag, die reiche Erbin Mrs. Dexter aufzuspüren. Die hatte sich nach ihrer Ankunft auf Jamaica einen Rent-a-dreadFehler: Referenz nicht gefunden ein paar Tagen zur illegalen Arbeit in die USA gefahren ist, hat Fraser “dicke Eier”. Für Fraser ganz unerwartet – sie ist doch schon lange scharf auf ihn – hält Donna ihn noch einige Tage hin, seine Qual kennt kaum noch Grenzen. Donna wartet allerdings nur auf ihre fruchtbaren Tage, sie kann sich nichts schöneres vorstellen, als von Fraser geschwängert zu werden. Natürlich erledigt Fraser auch diese Aufgabe mit Bravour!
Sex and Crime
Hatte man beim ersten Buch noch das Gefühl, daß es sich tatsächlich um einen Krimi handelte, ist der plot im zweiten Buch völlig untergeordnet. Zweifelsohne, Peter-Paul Zahl kann gut und witzig schreiben, doch er vergißt – vor allem beim zweiten Buch -, die eigentlichen Geschichten zu entwickeln. Wer einen guten Krimi erwartet, wird enttäuscht. Frasers Fälle sind nur Beiwerk, im Mittelpunkt steht sein “easy-living” Dennoch wird Zahl sei_nem Anspruch, “eine Sitten_schilderung von unten zu brin_gen, die Ge_sellschaft in ihren Strukturen zu zeigen” durchaus gerecht – auch wenn die sozial_kritischen Abschnitte manchmal etwas aufgesetzt wirken. Nervig ist allerdings – Vor allem im zweiten Buch, die Dauergeilheit (fast) aller Personen. Wo die erotischen Szenen vielleicht Sinnlichkeit und Spaß am Sex beschreiben sollen, wirken sie eher wie der Versuch, die Vorlieben einhändiger Leser zu befriedigen.
Peter-Paul Traven?
Unverständlich ist auch der bei jeder Gelegenheit von Peter-Paul Zahl geäuerte Anspruch, mit seinem Krimizyklus ein “jamaicanischer B. Traven” werden zu wollen. Ist es Eitelkeit oder PR-Strategie, daß er selbst diesen Anspruch im Voraus und öffentlich erhebt?
B. Traven war das – gut gehütete – Pseudonym des Anarchisten Ret Marut, der nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919 aus Deutschland floh und nach vielen Jahren in Mexiko landete, wo der Großteil seiner Romane und Erzählungen spielt. (Insbesondere der sechsbändige Chiapas-Zyklus hat durch den Aufstand der ZapatistInnen neue Aktualität gewonnen.)
Dabei gibt es durchaus Parallelen zwischen Ret Marut/B. Traven und Peter-Paul Zahl. Ret Marut konnte sich einem Hinrichtungskommando der Freikorps nur durch Flucht entziehen. Zahl verließ Deutschland nach einem langen Knastaufenthalt. Beide sind Anarchisten und in ihren Büchern ist beiden die Sympathie für Paul Lafargues Forderung nach einem “Recht auf Faulheit” anzumerken.
Es bleibt zu hoffen, daß Peter-Paul Zahl seinem Privatdetektiv Fraser einmal die Chance gibt, einen spannenden Kriminalfall zu lösen. Der nächste Krimi erscheint im Frühjahr 1995, Thema ist Anbau und Export von Ganja (Marihuana).
Peter-Paul Zahl: Der schöne Mann u. Nichts wie weg, jeweils 24,80 DM, Berlin 1994, Verlag Das Neue Berlin, ISBN 3-359-00746-8
“Europa gehört mit seiner Asylpolitik auf die Anklagebank”
Das “Ständige Tribunal der Völker” wurde von dem italienischen Senator und undogmatischen Sozialisten Lelio Basso gegründet und versteht sich als Nachfolgeorganisation der Bertrand-Russell-Tribunale. In Form einer symbolischen Gerichtsverhandlung bieten die Basso-Tribunale den Opfern von Menschenrechtsverletzungen ein quasi-juristisches Forum, bei dem konkrete Fälle von Verstößen gegen (inter)nationale Rechtsnormen untersucht und die damit verbundenen politischen Zusammenhänge analysiert werden. In der Bundesrepublik wurde das Basso-Tribunal vor allem durch seine Verhandlung zur Politik von IWF und Weltbank bekannt, die 1988 parallel zur IWF- und Weltbanktagung in Berlin stattfand.
Die Vorgeschichte
Die Idee eines Tribunals zum europäischen Asylrecht entstand im Juni 1993 auf einem Seminar verschiedener Berliner Flüchtlings- und Antirassismusgruppen, in dem es um die Weiterarbeit nach der Grundgesetzänderung beim Asylrecht ging. Schnell war klar, daß sich ein solches Tribunal nicht nur mit der bundesrepublikanischen Asylpolitik beschäftigen sollte, sondern daß die Einschränkung des Artikels 16 GG in Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Abschottungspolitik analysiert werden muß. Nachdem sich die Basso-Stiftung bereit erklärt hatte, die offizielle Trägerschaft des Tribunals zu übernehmen, gründeten die Mitglieder verschiedener Berliner Asyl- und Antirassismusgruppen einen Vorbereitungskreis, der die organisatorischen Vorarbeiten für die fünftägige Veranstaltung übernahm. Inzwischen wird das Tribunal von einem breiten Bündnis bundesrepublikanischer und europäischer Gruppen und Organisationen unterstützt. Da trotz der breiten Unterstützung nach wie vor rund 50.000 DM zur Finanzierung des Tribunals fehlen, ist der Vorbereitungskreis dringend auf weitere Spenden angewiesen.
