“Unser Europabild ist falsch!”

Welche Ziele hat CHAME?

Das Projekt wurde während meiner vierjährigen Tätigkeit im Frauen-Informationszentrum in Zürich gegründet. Ich habe dort Brasilianerinnen betreut und gemerkt, daß es wichtig wäre, Präventionsarbeit in Sachen Frauenhandel und Sextourismus in Brasilien zu machen. Wir können oft nicht mehr viel tun, wenn die Frauen erst einmal in Europa sind. Viele der Frauen haben ein Bild von Europa, wonach europäische Männer schön und gut sind. Sie glauben, daß sie hier Arbeit finden und vielleicht einen Europäer heiraten.

Wer sind diese Frauen?

Die Frauen, die mit Touristen verkehren, sind normalerweise keine Professionellen. Es sind Frauen, die sofort verliebt sind, wenn sie mit einem Europäer zusammen sind. Dann vergessen sie das Geld, benutzen kein Kondom mehr und glauben an die Liebesversprechungen. Viele von ihnen haben keine Arbeit und keine Perspektive. Sie wollen nur weg von Brasilien. Gegen diesen Traum zu arbeiten, ist sehr kompliziert. Wir können ihnen nicht einfach diesen Traum nehmen und die Frauen ohne Hoffnung zurücklassen, wir müssen Alternativen finden. Interessant ist, daß viele der Frauen, die nach Europa migrieren, aus der Mittelschicht kommen. Auch die Mittelschicht hat unter den ökonomischen Problemen in Brasilien zu leiden. Hinzu kommt, daß wir eine sehr kolonialistische Mentalität haben: Alles, was von außen kommt, ist viel besser als das, was in Brasilien ist. Diese Illusion, nach Europa zu kommen und als Europäerin zu leben, ist vor allem in der Mittelschicht sehr präsent. Aber unser Bild von Europa ist falsch.

Frauenmigration und Sextourismus sind zwei Problemfelder, die aufeinanderprallen. Wie wird das Problem in Brasilien thematisiert, und was konnte bislang mit der Arbeit von CHAME und anderen Frauenorganisationen erzielt werden?

Letztes Jahr haben wir in Recife an einem Forum über Tourismus und Entwicklung teilgenommen. Die Frauenorganisationen haben erreicht, daß die Tourismusagenturen auf ihren Plakaten und Broschüren nicht mehr mit brasilianischen Frauen werben dürfen. Die Regierung selbst investiert viel Geld in den Tourismus und möchte über das Problem Sextourismus lieber nichts wissen. Aber die Sextouristen sind nicht gut für das Land, nicht nur wegen der Frauen, sondern weil sie kein Geld bringen. Die Sextouristen zahlen noch in Europa zusammen mit einer Pauschalreise das Hotel und manchmal auch das Mädchen, viel Geld geben sie im Land gar nicht mehr aus. Mit dieser Argumentation versuchen wir die Tourismusbörse zu überzeugen.

Wie sieht konkret die Arbeit von CHAME aus?

Als wir das Projekt 1994 gründeten, wollten wir mit den Basisgruppen zusammenarbeiten. Damals war dieses Thema in Brasilien fast unbekannt. Also mußten wir von vorne anfangen: intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe der oft unfähigen Behörden, Wir machen auch eine Forschungsarbeit, um das Milieu zu erkunden. Wir wollen wissen, wo die Frauen die ausländischen Männer treffen. In der nächsten Phase der Forschung werden wir die Frauen und Männer befragen, um zu wissen, woher sie kommen. Mit diesen Informationen können wir bessere Informationsarbeit leisten. Wir wollen die Problematik der Frauenmigration von der Prostitution trennen: nicht alle Frauen, die migrieren, gehen in die Prostitution. Mit unserer Arbeit wollen wir die Frauenmigration nicht verhindern, sondern die Frauen über ihre Rechte in Europa informieren. Gehen die Frauen trotzdem nach Europa, können sie dort mit anderen Frauenorganisationen kooperieren.

Mexiko im Umbruch

Dieter Boris hat ein zutiefst konservatives Buch über Mexiko geschrieben. Konservativ im Beharren auf wissenschaftlichen Standards und in der Qualität seiner Argumentation. Es ist kein journalistischer Schnellschuß. Für die LeserInnen bedeutet dies den nicht immer mühelosen Nachvollzug einer konzentrierten und problemorientierten Betrachtung der mexikanischen Entwicklung seit 1982, einer Bilanz der neoliberalen Strukturanpassungspoltik.
“Zugespitzt formuliert: Steht die neoliberale Politik, die über zwölf Jahre in besonders rigoroser Form in Mexiko durchgeführt wurde, vor einem Scherbenhaufen?” (Boris, S.2) Das Buch gliedert sich neben einer historischen Einführung in drei große Abschnitte: die Betrachtung der beiden Präsidentschaftsperioden von Miguel de la Madrid 1982-88 und Salinas de Gortari 1988-94, die Auswirkungen dieser Präsidentschaftsperioden auf die wirtschaftlichen Sektoren und die Veränderungen in der sozialen Struktur der mexikanischen Gesellschaft sowie die politischen und sozialen Akteure in diesen Zeiträumen. Umrahmt werden diese Abschnitte von Betrachtungen der tiefen Krisen von 1982 und 1994 – wobei zumindest für die Krise 1982 gilt, daß sie gleichzeitig den Wendepunkt einer bis dahin geführten Konzeption der importsubstituierenden Industrialisierung Mexikos markiert, während die Krise 1994 zwar die inneren Blockierungen der neoliberalen Konzeption offenlegte, aber: “Der Umbruch der Gesellschaft hat unter neoliberalen Vorzeichen begonnen, wohin er ökonomisch und politisch führen wird, bleibt ungewiss.”

Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende

Im folgenden soll etwas näher auf die Ausgangsbedingungen des neoliberalen Projekts, seine Auswirkungen und inneren Widersprüche eingegangen werden. Betrachtet man die ökonomischen und politischen Ausgangsbedingungen der neoliberalen Wende in Mexiko, so können sie als günstig bezeichnet werden. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
1. die besonderen Schuldendiensterleichterungen (nach 1982) seitens der USA im Gefolge der Brady-Initiative;
2. die verbesserten Marktzugangsmöglichkeiten Mexikos zu den USA infolge des NAFTA-Abkommens und weitere bilaterale und multilaterale Unterstützungsmaßnahmen;
3. die immer noch funktionierenden sozial-integrativen Mechanismen Mexikos, die garantierten, daß eine harte und länger währende Austeritätspolitik, ohne größere soziale und politische Proteste von der Bevölkerung hingenommen werden (Vgl. Boris, S.3).
Das Herzstück der mexikanischen Modernisierungspolitik bildete ohne Zweifel die schon im Anfang der Präsidentschaftsperiode von Miguel de la Madrid unter großem publizistischen Aufwand formulierte reconversión industrial. Was sind nun die Ergebnisse dieser industriellen Restrukturierung und die realen außenwirtschaftlichen Wirkungen dieser neoliberalen Modernisierung? Die erste Bilanz, bezogen auf das Wachstum des industriellen Sektors in den 12 Jahren, ist mehr als bescheiden. Es betrug im Durchschnitt der Jahre 1982-1988 nur 0,14 Prozent und erhöhte sich in der Präsidentschaftsperiode von Salinas zwischen 1989 und 1994 um circa 3,7 Prozent pro Jahr. Diese Zuwachsraten liegen damit weit unter denen der so heftig kritisierten Importsubstitutionsphase in den 50er und 60er Jahren (Vgl. Boris S.112/113). Betrachtet man die einzelnen Industriezweige, so gab es die Gewinner der Strukturanpassungspolitik (Petrochemie/Chemie/Grundstoffe/Bau- und Automobilindustrie), die Zweige, in denen sich Wachstum und Schrumpfung die Waage hielten (vor allem Konsumgüterindustrien) sowie die klaren Verlierer (Lebensmittelindustrien, Textil, Tabak, Kosmetik, Maschinenbau und Transportmittel außer Automobilbau). In der Quintessenz dieser Strukturanpassung für den industriellen Sektor ist von einer Polarisierung der Produktionsstruktur zu sprechen. So beschrieb die Zeitschrift Expansión 1987 die Situation Mexikos mit den Worten: “En medio de la crisis las 500 estan de fiesta” (Inmitten der Krise befinden sich 500 in einer Fiesta”, Boris, S.115).
Die neoliberalen Reformen haben bislang keine generelle Produktivitätsanhebung bewirken können. Reallohnabsenkung, massive Arbeitskraftfreisetzungen und Konzentration auf einige Unternehmensgruppen begründeten im wesentlichen das vielzitierte “Neoliberale Wunder” (Vgl. Boris, S.118). Auch die außenwirtschaftliche Verflechtung mit den USA hat sich in diesem Zeitraum verstärkt. 1994 kamen 69 Prozent aller Importe aus den USA (1976: 62 Prozent) und die mexikanischen Exporte gingen zu knapp 85 Prozent in die USA (1976: 56 Prozent). Dieses partielle Exportwunder verschleiert zudem, daß die ProduzentInnen – landwirtschaftliche oder industrielle – den Binnenmarkt verlieren. Es gibt einen Rückgang des Prozesses der Importsubstitution und eine zunehmende Unfähigkeit, den ausländischen Konkurrenten auf dem eigenen Markt zu begegnen (Vgl. Boris, S.132). Dazu paßt, daß sich die ausländischen Direktinvestitionen zwischen 1982 und 1993 verfünffachten (von 10,8 Mrd. auf circa 56,3 Mrd. US-Dollar) und die Bedeutung der Maquiladora-Industrie (Lohnveredelungsindustrie) in diesem Zeitraum im Grenzgebiet zu den USA dramatisch angestiegen ist; von circa 580 Betrieben mit 130.000 Beschäftigten auf 2.000 Betriebe mit rund 540.000 Beschäftigten. Das sind fast 20 Prozent aller industriellen mexikanischen Arbeitskräfte. Im Kontrast zu diesem Wachstum weisen die einschlägigen sozialen Indikatoren (Einkommensverteilung, Minimallohnentwicklung, durchschnittlicher Reallohn, Arbeitslosigkeit, Armutsausmaß) auf eine klare Verschlechterung der Lage der Masse der Bevölkerung hin (Vgl. Boris, S.137). Zwar kam es unter Salinas zu Einkommensverbesserungen, aber in 12 Jahren neoliberaler Politik wurde das Lohnniveau von 1982 nicht annähernd wieder erreicht. Auch die Einkommenspolarisierung hat sich in diesem Zeitraum zugespitzt. Während 1984 die obersten 10 Prozent im Vergleich zu den untersten 10 Prozent ein neunzehnmal größeres Einkommen erzielten, hatte sich diese Differenz 1989 auf das 24fache erhöht.
Auf weitere Aussagen in Bezug auf die Entwicklung des Agrarsektors, der Sozialstruktur und des politischen Systems muß an dieser Stelle mit Verweis auf die entsprechenden Kapitel im Buch von Dieter Boris verzichtet werden. Zum Schluß soll auf die internen krisenauslösenden Blokkierungen des Neoliberalen Modells eingegangen werden (Vgl. Boris, S.220 ff). Vordergründig stellte sich die Krise 1994 als explosive Mischung aus der staatlicherseits längerfristig hingenommenen Überbewertung des Peso, eines Leistungsbilanzdefizits, einem hohen Zinsfuß und dem starken Anstieg der Außenverschuldung über kurzfristig fällig werdende und in US-Dollar rückzahlbare Staatspapiere, sogenannte Tesobonos, dar. Diese Faktoren der Krisenauslösung sind entweder selbst direkt Ergebnis der Defizite neoliberaler Politik oder der Preis für erreichte positive Zielsetzungen (Inflationsbekämpfung) im Rahmen dieser Politik. Diese Blockierungen (Boris verweist in diesem Zusammenhang auch auf Brasilien und Argentinien, da in diesen Ländern ähnliche Faktoren wirken) sind in folgenden Punkten zu sehen:
1. Ein hoher und anhaltender Schuldendienst verhindert den Haushaltsausgleich und heizt die Inflation an.
2. Ein zum Zweck der Inflationseindämmung tendenziell fixierter Wechselkurs führt zu einer Überbewertung der nationalen Währung, damit zu einer Exportschwäche und Begünstigung der Importe – vor allem, wenn das interne Inflationstempo größer ist als das des wichtigsten Handelspartners, im Falle Mexikos der USA.
3. Dieses Passivsaldo (1994 circa 28 Mrd. US-Dollar) kann nur durch Kapitalzuflüsse (Kredite/Geldkapitalanlagen, Direktinvestitionen) kompensiert werden. Diese Zuflüsse sind zum Teil kurzfristig und hochspekulativ. Steigt irgendwo anders der Zinsfuß, so fließen die Geldanlagen wieder ab.
4. Zum Zweck der Inflationseindämmung ist die “Über”nachfrage (herrschende Meinung) über Haushaltskürzungen, Lohnkürzungen und eine restriktive Geldpolitik zu beschränken. Dies beeinträchtigt die Binnenkonjunktur und die realen Investitionen im Inneren.
Diese Faktoren führen zwangsläufig zu sich immer wieder zuspitzenden Krisen und keineswegs zu einem stabilen, sozialen und ökonomischen Wachstum.
Dieter Boris´ Buch verdient die Aufmerksamkeit aller, die sich ernsthaft mit dem Neoliberalen Modell und seinen immanenten Widersprüchen auseinandersetzen wollen. Ein vergleichbares Buch gibt es auf dem deutschsprachigen Markt nicht. Zusätzlich wünschenswert wäre ein eigener Abschnitt im Buch über die regionale Struktur Mexikos und das Militär. Beides könnte in Zukunft noch eine wichtige Frage werden, da mit dem Wachstumspol im Norden und mit den armen Provinzen im Süden ein starkes regionales Gefälle entstanden ist und sich in den Südprovinzen der Einfluß des Militärs in den letzten Monaten erheblich verstärkt hat.

Dieter Boris: Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996, 263 Seiten mit Literaturverzeichnis und Tabellen, 59 DM (ca. 30 Euro).

