“Soziale Kämpfe führt man nicht nach Terminplan”

Seit 12 Jahren verfolgt der MST mit seinem Leitsatz “Besetzen, Widerstand leisten, produzieren” eine Strategie der gezielten Konfrontation. Werdet ihr mit dieser Strategie fortfahren?

Auf jeden Fall. Wir werden auch weiterhin Ländereien von Großgrundbesitzern und öffentliche Gebäude besetzen, Protestmärsche und Straßenblockaden organisieren, um unsere Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und immer mehr Landlose zu mobilisieren. Die Organisation der Massen ist unser erstes und wichtigstes Prinzip, um die Agrarreform durchzusetzen.

Gehören Verhandlungen mit Ministerien und Regierungsbehörden ebenfalls zum strategischen Repertoire des MST?

Verhandlungen sind für uns nur der letzte Schachzug in einem Spiel, das wir bereits gewonnen haben. Das heißt, daß wir Verhandlungen nur auf der Basis von Macht gewinnen können, die wir effektiv besitzen. Und unsere Macht sind die Massen von Landlosen auf der Straße, die den Verkehr lahmlegen, Behörden und Ländereien besetzen.

Angesichts der Entschlossenheit, mit der die Landlosenbewegung ihre Aktionen durchführt, wirkte der Minister für Agrarreform, Raul Jungmann, ziemlich hilflos, als er im letzten Jahr verkündete, er werde auf keinen Fall mit dem MST über die Ansiedlung von Landlosen verhandeln, solange dieser mit seinen militanten Aktionen fortfahre.

Mit dieser Haltung hat der Minister absolut nichts erreicht. Während er uns das Gespräch verweigerte, verhandelten seine Untergebenen, die Superintendenten der staatlichen Agrarreformbehörde INCRA, tagtäglich mit uns über Landzuteilung und Finanzmittel zum Bau neuer Siedlungen für die Landlosen. Mit der Landesregierung von Paraná und anderen Bundesstaaten haben wir sogar Verträge über die ständige Mitarbeit und technische Beratung staatlicher Agrarexperten abgeschlossen. Von etlichen Landesbehörden werden wir längst als kompetente Gesprächspartner anerkannt.

Wie geht das zusammen, auf der einen Seite Verträge mit staatlichen Behörden und andererseits Verfolgung durch die Polizei ?

Tatsächlich wurden gegen sechs Mitglieder aus der MST-Führung im letzten Jahr Haftbefehle erlassen wegen angeblicher “Bandenbildung” anläßlich von Besetzungen im Pontal do Paranapanema. Einige mußten zeitweise sogar untertauchen, na ja, das wurde damals ja alles ausführlich in der Presse kommentiert und hat viel Wirbel gemacht, eigentlich auch zu unseren Gunsten. Die Haftbefehle wurden inzwischen ausgesetzt, die sechs müssen sich aber wöchentlich beim örtlichen Richter melden und haben noch Gerichtsverfahren zu erwarten. Für die Regierung sind unsere Besetzungen eben illegale Gewaltakte und der MST eine illegale Bewegung, deren Führer sie am liebsten aus dem Verkehr ziehen möchte. Doch das geht nicht mehr so einfach, dazu genießt der MST mittlerweile zuviel Sympathie in der Bevölkerung. Die wissen einfach nicht, wie sie mit uns umgehen sollen, da gibt es keine geschlossene Haltung der Regierungsinstitutionen.

Nun, zumindest in der Bevölkerung stoßen die Aktionen des MST mittlerweile auf große Zustimmung.

Umfragen haben ergeben, daß über 86 % der Bevölkerung unsere Forderungen nach Landreform unterstützen und den MST unter die fünf vertrauenswürdigsten Institutionen des Landes einreihen. Sogar die Massenmedien, die uns früher totgeschwiegen haben, berichten jetzt über unsere Aktionen. Bei “Rede Globo” hat es noch bis 1994 eine interne Anordnung gegeben, die Bilder von der MST-Fahne und von unseren Aktionen in den Globo-Nachrichten verboten hat.

Eine Sache ist die Wirkung des MST auf die öffentliche Meinung, eine andere ist sein Einfluß auf das politische Tagesgeschehen. Haben die Aktionen des MST die Landfrage auf die politische Tagesordnung zu setzen vermocht?