Das Tribunal
Im ersten Teil der öffentlichen Verhandlung des Tribunals werden die verschiedenen Problemfelder der Asylrechtspraxis der europäischen Staaten, wie zum Beispiel Einreisehindernisse, Abschiebung, Anerkennungspraxis, “Rückführungsabkommen”, Lebensbedingungen während des Verfahrens, Flughafenregelung, Konzept der “verfolgungsfreien Länder” und der “sicheren Drittstaaten” oder die polizeiliche Behandlung von Asylsuchenden untersucht. Neben Berichten zur allgemeinen Situation von Flüchtlingen in diesen Ländern, werden im Zuge der Beweiserhebung exemplarische Fallbeispiele aus den genannten Staaten vorgestellt und die betroffenen Asylsuchenden zu ihren konkreten Problemen mit den zuständigen Stellen angehört. Obwohl die im Rahmen des Tribunals untersuchten Fälle längst nicht die gesamte Bandbreite der mit der europäischen Asylpolitik verbundenen Probleme abdecken können, gibt ein Auszug aus der derzeit vorliegenden Liste einen Eindruck von den Auswirkungen der Abschottungspolitik der europäischen Staaten: Neben Flüchtlingsschicksalen aus dem Iran, Senegal, Rumänien, Kurdistan und Haiti ist da der Fall eines Flüchtlings aus Zaire, der nach der Ablehnung seines Asylantrags (in der Schweiz) abgeschoben und in seinem Heimatland gefoltert wurde, oder der Fall eines peruanischen Flüchtlings, der von der spanischen Polizei mißhandelt wurde.
Im zweiten Teil des Tribunals wird der politische Kontext von Flucht und Abschottungspolitik analysiert. Hierbei stehen Fragen nach den Fluchtursachen ebenso auf dem Programm wie der Zusammenhang zwischen der Einschränkung des Asylrechts und des Abbaus von Demokratie und sozialen Rechten oder die systematische Illegalisierung von Flüchtlingen.
Ausgehend von einer umfassenden Analyse der Problematik von Flucht und Abschottungspolitik ist von dem abschließenden Urteilsspruch der Jury des Tribunals nicht nur eine moralische Bewertung der Asylpraxis der europäischen Staaten, sondern auch eine Reihe von Vorschlägen für eine humane Asylpolitik und die Weiterentwicklung der Genfer Flüchtlingskonvention zu erwarten.
Johannes Zerger
Das Basso-Tribunal findet vom 8. bis 12.12.94 statt. Um das Gelingen des Tribunals sicherzustellen, ist die Vorbereitungsgruppe dringend auf personelle und finanzielle Unterstützung angewiesen. Nähere Informationen gibt es beim Sekretariat des Basso-Tribunals, c/o AStA TU; Marchstr. 6, 10587 Berlin, Tel.: 314 24437. Steuerlich absetzbare Spenden werden erbeten auf das Konto der Antirassistischen Initiative: Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 100 205 00), Konto-Nr.: 303 96 05, Stichwort: Basso-Tribunal
Programm
Donnerstag, 8.12.:
I. Eröffnung, Anklage und rechtlicher Rahmen
1. Offizielle Begrüßung
2. Vorstellung der Hauptanklagepunkte
3. Allgemeiner Bericht über den aktuellen Stand des Flüchtlingsrechts
II. Länderbericht zur Beweiserhebung aus den europäischen Staaten BRD, Frankreich, Schweiz und Spanien mit Anhörung der ZeugInnen
Freitag, 9.12.
Länderberichte (Fortsetzung)
III. Expertenberichte zu Fluchtursachen und restriktiver Asylpolitik
1. Menschenrechtsverletzungen und Flucht (Vortrag und Befragung)
2. Ökonomische Fluchtursachen (Vortrag und Befragung)
Samstag, 10.12.
3. Restriktive Asylpolitik und Demokratie (Vortrag und Befragung)
4. Restriktive Asylpolitik und Abbau sozialer Rechte (Vortrag und Befragung)
IV. Plädoyer von Anklage und Verteidigung
Sonntag, 11.12.
V. Nichtöffentliche Ausarbeitung des Urteilsspruchs durch die Jury des Tribunals
– Politisches und kulturelles Rahmenprogramm
Montag, 12.12.