Paraguay – Am Nasenring durch die Arena

So einfach schien das Spiel für General Lino Oviedo zu sein. Man rebelliert gegen den Präsidenten, macht ihm deutlich, daß die Streitkräfte mehrheitlich auf der anderen Seite stehen, und schon tut der düpierte Präsident öffentlich kund, den Putschisten demnächst als Verteidigungsminister in Amt und Würden sehen zu wollen. Beinahe wäre es genauso gekommen, hätten sich nicht die mehrheitlich oppositionellen ParlamentarierInnen einer solchen Manifestation politischer Peinlichkeit entgegengestellt. Worauf Präsident Wasmosy verlauten ließ, er habe die Stimme des Volkes vernommen, die Ernennung Oviedos zum Minister sei damit hinfällig. Was Satire scheint, ist Realität.
Juan Carlos Wasmosy hatte nie den Ruf, ein besonders starker Präsident zu sein, und niemand in Paraguay dürfte daran gezweifelt haben, daß die Streitkräfte nach wie vor eine Bastion politischer Macht im Lande darstellen. Trotzdem ist die Offensichtlichkeit atemberaubend, mit der Oviedo den Präsidenten als machtlos vorführt. Daß Militärs auch in den parlamentarischen Demokratien Lateinamerikas im Hintergrund die Fäden ziehen und wesentlichen Einfluß besitzen, ist nicht neu. Aber kaum einmal ist, seit dem Ende der Diktaturen in Lateinamerika, ein Präsident von einem ihm “untergebenen” General so am Nasenring durch die Arena gezogen worden, im Publikum die durch das Stichwort “Putsch” alarmierte Weltpresse.
Lino Oviedo dürfte vor seiner Rebellion gewußt haben, daß ein Militärputsch nach klassischem Muster das Land in die Isolation geführt hätte. Die negative Reaktion der übermächtigen Mercosur-Partner Argentinien und Brasilien war abzusehen, ebenso der Protest der Clinton-Administration. Es spricht für sich, daß sich Oviedo schon nach wenigen Tagen auf das Arrangement mit Präsident Wasmosy einließ. Aber innenpolitisch hat er klargestellt, daß die paraguayischen Streitkräfte auf ihrer Machtposition bestehen.
Der “Putschversuch” wirft ein deutliches Licht auf den Zustand so mancher parlamentarischen Demokratie in Lateinamerika. Einerseits läßt der internationale Kontext keine Alternative zu: Die parlamentarisch-demokratische Fassade muß stehen, um sowohl von den USA als auch von den regionalen Mächten anerkannt zu werden.
Andererseits sind durch die innenpolitischen Machtverhältnisse die Möglichkeiten begrenzt, demokratische Grundprinzipien wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit oder Kontrolle der Regierung durch die Opposition tatsächlich durchzusetzen und im Konfliktfall auch beizubehalten. Daß das Militär derjenige politische Faktor ist, der am wenigsten zur Aufgabe seiner Machtstellung bereit ist, gilt in Paraguay mehr als anderswo.
Oviedo scheint diese ambivalente Stellung der Armee sehr genau begriffen zu haben und verkörpert sie gewissermaßen in seiner Person. Er stand 1989 an der Spitze jener Rebellion, die General Stroessner stürzte und hatte, zumindest bis zum jüngsten “Putschversuch”, den Ruf eines loyalen, die demokratische Fassade achtenden Militärs. Aber er war es auch, der als Armeechef 1993 die Kandidatur seines Parteikollegen Wasmosy unterstützte und höchstwahrscheinlich auch mit unsauberen Methoden bei dessen Wahl nachhalf. Wasmosy ist kein unabhängiger Präsident, und nicht zu letzt Oviedo hat dafür gesorgt, daß er es nicht sein kann.
Dem General werden seit Jahren Ambitionen auf den Präsidentensessel nachgesagt, und es ist durchaus möglich, daß er mit seinem Image des starken Mannes breite Wählerschichten für sich gewinnen kann.
Sollte so wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch in Paraguay die Unzufriedenheit mit dem parlamentarisch-demokratischen Alltag groß genug sein, spricht nichts dagegen, daß sich eine Mehrheit der WählerInnen für einen Kandidaten Oviedo entscheiden könnte. Die Ereignisse der letzten Wochen wären dabei eher ein Plus als ein Minus für Oviedos Position in der Wählergunst. Gar so eindeutig gegen die Militärs muß die “Stimme des Volkes” nicht schallen.
Auch wenn der direkte Durchmarsch Oviedos ins Verteidigungsministerium gestoppt zu sein scheint, die nächste Präsidentschaftswahl kommt bestimmt. Man wird Lino Oviedo bei dieser Gelegenheit wohl wiedersehen und darf gespannt sein, ob die demokratischen Spielregeln dann eine Rolle spielen. Denn Artikel 236 der paraguayischen Verfassung läßt die Präsidentschaftskandidatur von Putschisten nicht zu.

Lizenz zum Töten

Eldorado liegt im Süden Parás in unmittelbarer Nähe der berühmten (und zur Zeit stilliegenden) Goldmine “Serra Pelada” und von Carajás, der größten Eisenerzmine der Welt. Eine Region intensiver Landkonflikte. Am 16. April blockierten 1500 Landlose die Landesstraße PA 150, die die Region mit der Landeshauptstadt Belém verbindet. Die Blockade sollte die Regierung dazu bringen, die Ansiedlung der Landlosen zu beschleunigen. Noch am selben Tag gab Gouverneur Almir Gabriel den Befehl, die Straße zu räumen. Die Aufnahmen eines Fernsehteams zeigen anscheinend, was geschah: Bei dem Versuch, die Straße zu räumen, werden die Polizisten von den Landlosen angegriffen. Die Polizei schießt zunächst in die Luft; als sie von den BesetzerInnen in die Flucht geschlagen wird, schießt sie mit scharfer Munition in die Menge. Aber eine weitere Sequenz läßt schon ahnen, daß es sich hier nicht einfach um eine Straßenschlacht handelte. Das Fernsehteam sucht in einer Hütte am Straßenrand Zuflucht, die Hütte wird beschossen. Die Reporterin schreit aus der Hütte: “Hier sind nur Frauen und Kinder”, die Polizei schießt weiter. Schließlich wird das Fernsehteam festgenommen.

Der Soziologenpräsident und das Massaker

Am Tag nach dem Massaker – bevor die Fernsehbilder gezeigt wurden – erklärte Präsident Cardoso, das sei eine Geschichte des “archaischen Brasiliens”. Klar, daß er als Vertreter des “modernen” Brasiliens damit nichts zu tun hat. Bankrotter kann sich eine zynische Vernunft kaum zeigen: Opfer und Täter sind zusammen nur noch Chiffren einer intellektuellen Leerformel. Als das Fernsehen die erschütternden Bilder zeigt, verkündet Cardoso andere Leerformeln: Das Massaker sei “unerträglich, nicht zu rechtfertigen, und erschüttert das Land und den Präsidenten”. Die späte Erschütterung hat einen einfachen Grund. Das beschossene und verhaftete Fernsehteam arbeitet für den Regionalsender TV Liberal, dem paraensischen Ausstrahler des allmächtigen Fernsehsenders Globo. Und Globo entschloß sich, die Bilder mit großer Intensität zu verbreiten. So wird Eldorado zu einem Massaker, das mehr als andere in letzter Zeit in Brasilien aufrüttelt.
Aber einen entscheidenden Teil dessen, was sich am 17. April abspielte, zeigen die Bilder des Fernsehens nicht. Nach den ersten gerichtsmedizinischen Gutachten sind mindestens zehn der Landlosen von der Polizei keineswegs im Konflikt erschossen, sondern gezielt hingerichtet worden. Zu den Gutachten kommen Zeugenaussagen. Um nur eins der blutigen Beispiele zu zitieren: Der siebzehnjährige Oziel Pereira, trotz seines Alters einer der Führer der Landlosen, wird von den Militärpolizisten aus dem Haus geschleppt, in dem er sich versteckt hatte, geschlagen und schließlich durch Schüsse in den Kopf getötet. Ein ganze Reihe von Zeugenaussagen stimmen darin überein, daß auch Kinder und Frauen getötet wurden. Unter den neunzehn registrierten Toten finden sich aber keine Frauen und Kinder. Zwei Lehrerinnen, die in einem der Busse waren, die blockiert wurden, sagen nun aus, daß sie gesehen haben, wie die Militärpolizisten Leichen von Frauen und Kindern abtransportierten. So bleibt also ein Zweifel über die wahre Zahl der Toten. Die Landlosenbewegung gibt an, daß etwa hundert Personen, die sich bei oder im Umfeld der Blokkade befanden, verschwunden seien. Ein wichtiges Detail zeigt, in welchem Geist die Aktion durchgeführt wurde: Militärpolizisten tragen in Brasilien Namensschilder auf ihren Uniformen. Vor dem Einsatz in Eldorado hatten die Militärpolizisten die Namensetiketten abgetrennt. Sie hatten offensichtlich die Lizenz zu töten.

Die Aktualität der Agrarreform

Das Massaker von Eldorado reiht sich in eine Serie von blutigen Landkonflikten ein. Das “archaische” Brasilien hat sich damit wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Bewegung der Landlosen, zu einem großen Teil im MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem-Terra) zusammengeschlossen, ist zu dem wohl unbequemsten Widersacher der Regierung Cardoso geworden. Das MST hat seit Beginn letzten Jahres eine unerwartete Mobilisationskraft gezeigt. Gezielt wurden die Landbesetzungen, insbesondere in den Bundesstaaten Sao Paulo und Paraná, intensiviert. In derselben Woche, in der das Massaker in Eldorado stattfand, besetzten 10. 000 Landlose in Paraná Teile einer 80. 000 Hektar großen Fazenda. Es ist die größte Landbesetzung in der Geschichte des MST. Während die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen eher wie von der Politik Cardosos betäubt wirken oder zumindest nur geringes Widerstandspotential entwickeln können, zeigt das MST eine erstaunliche Effizienz. In einer selbstgesuchten Teilisolierung von anderen sozialen Bewegungen Brasiliens, unterstützt von einem Teil der Kirche, hat das MST eine Strategie der gezielten Konfrontation verfolgt. Die blutigen Reaktionen zeigen, daß die Landfrage auch heute noch ein soziales Problem von höchster Priorität ist.
Tatsächlich hat Brasilien nie eine Landreform erlebt, die diesen Namen verdiente. Die Landverteilung ist nach wie vor eine der ungerechtesten der Welt. Von den 4,7 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben, die in Brasilien existieren, besitzen 58.000 Großgrundbesitzer 264 Millionen Hektar, oder 42,9 Prozent der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche des Landes. Allein die 350 größten Fazendas umfassen 50 Millionen Hektar. Die größte Fazenda Brasiliens gehört dem Bauunternehmer Cecilio Rego Almeida. Mit 4 Millionen Hektar ist sie größer als die Niederlande. Auf der anderen Seite teilen sich vier Millionen Kleinproduzenten, das sind 87 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe, nur 20 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Für den Bundesstaat Pará, dem Zentrum der gewalttätigsten Konflikte, sehen die Zahlen noch dramatischer aus. Die Anzahl der Landlosen ist schwer zu schätzen. Immer wieder wird eine Zahl von fünf Millionen genannt, aber dabei sind sicherlich viele posseiros mitgezählt, das heißt Kleinbauern, die zwar ein Stück Land bearbeiten, aber keine offiziellen Besitztitel haben.
Wie alle Regierungen hat auch Fernando Henrique Cardoso versprochen, etwas zu tun. Landreformen sind inzwischen aus der Mode geraten, Modernisierung lautet das neue Schlagwort. Die Ansiedlung von Landlosen läuft dabei eher unter den Stichworten “Sozialpolitik und Armutsbekämpfung”. Aber selbst die bescheidenen Ziele, die sich die Regierung zu erreichen vorgenommen hat, sind nicht erfüllt worden: Von den versprochenen 43. 000 Familien sind gerade einmal 7.000 angesiedelt worden. In den Händen der Staatsbehörde INCRA ist die Ansiedlung von Landlosen eine bürokratische, langwierige und teure Angelegenheit. Denn Brasilien ist, zumindest für Menschen, die Geld haben und einen guten Anwalt bezahlen können, durchaus ein Rechtsstaat. Einsprüche, lange Prozesse und zum Teil hohe Entschädigungen sind die Folge. Es war auch im Fall Eldorado diese Zähigkeit, welche die Aktion der LandbesetzerInnen provozierte: Immer wieder verzögerte sich die versprochene Ansiedlung auf der Fazenda Macaxeira wegen bürokratischer Schwierigkeiten. Nach dem Massaker versprach die Landesregierung nun Schnelligkeit.
Aber es sind mehr als nur bürokratische Schwierigkeiten, die eine andere Politik im Agrarbereich verhindern. Für die Regierung liegt hier keine politische Priorität, und sie ist politisch abhängig von reaktionären Agrarkreisen.

Konfuse Kabinettsumbildung

Der bisherige Landwirtschaftsminister Andrade Vieira war alles andere als ein Hoffnungsträger: Er ist Präsident der Bamerindus, der drittgrößten Privatbank des Landes, die selbst Großgrundbesitzer ist. Am Tag nach dem Massaker ist Vieira zurückgetreten.
Fernando Henrique zog aus den Ereignissen eine klassische Konsequenz: Er schuf ein neues Ministerium. Das bereits früher existierende “Ministerium für Agrarreform” erlebte die Wiederauferstehung. Chef des neuen Ressorts ist Raúl Jungmann, bisheriger Leiter der Umweltbehörde IBAMA. Die Besetzung hat durchaus eine Pointe: Jungmann ist Mitglied der PPS, der so umgetauften ehemaligen kommunistischen Partei. Die PPS hat sich inzwischen zu einer kleinen, aber recht effizienten reformerischen Gruppe gewandelt, hierzulande oft als “Linke light” tituliert. Jungmann hat in der schlecht beleumundeten IBAMA für eine gewisse Öffnung und Dezentralisierung gesorgt.
Für das neue Ministerium hat Cardoso ihm freie Hand gegeben. Der erste Schritt Jungmanns war, den Vorsitzenden der Landarbeitergewerkschaft CONTAG einzuladen, den neuzubildenden “Nationalen Rat für Agrarreform” zu leiten. Mit der Wahl Jungmanns hat Cardoso einen Mann seines Vertrauens in das neue Ministerium lanciert, um so das sozialreformerische Image seiner Regierung zu retten. Einen Erfolg hat die Bewegung der Landlosen damit erreicht: Die Agrarreform kehrt zumindest in die Regierungsrhetorik zurück. Was an Taten folgt, muß abgewartet werden.
Mit der Ausgrenzung des Ressorts “Agrarreform” aus dem Landwirtschaftsministerium hat Cardoso auf der einen Seite freie Hand, in einer Minikabinettsumbildung seine reaktionären Bündnispartner zu bedienen. Die PPB, Partei der Militärdiktatur, wurde bereits mit dem Ministerium für Industrie, Handel und Tourismus belohnt. Politikveteran Francisco Dornelles ist der neue Minister; die bisherige Amtsinhaberin, die smarte Dorothea Werneck, sollte das Landwirtschaftsministerium übernehmen, hat dies aber wegen eingestandener Inkompetenz abgelehnt. Bei Redaktionsschluß stand der neue Landwirtschaftsminister noch nicht fest.
Sicherlich wird es in den nächsten Wochen nicht an sozialer Rhetorik fehlen und vielleicht auch zu einigen spektakulären Ansiedlungen kommen. Durchgreifende Änderungen sind jedoch nicht in Sicht. Die sogenannte Agrarfraktion, ein Zusammenschluß von Abgeordneten, die Großgrundbesitzerinteressen vertreten, ist größer als die größte Partei des Parlaments – und erheblich disziplinierter. Gegen diesen Block unternimmt die Regierung nichts, sie hängt vielmehr politisch von ihm ab. Wenn Cardoso also das “archaische” Brasilien bekehren will, dann kann er bei seiner Regierung anfangen.

Strafvollzug und Straffreiheit

In Brasilien kam es Ende März im Bundesstaat Goiás zu einer Gefangenenmeuterei, bei der die rebellierenden Häftlinge 18 Geiseln in ihre Gewalt brachten, darunter den Direktor des Gefängnisses und mehrere Mitglieder einer Kommission von Richtern und Anwälten, die zur Begutachtung der dortigen Zustände ins Gefängnis gekommen waren. Für nahezu zwei Wochen übernahmen die revoltierenden Häftlinge das Centro Penitenciário Agroindustrial de Goiás (Cepaigo) in Selbstverwaltung, während die Polizei das Terrain weiträumig umstellt hielt.

Von Meutereien, Medien und Maconha

Die Häftlinge forderten Drogen, Waffen, Geld und Fluchtautos, in denen sie dann mit einigen Geiseln flohen. Während der live im Fernsehen übertragenen Verfolgungsjagd kam es zu mehreren Schußwechseln, bei denen ein Häftling und eine Passantin getötet wurden. Letztlich wurden die Flüchtenden – unter Beisein der anwesenden Reporterschar – von der Polizei gestellt.
Das brasilianische Fernsehen machte aus der Gefängnisrevolte eine allabendlich, pünktlich zu den Nachrichten fortgesetzte reality-show als telenovela. Der TV-Star wurde Leonardo Pareja, ein zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Gefangener, der während der Revolte Sprecher der Häftlinge war und nach Angaben der Geiseln entscheidend dazu beigetragen hatte, daß die Revolte “verhältnismäßig unblutig” verlief. Pareja war schon im letzten Jahr ein Medienereignis, als er ein dreizehnjähriges Mädchen entführt hatte und mit ihr durch drei Bundesstaaten vor der Polizei floh und der Presse bereitwillig Interviews gab. Nun wurde er zum Hauptdarsteller des Abendprogramms bei TV-Globo: Das in den Medien alles beherrschende Bild der Gefängnismeuterei zeigte Pareja oben auf dem Dach des Gefängnisses sitzend, auf der Gitarre spielend und dabei genüßlich maconha-rauchend, vor den Augen der über Satellit dem Spektakel beiwohnenden brasilianischen Öffentlichkeit.
Durch die lässigen Allüren des in der Öffentlichkeit zum bom bandido avancierten Pareja und dessen Publicity fühlte sich die Wochenzeitschrift Veja derart provoziert, daß sie in einer Titelstory die Medienwirksamkeit dieses “Banditen” und das Verhalten der Medien anprangerte. Bedauernswert fand die Veja es außerdem, daß es in der brasilianischen Polizei nicht genügend für derartige Ernstfälle ausgebildete Spezialisten gebe, wie zum Beispiel in der BRD die GSG 9 … Solche gedanklichen Auswüchse sind symptomatisch für eine Berichterstattung über eine Häftlingsmeuterei, bei der mit keinem Wort über ihre Ursachen reflektiert wird. Die Zustände in den brasilianischen Gefängnissen als Ursachen der Meuterei fanden in der Veja keine Erwähnung. Der soziale Sprengstoff in den brasilianischen Knästen geriet dabei letztlich vollkommen aus dem Blickwinkel des öffentlichen Interesses: Es scheint, daß das Rauchen von Maconha einen größeren Skandal darstellt als Menschenrechtsverletzungen.