Für die herrschende Elite der Agrarfraktion im Nationalkongreß stellt sich die Landfrage noch immer nicht, da die Agrarpolitik der 60er und 70er Jahre die in ihren Augen wichtigsten Ziele erfüllt hat: den Ausbau der landwirtschaftlichen Produktion für die internationalen Märkte und die Förderung einer extensiven Cash-Crop-Plantagenwirtschaft, die Millionen von Kleinbauern und Landarbeitern vom Land vertrieben und den städtischen Industriezonen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt hat. Die Regierung Cardoso allerdings kann die Bedeutung des Landproblems angesichts unserer permanenten und medienwirksamen Proteste nicht mehr leugnen und muß Zugeständnisse machen. Insofern ist es uns sehr wohl gelungen, die Agrarreform auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Ist mit Zugeständnissen das Versprechen von Präsident Cardoso gemeint, im Laufe seiner Amtszeit 280.000 landlose Familien anzusiedeln oder etwa die Neuregelung der Bodensteuer ITR im November 96, die von Minister Jungmann als entscheidender Schritt zur Umsetzung der Agrarreform gefeiert wurde?

Das sind nur zwei Beispiele einer ganzen Reihe von kleineren Maßnahmen, zu der sich die Regierung genötigt sah. Natürlich ist uns klar, daß das nur Beruhigungspillen sind, um größere soziale Unruhen zu verhindern. Mit der Ansiedlung von ein paar tausend Familien und der Erhebung von Bodensteuer macht man noch keine Landreform.

Also alles nur Augenwischerei, die zu nichts führt?

Ich will nicht sagen, daß diese Mittel überflüssig sind. Innerhalb einer sinnvollen Agrarpolitik kann die erhöhte Besteuerung von unproduktiven Ländereien durchaus nützlich sein. Aber angesichts der herrschenden Verhältnisse so zu tun, als löse die Bodensteuer das Landproblem, ist absurd. Und schließlich hat es auch vor der Neuregelung der Bodensteuer eine Abgabenregelung für Landbesitzer gegeben. Das Problem war und ist aber, daß gerade die Großgrundbesitzer diese Steuern nie gezahlt haben und die Behörden sie auch offensichtlich nie bei ihnen eingeklagt haben.

Sucht der MST auch unter den Gewerkschaften und Parteien Bündnispartner im Kampf um Landreform?

Ja, natürlich. Schließlich ist die Verwirklichung der Agrarreform nicht nur eine Angelegenheit der Sem Terra, der Landlosen. Sie ist von strategischer Bedeutung für die Demokratisierung Brasiliens und geht somit die gesamte Gesellschaft an.

…auch die städtische Bevölkerung?

Die meisten Bewohner der städtischen Armenviertel kommen ja vom Land. Viele wohnen zwar in Stadtrandsiedlungen, arbeiten aber als Tagelöhner oder Hilfsarbeiter in ländlichen Betrieben. Oder sie besitzen ein winziges Stück Boden irgendwo außerhalb der Stadtgrenzen, wo sie Gemüse anbauen, um sich und ihre Familien über Wasser zu halten. Diese Leute würden lieber heute als morgen aufs Land zurückkehren, wenn man ihnen eine reale Möglichkeit gäbe.

Das würde den städtischen Arbeits(losen)markt entlasten und wäre damit wohl auch im Sinne der Industriegewerkschaften.

Zweifellos. Letztlich sind auch die sozialen Probleme in den Städten, auch in der zumindest teilweise hochtechnologisierten Megalopolis wie Sâo Paulo, unlösbar, wenn die Landfrage nicht angegangen wird. Nur wenn es uns gelingt, mit vielen städtischen Organisationen Bündnisse zu schließen, zum Beispiel mit den Gewerkschaften, einem möglichst breiten Parteienspektrum und den Nichtregierungsorganisationen, können wir die Kräfteverhältnisse in diesem Land verschieben.

Gibt es eine konkrete Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und dem MST ?

Es gibt viele Beispiele einer konkreten Kooperation. Um nur eines zu nennen: Die Gewerkschaft der Bankangestellten von Sâo Paulo organisiert an jedem 17. eines Monats eine öffentliche Aktion, um an das Massaker von Eldorado de Carajas zu erinnern, bei dem 19 Landlose von der Militärpolizei erschossen wurden. Sie fordern die Verurteilung der Verantwortlichen, die noch immer nicht erfolgt ist. Im Gegenzug unterstützen wir die Bankangestellten in Sâo Paulo bei ihren Arbeitskämpfen. So haben wir ihnen bei einer Aktion geholfen, einige Banken zu blockieren. Auch bei einem Streik von Metallarbeitern in Campinas waren Leute aus Landlosensiedlungen und benachbarten Besetzercamps beteiligt. Die Unterstützung der Gewerkschaften ist uns sehr wichtig.