VI. Verkündung des Urteilsspruchs der Jury des Tribunals und Pressekonferenz
Der Wutausbruch des Juan Tama
Vieles erinnert an den Vulkanausbruch des Nevado del Ruiz 1985, als über 20 000 Menschen von einer Schlammlawine getötet wurden. Auch diesmal war ein schneebedeckter Vulkan beteiligt: Durch ein Erdbeben der Stärke sechs lösten sich Eisplatten des 5750 Meter hohen Nevado del Huila und vermischten sich mit riesigen Erd- und Schlammassen zu einer tödlichen Lawine, die das Flußtal herunterdonnerte. Im Gegensatz zu damals ereignete sich die Katastrophe nachmittags, so daß sich die meisten Menschen retten konnten. Trotzdem gehen die vorsichtigsten Schätzungen von über 600 Toten und 400 Schwerverletzten aus, über 1000 bleiben vermißt, und weitere 18 000 Menschen sind direkt Betroffene, die oft nur ihr nacktes Leben retten konnten und noch heute in Notunterkünften leben.
Im Notlager Escalereta
Escalereta ist eines dieser Camps. In knapp 3000 Meter Höhe und bei Temperaturen zwischen fünf und zehn Grad hausen hier 2000 Menschen in teils gespendeten, teils selbstgebauten Zelten. Die feuchte Kälte und das ungewohnte Essen haben viele Indianer, besonders Kinder, erkranken lassen. Ein kleines Team von Ärzten und Krankenpflegern, zuweilen auch ein Páez-Medizinmann, sichern die nötigste Versorgung. Immer wieder hört man, daß Hilfsgüter auf dem Landweg von der Provinzhauptstadt Popayán oder in den Depots des Heeres oder des Roten Kreuzes verschwunden sind. Viele CampbewohnerInnen stammen aus Moscoco, einem Dorf, das das Erdbeben völlig zerstört hat. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde zum Fluß Moras, wo eine kleinere Lawine 30 Menschen und die Brücke fortgerissen hat. Nach Moscoco, wo ein Teil der EinwohnerInnen unter Plastikplanen lebt, kommt man nur, wenn man sich traut, den Fluß mit einer halsbrecherischen Seilbahn zu überqueren, die jeden Moment reißen kann. Rotbraune Narben verunstalten die sonst grünen Steilhänge, dort, wo das Beben Erdrutsche auslöste.
80 Soldaten sollen Escalereta vor der Guerilla schützen, einer eher hypothetischen Gefahr. Umberto Rocha aus Moscoco berichtet, dort hätten Soldaten einen Gesundheitsposten demoliert und nach Waffen durchsucht. Die Lebensmittelverteilung wurde den Einheimischen entrissen und willkürlich gehandhabt. In Escalereta hingegen gelingt die Zusammenarbeit zwischen Heer, den Freiwilligen des Roten Kreuzes und des Zivilschutzes sowie den Führern der hier vertretenen Dorfgemeinschaften, die in enger Verbindung mit der Indianerbewegung CRIC (Regionaler Indianerrat der Provinz Cauca) stehen.
Wohin mit der Bevölkerung?
Im Katastrophengebiet wurden alle Straßen und Brücken zerstört. Man konnte sich Anfang August nur per Hubschrauber fortbewegen. Daher war in den ersten Wochen das dringendste Problem vieler BewohnerInnen die Zusammenführung ihrer Familien. In den nächsten Monaten soll die Um- und Rücksiedlung geklärt werden. Etwa 3000 Menschen haben das Páeztal bereits endgültig verlassen. Auch die Regierung favorisierte anfangs diese Variante. Dagegen besteht der CRIC, in dem die meisten Páez organisiert sind, auf einer Neuordnung der Gemeinschaften, die den weitverbreiteten Wunsch nach Zusammenhalt und Verbleib in Tierradentro berücksichtet. Diese Position scheint sich durchzusetzen.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist aber noch unklar. Der nicht-indianische Teil der Betroffenen, vor allem schwarze und mestizische Campesinos, hat eine weniger intensive Bindung an die Region und läßt sich leichter in andere Gegenden der Provinz Cauca umsiedeln. Das wird auch auf einen Teil der indianischen Dorfgemeinschaften zukommen, denn vordem fruchtbare Teile des Páeztals wurden zur Hochrisikozone erklärt und können wohl auf Jahrzehnte nicht mehr besiedelt werden. Andere Ländereien in Tierradentro müßte die Regierung Privatbesitzern abkaufen, zu denen auch Drogenhändler gehören.
Mohnfelder vernichtet
Der Anbau von Mohn stellte in den letzten Jahren eine der bedeutensten Nebenerwerbsquellen vieler Bauern dar. Die Naturkatastrophe vernichtete nahezu alle – meist kleinere – Pflanzungen, die in diesem Jahr wieder verstärkt angelegt worden waren. Die desolate ökonomische Situation – Tierradentro zählt zu den ärmsten Gegenden Kolumbiens – brachte viele dazu, das zur Heroinherstellung notwendige Mohnlatex an Zwischenhändler zu verkaufen. Im vergangenen Jahr schloß die Regierung mit den Einheimischen ein Abkommen über die Ersetzung des Mohnanbaus durch alternative Produkte. Das nun von der Lawine begrabene Ausbildungszentrum in Tóez gehörte zu diesem Programm. Der Substitutionsprozeß war jedoch bereits vorher ins Stocken geraten, da die versprochenen Mittel nur spärlich flossen. Allgemein herrschte der Eindruck vor, daß das Interesse der Regierung an der erfolgreichen Durchführung des Projekts rasch nachließ.