“Müllkippen für Gefangene”

Das Gefängnis Cepaigo ist mit seinen 702 Gefangenen um 100 Prozent überbelegt, wie die meisten Haftanstalten Brasiliens, in denen sich Schätzungen zufolge rund 130.000 Häftlinge 60.000 Plätze teilen müssen. Im April 1989 waren in Brasilien nach offiziellen Angaben “nur” 90.691 Personen inhaftiert, die eigentliche Kapazität der Haftanstalten lag damals bei 43.338 Personen. Diese unzumutbaren Bedingungen sind einer der Gründe für die unzähligen Gefängnisrevolten. Statistisch kommt es dreimal monatlich zu Meutereien in Brasiliens Gefängnissen. 1992 hatten revoltierende Häftlinge in einem Gefängnis in Minas Gerais stündlich russisches Roulette “gespielt”, um auszulosen, wer von ihnen erschossen werden sollte, damit auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Selbst ein brasilianischer Justizminister der letzten Militärregierung unter Joâo Figueiredo gestand 1980 ein, die Situation in den brasilianischen Gefängnissen sei “eine der dramatischsten in der Welt”. Sie seien “Müllkippen für Gefangene, wo der Einzelne den schlimmsten Erniedrigungen unterworfen wird”. In einem Bericht über Folter und außergerichtliche Hinrichtungen in Brasilien, den amnesty international 1990 veröffentlicht hat, wird die langjährige Militärdiktatur für die Verwahrlosung der Gefängnisse verantwortlich gemacht.
Um die soziale Lage in den Gefängnissen zu entschärfen und die angesichts der unzumutbaren Zustände in den Knästen revoltierenden Häftlinge zu besänftigen, erließ Präsident Cardoso als Reaktion auf diese längste Gefängnisrevolte Brasiliens am 11. April ein Dekret, nach dem nicht vorbestrafte Häftlinge, die zu bis zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt sind, bei guter Führung vorzeitig, frühestens aber nach einem Sechstel ihrer Haftzeit, entlassen werden können. Dies könnte rund 13.000 Gefangenen zugute kommen. Generell ausgenommen sind hiervon Häftlinge, die wegen Mordes, Folter, Vergewaltigung, Korruption oder ähnlicher Verbrechen einsitzen.
Die Haftanstalten werden in ganz Brasilien bundesstaatlich geführt. Die Gefängnisse unterstehen direkt dem jeweiligen Justizministerium, einzige Ausnahme ist der Bundestaat Sâo Paulo, wo 1991 der Gouverneur Fleury die Gefängnisse dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellte. Somit unterstehen Polizei und Haftanstalten einem einzigen Ministerium, ein Zustand, den amnesty international in einem Bericht von 1993 über das Gefängnismassaker von Carandiru, Sâo Paulo, für äußerst bedenklich hält.

Massaker in Block 9

Carandiru, so heißt der Stadtteil von Sâo Paulo, in dem sich die Haftanstalt Flamínio Fávero befindet, die allgemein nur Carandiru genannt wird. Diese ist mit ihren 7200 Insassen das größte Gefängnis Südamerikas. Da es zu Beginn der 50er Jahre als Untersuchungsgefängnis für nur 3250 Häftlinge errichtet wurde, ist es heutzutage, wie nahezu alle brasilianischen Gefängnisse, zum einen weit überbelegt, zum anderen werden Untersuchungshäftlinge mit schon rechtskräftig verurteilten Personen gesetzwidrig in gemischten Zellen untergebracht. Diese gemischte Unterbringung wurde 1984 mit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (Lei de Execuçâo Penal) gesetzlich verboten. Doch die Praxis widerspricht dem. Carandiru hält noch einen anderen Rekord aller brasilianischen Haftanstalten: Dort wurden im Block 9 (dem Pavilhâo 9) am 2./3. Oktober 1992 nach einer Meuterei 111 Häftlinge von der Militärpolizei erschossen, weitere 110 verletzt. Amnesty international kam in einem Bericht von 1993 zu dem Schluß, daß die Polizei die Gefangenen “kaltblütig ermordet” hatte.
Hauptverantwortlich für das Massaker war Coronel Ubiratan Guimarâes, der noch 1994 – allerdings erfolglos – bei den Stadtverordnetenwahlen in Sâo Paulo kandidierte. Ubiratan ist Oberst der ROTA, einer berüchtigten Einheit der Polizei Sâo Paulos, deren zweifelhafter Ruf in der enorm hohen Zahl von erschossenen Personen gründet. Ein Großteil der Polizisten, die am Massaker in Carandiru beteiligt waren, sind Mitglied der ROTA.
Im März 1993 wurden Gerichtsverfahren gegen Coronel Ubiratan und 119 weitere am Massaker beteiligte Polizisten von der Militärjustiz eingeleitet. Diese Justiça Militar ist für die im Dienst begangenen Delikte von Militärpolizisten zuständig. Jede Richterkommision dieser Militärjustiz setzt sich aus einem zivilen Richter und drei Militärangehörigen zusammen, die mindestens Offiziere sein müssen, aber über keine höhere juristische Ausbildung zu verfügen brauchen. Anfang 1996 erklärte sich die Justiça Militar als Reaktion auf öffentlichen Druck für nicht zuständig und übertrug das Verfahren der zivilen Gerichtsbarkeit. Ein Urteil steht nun, dreieinhalb Jahre nach dem Massaker, noch immer aus, aber zumindest handelt es sich bei der Übertragung der Jurisdiktion von der Militärjustiz auf zivile Gerichte um eine Rarität in der Geschichte der brasilianischen Militärjustiz.

Korporativistische Justiz

Elói Pietá, Rechtsanwalt, Abgeordneter des Bundesstaats Sâo Paulo und Autor eines Buchs über das Gefängnismassaker in Carandiru, spricht deshalb von einer “korporativistischen Justiz”, und unabhängige Gruppen fordern folgerichtig die Abschaffung der ausschließlichen Zuständigkeit der Militärjustiz für Polizisten, die nach Artikel 124 und Art. 125 §4 der brasilianischen Verfassung von 1988 für alle crimes militares zuständig ist. Somit hat sie für alle von Militärangehörigen (also auch von Polizisten) im Dienst begangenen Straftaten alleinige Urteilskompetenz.
Begehen Militärangehörige Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihres Dienstes, so waren und sind – nach dem Gesetz – zivile Gerichte dafür zuständig. Dies ist der Grund dafür, daß die Militärpolizisten, die im August 1993 das Massaker an 21 Menschen in der Favela Vigário Geral, einem Vorort von Rio, verübt hatten, durch zivile Gerichte verurteilt wurden. Diese von der Verfassung vorgeschriebene Bestimmung wird aber in der Praxis oft hintergangen, da die kriminologischen Untersuchungen des jeweiligen Falles im Rahmen des sogenannten Inquérito Policial Militar (IPM) von der Militärpolizei selbst durchgeführt werden.
Um diese Praxis der Straffreiheit zu verhindern, liegt dem Kongreß in Brasília nun eine Gesetzesänderung vor, nach der die Rechtsprechung für durch Militärpolizisten im Dienst und außerhalb der Kaserne begangene Verbrechen der zivilen Gerichtsbarkeit übertragen würde. Doch bliebe auch nach dem neuen Gesetz die kriminaltechnische Untersuchung der Vorfälle in den Händen der Militärpolizei und nicht der Polícia Civil, wie einige der Initiatoren des Reformprojekts es erhofften, so daß weiterhin die Gefahr der Manipulierung von Indizien im Rahmen dieser krimaltechnischen Untersuchung durch die Militärpolizei besteht.
Wenn der Kongreß der Gesetzesänderung zustimmen sollte, bleibt abzuwarten, ob die Verlagerung der Zuständigkeit von der Militärjustiz zu zivilen Gerichten die Tradition der Straffreiheit bricht. Noch agiert vor allem die Militärpolizei in einer Art und Weise, die an Todesschwadrone erinnert. So sticht vor allem die Militärpolizei Sâo Paulos mit erschreckenden Bilanzen hervor: Während 1991 die Polizei von New York City 27 Personen erschoß, tötete die Militärpolizei Sâo Paulos 1.140 Personen, was einem Viertel aller gewaltsamen Tode in diesem Zeitraum entspricht. 1991 und 1992 wurde durchschnittlich alle sieben Stunden ein Mensch durch die Polizei in Sâo Paulo getötet. Nach Zahlen des Journalisten Caco Barcellos tötete diese Polizei von 1970 bis 1990 nahezu 8.000 Personen, von denen die Mehrzahl arm, schwarz, Migranten aus dem Nordosten Brasiliens, um 19 Jahre alt war und über ein monatliches Durchschnittseinkommen von ungefähr 60 US-Dollar verfügte.
Diese Angaben ähneln dem soziographischen Durchschnitt der Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen. Nach Zahlen von ISER, einer kirchennahen Nichtregierungsorganisation, waren 1988 68,6 Prozent der Häftlinge im Bundesstaat Rio de Janeiro Schwarze, während sie nur 40 Prozent der Bevölkerung von Rio ausmachen. Ein Viertel der Gefangenen war jünger als 25 Jahre, ein Drittel 25 bis 31 Jahre alt. In den Gefängnissen waren 97 Prozent der Insassen Männer, drei Fünftel von ihnen hatten keine oder nur wenig Schulbildung erhalten, die Hälfte mußte vorher ohne die gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherungskarte, der carteira assinada, arbeiten, und 46 Prozent der Inhaftierten waren erstmalig zu einer Haftstrafe verurteilt.
Die Opfer von Polizeigewalt sind die Gleichen wie diejenigen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, und das auf mehreren Ebenen: Die Marginalisierten in peripheren Konkurrenzgesellschaften werden von der Teilhabe an ökonomischen Prozessen ausgeschlossen, sie werden wegen ihrer Armut als Bedrohung der Ordnung angesehen, die es zu schützen gelte. In der Vorstellungswelt der besitzstandswahrenden Mittelklasse werden die Begriffe “arm”, “schwarz” und “gefährlich” als identisch gleichgesetzt. Die Segregation der Armen findet im sozialen Ausschluß ihren kruden Ausdruck. Die soziale Frage in der brasilianischen Gesellschaft wird weiterhin behandelt nach dem miesen Bonmot eines ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Washington Luis, der 1926 verlautbaren ließ, die soziale Frage wäre nur eine Frage der Polizei. Polizei und Sicherheitskräfte tragen ihren Teil zum Schutz dieser ungerechten Ordnung bei, indem sie die Ausgeschlossenen aus den Stadtteilen der Wohlhabenderen vertreibt, in überfüllten Gefängnissen von der Gesellschaft abschließt oder sie erschießt.

Literatur:
amnesty international: Brasilien. Jenseits des Gesetzes, Köln 1990.
Barcellos, Caco: Mord in Sâo Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur, Göttingen 1994.
Campos Coelho, Edmundo /ISER: Estudo Descritivo do Censo Penitenciário do Rio de Janeiro 1988, Rio de Janeiro 1988.
FDCL/amnesty international: Carandiru – das Gefängnismassaker in Sâo Paulo, Berlin 1995.