Ein Meinungsumschwung? Immerhin hat der führende Kopf des MST, Joao Pedro Stodile, der PT und den Gewerkschaftsverbänden einmal vorgeworfen, nichts für die Masse der unorganisierten informellen Arbeiter und Landlosen zu tun und das strategische Ziel, nämlich die Veränderung der Gesellschaft, aus den Augen verloren zu haben. Eine nicht gerade diplomatische Art, um Kooperationspartner zu werben.

Ich will nicht abstreiten, daß es Meinungsverschiedenheiten gegeben hat und noch gibt mit der CONTAG (dem Dachverband der Landarbeitergewerkschaften, Anm. d. Autorin) und auch mit Teilen der PT. Da gibt es Leute, die eine völlig unbegründete Angst hegen, daß wir ihnen ihre Klientel wegnehmen oder Themen besetzen könnten, die sie für sich beanspruchen. Aber alle, die politisch verantwortlich denken, wissen, daß wir mit niemandem konkurrieren wollen. Wir wollen nur unseren Teil zum Kampf um die Agrarreform und um soziale Veränderungen in Brasilien beitragen. Wer immer bereit ist, sich ernsthaft für diese Ziele einzusetzen, mit dem arbeiten wir zusammen.

Zu Bedingungen, die der MST vorschreibt?

Wir schreiben nichts und niemandem etwas vor. Aber wie jede politische Organisation haben auch wir bestimmte Vorstellungen, mit wem und auf welche Weise wir zusammenarbeiten wollen. Vielleicht sind wir in der Umsetzung unserer Vorstellung radikaler als andere Organisationen, weil wir uns keinen institutionellen Zwängen unterwerfen. Aber das ist nebensächlich. Fest steht für uns, daß wir allein gar nichts bewirken. Nur gemeinsam mit der Gewerkschaftsbewegung, mit den Volksbewegungen und fortschrittlichen Parteien können wir etwas bewegen in der Landfrage. Deshalb müssen wir diese Eifersüchteleien untereinander beilegen und an den Konflikten zwischen unseren Organisationen arbeiten. Außerdem glaube ich, daß der MST durchaus ein paar neue Elemente in die Kämpfe anderer sozialer Bewegungen, die Gewerkschaften eingeschlossen, eingebracht hat.

Inwiefern?

Nun, der MST hat sich nie offiziell als Bewegung konstituiert, hat sich nie als soziale Bewegung legalisiert, wie es andere Organisationen getan haben. Wir haben keinen Präsidenten, sondern entscheiden kollektiv. Wir sind nicht an festgeschriebene Wahlmodi gebunden. Natürlich führen wir interne Wahlen durch, doch wenn ich zum Beispiel heute als Mitglied des Nationalen Direktoriums einen schweren Fehler begehe, kann ich morgen dafür umstandslos durch jemand anderen ersetzt werden, ohne daß die nächsten Wahlen abgewartet werden müßten. Anders als bei den Gewerkschaften. Die wählen ihren Vorstand für drei Jahre und der bleibt im Amt bis zur nächsten Wahl, egal was für einen Mist er macht. Da sind wir flexibler.

Begründet sich auf diese Art von Flexibilität Eure Mobilisierungskraft ?

Unsere Fähigkeit, auf dynamische Entwicklungen schnell zu reagieren, ist sicher ein wichtiger Faktor. Entscheidender ist aber, daß wir ständig einsatzbereit sind und die Bevölkerung nicht mitten in ihren Auseinandersetzungen allein lassen, weil es gerade fünf Uhr nachmittags ist und wir Feierabend haben. Soziale Kämpfe führt man eben nicht nach Terminplan, sondern – wenn es sein muß – rund um die Uhr.