Staatliche Inkompetenz
Inwieweit der Mohnanbau zur Abholzung und diese wiederum zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen haben, ist umstritten. Fest steht, daß WissenschaftlerInnen bereits 1986 eine Landkarte der Region mit den jetzt verwüsteten Risikogebieten erstellt hatten: Auch eine Studie der staatlichen Umweltorganisation Inderena vom vergangenen Jahr nahm in einem Krisenszenario (Vulkanausbruch oder Erdbeben) die jetzige Katastrophe ziemlich genau vorweg. Diese Studie mit den darin vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung verschwand unbeachtet in den Schubladen der politisch Verantwortlichen.
Ein Trauerspiel war auch die dilettantische Reaktion staatlicher Instanzen in den ersten Tagen. Die Hubschrauber der Medien waren denen der Regierung weit voraus. Erst nach 48 Stunden trafen die ersten staatlichen Hilfsleistungen ein. Noch heute gibt es Menschen in abgelegenen Winkeln des Páeztals, die keinerlei Hilfe erhalten haben.
Die Indianer mußten ihre angemessene Beteiligung in der Kommission zum Wiederaufbau erst einklagen. Der von der Regierung eingesetzte Ausschuß “Nasan Kiwb” (Land der Menschen) muß nicht nur mit der Neuordnung des Lebens in Tierradentro fertigwerden, sondern auch mit internen Streitigkeiten, die wiederum die Interessenskonflikte in der Region widerspiegeln.
Die Strafe der Götter
So stellen in der Kommission VertreterInnen regierungsnaher Positionen die Mehrheit. Dazu gehört auch der Bogotaner Archäologe und Astrologe Mauricio Puerta, eine schillernde und in Tierradentro höchst umstrittene Persönlichkeit. Er lebt seit über zwanzig Jahren dort und hat mit seinen Ausgrabungen dafür gesorgt, daß die Regierung einen archäologischen Park mit indianischen Grabstätten einrichten konnte, der zu den touristischen Hauptattraktionen Kolumbiens zählt. Puerta, Schulfreund des neuen Präsidenten Ernesto Samper und astrologischer Berater mehrerer Minister, wird beschuldigt, vor dem Beben eine wertvolle Urne mitgenommen zu haben, ohne die vorgeschriebenen indianischen Riten vollziehen zu lassen. Deswegen, so ein weitverbreiteter Glaube, seien die Götter zornig geworden und hätten das Erdbeben geschickt. Andere sehen in der Katastrophe allgemein eine Antwort der Götter auf die Tatsache, daß die Natur durch den Einfluß der Weißen aus dem Gleichgewicht gebracht worden sei. Der legendäre Indianerführer Juan Tama, der im 18. Jahrhundert den Widerstand gegen die Spanier organisierte, habe – ebenso wie Kiwe, die Mutter Erde – die Menschen strafen wollen.
Jesús Piñacué, der bekannteste Aktivist der Indianerbewegung in Cauca (siehe Interview) nimmt die erste Version ernst. Puerta bestreitet sie vehement und behauptet, der CRIC habe sie selbst lanciert, um die IndianerInnen gegen ihn aufzubringen. Tatsache bleibt, daß beide Seiten um den Erhalt von Hilfsgeldern und den Einfluß in der Region konkurrieren. Daneben gibt es Parteipolitiker, Kirchenobere und VertreterInnen der anderen ethnischen Gruppen, die ebenfalls Sitz und Stimme im Führungsgremium von “Nasan Kiwb” erhalten haben.
Die – neben den RegierungsvertreterInnen – gesicherte Beteiligung der Betroffenen am jetzt beginnenden Neuanfang in Tierradentro stellt zweifellos einen Fortschritt gegenüber der Bewältigung des Vulkanausbruchs von 1985 dar. Gustavo Wilches: “Die Krise ist eine Zeit der Gefahr, aber auch der Chancen. Deswegen müssen wir sie nutzen, um diese Region nach vorne zu bringen. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, mit Schwarzen, Mestizen und Indianern.” In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die Kommission diesem Anspruch gerecht wird, was vielleicht noch schwieriger sein wird als die technische Seite des Wiederaufbaus.
“Mit Unterstützung von außen werden wir uns erholen”
Der Páez Jesús Enrique Piñacué (30) vom CRIC ist einer der profiliertesten Aktivisten der kolumbianischen Indianerbewegung. Vor kurzem war er im Team mit Antonio Navarro Wolff (Demokratische Allianz M-19) Kandidat für die Vizepräsidentschaft des Landes.
Wie wirkt sich die Katastophe auf die Páez aus?
Unser Volk hat viele harte Proben hinter sich: den Kampf gegen die Spanier, die politische Gewalt nach der Unabhängigkeit Kolumbiens, den Bürgerkrieg der Parteien, die Gewalt von seiten der Guerilla und der Drogenhändler – all dies in einem Staat, der sich der Straffreiheit beugt.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der Regierung?
In den ersten Tagen wurden wir auseinandergerissen, weil die Rettungsdienste die Leute überstürzt herausholten, ohne die lokalen Führer zu konsultieren. Allmählich kommen wir aber wieder auf den richtigen Weg zurück.