Wissenschaftsemigration nach Brasilien

Schon im ersten Jahr hatte das nationalsozialistische Regime durch das “Gesetz zur Wieder­herstellung des Berufsbeamten­tums”, sowie durch die Einrich­tung der Reichskulturkammer und eine Reihe weiterer Maß­nahmen, einer großen Zahl von Wissenschaftlerinnen, Schrift­steller­Innen, Publizi­stInnen und KünstlerInnen ihre Existenz­grundlage oder kreative Entfal­tungsmöglichkeit genom­men. Ins­ge­samt mußten etwa 4.000 ForscherInnen und akade­mische LehrerInnen Deutschland verlas­sen.1
Exodus aus Nazideutschland
Das “Gesetz zur Wiederher­stellung des Berufsbeamten­tums” (BBG) vom 7. April 1933 war das erste einer Reihe von Ge­set­zen, die eine “Rechts­grundlage” für die Dis­kri­minierung und Entlas­sung “nicht-arischer”, “jüdisch ver­sip­pter” und po­litisch uner­wün­schter Perso­nen an Univer­sitäten und Hochschulen abga­ben. Nach 3 BBG wurden Jü­dInnen und so­genannte jüdische Mischlinge als “Nichtarier” ent­lassen; dazu gehörten Personen mit we­nigstens ei­nem jüdischen Groß­eltern­teil. Von diesem Ge­setz zu­nächst ausgenommen blie­ben so­genannte jüdische Frontkämpfer sowie Hochschul­lehrerInnen, die be­reits vor 1914 verbeamtet wor­den waren. Diese Aus­nahme­regelungen entfielen jedoch mit dem Inkrafttreten des “Reichs­bür­ger­gesetzes” vom September 1935. NichtjüdInnen, die nach 1933 eine Ehe mit ei­nem Juden oder einer Jüdin ein­gegangen waren, wurden den “Nichtariern” gleichgestellt. Die­jenigen, die vorher ge­heiratet hatten, waren nach diesem Ge­setz im Dienst zu belassen, wur­den aber häufig unter Zuhilfe­nahme anderer Pa­ra­graphen vom Dienst suspen­diert.
An den österreichischen Uni­versitäten traten die deutschen Gesetze unmittel­bar nach dem “Anschluß” am 13. März 1938 in Kraft.
Viele der Wissenschaftsemi­grantInnen fanden Aufnahme in den USA, wo sie dem dortigen Universitätsleben und der For­schung nachhaltige Im­pulse ga­ben. In Lateiname­rika waren sol­che Möglich­keiten seltener. Dies lag auch an der wirtschaftlichen Lage der lateinamerikani­schen Staaten, vor allem an den einge­schränkten Res­sourcen im Hoch­schulbereich. Nur selten wa­ren an den lateinamerikani­schen Universitäten jene Fä­cher ver­treten, die die emigrierten Wis­senschaftlerInnen in Deutschland gelehrt hatten. Nur in den indu­striell entwickelten Ländern in Übersee war das Niveau von Forschung und Lehre dem euro­päischen Standard vergleichbar. EmigrantInnen, denen eine Hochschulkarriere gelang, blie­ben daher eher Ausnahmen. Die Chancen, im Hochschulbereich eine Stelle zu finden, waren in den naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftswis­senschaftlichen Fächern größer als in den Geistes- und Sozial­wissenschaften.
Fluchtpunkt Brasilien
Nach Brasilien gingen in den 30er bis zu Beginn der 40er Jahre 32 Wissenschaftler, die bis auf eine Ausnahme aus den Na­turwissenschaften kamen. Wird nach Fachgebieten differenziert, ergibt sich folgendes Bild: Zehn Chemiker, neun Biologen, vier Mediziner, jeweils zwei Physi­ker, Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieurwissenschaftler so­wie jeweils ein Philosoph, Geo­loge, und Pharmazeut emi­grier­ten während des National­so­zialismus nach Brasilien.
In den meisten Fällen gab es schon bei der Ausreise ein Stel­lenangebot aus Brasilien. Vor allem die Universität von Sao Paulo bot zahlreiche Arbeits­möglichkeiten für vertriebene Wissenschaftler.
Im Jahre 1934 wurde die Philosophische Fakultät der Uni­versität von Sao Paulo (USP) gegründet. Da in Brasilien nicht genügend Lehrkräfte zum Auf­bau der neuen Institute zur Ver­fügung standen, erhielt der erste Direktor der Philosophischen Fa­kultät den Auftrag, in Europa Lehrkräfte für diese Aufgabe zu gewinnen. Für die Mehrzahl der Lehrstühle wurden DozentInnen und ProfessorInnen aus Frank­reich und Italien ver­pflichtet. EmigrantInnen aus Deutschland waren besonders am Aufbau der biologischen und chemischen In­stitute beteiligt. Drei deutsche Dozenten erhielten die Lehr­stühle für Zoologie, Botanik und Chemie.2 Insgesamt fanden elf deutsche Wissen­schaftler an der USP eine An­stellung.
Gute Arbeitsbedingungen in Sao Paulo
Unter ihnen war Ernst Marcus (1893-1968), der vor seiner Emigration Professor an der Universität Berlin gewesen war. Im Jahre 1935 wurde er aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlas­sen und ging im darauffolgenden Jahr an die USP. Von ihm ist ein Brief an das Reichserziehungs­minsterium erhalten, der illu­striert, wie schmerzlich für ihn die Entlassung aus dem Hoch­schuldienst empfunden wurde:
“Nachdem ich aufgewachsen bin als Sohn eines preußischen Richters, vier Jahre in der preu­ßischen Garde Frontdienst tun durfte, als Unteroffizier mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausge­zeichnet worden bin, meine ganze Arbeit an preußischen Dienststellen getan habe, … ziemt es mir nicht, bei carita­tiven Institutionen des Auslandes um eine Unterbringung zu bet­teln. Wenn ich … aus dem Va­terlande ausgewiesen und zum heimatlosen Bettler gemacht werde, so sehe ich darin das größte Unrecht und die tiefste Kränkung, die mir angetan wer­den konnte. Das habe ich nicht verdient, sofern nach dem preu­ßischen Grundsatz “suum cui­que” verfügt wird.”3
Marcus fand dennoch in Bra­silien eine neue Heimat, er war von 1936 bis zum Jahre 1963 Professor und Direktor der zoo­logischen Abteilung der Univer­sität Sao Paulo, nahm die brasi­lianische Staatsbürgerschaft an und wurde Mitglied der Brasilia­nischen Akademie der Wissen­schaften. Nachhaltig prägte er an der Universität mehrere Genera­tionen brasilianischer Zoologen und fand auf dem ganzen latein­amerikanischen Kontinent große Anerkennung für seine wissen­schaftliche Arbeit.
Am Beispiel des Chemikers Fritz Feigl werden Verlauf und Umstände einer Emigration und Akkulturation an das Gastland Brasilien deutlich, die durchaus als typisch gelten können.
Fritz Feigl (geb. 1891 in Wien) studierte Chemie in seiner Heimatstadt. Nach der Promo­tion wirkte er zunächst als Assi­stent, später als Privatdozent an der dortigen Universität. Im Jahre 1935 wurde er außeror­dentlicher Professor für analyti­sche und anorganische Chemie. Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland wurde ihm wegen seiner jüdischen Herkunft der Zutritt zu Labor und Universität verwehrt.
Brasilien: Zwischenstation oder Neuanfang?
1938 flohen Feigl und seine Frau Regine, ebenfalls in Che­mie promoviert und als seine Mitarbeiterin tätig, nach Belgien, wo er Arbeit als technischer Be­rater der Firma Gevaert in Gent fand. Mit der Invasion der deut­schen Truppen in Belgien im Jahre 1940 mußten die Feigls wiederum fliehen. Fritz Feigl ging zunächst nach England und wurde von dort nach Frankreich zurückgeschickt, wo er in Perpi­gnan interniert wurde. Über den brasilianischen Botschafter in Vichy erhielt Regine Feigl ein Diplomatenvisum, das sie mit ih­rem Mann zur Einreise nach Brasilien berechtigte. Im De­zember 1940 kamen beide in Rio de Janeiro an. Feigl hatte zu­nächst die Absicht, in Brasi­lien nur solange zu bleiben, bis er ein Visum für die USA be­kommen würde, da er verschie­dene Ar­beitsangebote von dort erhalten hat­te.
Nachdem Mário da Silva Pin­to, damals Direktor des La­bors des Departamento Nacional da Produçao Mineral (DNPM, Amt für die Erforschung und Aus­beutung der Bodenschätze), er­fahren hatte, daß der bekannte Chemiker Feigl in Rio ange­kommen sei, setzte er den Gene­raldirektor des DNPM und den Agrarminister, dem das DNPM unterstand, hiervon in Kenntnis und machte sie auf die Vorteile aufmerksam, die das DNPM und Brasilien von einer Tätigkeit Feigls haben könnten. Daraufhin bekam Feigl das Angebot, im Labor des DNPM eine mikro­chemische Abteilung aufzu­bauen. Ihm wurde vollkommene Freiheit in der Forschung zuge­standen. Es bestand nur die Auflage, daß er mit einem brasi­lianischen Assistenten zusam­menarbeitete und daß er sich mit einigen Problemen, die für das DNPM wichtig waren, zu be­schäftigen hatte.
Feigl nahm das Angebot an und wurde schon einige Jahre später brasilianischer Staatsbür­ger. Angebote aus anderen Län­dern, auch eines, nach dem Krieg nach Österreich zurückzukom­men, lehnte er aus Dankbarbeit gegenüber Brasilien ab, das ihm in höchster Not Aufnahme ge­währt hatte. Er blieb dann bis zu seinem Tode im Jahre 1971 am Labor des DNPM, wo er viele junge brasilianische Chemiker­Innen ausbildete oder mit ihnen zusammenarbeitete.
Die Wissenschaftler, die von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurden und in Brasilien Aufnahme fanden, blieben zum größten Teil auch nach dem Ende des Natio­nalsozialismus dort. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß sich der Großteil der Wis­senschaftsemigranten bis 1945 weitgehend in den brasiliani­schen Wissenschaftsbetrieb inte­griert hatte. Viele hatten schon nach wenigen Jahren die brasi­lianische Staatsbürgerschaft an­genommen oder waren in die Akademie der Wissenschaften des Landes aufgenommen wor­den. Häufig nahmen sie auch als Repräsentanten Brasiliens an in­ternationalen Kongressen teil oder vertraten das Land in inter­nationalen Organisationen.
Die Tatsache, daß sie nach dem Krieg in Brasilien blieben und keine Stellungen in europäi­schen oder nordamerikanischen Instituten annahmen, obwohl durchaus entsprechende Ange­bote vorlagen, ist ein Zeichen für die guten Arbeitsbedingungen, die geboten wurden. Von den Wis­senschaftlern wurde be­son­ders geschätzt, daß die Mög­lichkeit bestand, eigene The­menbereiche weiterzuverfol­gen.
Bestand die Auflage, sich be­stimmten Problemstellungen zu­zuwenden, die von brasiliani­schen Universitäten oder For­schungsinstitute für wichtig er­achtet wurden, so wurde dies von den emigrierten Wissenschaft­lern bereitwillig erfüllt. Darüber hinaus stellten sie ihre Arbeits­gebiete durchaus auch aus ei­genem Interesse auf landesspe­zifische Themen um.
Die meisten Wissen­schaftler, die in Brasilien eine neue Wirkungsstätte im Wissen­schafts­bereich fanden, konnte sich relativ rasch integrieren. An den Universitäten und anderen wis­sen­schaftlichen Einrichtun­gen des Landes leisteten sie oft über Jahrzehnte hinweg aner­kann­te Arbeit in Lehre und For­schung.

1 Hierzu u.a. Horst Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissen­schaftler und Künstler in der Emi­gration nach 1933, München 1984; Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1988; Thomas Koebner, Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen (Exilforschung, Bd. 6), München 1988.
2 Vgl. Carolina Bresslau Aust: Der Beitrag deutscher Wissenschaftler zum Aufbau der Philosophischen Fakultät der Universität Sao Paulo, in: Staden-Jahrbuch, Bd. 11/12, Sao Paulo 1963/64, S. 197-211.
3 Brief des Zoologen Prof. Ernst Marcus an das Reichserziehungsmi­nisterium vom 1.6.1936, Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Best. REM Nr. 1393, Bl.26, zitiert nach Deich­mann, Ute: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, For­schung, Frankfurt/Main / New York 1992, S. 41.

Olga

Olga wurde geboren als Toch­ter von Leo Benario, einem Rechtsanwalt in München und einflußreichen Persönlichkeit der Sozialdemokratie während der Weimarer Zeit, und Eugenie Gutmann Benario, die ihrerseits aus einer reichen jüdischen Fa­milie stammte. Mit 15 Jah­ren war Olga bereits aktiv in der kom­munistischen Jugend und be­kannt für ihre Verwegenheit.
Nach einer spektakulären Ak­tion, in der Olga ihren Partner, den bekannten deutschen Kom­munisten Otto Braun, aus der Haftanstalt Berlin-Moabit befrei­te, flüchtete sie vor der deut­schen Polizei in die Sowjetunion. Dort wurde sie militärisch ge­schult und stieg schnell auf in der Stufenleiter der kommunisti­schen Hierarchie. Sie sollte teil­nehmen an der wichtigsten Mis­sion der Kommunisti­schen Inter­nationale (Komintern) in Latein­amerika. In ihrer Ver­antwortung lag die persönliche Sicherheit von Luis Carlos Prestes, mythen­umrankter brasilianischer Revo­lutionär. Luis Carlos Prestes an sich war schon eine Legende. Gemeinsam mit einem kleinen Heer war es ihm in der Absicht, gegen Elend und Unterdrückung zu kämpfen, gelungen, zu Pferd und zu Fuß das gesamte bra­silianische Ter­ritorium zu durch­queren. Die ganze brasilia­nische Armee wurde gegen ihn aufge­boten, aber er wurde nie wirklich besiegt. Schließ­lich mußte auch Prestes fliehen und ging in die Sowjetunion. Er würde zurück­kehren, um 1935 den ersten kommunistischen Umsturzver­such auf dem lateinamerika­nischen Kontinent zu leiten.
Während der riskanten Reise quer durch Europa und die Ver­einigten Staaten, getarnt als ein wohlhabendes Paar aus Portugal, verlieb­ten sich Olga und Prestes ineinander.
In Brasilien stießen die beiden auf die anderen Gesandten der Komintern: Arthur Ewert, ehe­maliger Reichstagsabgeordneter und seine Frau Elisa, genannt Sabo; die Argentinier Rodolfo und Carmen Ghioldi; der US-Amerikaner Victor Allen Barron, das russische Paar Pavel und So­fia Stuchewski, verantwortlich für die Finanzen und für das ganze Netz der Komintern in Lateinamerika; die Deutschen Jonny und Erika de Graf, er Sprengstoffexperte, sie Schreib­kraft und Fahrerin. Im Unter­grund begannen sie, den Auf­stand zu organi­sieren.
Doch der Aufstand mißlang, die Bewegung zerschlagen. Vie­le wurden verhaftet oder er­mordet.
Olga und Prestes flohen, und einige Wochen noch konnten sie sich vor den Polizei-Schergen des Staatsschutzes von Rio de Janeiro verbergen. Am Morgen des 5. März 1936 wurden die zwei Flüchtigen gestellt. Die Po­lizisten hatten den Befehl, Prestes zu erschießen. In einem verzweifelten Akt stellte sich Olga zwischen die Schützen und ihren Liebhaber – Prestes über­lebte. Beide wurden verhaftet. In der Einsamkeit ihrer Einzelzelle entdeckte Olga, daß sie von Prestes schwanger war. Glück­lich träumte sie noch davon, freizu­kommen und Luis wieder­zusehen. Einige Tage später je­doch wurde Olga an das natio­nalsozialistische Deutschland ausgeliefert.
In dem Gestapo-Frauenge­fängnis in der Berliner Barnim­straße 15 be­kam Olga ihre Toch­ter, Anita Leocádia. Olga ver­suchte, ihre Toch­ter von den vier schmutzigen Wänden ihrer Zelle abzulenken. Und das erste Mal in ihrem Leben hatte sie wirklich Angst. Denn sie wußte, daß man ihr Anita Leocádia wegnehmen würde, sobald sie sie nicht mehr stillen kann.
Neun Monate später wurde ihr das Kind entrissen. Aufgrund ei­ner von ihrer Schwiegermutter initiierten internationalen Kam­pagne (ihre eigene Mutter wei­gert sich, etwas zu unternehmen) wurde das Kind gerettet und der Familie übergeben. Schmerzer­füllt befand sich Olga jedoch noch lange Zeit in dem Glauben, daß ihre Tochter in ein nazisti­schen Heim übergeben wurde. Tagelang nahm sie nichts zu sich, stand nicht mehr auf. Sie dachte an die Tochter, an die Zärtlichkeit ihrer winzigen Hän­de; Olga wollte sterben. Doch nach und nach begann sie wieder zu hoffen, eines Tages ihr Kind und Prestes wiederzusehen. Nur nicht aufgeben.
Sie wurde ins KZ Ravens­brück eingeliefert. Dort ent­schied sie sich, ihre Leidensge­nossinen zu organisieren und an­zuführen. Gemeinsam versuch­ten sie den Hunger, den Wahn­sinn und die Gewalt zu überle­ben.
Gleichzeitig hatten die stalini­stischen Säuberungsaktionen ihre Höhepunkte. Fast alle Freunde Olgas wurden verhaftet oder ermor­det. 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, gab es Anzeichen, daß man Olga freilassen könnte, doch die sowjetischen Regierung unternahm nichts.
Olga sah Prestes und ihr Kind nicht wieder. 1942 ermordeten sie die Nazis in einer Gaskam­mer bei Bernburg.
Luis Carlos Prestes wurde mit der Absetzung der Regierung Vargas 1945 freigelassen. Die Tochter Anita lebt heute in Rio de Janeiro.
Die Geschichte von Olga Be­nario ist der Spiegel einer Epo­che des Obskurantismus und des Terrors. Es ist das faszinierende und er­schütternde Abbild einer Frau, die glaubte, mit ihren Träumen, ih­rem Mut und sogar mit ihrem Tod die Welt erleuch­ten zu können.

Zum Weiterlesen empfehlen wir das Buch “Olga” von Fern­ando Morais, das die Autorin zur Zeit für eine Verfilmung bear­beitet.