Die Kirche gegen den Strich

Zu Dutzenden stehen zwölf- und dreizehnjährige Mädchen bereits in der Nachmittagsschwüle an der Brücke über dem von Hütten gesäumten Rio Mearim und bieten sich den Passanten für nur fünf Realen an,- das sind nicht einmal acht Mark. Andere warten in den von madames oder früheren Amazonas-Goldgräbern geführten Billigbordellen der neuen Rua do Campo auf Kunden. Doch auch dort sind sie keineswegs geschützt vor der Brutalität, die das Milieu prägt: Messerstechereien, Schußwechsel mit tödlichem Ausgang sind keine Seltenheit, wobei häufig Drogenkonsum die Hemmschwelle herabsetzt. Ausländische Sextouristen spielen hier nur eine geringe Rolle, da das im Nordosten Brasiliens gelegene Pedreiras zu weit von Touristengebieten entfernt liegt. Geradezu gierig auf möglichst junge Mädchen sind sexbesessene Machos aller sozialen Schichten aus der Stadt selbst: Nachbarn, Familienväter der Rua do Campo, Polizisten, Politiker. “Viele Mädchen prostituieren sich, weil die eigenen Eltern sie dazu anregen oder zwingen”, sagt die 52jährige Franziskanerin Maria Oliveira von der lokalen Frauenpastorale gegenüber. Sie verweist auf die Gründe der Misere: Von den rund 50 000 BewohnerInnen hat nicht einmal ein Viertel Arbeit, von denen wiederum verdienen 40 Prozent höchstens den Mindestlohn von umgerechnet 160 Mark.

Versteigerung von Jungfrauen

Pedreiras hat auch deshalb traurige Berühmtheit erlangt, weil dort in Bordellen makabere Auktionen abgehalten werden, wo Großgrundbesitzer, Politiker und Unternehmer Jungfrauen zwischen neun und vierzehn Jahren ersteigern, für eine einzige Nacht in einem besseren Stundenhotel. Anschließend werden die Mädchen gewöhnlich gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten; manche enden in den Goldgräbercamps Amazoniens.
Die Kirchengemeinde von Pedreiras fand sich mit der Situation nie ab. Pfarrer Luiz Mario Luís gründete bereits 1963 ein Rehabilitationszentrum, in dem Prostituierte lesen und schreiben sowie einen Beruf erlernen konnten.
Da die Zahl der Lernwilligen rasch zunahm, mußte das Zentrum vergrößert werden, und die Bezirksverwaltung stieg als finanzielle Trägerin mit ein. Schulunterricht erhalten inzwischen auch die Kinder der Frauen, derzeit sind es über 160 Mädchen und Jungen. Mehrere Dutzend jugendliche oder erwachsene Prostituierte sitzen auf den Bänken des Zentrums, das eher einer einfachen Lagerhalle ähnelt, und lernen Nähen sowie andere Handarbeiten. Inzwischen haben sie zum Teil Kolleginnen als Lehrkräfte. Die Direktorin und Mitbegründerin Benedita Leite versucht, sie davon abzubringen, weiter auf den Strich zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Denn wie in tausenden anderen Städten und Gemeinden der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt erhalten LehrerInnen und andere öffentliche Bedienstete auch in Pedreiras nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von umgerechnet etwa 160 Mark. Schlimmer noch: Die Bezirksverwaltung, der wichtigste lokale Arbeitgeber, zahlt das Hungersalär um bis zu elf Monate verspätet aus. “Ich gebe gerne Unterricht”, sagt eine Prostituierte, “doch das letzte Mal habe ich im August Geld gekriegt”. Viel ist es ohnehin nicht, nur an die neunzig Mark. Und Brasilien hat derzeit ein ähnliches Preisniveau wie Europa.