Glauben Sie, daß die Leute nach der Katastrophe wieder mehr Mohn anpflanzen werden?
Nein, denn viele einflußreiche Indianerführer sind mit diesem Lösungsversuch für die wirtschaftliche Notlage nicht einverstanden. Jetzt herrscht große Trauer, Verzweiflung und Angst, aber wenn die kolumbianische und die internationale Gemeinschaft uns unterstützen, werden wir uns erholen.
Welche Probleme sehen Sie beim Wiederaufbau?
Die Arbeit der Kommission “Nasan Kiwb” könnte von politischen Interessen behindert werden, besonders wegen der bevorstehenden Kommunalwahlen.
Wer soll die Hilfsgelder verwalten?
Präsident Gaviria hat darauf bestanden, daß alle Gelder von der Kommission kanalisiert werden. Der CRIC hat dies bereits auf seiner letzten Sitzung beschlossen.
Interview: Gerhald Dilger
und Harry Clegg
Von Deutschland aus leitet “Brot für die Welt” Spenden an den CRIC weiter. Konto 500 500 500 bei der Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Stichwort: Erdbeben Kolumbien.
Joint Implementation
Auch wenn das Vertragswerk eine mühsam ausgehandelte Kompromißlösung darstellt, so hat sich die internationale Staatengemeinschaft dennoch auf einen anspruchsvollen Pflichtenkatalog geeinigt:
* Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Klimagase, allen voran Kohlendioxid, auf einem Niveau zu stabilisieren, das einen gefährlichen, menschenverursachten Eingriff in das Klimasystem verhindert.
* Die bereits unabwendbare Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur darf nur in einem Umfang erfolgen, in dem die Ökosysteme und die globale Ernährungssituation nicht gefährdet werden.
* Die Industrieländer als Hauptverursacher des Treibhausproblems verpflichten sich, beim Kampf gegen den Treibhauseffekt die Führung zu übernehmen.
* Die Industrieländer müssen auf jährlich stattfindenden Konferenzen über ihre Erfolge beim Klimaschutz Bericht erstatten.
* Die OECD-Staaten stellen den Entwicklungsländern zusätzlich zur bisherigen Entwicklungshilfe Finanzmittel und Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die möglichen Folgen der Klimaveränderungen bereit.
Das Vertragswerk von Rio legt jedoch weder konkrete Reduktionsschritte fest – sie sollen in späteren Zusatzprotokollen verabschiedet werden – noch gibt die Konvention eine Antwort auf die heikelste Frage im globalen Klimaschutz: wie nämlich die nötigen Klimagas-Reduktionen international aufgeteilt und durch welche Maßnahmen sie erreicht werden sollen.
Eine Möglichkeit, das dringend notwendige Zusatz-Protokoll zu verabschieden, bietet sich auf der ersten Vertragsstaatenkonferenz zur Klimakonvention, dem Klimagipfel 1995 in Berlin. Bei den internationalen Vorverhandlungen in Genf zeichnet sich bereits ab, daß man auf dem Berliner Gipfel noch keine konkreten Reduktionsverpflichtungen festschreiben wird. Stattdessen schiebt sich die Diskussion um ein einzelnes umweltpolitisches Instrument immer weiter in den Vordergrund: Auf dem Gipfel in Berlin sollen Kriterien für die Durchführung von Joint Implementation beschlossen werden.
Hinter dem Konzept steht ein ökonomisches Kalkül: Da Treibhausgase unabhängig von ihrem Emissionsort, also nicht regional, sondern global wirken, ist es gleichgültig, an welchem Ort die Treibhausgas-Reduktionen durchgeführt werden. Deshalb kann, zumindest aus technischer Sicht, mit den billigsten Reduktionsmöglichkeiten begonnen werden, egal, wo diese sich befinden.
Die Befürworter von Joint Implementation gehen davon aus, das Treibhausgas-Reduktionen in den Entwicklungsländern oder den Transformationsstaaten Osteuropas zu geringeren Kosten möglich sind, als in den westlichen Industrieländern. Als Beispiel nennen sie die niedrigeren Wärmenutzungsgrade von Kraftwerken in Entwicklungs- und Transformationsländern im Vergleich zu entsprechenden Anlagen in Industrieländern. So schätzt der Bundesverband der Deutschen Industrie die Vermeidungskosten einer Tonne CO2 in einem deutschen Kohlekraftwerk auf 1000 DM, in einem chinesischen Kraftwerk hingegen auf 200 – 400 DM. Da der Nutzen der Emissionsreduktionen global ist und die für Umweltschutz zur Verfügung stehenden Mittel begrenzt sind, sei es ökonomisch rational, sie dort durchzuführen, wo sie am billigsten sind. Zusätzlich erhielten die Entwicklungsländer auf diese Weise Zugang zu Kapital und Technologie.