Die Zeit, als Gott eine Frau war

Zu erleben war eine auch dem in experimenteller Musik Uner­fahrenen gut zugängliche Ge­schichte von den zwei Seiten des Ich, verkörpert in den beiden Hauptakteurinnen. Die Sängerin, Gabriela de Geanx, hatte eine durch Konventionen eingeengte Persönlichkeit darzustellen, agie­rend auf einem hohen Podest mit wenig Platz, in ein altmodisches Kostüm gezwängt, künstlerisch “schön” singend, mit marionet­tenhaften, unfreien Bewegungen.
Die Schau­spielerin, Marilena Bi­bas, spielte den Gegenpart: In schwarzem Kleid, mit wir­rem Haar, repräsentierte sie das Traumhafte, Unterbe­wußte, My­thische. Sie warf Steine in einen großen Kupferkessel und rollte diese darin herum, setzte sich auch selbst hinein – sowohl Assoziationen zum Kochtopf als auch zum Hexenkessel liegen nahe – , sie streifte durch ein großes Metallröhrenspiel, stellte sich hinter einen vergrößernden Zerrspiegel und stieß beim Töp­fern ei­nes Phallus vogelartige Laute aus. Märchenhaft, mit dem exotischen Geruch der eigenen Träume und Phantasien, kamen die Klänge und Bilder daher.
Die Texte, die von bei­den ge­sprochen und gesun­gen werden, reichen von Mythen der Ya­nomami über Euripides bis zu einem Text der Regisseurin und beschäftigen sich mit Träumen von Weiblichkeit, mit Frauenge­stalten und -geschichten, die von allem Bürgerlich-Traditionellen abweichen. Jocy de Oli­veira, Drehbuchautorin, Komponistin und Regis­seurin der Oper, sucht of­fenbar nach anderen, neuen Formen des Frau-Seins, und sie findet diese in “jener Zeit” (illud tempus), der Ur-Zeit, als Gott eine Frau war. Auch räumlich steht die Sängerin, die die “Kultur” verkörpert, im Hinter­grund, die Schau­spielerin – “Natur” – je­doch im Zentrum der Bühne, und auf ihre Le­bensform läuft das Stück hinaus: Am Ende reißt sie der Sängerin das Ko­stüm vom Leib, befreit sie, oder wenn wir es bei den zwei Seiten des Ich lassen: be­freit sich selbst von den Zwängen, den falschen Traditionen.
Der Feminismus hat sich der­artiger Gedanken längst ange­nommen; die Überle­gungen zu dem Bild “Gott als Frau”, zum vorhistori­schen Matriarchat und zu weiblicher Mythologie ha­ben sich etabliert. Aber auch wenn die Oper inhalt­lich nicht viel Neues bringt, ist sie keineswegs überflüs­sig. Zum einen ist uns ge­nauso geläufig, daß sich die Frau-Mann-Rollen und patriar­chale Herrschafts­formen hart­näckig halten und das Thema folglich nicht erledigt ist. Zum an­deren macht de Oliveira von den Mitteln der expe­rimentellen Musik in die­sem Zusammenhang wun­dervollen Gebrauch: Nach­denken über Weiblichkeit findet hier nicht in troc­kenen Texten statt, sondern durch die Auffor­derung, die Sinne zu öffnen, der phan­tasievollen Musik zu lau­schen (Schlagzeugerin, Klarinet­tist, de Oliveira mit Keyboard und elektroni­schen Geräuschen) und die Augen wandern zu las­sen. Darüberhinaus stellt sich ge­rade durch die geschlechtsunab­hängige, berührende Sinnlichkeit in Bild und Ton die Frage, wie spezifisch weiblich es eigentlich ist, den Mythen und Träumen nachzugehen. Möglicherweise ist die Oper ein geeignetes Medium, die Konventionen und Traditio­nen auch bei Män­nern zu hinter­fragen.
Glücklicherweise scheint “Illud Tempus” in Brasilien kein marginales Ereignis zu sein. 1994 wählte die Zei­tung “O Globo” das Werk zur besten mu­sikalischen Arbeit des Jahres, und durch Open-Air-Veranstal­tungen mit tausenden Zu­schauerInnen ist sie ins Gespräch gekommen.
Die Oper ist der zweite Teil einer Trilogie. Die Überra­schung, die man nach drei Vier­telstunden erlebt – da ist die Oper nämlich aus – , läßt sich so viel­leicht erklären. Nach wie vor un­glaublich ist jedoch, daß die KünstlerInnen um Jocy de Oli­veira nur wegen dieser zwei Konzerte im Berliner Haus der Kulturen der Welt nach Europa ge­kommen sind und sonst keine weiteren Auftritte ha­ben. Aber vielleicht gibt es eine neue Tour­nee, wenn die Trilogie abge­schlossen ist?

“Musik ist keine universelle Sprache”

Wir wußten nicht einmal, daß es eine Opernszene in Brasilien gibt. Warum ist das hier in Europa nicht so bekannt?
Ich denke, daß das mei­ste, was aus Brasilien kommt, Pop oder andere eher kommerzielle Dinge sind. Und meistens, wenn die Regierung Dinge in die Welt schickt, denkt sie viel mehr in den stereotypen Bildern von Brasilien, die auch die Europäer im Kopf haben. Und das sind Kar­neval und Fußball – und das war`s. Sie kümmern sich viel zu wenig um die sehr verschieden­artige Kultur, die Brasilien hat. Ich meine die zeitgenössi­sche Kunst, sicher auch Folklore und all` die An­denken an unsere Tradi­tionen. Die Kultur ist sehr umfassend.
Was haben Sie außer­halb Brasiliens schon ge­macht?
Ich trete schon seit 30 Jahren in Europa und im Ausland auf, lange Zeit aber in erster Linie als Pianistin. Und einige mei­ner Schallplatten wurden hier in Deutschland veröf­fentlicht, weil ich viele Jahre mit dem Einüben der Werke von Messiaen verbracht habe. Auch Neue Musik, wie beispielsweise Wer­ke von Cage oder Stock­hausen, habe ich sehr viel auf­ge­führt. In­zwi­schen habe ich auch sehr viel selbst komponiert.
Wen wollen sie mit Ihrer Musik erreichen?
Ich habe einige meiner Werke Open-Air gespielt, und da hatten wir wirklich ein riesiges Pu­blikum, was sehr interessant ist, weil ich dann Werke wie die­ses Leu­ten nahebringen kann, die sonst nicht unbedingt ins Theater gehen. Sie sind diese Art von Musik nicht gewöhnt, und es ist eine Herausforderung, ihre Re­aktion zu bekommen.
Wollen sie dem Publikum eher klassische oder expe­rimentelle Opern vorfüh­ren, oder steht der Inhalt im Vorder­grund? Sie ver­suchen ja auch, die Kultur der Yanomami darzustel­len.
Der erste Teil von “illud tem­pus”behandelt mehr mythische Texte, der zweite Teil befaßt sich mit weiblichen Träumen. Und dann habe ich auch ein paar Ge­schichten und Träume eingebaut, die sich auf die Yanomami bezie­hen, die alte Steinzeit-Kul­tur, die in Brasilien immer noch existiert. Im letzten Teil kommen zwei Märchen vor, die ich so er­zähle, wie ich sie sehe…
…und die in Brasilien be­rühmt sind?
Nicht unbedingt. Die Wolfs­frau beispielsweise ist aus der mexikanischen Wüste. Ein an­deres Mär­chen kann man mit klei­nen Abwandlungen sowohl in Brasilien als auch in Nord­amerika finden. Es ist manchmal unglaublich: In verschiedenen Kulturen werden sie zwar leicht un­terschiedlich erzählt, aber diese berühmten Märchen sind immer wieder zu er­kennen.
Steht die Rolle der Frau in­nerhalb der Gesellschaft und der Natur im Mittel­punkt des Werkes?
Ja, im Mittelpunkt steht die Frau, aber auf sehr verschiedene Arten und in einer sehr subtilen Weise, nicht ganz offensichtlich und nicht richtig linear oder er­zählend. Meine Art zu erzählen ist sehr sym­bolisch. Es ist wich­tig, das Publikum zu vielen unter­schiedlichen Empfindun­gen und Eindrücken anzu­regen, da­mit sie ihre eige­nen Träume dazu entwic­keln. Die Hauptsache ist, Symbole zu benutzen, um einen magischen Augen­blick zu erzeu­gen, um diese ganzen Mythen, die irgendwie verloren gegan­gen sind, wiederzugewin­nen.
Sehen sie sich selbst als eine brasilianische Künst­lerin oder eher als eine ex­perimentelle Weltkünstle­rin?
Ich fühle mich nicht wirklich brasilianisch oder chinesisch oder japanisch oder was auch immer. Und ich denke, daß durch die Musik, die keine univer­selle Sprache ist…
Was meinen sie damit, daß die Musik keine uni­verselle Spra­che ist?
Sie ist es absolut nicht, denn wenn sie Beethovens Fünfte in Madras spielen würden, fänden es die Leute dort furchtbar. Sie würden es für etwas wirk­lich Exotisches, Fremdes halten. Sie sind es nicht gewöhnt.
Das wäre ein falsches Kon­zept. Aber der charis­matische Effekt eines Stückes oder der magische Augenblick einer Auffüh­rung – damit kann man wirklich Kulturen zusam­menbringen. Das ist etwas, was ich gerne intensiver machen würde. Das habe ich in den USA viel mehr gemacht als in Europa: Beispielsweise nur mit dem Set-Designer und vielleicht zwei Schauspie­lern zu kommen, um dann mit Musikern und Schau­spielern von dort zu ar­beiten und die Möglichkeit eines Ideenaus­tausches zu haben, um dann ein ge­meinsames Werk vorfüh­ren zu können.
Ich habe vier Stücke für das Fernsehen gemacht. Die einzige Bedingung, die ich stellte war, daß ich al­les selber machen durfte, daß ich bei der ganzen Aufnahme beteiligt sein durfte und daß alles exakt gemacht wurde, ohne Cuts – genau so, wie ich es mir ausgedacht hatte.
Das ist also möglich?
Ja, das war möglich. Es war perfekt. Aber das war ein öffent­licher Sender. Mit einem kom­merziellen Sen­der wäre es nicht möglich gewesen, sie würden es nie­mals machen.
Also können das Fernse­hen und die Massenme­dien ein Trä­ger für Ihre Botschaft oder für Ihr Ex­periment sein?
Ja, ich habe Video und alle möglichen Arten von visuellen Möglichkeiten, wie Holographie und Laser genutzt und auch ei­nige Stücke zur Unterhaltung gemacht. Ich denke, sie sind nur ein Medium. Es ist egal, was der Vermittler ist.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Modellstadt nicht nur für die Dritte Welt

Curitibas Probleme…
Trotz der zitierten ein­drucks­vollen Su­per­lative bleibt Curitiba eine Stadt der Dritten Welt. Straßen­kin­der machen aus der Straße eine in­formelle Ein­kaufs­quelle, Au­to­fahrerInnen be­ach­ten hier ebenso wenig wie sonst in der Dritten Welt das Rotlicht der Am­peln, Elendsslums signa­lisieren auch hier das Miß­ver­hältnis zwischen Wohnungs­be­darf und Wohnungs­angebot:
Sieben Prozent der 1,3 Mil­lionen Einwohner Curi­ti­bas wohnen in ungeregelten Stadt­rand- und Elendssiedlungen. Eine Folge der drastischen Be­völ­kerungszu­nahme in den 60er und 70er Jah­ren, als die Be­völkerungszahl von 345.000 (1960) auf 1.025.000 (1980) sprang, um sich in den 80er Jah­ren auf dem hohen Niveau von knapp 1,3 Millionen zu stabili­sieren. Frei­lich: Die Bevölke­rungsdichte läßt sich bei weitem nicht mit der von Los Angeles (11,5 Mil­lionen Ein­wohner auf 5.300 Quadratkilo­meter) verglei­chen. Den der Großraum Curi­tiba hat 1,976 Millionen Ein­wohner, die sich auf eine Flä­che von 8.736 Qua­dratkilometer ver­teilen. Die Kern­stadt Curi­ti­bas reicht je­doch mit 1,23 Millionen Ein­wohnern auf rund 500 Quadrat­kilometer an die Kon­zen­tra­tions­indizes von Los An­geles he­ran. 44 Prozent der Wohnungen ver­fügen nicht über ei­nen An­schluß an die städtische Ka­na­li­sation, ein höherer Pro­zent­satz als bei­spiels­weise in Belo Horizonte oder Sao Paulo. Eines von 40 Kindern stirbt vor Vollendung des er­sten Le­bens­jahres (in Porto Alegre nur eines von 80 Kin­dern). Ein Fünftel der schulpflichti­gen Bevölkerung ist des Lesens und Schreibens un­kundig (mehr als in Belo Hori­zonte). Mehr als 700 Personen ster­ben jährlich infolge eines Ver­kehrsunfalls, eine Rekord­zahl unter den bra­silianischen Me­tro­polen.
…und trotzdem ein Modell
Was macht Curi­tiba trotzdem zur Modellstadt? Hier möchte ich le­diglich drei hervorragende Ei­genschaften dieser Stadt etwas näher erläutern: Das in­tegrierte Ver­kehrsnetz (Rede In­tegrada de Trans­portes RIT), das Müllsor­tier- und -sammelsystem und den Stadt­entwicklungsplan (Plano Diretor)
Integriertes Verkehrsnetz
Trotz der großen Zahl von Ver­kehrs­toten ist das Transport­system Curitibas zum Aushänge­schild Nummer eins geworden. Das inte­grierte Ver­kehrs­netz be­steht aus ins­gesamt vier ver­schiedenen Bus­linien, die mit ei­ner Gesamt­länge von 791 km rund 80 Pro­zent der Stadtfläche Curitibas abdecken (eine hundert­pro­zen­tige Deckung ist bis zum Jahr 1998 mit einer In­vestition von 80,6 Millionen US-Dollar ge­plant). Diese Linien werden über insgesamt zwanzig Integrations-Bus­bahnhöfe so mit­einander ver­bun­den, daß der Fahrgast mit ei­nem einzigen Ticket zu einem Einheitspreis und mit bis zu vier­maligem Um­steigen jeden Punkt Curi­tibas mit ei­nem Bus erreichen kann.
Hervorstechendes Merkmal dieses Ver­kehrssy­stems sind seine Schnell­busli­nien. Ihre ins­gesamt 313 rote Schnellbusse ver­kehren auf Ex­klusivspuren die die konzen­trisch verlaufen­den Ver­kehrsli­nien der periphe­ren Stadt­teile mit dem Stadtzen­trum verbin­den. Obwohl auf diese Schnell­busse mit 48 Linien ledig­lich 316 km oder rund 40 Prozent des integrierten Ver­kehrsnetzes ent­fallen, sind diese Ex­press­bahnen für die weltweit aner­kannte Effi­zienz des curi­ti­ba­nischen Ver­kehrs­netzes ent­scheidend. Ob­wohl in der Effizi­enz durchaus mit einer U-Bahn ver­gleich­bar, ist insbesondere das “ligeirinho”-Netz erheblich billiger als eine U-Bahn: Die Anlage- und Be­triebskosten be­tragen rund ein Zwanzigstel der entsprechenden Kosten für ein U-Bahnetz. Durch “tubenartig” gebaute Bus­sta­tio­nen, die das Lösen des Fahr­scheins vor Be­tre­ten des Busses ermöglichen, wird der Zeitbedarf für den Ein­stieg auf ein Viertel der bei nor­malen Bussen benötigten Zeit gesenkt. Zu­sam­men mit der Be­nutzung von ex­klusiven Busspu­ren soll dadurch die durch­schnittliche Fahrge­schwin­dig­keit auf 32 Kilometer pro Stunde verdoppelt werden, womit die Fahrzeit bei einer Strecke von 20 km um bis zu eine Stunde ver­kürzt werden kann
Die Akzeptanz des öffent­lichen Nah­verkehrs in der Be­völkerung ist so groß, daß 75 Prozent der Stadtbevölkerung lieber mit öffentlichen Ver­kehrsmitteln als mit privaten fah­ren (Rio: 57 Prozent, Sao Paulo: 45 Pro­zent). 28 Prozent der rund 500.000 privaten PKW der Stadt bleiben werktags unbe­nutzt. Damit wird 25 Prozent weniger Kraftstoff ver­braucht als in ver­gleichbaren Groß­städten wie Re­cife und Belo Horizonte.
Zwar zählt der Bustarif in Curi­tiba mit 8.000 Cruzeiros zu den teuersten, doch dafür kann man mit einem Ein­heits­fahr­schein dank des voll­inte­grierten Ver­kehrs­systems Ziele im ge­samten Netz erreichen. Und das System erhält von der Stadt keine öf­fentlichen Gelder, im Gegensatz etwa zu Sao Paulo, wo das Nah­ver­kehrs­system mit täglich einer Million Dollar be­zuschußt wer­den muß. Auch bei der Auswei­tung des Schnellbus­netzes will die Stadtverwaltung den Staats­anteil möglichst gering halten: An dem für die nächsten vier Jahre geplanten Aus­bau der 41,7 km langen Nord-Süd-Achse und der 37,4 km langen Ost-West-Achse soll sich die Ge­meinde mit 35,2 Millionen US-Dollar, der Pri­vatsektor aber mit 45,4 Millionen US-Dollar betei­ligen. Das Ver­kehrs­netz wird mittels Kon­zessionen von pri­va­ten Un­ternehmen be­trie­ben. Ober­bür­germeister Jaime Lerner er­klärt, er könnte “den geringsten Busta­rif Bra­siliens einführen; doch die Stadt zieht es vor, wo­anders zu in­vestieren und das Verkehrssy­stem ko­stendeckend zu betrei­ben. Die Menschen sind zufrie­den.” Die erwähnte Kraft­stoff­einsparung von 25 Prozent brachte Bür­germeister Lerner 1991 den Preis des Washingtoner In­ternationalen In­stituts für En­ergieeinsparung ein.
Müllsortierung und Müllsammlung
Eine ähnliche Anerkennung hatte der Bürgermeister ein Jahr zuvor mit seinem Müll­ver­wer­tungssystem er­halten, damals war es der Um­weltpreis 1990 der Vereinten Na­tion­en.
Dieses Sy­stem läßt sogar die Favelas von Curitiba anders aus­sehen als in den anderem Großstädten Brasi­liens: Die Straßen sind inzwi­schen beleuchtet und sau­ber, weil die Slumbevölke­rung beim Sammelsystem aktiv mitmacht.
Gegen Abgabe von recycel­barem Müll erhält der Sammler einen Gutschein zur Benutzung öffent­licher Ver­kehrsmittel oder zum Bezug von Schulmaterial, von Gemüse oder Le­bensmitteln. Zwanzig­tausend Familien der ärmeren Stadt­viertel beteiligen sich an dieser sogenannten “Aktion Grün­tausch”. Bereits 95 Prozent des Mülls von Curitiba werden auf diese Weise sortiert. Zum Vergleich: In Montreal wird le­diglich ein Anteil von zehn Prozent des Hausmülls sor­tiert. So werden in Curitiba mo­natlich 750 Tonnen recycle­baren Mate­rials an die lokale Industrie ver­kauft.
Der Stadtentwicklungsplan
Dem Stadt­ent­wicklungsplan und seinem Autor, Ober­bürgermeister Jaime Lerner, ver­dankt es Cu­ri­tiba, daß die Verdreifa­chung der Bevölkerung in zwei Jahrzehnten nicht zur Ver­schär­fung so­zialer und öko­logischer Probleme geführt hat. Denn statt, wie noch zu seiner ersten Amts­zeit im Jahre 1971, auf gi­gan­ti­sche Bauwerke wie Brücken, Straßen, U-Bahnen und Wasser­bauten zu setzen, ließ sich Ar­chitekt Lerner vom Kon­zept einfacher Lösungen leiten: Er verbannte die Autos aus der Stadtmitte und führte Fuß­gän­ger­zonen ein, schuf Exklu­siv­spuren für Auto­busse, legte in der gan­zen Stadt zahlrei­che Grün­flächen an und entwic­kelte damit einen Gegenentwurf zum Stadt­ent­wick­lungsplan Bra­sílias: Statt die Stadtviertel nach Funk­tionen aufzuteilen (Re­gierungsviertel, Bot­schafts­vier­tel, Banken­viertel, Handels­viertel, Wohn­vier­tel), setzte er auf die bunte Mischung von Funk­tionen, Stilen, Kulturen und Ethnien.
Heute verfügt die Stadt Curi­tiba über 1.700 Hektar Parks, das ent­spricht einem An­teil von vier Pro­zent an der 430 Quadratkilo­meter großen Kern­stadtfläche. Die Parks ent­standen als Er­geb­nis der Suche nach einfachen Lösungen für ein gravierendes Pro­blem in einer vom Regen über­reich­lich be­dachten Stadt: Statt Fluß­läufe ein­zu­deichen, zu ver­tiefen und zu kanalisieren, legte die Stadt zahlreiche Seen an. Von weiten Parks umgeben, er­füllten sie seit­dem eine regu­lierende Funk­tion bei immer wieder auf­treten­dem Hoch­was­ser. Die Über­schwemmungen beschränken sich zumeist auf die umgebenden freien Flächen und lassen Häuser und Straßen unbe­rührt.
Auch beim Wohnungs­bau ver­tritt Lerner ein Mischkonzept. Statt eintöniger Be­tonklötze ließ er im Stadtkern kleinere Woh­nungs­einheiten er­richten. Die einzelnen Häuser dürfen dabei durchaus unter­schiedlich sein. Auf unter­schied­liche Funktio­nen wurde vor allem im histori­schen Stadt­zentrum ge­achtet. Statt die­ses für die An­siedlung von Bank-, Versiche­rungs- und Holding­büros zu re­servieren, die nach Feierabend gewöhnlich eine öde Innenstadt hin­terlassen, wurde die Ein­rich­tung von Im­bißbuden, Restau­rants, Büche­reien, Theatern, Ki­nos und Wohn­gebäuden geför­dert. Zum An­ziehungs- und Treff­punkt in der Stadtmitte ha­ben sich mitt­lerweile die “24-Stunden-Straße”, in der eine 120 Meter lange Galerie 34 Läden unter ei­nem Glasdach be­her­bergt, die Fußgängerzone und der histori­sche “Platz der Ordnung” ent­wickelt. Es gelang so, den Ver­fall des Stadtzentrums, wie er etwa in Sao Paulo immer noch weitergeht, zu verhindern. 1993 wurde zum 300-jährigen Jubi­läum der Stadt ein regelrechtes Feuer­werk an bunten, multikul­turellen Festen und Veranstal­tungen in zum Teil eigens er­rich­teten einfachen Draht- und Ei­sen­bau­ten ge-startet, darunter in der “Draht-Oper” (Opera de Arame), deren Grundriß von Lerner selbst entworfen wurde.
Kein Wunder, wenn Curitiba unter diesen Umständen mit jährlich zehn Mordfällen auf 100.000 Einwöhner weit unter­halb der Kri­mi­na­li­täts­raten von Sao Paulo und Rio de Janeiro liegt. Die Werte für Um­welt­verschmutzung sind halb so hoch wie die von Sao Paulo und ge­ringer als die von Porto Alegre in Rio Grande do Sul. Pro Einwoh­ner stehen 54 Qua­drat­meter Grün­fläche zur Ver-fügung. Die Be­wohner von Sao Paulo haben nur ein Drei­zehntel, die von Belo Horizonte nur ein Zehntel dieses An­gebots.
Kein Wunder auch, wenn Cu­ritiba einen guten Ruf in ganz Brasilien genießt. Einer reprä­sentativen Meinungsumfrage in Rio, Sao Paulo und Bauru (Hinterland von Sao Paulo) zu­folge haben 91 Prozent der Be­fragten “von Cu­ritiba gut spre­chen hören”, und 70 Prozent glauben gar, daß die dortigen Le­bens­verhältnisse besser sind als in ihren eigenen Städten.
Daß die Stadt trotzdem nicht mehr wie ein Magnet auf die von der Agrar­mo­der­ni­sierung be­trof­fenen, land­los gewordenen Klein­bauern wirkt, liegt zum einen daran, daß inzwischen in der Provinz Paraná eine Kette pro­spe­rierender Mittelstädte im Bin­nenland des Bundesstaates ent­stand, die die Funktion eines Auffangbeckens wahr­nehmen; zum Teil aber auch daran, daß es sich inzwischen he­rum­gespro­chen hat, daß Curitiba keine Ar­beits­plätze mehr für unqualifi­zierte Berufe, etwa im Bausek­tor, son­dern nur noch für höher gebildete Verwaltungsberufe und Freiberufler der gehobenen Schicht bietet.