Noch handelt es sich hierbei um umweltpolitische Sandkastenspiele, die bislang vor allem von der einschlägigen Fachöffentlichkeit beobachtet werden. Doch schnell könnte aus einem umweltökonomischen Zauberstückchen international und in großem Umfang Realität werden. Sollte beispielsweise die Europäische Union ihre seit langem geplante Energie/CO2-Steuer einführen, so steht die Industrie bereits in den Startlöchern, um ihre Steuerschuld mit CO2-Reduktionen in osteuropäischen Ländern und Entwicklungsstaaten verrechnen zu lassen.
Als erste Versuchsballons wurden breits Joint Implementation-Projekte zwischen niederländischen und US-amerikanischen Kraftwerksbetreibern auf der einen Seite und malayischen Holzproduzenten auf der anderen aufgenommen. Für die Aufforstung beziehungsweise für den “schonenden Holzeinschlag” (reduced impact logging) erhalten die ausländischen Kraftwerksbetreiber eine CO2-Gutschrift. Die Holzproduzenten bekommen für den Umwelt-Deal bare Münze augezahlt.
Weitere JI-Projekte in Vorbereitung sind die Einführung energiesparender Lampen in Mexiko, Wiederaufforstung in der Republik Tschechien und die Reperatur undichter Gaspipelines in Rußland.
Entwicklungsländer und umwelt- und entwicklungspolitische NRO hingegen formulieren scharfe Kritik am Konzept der Joint Implementation. Sie sehen darin ein ungeeignetes und zudem schädliches Instrument zur Bekämpfung des Treibhauseffektes: Joint Implementation sei ein “Ablaßhandel” für den verschwenderischen Lebensstil des Nordens. Während der Klimaschutz im industrialisierten Norden weiterhin auf der Stelle tritt, müßten die Länder des Südens bei der Reduktion von Treibhausgasen schon einmal vorangehen.
Sie befürchten, daß sich durch Joint Implementation der Innovationsdruck im Norden verringert, und dadurch die Entstehung treibhausgas-armer Lebenstile und Technologien erhindert wird. Bei der Anrechenbarkeit auf die CO2/Energiesteuer verringert Joint Implementation zudem die erwünschte Lenkungswirkung der Steuer und zögert den notwendigen Strukturwandel in den Industrieländern hinaus.
Ein großes Problem beim Einsatz von Joint Implementation stellt die Möglichkeit von “Scheinreduktionen” dar. Es müßte die hypothetische Frage beantwortet werden, welche Emissionen sich in Abwesenheit des vorgeschlagenen Projektes einstellen wurden, bzw. eingestellt hatten. Ein Joint Implementation-Investor könnte beispielsweise ein Projekt mit einem jährlichen CO2-Ausstoß von 10 Mio. Tonnen durchführen und argumentieren, ohne seine Kooperation wäre ein Projekt mit einem Ausstoß von 11 Mio. Tonnen entstanden. Die Differenz von 1 Mio. Tonnen konnte er dann auf sein eigenes Reduktionskonto gutschreiben, obwohl es tatsächlich zu einer Nettoerhöhung der globalen CO2-Emissionen gekommen ist. Das Problem wird darüber hinaus dadurch verschärft, daß sowohl der Investor als auch das Gastland ein Interesse daran haben, von einem möglichst hohen Emissionsszenario auszugehen: je drastischer das Emissionsszenario, desto umfassender die Ausgleichszahlungen und Investitionen für das Gastland und desto höher die Emissionsgutschrift für den Investor. So könnten schlimmstenfalls als Konsequenz zusätzliche Treibhausgas-Emissionen entstehen.
Die notwendigen hohen Verhandlungs- und Kontrollkosten führen dazu, daß Joint Implementation-Projekte von großem Umfang sein müssen, um für den Investor rentabel zu bleiben. Der Hang zu Großprojekten hat sich bereits in den Industrieländern als ökologisch nicht tragfähig erwiesen. Dezentrale Formen der Energieversorgung wie Kraftwärmekopplung, Solarenergie oder Biomasse hätten dann auch in den Entwicklungsländern keine Chance, während emissionsintensive Großkraftwerke im Rahmen von Joint Implementation möglich blieben.
Doch selbst die Hoffnung auf Technologietransfer durch Joint Implementation kann sich als trügerisch herausstellen. Wenn Aufforstungsprojekte wie in Malaysia tatsächlich als Joint Implementation zugelassen werden, könnten Entwicklungsländer aus dem Handel keinerlei technologischen Nutzen ziehen. NROs aus Entwicklungsländern wehren sich deshalb heftig gegen Wälder als CO2-Speicher des industrialisierten Nordens und greifen die Idee als Ausdruck von “carbon colonialism” an.
Noch ist sich die Gruppe der Entwicklungsländer weitgehend einig in ihrer Ablehnung von Joint Implementation. Mit dem Versprechen von zukünftigen Finanz- und Technologietransfers können die Industrieländer jedoch einen mächtigen Hebel ansetzen. In den Vorverhandlungen für den Klimagipfel Berlin’ 95 zeichnet sich ab, daß die Industrieländer sich mit einer Pilotphase für Joint Implementation werden durchsetzen können.