Der Beitrag wurde gekürzt ent­nom­men aus der Tagungsdoku­mentation der Landeszentrale für Politische Bil­dung Baden-Würten­berg: “Ur­ba­ne Zu­kunft zwischen Wachstum, Ökologie und knapper Kasse.”

Krieg in den favelas – Fest auf dem Asphalt

Die Militäraktion ist inzwi­schen beendet – zumindest vor­übergehend. Es soll offensicht­lich dem neuen Gouverneur Marcello Alencar, der zur Partei des Präsidenten Fernando Henri­que Cardoso gehört, Raum gege­ben werden, mit einer Umstruk­turierung der Polizeikräfte wie­der selbst die Initiative zu ergrei­fen. Außerdem dürften auch die Kosten für ein langfristiges Ein­greifen der Militärs zu hoch sein.
Ein erstes Fazit: Die Aktion kann als Erfolg gefeiert werden. Was sie wirklich war, welche Ef­fekte sie gebracht hat, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Es ist nur wichtig, wie sie medial dargestellt und auch von einem großen Teil der Bevölkerung be­griffen wird: die Militärs haben sich als Hüter der Ordnung be­währt. Allerdings war es kein Triumph: den Militärs ist es nicht gelungen, in ihrem viermo­natigen Wirken “den Sumpf des Drogenhandels trockenzulegen”. Aber dennoch scheint die An­sicht zu überwiegen – und von den Medien wird kräftig in diese Kerbe gehauen – daß der Einsatz der Militärs nicht das falsche Mittel war, sondern nur die Do­sis nicht ausreichte.
Die Aktion der Militärs war also weniger ein realer Feldzug gegen die Drogenbanden, son­dern eher ein großer Versuch – oder besser vielleicht eine große Übung der Bevölkerung in Mili­tarisierung. War dies das wirkli­che Ziel des Einsatzes, dann war er ein Erfolg. Die Militärs haben, genau zehn Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft, ihre Rolle als innenpolitischer Akteur, un­terstützt durch demokratische Parteien, restauriert. Aber wich­tiger ist vielleicht noch etwas anders: sie haben eine Sichtweise popularisiert, in der die Stadt zum militärischen Raum wird.
Die favela –
feindliches Gebiet
1977, so wollen es wenigstens die ExpertInnen wissen, begann in den favelas von Rio eine neue Entwicklung. Der schon länger bestehende Drogenhandel be­waffnete sich zunehmend. Späte­stens 1982 war klar, daß der Staat das Gewaltmonopol in ei­nem großen Teil der Stadt verlo­ren hatte.
1982 verkündete der populi­stische Gouverneur Leonel Bri­zola das Ende der willkürlichen Polizeiaktionen in den favelas. Sie hörten zwar nicht auf, ver­minderten sich aber dra­stisch. Bis heute wird daher von der Presse und den rechten Poli­tikern Brizola die Schuld für die Eta­blierung der rechtsfreien Räu­me gegeben.
Für lange Zeit herrschte ein fragiles Nebeneinander: Drogen­banden beherrschten einige Vier­tel, es gab den anderen Teil der Stadt, “Asphalt” genannt, und eine Polizei, die zu einem großen Teil Komplizin der illegalen Ge­schäfte wurde, beziehungsweise sie selbst aktiv betreibt.
Das stete Anwachsen der Kriminalität ließ Rio in der Mordstatistik zur drittgefährlich­sten Stadt der Welt aufsteigen, nach Kairo und Johannesburg, weit vor den us-amerikanischen Städten. In den acht­ziger Jahren wurden Unsicherheit und Angst zum festen Bestandteil des Le­bensgefühls der cariocas (Ein­wohnerInnen von Rio) aller Schichten.
Insbesondere die immer zahl­reicheren Entführungen zeigten, daß die Einmauerung der Rei­chen nicht mehr hinreichenden Schutz gewährte und daß das or­ganisierte Verbrechen nicht in den favelas blieb.
Einer der wichtigsten Aspekte der Kriminalität ist die weitge­hende Kriminalisierung des Poli­zeiapparates. Zwar erkennen fast alle PolitikerInnen auch den so­zialen Hintergrund der Probleme an, aber bei Lösungsvorschlägen überwiegt der Ruf nach der “starken Hand”. In einem langen Krieg um die Köpfe wurde eine komplizierte soziale Situation auf ein Feindbild reduziert: die Bewaffneten auf den Hügeln.
Damit wurden aber auch die favelas zum feindlichen Territo­rium erklärt und so die soziale Situation insgesamt territo­ri­a­li­siert. Die reale Spaltung des Stadtgebiets wurde Aus­gangspunkt für eine militärische Triage: Hier die auszusondern­den und zu bekämpfenden Fein­de, dort der zu schützende As­phalt. (Der Begriff Triage wurde im ersten Weltkrieg ge­prägt: französische Kranken­schwestern sondierten die Fälle in drei Kate­gorien: die einen, die sofort be­handelt werden mußten, die an­deren die warten konnten und schließlich die, die keine Be­handlung mehr bekamen.)
Die “korrekten” Militärs
Während der ECO 92: fuhren zum ersten Mal Panzer vor der größten favela Rios (Rocin­ha) auf und richteten ihre Ge­schütze auf die Häuser. Die Legitimation eines solchen Ein­satzes ist nicht mehr der Schutz der Einwohner der fa­vela vor den Drogenhänd­lern, son­dern der Schutz des Asphal­tes vor der favela.
Diese Vision einer territoriali­sierten Militarisierung der so­zialen Frage wurde durch jüngste Militäraktionen weiter ausge­baut. Warum aber wurde die Aktion von der überwiegenden Mehrheit der Favelabewoh­nerInnen offensichtlich unter­stützt? Anscheinend sahen viele in den Militärs eine neutrale Macht, die sie vor der doppelten Bedrückung durch Drogen­ban­den und Polizei schützen könne.
Tatsächlich hat die Militärak­tion nicht zu dem befürchteten Blutbad geführt, trotz vieler zahlreicher Übergriffe und einer klar doku­mentierten Folterung haben sich die Militärs “korrekter” Verhalten als die ge­fürchteten Polizeikräfte. Dies unterstützt die These, daß der Militäreinsatz weniger ein Krieg gegen den Drogenhandel war als einer um die Köpfe. Schließlich findet sich in den favelas ja nur die unterste Stufe eines Milliar­dengeschäfts, und die gefürchte­ten bewaffneten Drogenbanden bestehen zum großen Teil aus Minderjährigen.
Auch die internationale Be­richterstattung, die den Dro­gen­krieg und die sichtbare Kri­mi­na­lität lustvoll ausschlachtet strickt an dem Feindbild fa­vela (= Be­dro­hung durch die Armen) mit.
Krieg der Bilder
Die Bürgerkriegszenen am Zuckerhut geben eindrucksvolle Bilder ab. Niemand hingegen re­cherchiert die Drogenroute in Brasilien, die Verbindungen des Waffenhandels, der die Drogen­banden mit modernsten Waffen versorgt, und Finanzierungsme­chanismen dieses Riesenge­schäfts. Das gibt erstens keine Bilder und ist zweitens ungleich gefährlicher als hinter den Schußwechseln herzuwetzen. Medienberichterstattung und Mi­litäreinsatz verschränken sich zu einer Imaginisierung (imago = Bild) des Sozialen. In der Geo­grafie der Stadt spiegelt sich das gesellschaftliche Gefüge als eine schwierige Mischung aus Reali­tät und medialer Bildpro­duktion.
Das zu befürchtende Resultat: immer mehr Menschen werden bereit sein, territorial-militäri­sche Antworten auf gesellschaft­liche Probleme zu akzeptieren. Reale Spaltungen der Stadt (Asphalt – favela), werden dazu genutzt, militärisch Gräben zu ziehen.
Viele sehen in Rio heute ein Symbol des Verfalls. Das politi­sche Zentrum ist nach Brasília verlegt worden, Sao Paulo ist die boomende Industrie- und Fi­nanzmetropole – Rios Anteil am nationalen Bruttosozialprodukt sinkt hingegen ständig. Muniz Sodre, einer der bekanntesten brasilianischen Sozialwissen­schaftler, sieht das an­ders: Rio sei nach wie vor die brasiliani­sche Medienhauptstadt und da­mit hegemonial in der Produk­tion des Imaginären. Der all­mächtige Sender Globo hat hier sei­nen Sitz, und keine an­dere Stadt produziert und reprä­sen­tiert so sehr das Bild Brasili­ens wie Rio. Und wenn der Kampf um die Zukunft vor allem ein Kampf um die Bilder ist, dann ist die hier skizzierte Pro­duktion des imaginären Rios keine Ne­ben­sache. Sie öffnet den Weg für die Militarisierung der so­zialen Kon­flikte in den Städ­ten.
Die Militäraktion wurde von einer Optimismuspropaganda in den Medien begleitet. Rio erholt sich, eine neue Regierung tritt an, die Ära des bei Globo ver­haßten Brizola ist zu Ende, das Militär sorgt für Ordnung, die wirtschaftliche Stabilisierung für die Explosion des Bierkonsums.
Erster Höhepunkt war die Sil­vesterfeier von angeblich drei bis vier Millionen am Strand von Copacabana zum Gesang von Rod Stewart. Das Fernsehen zeigte ständig begeisterte Touri­stInnen, seit Jahren zum ersten Male waren wieder alle Hotels zum Karneval ausgebucht. Krieg in den favelas und Fest auf dem Asphalt?
Nach dem Karneval
Tatsächlich waren fast alle BesucherInnen überrascht, wie wenig von der Militäraktion im Alltag zu sehen war. Jetzt, im März, sieht schon wieder alles ganz anders aus: Die Polizeista­tistik zeigt zwar einen leichten Rückgang bei Tötungsdelikten während der Militäraktion, an­derseits sind die Entführungen und Banküberfälle stark gestie­gen. Der Drogenhandel hat an­scheinend einen gewissen Um­satzrückgang aus anderen Ein­nahmequellen kompensiert.
Die Zeitungen zeigen wieder das übliche Gewaltspektakel: Hundert Bewaffnete stürmen ei­ne favela im Kampf um die Ver­kaufspunkte. Ein Nacht lang tobt der Krieg im Komplex Mare, der unmittelbar an der Edelschnell­straße Linha Ver­mel­ha liegt, die den Flughafen mit der reichen Südzone verbin­det. Die Polizei empfiehlt in die­ser Nacht, die Straße nicht zu benut­zen, anson­sten greift sie nicht ein. Bilanz am nächsten Tag: acht Tote. Es war eine der größ­ten Aktionen im Drogen­krieg.
Die Banden haben die Miltär­intervention offensichtlich ziem­lich unbeschadet überstanden. Erstmal also wieder business as usual.
Exekution vor dem Shopping-Center
Es war ein anderes Verbre­chen, das die veröffentlichte Meinung nach der Militäraktion am meisten beschäftigte: Im Shopping Center Rio Sul nimmt die Polizei drei Diebe fest. Ein Polizist zieht einen der Festge­nommenen hinter den Polizei­wagen und erschießt ihn – vor den Augen Hunderter Schaulu­stiger und den Fernsehkameras von Globo. In den nächsten Ta­gen werden Zeitungen, Radio und Fernsehsender mit Anrufen und Zuschriften bombardiert, die den Mord unterstützen.
Dabei ist es nicht zufällig, daß sich der Mord vor einem Shop­ping Center abspielte. Die riesi­gen Einkaufszentren sind die Zu­spitzung der anderen Territoriali­sierung der Stadt. Ist die Welt des Asphalts schon unsicher ge­worden, so ist die alte Sicherheit in den geschützten Tempeln des Konsums nicht gefährdet. Hier können Mittel- und Oberschicht ungestört von Straßenkindern, BettlerInnen und Dieben einkau­fen, essen, Schaufenster beguk­ken. Rigide Wachen halten alle, die “marginal” aussehen, aus den Shoppings heraus. Das künstli­che Paradies der Shoppings ist das Pendant zum produzierten Inferno der fa­velas, zwei Ex­treme in der städtischen Triage.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Einkaufszentren in allen Städten Brasiliens explodiert. Ein Raub im Shopping ist kein normaler Raub: er ist ein Ein­bruch in den sakralen Raum des Konsums. Daher die brutale Re­aktion des Polizisten, daher der Applaus.
Das Beispiel Rio ist lehrreich und kann einige Bilder von der Entwicklung der Städte Latein­amerikas differenzieren: Mili­täraktion, Fest und Karneval vertragen sich bestens. Es ist nicht die einfache Dekadenz, das Auseinanderbrechen, Beirutisie­rung oder Bosnisierung, mit der sich die Entwicklung kennzeich­nen läßt: Krieg und Tourismus­boom können gleichzeitig statt­finden.
Apokalypse Now oder
Der Krieg als Fest
Die Militarisierung und Ter­ritorialisierung der sozialen Spannungen funktioniert nicht perfekt, aber sie garantiert doch eine, wenn auch labile, Stabilität. Nicht der Zusammenbruch der Städte, ist die erschreckende Vi­sion, sondern ein ungeheuerli­ches Funktionieren, das die Gleichzeitigkeit von Krieg und Karneval ermöglicht.
Zwei unterschiedliche theore­tische Konzepte, mit denen Sozi­alwissenschaftlerInnen in Deutsch­land in den letzten Jah­ren einen Zugriff auf postmo­der­ne Realitäten versuchten, können die Situation in Rio schlag­wort­artig kennzeichnen: Risikoge­sell­schaft und Erlebnis­gesellschaft.
In dem individualisierten Streben nach Erlebnis wird das Soziale sekundär, schlägt aber in Form von Gewalt als Risiko zu­rück. Daß von Ober- bis Unter­schicht die Eliminierung des Ri­sikos zum vereinfachten Pro­gramm wird, kann kaum ver­wundern. Shoppings sind die Ins­zenierung einer bestürzend re­duzierten Erlebniswelt. Das Ri­sikos wird eliminiert.
Daß diese städtische Triage gewaltsam gesichert werden muß, zeigen die Exekutionen und Militäraktionen gegen die favelas. Die Postmoderne in Rio verspricht also nicht das fröhli­che Nebeneinander ver­schie­dener Lebensstile, sondern die territoriale Festschreibung der sozialen Unterschiede. Sie ver­spricht damit auch das pre­käre Funktionieren einer zutiefst ge­spaltenen Welt, in der die durch den Markt regulierten Le­benschancen extrem ungerecht verteilt sind.
Mit den bisherigen Ausfüh­rungen soll eine Tendenz cha­rakterisiert werden. Die Realität ist, Gott sei Dank, komplexer. Die favelas sind nicht nur das dem Asphalt feindliche, mi­li­tä­risch abgeschirmte Territo­rium.
Die Verbindungen zwischen Asphalt und favela sind vielfäl­tig: Die BewohnerInnen sind ge­schätzte und schlecht bezahlte Arbeitskräfte (insbesondere im Dienstleistungssektor), die Leute vom Asphalt kaufen die Drogen in den favelas. Und, in diesem Zusammenhang am wichtigsten, die favelas sind Ausgangspunkt der größten kulturellen Massen­bewegung Brasiliens in den letzten Jahren, der bailes funk: riesige und billige Tanzveran­staltungen, die jedes Wo­chen­ende mehr als eine Million Ju­gendliche in den armen Stadt­vierteln und favelas anziehen.
Die unpolitische Funkmusik weicht seit zwei Jahren zuneh­mend politisiertem Rap, immer mehr Gruppen greifen in ihren Texten Alltagserfahrungen von Gewalt und Rassismus auf. Na­türlich gehen die meisten Ju­gendlichen hierher, um zu tanzen und sich zu amüsieren. Erstaun­lich ist aber, in wie kurzer Zeit, unabhängig von den großen Me­dienkonzernen eine eigenstän­dige kulturelle Bewegung ge­wachsen ist.
Das Nebeneinander von Krieg und Fest verläuft also keines­wegs entlang der Linie favela – Asphalt. Auch die favela feierte im Krieg. Aber diese Feiern sind auch eine Antwort in Richtung der Panzergeschütze, sie sind ein Moment des Widerstandes gegen die mediale Infernalisierung der favelas und ihrer Festschreibung als feindliches Territorium. In­teressant ist, daß die bailes funk eine immer größere Anziehungs­kraft auf die Jugendlichen des Asphalts ausüben. Immer mehr von ihnen wagen, meistens ver­borgen von ihren Eltern, den Weg in die favela. Berühmte DJs wie Marlboro veranstalten in­zwischen bailes funk in Mittel­schichtdiskotheken.
Die bailes funk ritualisieren auch die gewalttätige Konkur­renz zwischen Jugendgruppen aus verschiedenen favelas und waren daher immer wieder Ort blutiger Kämpfe. Die Medien versuchten daher, die bailes bruchlos als Teil des favela-In­fernos darzustellen. Aber die Attraktivität der bailes funk konnte sich gegen die Verteufe­lung durch die Medien behaup­ten. Die bailes funk sind ein Bei­spiel für eine Bewegung, die einen Gegenpol bildet zu der to­talen militärischen Aussonde­rung.
Die favelas sind keineswegs ein Ghetto. Und sie sind kein bloßes Objekt dessen, was der Staat plant und durch seine be­waffneten Kräfte umsetzt. In­wieweit aber die Macht des Staates begrenzt werden kann und sich gegen die Militarisie­rung des städtischen Raums eine andere urbane Sozialität erringen läßt, ist eine offene Frage. Ju­gendliche von Asphalt und fa­vela, vereint in den bailes, sind zumindest eine Realität, die nicht identisch ist mit der, die die mi­litärische Intervention produzie­ren und reproduzieren will.