“Romper el cerco”
Szenenwechsel: Eine alte Indígena in traditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zupackenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Geräusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bürgerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen beschäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinandermontiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deutlich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chancen für einen Friedensprozeß in Guatemala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Widerstandsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziösen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Presseoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevölkerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavideo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von BewohnerInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Campesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Beginn der Repression und Vertreibung Anfang der achtziger Jahre, von der Flucht in entlegene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Millionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerkennen. Im Laufe der Jahre haben diese gelernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die BewohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedensverhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Reformfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Guatemala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwaldregion der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisationsfähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wiederbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Parzellen Bauern vor, die vom Staat angesiedelt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die verschiedenen Campesinogruppen gegeneinander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstandsdörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Widerstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müssen versuchen, den Kreis zu durchbrechen, oder den Eindruck zunichtezumachen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufgeben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines verdeckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Oranienstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458
Jenseits des Staates?
Im Editorial weist Albrecht Koschützke darauf hin, daß die Autonomie der lateinamerikanischen Staaten (politisch und ökonomisch) seit jeher begrenzt war, die “Durchsetzung des neoliberalen Paradigmas (…) jedoch eine extreme Form von außen induzierter Transformation der nationalen Gesellschaften mit einer offenbar weiterreichenden Eingriffstiefe” darstellt. Bietet der neoliberale Staat neue Freiräume für die multinationalen Kapitale, ist seine nationale Autonomie nach dem Umbauprozeß der achtziger Jahre noch stärker reduziert. Auch die Binnenreichweite des lateinamerikanischen Staates war traditionell begrenzt. Er garantierte zumeist weder ein fächendeckendes Bildungs- und Gesundheitssystem, noch kümmerte er sich beispielsweise um die indianische Bevölkerung und die verarmten Massen.
Der Unterschied zu früher liegt darin, “daß die strukturellen Schwächen des Staates nunmehr zu Tugenden erklärt werden, daß die Vernachlässigung seiner sozialen Funktionen nicht mehr vorwerfbar, sondern lobenswert, weil freiheitsstiftend ist, daß nur rudimentäre staatliche Dienstleistungsangebote statt als Defizit jetzt zum Ziel deklariert werden, kurz, bestehende Not wird in eine Chance zur Entwicklung umgelogen. Praktisch heißt das: Der immer schon miserable Staat wird noch miserabler; er liquidiert Hoffnung, Erwartungen, Rechte und Ansprüche auf Zukunft und Entwicklung gerade für jene, deren eigene materielle Kraft schon bisher nicht ausgereicht hat, individuell Armut, soziale Ungerechtigkeit und Unterentwicklung erfolgreich anzugehen und die jetzt auf die Chancen des Wettbewerbs und des Marktes reduziert werden.”
Die negativen Auswirkungen der Privatisierung staatlicher Funktionen beschreibt Thomas Fatheuer in seiner Analyse der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro: Ganze Stadtviertel werden von Drogenbanden, Glücksspielkartellen und Todesschwadronen kontrolliert. Das Problem ist hierbei, wie so oft, jedoch weniger die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols – die Polizei wird von den BewohnerInnen der Favelas eher als Bedrohung denn als Schutz gesehen und ist zudem mit den Strukturen privater Gewalt “symbiotisch verwachsen” -, sondern ganz allgemein die Macht der Gewalt über die Gesellschaft. Auch jenseits des Gewaltmonopols werden die staatlichen Aufgaben wie Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend privatisiert und von Drogen- und Glücksspielbossen übernommen. In der tiefgreifenden sozialen Krise bilden sich laut Fatheuer “neue Formen einer sich barbarisierenden gesellschaftlichen Vermittlung, die vielleicht, und das ist das Bestürzende, gar nicht so schlecht funktionieren.” Vor allem aber wirken sie systemstabilisierend, begünstigen “autoritäre und faschistische Antworten” und erschweren den Aufbau basisorientierter Alternativen innerhalb der Favelas.
Daß der Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und der Abbau der staatlichen Regulierungsfunktionen auch Chancen bietet und die politische Organisierung der Betroffenen fördern kann, zeigt Juliana Ströbele-Gregor anhand des Hoch- und Tieflands Boliviens. Der (Wieder-)Aufbau basisorientierter Entscheidungsstrukturen und Organisationen der indianischen Landbevölkerung in den achtziger Jahren resultierte aus der Notwendigkeit, der Austeritätspolitik der bolivianischen Regierungen zu begegnen, wurde aber auch durch die neuen Freiräume erleichtert, die der Rückzug von “Stiefvater Staat” schuf. Der unabhängige Organisierungsprozeß beförderte gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein und die Besinnung auf die eigenständige kulturelle Identität und Tradition der indianischen Bevölkerung. Zwei Faktoren spielten in diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle: die Führungspersönlichkeiten und die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Hatten erstere als “soziale Grenzgänger” eine wichtige Funktion als “Mittler von Ideen, Werten, politischen Vorstellungen und Kontakten” nutzten die Basisorganisationen die NGOs insbesondere zur Finanzierung notwendiger Projekte und Hilfsmaßnahmen. Dabei erwies sich die massive Ausbreitung der NGOs nicht nur als positiv: mit der Macht des Geldes korrumpierten sie Führungspersönlichkeiten und zerstörten gewachsene Dorfstrukturen.
Diese Ambivalenz der NGOs in ganz Lateinamerika diskutiert Albrecht Koschützke in seinem Artikel über “Die Lösung auf der Suche nach dem Problem: NGOs diesseits und jenseits des Staates”. Waren diese in den Jahren der Diktatur in vielen lateinamerikansichen Ländern oft dem antidiktatorialen Kampf verpflichtet und nicht selten ein Refugium für Oppositionelle, veränderten sie sich mit dem Redemokratisierungsprozeß der frühen achtziger Jahre und übernahmen oft die Aufgaben, die der neoliberale Staat nicht mehr zu erfüllen bereit war – während der Staat “immer weniger Staat wird und sich qua Privatisierung schrittweise auf reine Vermittlerfunktionen reduziert, also tendenziell einer NGO ähnlich wird”. Ohne die Bedeutung der NGOs, die seit den achtziger Jahren einen riesigen Boom erleben, in vielen Teilbereichen in Frage zu stellen, kritisiert Koschützke die verbreitete Meinung, daß diese per se effizient, kostengünstig, uneigennützig, demokratisch und basisnah seien. In der Realität bilden sich durch den expandierenden Hilfemarkt vielmehr neue Abhängigkeiten. Zudem bestehe die Gefahr, daß die NGOs, statt demokratisches Bewußtsein, Erfahrung und Organisierung zu fördern, in der Praxis insitutionelle und soziale Prozesse demokratischer Teilhabe untergraben.
Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Lothar Witte den Privatisierungsprozeß der letzten Jahre: Anhand der Reform der Sozialversicherung in Chile, Peru und Kolumbien macht Witte deutlich, daß die Ausformung der notwendigen Veränderungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängt. Das “chilenische Modell”, das während der Diktatur realisiert wurde, trägt vor allem den Interessen des Privatkapitals Rechnung. Die kolumbianische Reform berücksichtigt zumindest zum Teil auch die sozialen Interessen der einkommensschwachen Versicherten. Vor allem aber zeigt Witte – dem das Verdienst gebührt, ein so trockenes Thema wie eine Versicherungsreform anregend und anschaulich dargestellt zu haben -, daß weder ein staatliches System automatisch sozial gerechter, noch ein privates effizienter ist.
Hans Petter Buvollen und Robert Große zeichnen den schwierigen und widersprüchlichen Autonomieprozeß an der nicaraguanischen Atlantikküste nach. Historisch von der Zentralregierung in Managua kaum beachtet, begann erst die sandinistische Regierung Anfang der achtziger mit dem verstärkten Aufbau staatlicher Institutionen und Entwicklungsprogramme – und machte vieles falsch. Nachdem sich insbesondere die Miskito dem bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionsregierung angeschlossen hatten, initiierte die FSLN einen Verhandlungsprozeß, der 1987 in die Verabschiedung eines Autonomiegesetzes mündete. Der Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zentralregierung und den BewohnerInnen der Atlantikküste, zwischen Staat und Gesellschaft, wurde allerdings bis heute nicht gelöst. Die Atlantikküste ist noch immer “Spielball von Kräften, die außerhalb der Region liegen”.
Den Schwerpunkt des Jahrbuchs beschließt eine – bereits in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 241/242 vorabgedruckte – sehr persönliche Einschätzung von Ingrid Kummels über die Gleichzeitigkeit von Sozialismus, Kapitalismus und Santería für die Menschen in Kuba. In Gesprächen mit FreundInnen und Familienmitgliedern hat Kummels festgestellt, wie in den letzten Jahren der ökonomischen Krise die Santería für die Menschen zu einem wichtigen Bezugspunkt ihrer Alltagskultur “jenseits des sozialistischen Staates” wurde. Auch die Regierung hat ihre rigide Haltung gegen diese Volksreligion in den achtziger Jahren gelockert: “Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der Santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen.” Doch die AnhängerInnen der Santería entzogen sich auf ihre eigene Art dieser Funktionalisierung.
Insgesamt bietet der Schwerpunkt des diesjährigen Jahrbuchs einen interessanten Einblick in die Prozesse, die jenseits des (neoliberalen) Staates vor sich gehen. Erfreulicherweise werden nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Restrukturierung analysiert, sondern auch die Chancen berücksichtigt, die der Rückzug des Staates bietet. Dies hätte allerdings noch vertieft werden müssen: Wie in dem Beitrag von Juliana Ströbele-Gregor über die Bauernorganisationen in Bolivien deutlich wurde, sind die sozialen Bewegungen entscheidende Akteure, um der neoliberalen Transformation Widerstand entgegenzusetzen. Auf sie wird allerdings kaum eingegangen. Hier hätte sich – ähnlich dem Beitrag über die NGOs – ein Überblick über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika angeboten.
Abgerundet wird das Jahrbuch wie in jedem Jahr durch Länderberichte: Diesmal über Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Kuba, Mexiko und Peru. Wer keine brandaktuellen Informationen erwartet – Redaktionsschluß war bereits im April -, wird auch diese Berichte mit Gewinn lesen.
Jenseits des Staates?. Lateinamerika – Analysen und Berichte 18, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Horlemann Verlag (Bad Honnef), 278 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-89502-008-7