Repression gegen Arme und ihre FürsprecherInnen

LN: Hat der Militäreinsatz in Rio eigentlich irgendjemanden überrascht?
Volmer do Nascimento: Nein, schon 1993 und 94 hat es eine Art Probelauf gegeben, als die Militärs in einigen Vierteln Rio de Janeiros wie in Tijuca patrouillierten. Und schon im Sommer 1994 konnte man in der Zeitung lesen, was geplant war, so daß die Drogenbosse genü­gend Zeit hatten, die Favelas zu verlassen.
Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?
Volmer: Wir haben unter­sucht, ob die Gewalt abgenom­men hat, und festgestellt, daß seit Beginn der Invasion 46 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Die Militärs selber geben an, daß der Drogenhandel um 50 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig haben die Überfälle auf Banken um 200 Prozent zugenommen und die Zahl der Entführungen hat sich verdreifacht. Die Gewalt hat sich insgesamt nicht verrin­gert, sondern nur verlagert.
Tania: Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß man sagen, daß die Militäraktion zu nichts anderem als zu einer weiteren Gefahr für die arme Bevölkerung geführt hat. Wie man sieht, ist der Staat kein bißchen daran in­teressiert, sich wirklich um die öffentliche Sicherheit zu küm­mern.
Wie könnte die öffentliche Si­cherheit denn gewährleistet werden?
T: Um eine öffentliche Si­cherheit in Brasilien wirklich zu garantieren, bedarf es als erstes einer gerechteren Einkommens­verteilung. Man muß berück­sichtigen, daß es in Brasilien nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gibt und der monat­liche Mindestlohn 70 Reais beträgt. Die Tatsache, daß Jugendliche im Drogenhandel täglich den zweifachen Min­destlohn verdienen, gibt eine Er­klärung dafür, warum die Dro­genbanden eine derartige Macht erringen konnten. Dazu kommt eine völlige Unterbezahlung der Polizei mit 170 Reais, was er­klärt, weshalb die Polizei an die­sem Gewaltgeschäft beteiligt ist.
Ein weiterer Schritt müßte die Erneuerung der Zivil- und der Militärpolizei sein. Zudem müßten auch mehr Mittel für be­reits laufende Verfahren und die Aufklärung der Morde zur Ver­fügung gestellt werden. Es kann nicht angehen, daß wie in Duque de Caxias tausende von Mord­fällen von nur 2 Polizeibeamten untersucht werden. In Wirklich­keit handelt es sich bei dieser Intervention um einen Probelauf für eine viel weitergehendere militärische Intervention. Das wahre Motiv ist, daß das Militär in das zivile Leben eingreifen will.
Welche Rolle spielt die jetzige Regierung von Fernando Hen­rique Cardoso hinsichtlich des Militäreinsatzes?
Mit der Wahl Fernando Hen­rique Cardosos war die Hoffnung verbunden, daß sich vieles ver­bessern würde. Die Realität ist aber, daß nicht durch soziale, sondern durch militärische Ak­tionen eingegriffen wurde. Kennzeichend für den neuen Re­gierungsstil ist die Amnestie des Senators Humberto Lucenas, der vom Obersten Gerichtshof we­gen Machtmißbrauch und Kor­ruption verurteilt worden war. Statt wirklich gegen Fälle von Korruption vorzugehen, wurde das gesamte Ministerium für So­ziales aufgelöst. Stattdessen wurde ein neues Sportministe­rium eingerichtet, das wir “Fußballministerium” nennen, mit Pelé als Minister. Die Ge­hälter der ParlamentarierInnen wurden um 100% erhöht, wäh­rend sich der Präsident Cardoso persönlich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 100 Reais ausgesprochen hat.
Unterschiedliche Reaktio­nen bei der Bevölkerung
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Militäroperation?
Das größte Interesse an einer Militärinvasion hatten die Rei­chen und die Mittelschicht. Sie stehen mit der Bewegung “Viva Rio” in Verbindung, die letztes Jahr gegründet wurde, um gegen die Gewalt in Rio de Janeiro et­was zu unternehmen.
Von den FavelabewohnerIn­nen haben viele zunächst ap­plaudiert, da sie sich erhofften, daß die Hausdurchsuchungen durch die Polizei und die Feuer­gefechte zwischen den soge­nannten Banden aufhören wür­den. Auch die OAB (die An­waltsorganisation “Ordem das Avogados do Brasil”) hat sich am Anfang hinter die Invasion gestellt.
Heute teilt sich die Bevölke­rung in diejenigen, die die Inva­sion von außen beobachten und ihr von den Medien beeinflußt positiv gegenüberstehen und in die FavelabewohnerInnen, die sie ob der am eigenen Leib er­fahrenen Auswirkungen ableh­nen.
Ist ein Ende der Intervention abzusehen?
Wir beobachten, daß die In­tervention ständig verlängert wird. Zunächst wurde gesagt, daß die Invasion auf den 31. Ja­nuar begrenzt sei. Obwohl schon seit Beginn des Jahres eindeutig ist, daß die Militäroperation ge­scheitert ist, hieß es dann, daß die Touristen wegen des anste­henden Karnevals mehr Schutz bräuchten. Und so stand die Ar­mee weiterhin auf den Straßen, um die AusländerInnen zu schüt­zen. Wir rechnen weiterhin da­mit, daß es noch vereinzelte Ein­sätze geben wird.
Dabei ist die Armee völlig un­fähig, eine Strategie gegen die Kriminalität zu entwickeln. Sie kann nur auf die Bevölkerung einschlagen und steigert damit noch einmal die Gewalttätigkeit in den ärmsten Stadtteilen. Es traf wieder einmal nur diejeni­gen, die mit der ganze Sache nichts zu tun haben und vorwie­gend die schwarze Bevölkerung.
Uns ist wenig Kritik an der Militärinvasion bekannt. Wel­che Reaktionen hat es seitens der zi­vilen Gesellschaft, der NGOs und den Menschen­rechts­gruppen gegeben?
Tania: Bisher haben sich nur die NGOs, die direkt mit Marginali­sierten arbeiten vehe­ment gegen die Invasion ausgesprochen. Wenn man Ver­öffentlichungen wie Brasil-Nunca mais liest, könnte man meinen, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Phase der Militärdiktatur und endet 1986 mit der Amnestie. Das ent­spricht nicht den Tatsachen, denn die Gewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, wird nicht berücksichtigt. Ein solches Buch müßte heute neu geschrieben werden.
Volmer: Nur die Organi­sationen der Favela­be­woh­nerInnen, die FAMERJ (Fede­raçao das Asso­ciaçaoes de Moradores do Rio de Janeiro) und FAFERJ (Fede­raçao das Faveladas do Rio de Janeiro) haben von Anfang an die Militärintervention kritisiert. Aber diese Gruppen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre unter starkem Einfluß von Politi­kern entstanden, befinden sich momentan genauso wie andere Bürgerbewegungen in einer Krise. Die Kräfte, die heute Aufwind haben, sind ganz an­dere Gruppen wie Viva Rio, die von ISER, IBASE und Betinho getragen werden. Nichts gegen solche Versuche wie die Kampa­gne gegen Hunger, aber letztlich benutzen sie nur die linke Rheto­rik. In Wirklichkeit stehen aber andere Kräfte dahinter, sie wer­den von der Regierung korrum­piert, bekommen Geld und トm­ter. Was wir heute brauchen sind neue Kräfte.
Duque Caxias – Vorort der Gewalt
Volmer du hast seit 1986 mit Straßenkindern in Duque de Caxias gearbeitet und zusammen mit Tania 1991 ein Dossier vorgelegt, in dem do­kumentiert ist, wer für die Morde an den Straßenkindern verantwortlich ist. Wie ist der­zeit die Situation in diesem Vor­ort, der als der gewalttätigste von Rio de Janeiro gilt?.
Volmer: Man sollte zuerst kurz die Vorgeschichte erzählen. Duque Caxias wurde nach dem Militär­putsch 1964 wegen seiner Erdöl­raffinerien als strategischer Ort betrachtet. Sie galt als Stadt der höchsten Sicherheitsstufe. Eine Tradition der Gewalt läßt sich bis in die dreißiger Jahre zurück­verfolgen. Ab den fünf­ziger Jah­ren verwandelte sich Duque de Caxias in ein Ghetto, daß vor allem von Nordestinos bewohnt wurde. Heute stammen von den über 660.000 Ein­wohnerInnen mehr als 60 Prozent aus dem Nordosten. Geprägt ist die Stadt von einer klein- und mittelstän­dischen Industriestruktur und einem hohen Anteil an marginalisierter Bevölkerung. Insgesamt gibt es 72 Favelas und eine hohe Krimi­nalitätsrate. Dies war das Motiv für die Gründung der Todes­schwadrone. Die Gewalt stieg dann vor allem mit dem organi­sierten Verbrechen der Todes­schwadrone in den 60er und 70er Jahren an. Nach der Statistik gibt es in Duque de Caxias genauso­viele Morde wie in Rio.
Tania: Das liegt daran, daß ein großer Teil der Morde in Duque de Caxias nicht in der Stadt selbst verübt wurden. Die mei­sten Opfer hatten nie in Duque de Caxias gewohnt – aber ihre Leichen wurden dort auf­gefun­den. Das heißt, sie wurden in Rio umgebracht und nach Duque de Caxias transportiert, um die Nachforschungen zu be­hindern. Diese Situation hat sich aller­dings geändert. Heute sind wir zunehmend mit unserer eigenen Kriminalität konfron­tiert. In der Zwischenzeit gibt es hier eine gro゚e Anzahl von Personen, die systematisch töten, ohne straf­rechtlich verfolgt zu werden.
Welches sind die Hauptpro­bleme bei der Strafverfolgung?
Tania: Gegen die Todes­schwadro­nen konnte man früher leichter vorgehen. Die Killer waren in die Gesellschaft integriert, sie hatten eine Wohnung, eine Ar­beit und einen Personalausweis. Auch wenn die Beweisführung immer schwierig war, konnte man sie verhält­nismäßig einfach festnehmen. Mit den Drogen­händlern ist es anders. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft, ha­ben keine Arbeit und keine Wohnung. Selbst von Drogen­händlern, die vielfache Morde begangen haben, sind nicht ein­mal die Namen bekannt.
Das Ergebnis ist, daß die Un­sicherheit in der Stadt in einem solchen Ausmaß zugenommen hat, daß sich eine parallele Struktur der Sicherheit, der pri­vaten Sicherheitsdienste etabliert hat. Es sind sehr große Unter­nehmen – und alle sind in den Händen von Offizieren der Militärpolizei.
Seit wann gibt es die Ver­flechtung privater Sicherheits­dienste mit der Polizei?
Tania: Die ganze Ent­wicklung be­gann vor einigen Jahre. Die Poli­zisten verdienen sehr wenig – in der Regel reicht es nicht, um die Familie zu ernähren. Und um ihre Löhne zu erhöhen, begannen sie nebenher in privaten Sicher­heitsfirmen zu arbeiten. Heute hat fast jeder Po­lizist einen zweiten Job – der Ne­benjob ist die Haupteinnah­mequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. Ich habe zum Beispiel ein Büro im zweitgrößten Polizeirevier von Duque de Caxias. Dieses Revier hat zwei Beamte. Sie müssen nicht nur die Morde, sondern alle Verbrechen bearbeiten, darunter 2346 Mordfälle. Sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, um ausreichend Nachforschungen anzustellen und haben zudem noch einen Nebenjob. Die ganze Struk­tur der normalen Polizeiar­beit ist zerfallen, denn die Polizi­sten sind davon abhängig, in den pri­vaten Sicherheitsdiensten zu ar­beiten. Heute funktionieren ei­gentlich nur noch die privaten Sicherheitsdienste.
Was unternimmt der Staat gegen diese Verflechtung?
Tania: Nichts. Im Gegenteil. Bisher war diese Neben­beschäftigung illegal, die Kom­munalregierung Batista hat diese Arbeit nun le­galisiert. Dies bedeutet die In­stitutionalisierung der privaten Sicherheitsdienste und der To­desschwadrone. Dazu muß man wissen, daß die wichtigsten Be­rater von Nilo Batista die Besit­zer der größten Sicherheitsdienste sind. Die Re­gierung löst das Problem also nicht, indem sie die Löhne der Polizisten erhöht und die Aus­stattung verbessert, sondern in­dem sie die privaten Tätigkeiten legalisiert.
Du hast dich sehr stark dafür eingesetzt, daß viele Mitglieder der Todesschwadrone in Duque de Caxias verhaftet wurden. Wie ist deine gegenwärtige Si­tuation?
Tania: Als ich vor fünf Jahren in Duque de Caxias als Staatsan­wältin anfing, traf ich die drei größten Killer der Stadt. Sie ar­beiteten in dem gleichen Ge­bäude wie ich – es waren Hilfs­kräfte der Richter. Sie hatten Waffen und genossen Immunität. Meine erste Arbeit war, sie aus dem Gerichts­gebäude zu werfen. Sie hielten sich dann davor auf, so daß ich es nicht mehr verlassen konnte. Ich machte dies in der Presse und im Fernsehen bekannt und veröf­fentlichte ihre Gesichter. Nach­dem ich Anklage gegen sie erho­ben hatte, begannen die Todes­drohungen gegen mich. Es gab enormen Druck, damit ich aus der Stadt verschwände. Um eine Vorstellung davon zu ha­ben: Selbst der Senator von Du­que de Caxias ist mit dem Ver­brechen verbunden. Ich bewege mich seit Jahren nur noch zwi­schen dem Gerichtsgebäude und meiner Wohnung, ich habe praktisch kein Privatleben mehr. Nach vier Jahren, in denen ich diesem Druck widerstanden habe, bat ich beim Governeur um einen persönlichen Schutz. Ich machte Druck über amnesty in­ternational und andere Organisa­tionen. Danach wurde ich unter den Schutz der Bundespolizei gestellt – in der gleichen Zeit wie Volmer. Als Brizola Gouverneur wurde, verschlechterte sich die Situation immens. Die Bundes­polizei wurde abgezogen. Statt­dessen sitze ich heute in einem alten klapprigen Auto mit zwei Polizisten, die so schlecht be­waffnet sind, daß sie sich kaum gegen Angriffe verteidigen kön­nen. In der Woche vor Karneval veriet ein Gefangener einer ande­ren Staatsanwältin einen Plan, mich umzubringen. Als ich Bra­silien verließ, bat ich den Gouverneur per Brief, die zwei Polizisten abzu­ziehen, da ich nicht das Leben anderer Per­sonen gefährden möchte. Es gibt noch immer keine Nach­richt, was passieren wird.
Volmer, du hast Duque de Caxias seit zwei Jahren verlas­sen und hast ein Projekt für Kinder und Jugendliche in Na­tividade, 400 km von Rio ent­fernt, aufgebaut. Wie ist der aktuelle Stand in deinem Ver­fahren?
Volmer: Seit dem letzten Jahr bin ich in letzter Instanz zu vier Jah­ren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da ich öffentlicher Angestellter bin, könnte ich tagsüber arbeiten, müßte allerdings im Gefängnis übernachten. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wann ich diese Strafe antreten soll. Die einzige Möglichkeit, nicht diese absurde Gefängnisstrafe anzu­treten, be­steht jetzt noch darin, daß der Präsident des Landes eine Neuaufnahme des Verfah­rens anordnet. In einem öffentli­chen Brief habe ich ihn darum gebeten, diese ungerechte Ver­urteilung aufzuheben.

Brasilien – Diagnose einer Krise

Natürlich ist es nicht einfach, auf 150 Seiten die komplexe Si­tuation des ewigen “Schwel­len­landes” Brasilien zu analysieren. Das Buch bietet eine Reihe von wichtigen Informatio­nen, Stati­stiken und Daten. Wöhlcke spricht viele Faktoren an, in der Beschreibung der so­zialen Si­tuation und der politi­schen Kul­tur des Landes ist ihm weitge­hend zuzustimmen. Leider ent­wickelt sich Wöhlcke, der in der Vergangenheit viel besseres zu Brasilien produziert hat, zu ei­nem Prediger seiner eigenen Überzeugungen. Diese werten den Gehalt der “Diagnose” radi­kal ab. Ohne auf alle Einzelhei­ten des Buches einzugehen, will ich drei Punkte herausgreifen, in denen Wöhlcke mehr als frag­würdige Auffassungen vorträgt.
Wöhlcke – der Rufer in der Wüste?
1. Wöhlcke sieht in der de­mographischen Entwicklung Brasiliens einen Schlüssel für das Verständnis der Entwick­lungsprobleme des Landes – und sich als Rufer in der Wüste. “Die Problematik des Bevölkerungs­wachstums wird in Brasilien nicht angemessen wahrgenom­men. In der öffentlichen Diskus­sion spielt sie praktisch keine Rolle, teils wird sie ignoriert, teils tabuisiert.”(S. 47) Tabubre­cher Wöhlcke weiß hingegen von der relativen Überbevölke­rung in Brasilien zu berichten: “Die Bevölkerung ist zu groß im Verhältnis zur sozio-ökonomi­schen Leistungsfähigkeit der Ge­sellschaft, das heißt, die Art der Raum- und Ressourcennutzung verhindert eine befriedigende Versorgung der gesamten Be­völkerung”. (S.47/49) Dies treffe eben auf Brasilien zu. Warum ist aber daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß nicht die sozio-ökonomische Leistungsfähigkeit wachsen sondern die Bevölke­rung sich vermindern solle? Wöhlcke setzt weitgehend dar­auf, daß der common sense seine Ausführungen schon für richtig halten werde. Sein Hauptargu­ment lautet: Die arbeitsfähige Bevölkerung wird in elf Jahren um 2,3 Millionen zunehmen, “Es erscheint völlig ausgeschlossen, daß der Arbeitsmarkt diesen Zu­wachs aufnehmen kann.” (S.49) Nun, Brasilien hat trotz Bevölke­rungswachstum zur Zeit eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten seiner Geschichte. Wöhlcke re­duziert die schwierige Entwick­lung des Arbeitsmarktes auf einen Faktor. Warum erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht, daß nach offiziellen Schätzungen mindestens zehn Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in den Ar­beitsmarkt integriert sind? Allein die Einhaltung aller arbeitsrecht­lichen Regelungen und die Ver­wirklichung der Schulpflicht würde schon Platz machen für den größten Teil der zukünftig in den Arbeitsmarkt Eintretenden. Aber Wöhlcke will ja nicht diffe­renzieren, sondern die “sich ab­zeichnende demographische Katastrophe” an die Wand ma­len. In diesem Kapitel sinken seine Aussagen auf das Niveau eines Propagandawerkes. Fast müßig zu erwähnen, daß Wöhl­cke die Massensterilisationen verschweigt. Erörtert wird auch nicht, wie drastisch der Rück­gang der Geburtenrate ist. Nach jüngsten Zahlen gebärt jede Frau im Durchschnitt 2,4 Kinder, nahe also der einfachen Reprodukti­onsrate. Ein Teil des von Wöhl­cke angeführten Bevölkerungs­wachstums hat gar nichts mit der Geburtenrate zu tun, sondern mit dem Anwachsen der Lebenser­wartung. Das heißt, in den näch­sten Jahren werden sich die so­zialen Probleme in Brasilien ver­schieben, es wird eine deutliche Entlastung im Bildungswesen geben, dafür eine Krise der Al­tersversorgung. Ach, es ist schon ein Kreuz, immer wieder gegen die demagogische Konstruktion der Bevölkerungsexplosion aus­gerechnet in Brasilien anzuar­gumentieren!
Die heutigen Probleme sind “hausgemacht”
2. Wöhlcke, früher selbst ein Verfechter der Depen­denztheorie, argumentiert heftig dafür, daß die heutigen Probleme im wesentlichen hausgemacht sind, also nicht auf externe Fak­toren wie Verschuldung oder in­ternationales Wirtschaftssystem zurückzuführen seien. In vielen Punkten hat Wöhlcke recht, aber hier wie im ganzen Buch ist eher die verkürzende Mischung aus Wahrheiten und Unterlassungen ärgerlich. So fehlt in diesem Zu­sammenhang gänzlich eine Analyse der multinationalen Konzerne, die in Brasilien zen­trale Wirtschaftsbereiche, bei­spielsweise die Autoindustrie, monopolisieren. Die Betonung der inneren Faktoren wiederholt sich in dem Abschnitt über Um­weltpolitik. Bei der Aufzählung der Umweltprobleme erwähnt Wöhlcke nie die internationale Verwicklung. So ist das kata­strophale Besiedlungsprogramm in Amazonien, POLONOR­OESTE, mit Weltbankgeldern fi­nanziert worden, wie auch zahl­reiche Staudammprojekte. An­statt hier die Verschränkung von nationalen und internationalen Kapital- (oder von mir aus auch Entwicklungs-) strategien zu analysieren, verfällt Wöhlcke schließlich auch noch auf die Mär, daß die Kleinbauern und -bäuerinnen die Hauptverursacher für die Abholzungen im Regen­wald seien.
Einziger Beleg für diese kühne Behauptung, die den Er­gebnissen der brasilianischen Forschung widerspricht, ist “eine Tischvorlage des Geographen G. Mertins” (Anmerkung 128). Mit kruden Halbwahrheiten auf völ­lig unzureichender Daten- und Literaturbasis wird so an einem Bild gestrickt: “Umwelt­zerstörung wird nicht durch die Weltwirt­schaft…erzwungen, sondern sie ist das Resultat einer Mischung von Nonchalance, Unwissenheit, Korruption, de­struktiver Menta­lität, unzurei­chender Umweltpo­litik und ad­ministrativer Über­forderung.” (S.98) Das Strick­muster ist im­mer dasselbe: Die Karikatur ei­ner Analyse (“durch Weltwirt­schaft erzwungen”) wird zurecht zurückgewiesen, um sich dann dem fröhlichen Bad in den (zumeist traurigen) Phänomenen zu widmen. Hier erscheint das Buch selbst als eine Mischung von Nonchalance und Unwis­senheit.
3. Das Kapitel über Zivilge­sellschaft und Entwicklung ist mehr als schwach. Wer meint, nun hier irgendetwas von den sozialen Bewegungen Brasiliens zu erfahren, wird enttäuscht. Statt von dieser für das gesell­schaftliche Leben so fundamen­talen Entwicklung der Basisbe­wegungen, der Rekonstruktion authentischer Gewerkschaften, zu erfahren, müssen die LeserIn­nen das zum Ende des Buches immer ärgerliche werdende La­mentieren ertragen: “Man beob­achtet weiterhin einen verbreite­ten Verlust bzw. einen modi­schen Verfall der Ästhetik und einen Verfall der guten Sitten.” Ja, die drohten spätestens auf dieser Seite 102 auch dem Re­zensenten abhandenzukommen. Wie die sozialen Bewegungen fehlen auch Lula und die Arbei­terpartei (PT) völlig bei der Analyse des politischen Systems. Ah nein, nicht ganz, auf S.108 können plötzlich “radikale Kräfte” – eben die PT – eine Sammlung der politischen Kräfte in der Mitte stören.
Die List mit der falschen Karte
Das Buch ist schlecht. Daß man’s noch schlechter machen kann zeigt, so vermute ich, das Lektorat. Es fügt dem Buch eine Karte bei, in der die längst nicht mehr existierenden Territorien Amapá, Rondonia und Roraima fröhliche Urstände feiern, dafür aber der 1989 eingerichtete Bun­desstaat Tocantins fehlt. Die Quelle verweist auf das Jahr 1991! Oder war es eine List? Sollte die Qualität der Karte ein Hinweis auf die Qualität des Bu­ches sein?

Manfred Wöhlcke, Brasilien Diagnose einer Krise, Becksche Reihe, München 1994

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