Erfolge – Rückschläge

Daß krasse Armut brutalisieren, verrohen und abstumpfen kann und die Betroffenen häufig dazu bringt, sich aufzugeben, beobachten Benedite Leite und die Franziskanerin Maria Oliveira täglich. In den Bretterhütten am Rio Mearim dominiert in den vielköpfigen Familien Promiskuität; Die Mädchen lernen nur die Gesetze ihres Milieus kennen und sehen die Prostitution als einzige – und attraktive – Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Ihnen Unterricht zu geben, ist extrem schwierig, denn die Mädchen sind nicht daran gewöhnt, sich zu konzentrieren und lange Zeit zuzuhören. “Wir dürfen sie nicht verurteilen, sie uns zu Feinden machen” betont Maria Oliveira, “sondern müssen immer wieder auf sie zugehen, ihnen helfen, den Raum der Kirche als Alternative anbieten.” Erfolge beim Schwimmen gegen den Strom gibt es. In der Straße am Fluß treffen sich Kinder und Erwachsene im neuen Gemeindesaal zu kirchlichen Aktivitäten, eine Jugendgruppe stabilisiert sich. Maria Oliveira lehrt Katechismus, feiert Weihnachten und Ostern in den Familien, bringt diesen die Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz nahe, und hält Kontakt zu denjenigen Frauen, die mit ihrer Hilfe aus dem Bordell in einen Beruf wechselten.
Doch die madames besorgen sich immer wieder Mädchennachschub. Dabei rekrutieren sie jetzt schon im Hinterland, ködern mit der Aussicht auf “ehrliche Arbeit” und locken damit Jugendliche in den Schuldenkreislauf. Versucht Maria Oliveira, solche Minderjährigen zur Rückkehr zu bewegen, hört sie immer wieder ein Argument: “Ich kann nicht weg, weil ich von der madame neue, schicke Kleider angenommen habe, die ich erst abbezahlen muß!” Die Franziskanerin stellt deshalb eine Bordellbesitzerin zur Rede und bekommt wie stets eine drastisch-grobe Antwort: “Meine Schuld ist das nicht. Diese Hündinnen kommen doch angelaufen und bitten mich um Arbeit!” Weil die madames den Neuankömmlingen weder den Besuch des Zentrums noch der Kirche gewähren, geht die Franziskanerin selbst zu ihnen an den Brückenstrich und setzt sich notfalls an die Bordelltischchen: “Einmal spreche ich mit den Mädchen über Gott, ein anderes Mal über Geschlechtskrankheiten und Aids. An der Brücke kommen viele schon auf mich zugerannt und umarmen mich!”
Kinderprostitution ist typisch für Brasiliens Norden und Nordosten. UNICEF, Kirche und NGOs haben in Maranhao bereits eine Kampagne gegen die praktisch straffreie sexuelle Ausbeutung Minderjähriger gestartet, denn laut Menschenrechtsaktivistin Sandra Torres gehört es bereits zur Gesellschaftskultur, abnorme Situationen als normal zu betrachten und hinzunehmen.
Während in Pedreiras Kinder aus Hunger und Not ihren Körper verkaufen, zeichnet der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso im nur 277 Kilometer entfernt Sao Luis, der Hauptstadt Maranhaos, vor Mikrophonen ein positives Bild der Lage im Lande. Der Soziologe weist auch die Kritik der Bischöfe an seiner neoliberalen Politik zurück, erwähnt weder Kindersklaverei noch Kinderprostitution oder Jungfrauenversteigerungen. Neben Cardoso steht der jetzige Kongreßpräsident und Ex-Staatschef José Sarney – seit Diktaturzeiten reichster und mächtigster Mann in Maranhao. Daß hier alles beim alten bleibt, liegt nach Aussagen von Menschenrechtlern vor allem an ihm und seinen politischen Freunden.

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Fünf-Sterne-Rassismus

Die Schwarzen müs­sen wis­sen wo ihr Platz ist, lautet eine uralte, immer noch hochaktuelle Redewendung in Bra­silien. Ge­meint ist damit: Sklavennachfah­ren haben nichts in der Mittel- und Ober­schicht, deren Krei­sen und Ambiente zu suchen. Sie werden entsprechend stigmati­siert und behandelt. Wie dies in der Praxis funk­tioniert, bekam jetzt der Züricher Fritz Müller, Fach­direktor der Cre­dite-Suisse-Bank, in Rio de Janeiro zu spü­ren. Als er mit seiner schwarzen, aus Rio stammenden Ehefrau Adriana nach einem Restaurant­be­such ins First-Class-Hotel In­tercontinental zu­rückkehrte, wur­de Adriana von einem mus­ku­lö­sen Wachmann grob ge­stoppt: Eine Garota de Programa, so hei­ßen Prostitu­ierte im Rio-Slang, dür­fe nicht mit aufs Zim­mer. Direktor Müller ließ sich von seiner Frau über­setzen worum es ging und schlug gehö­rigen Krach, stellte den Wach­mann zur Re­de, verlangte von der Ho­tel­lei­tung eine formelle Entschul­di­gung. Denn ohne ent­sprechende Vor­schrift hätte der Wächter kaum so gehandelt.

Rassismus – Machismus

Die Zeitung O Globo be­schrieb den Fall unter der tref­fenden Überschrift “Fünf-Sterne-Ras­sismus”. Kaum ein mit einer dunkel­häutigen Brasilia­nerin be­freundeter oder verheirateter Eu­ropäer, der in Rio, Sâo Paulo, Sal­vador de Bahia oder Fortaleza nicht ähnliche Erfahrungen ge­macht hat. Wer brasilianisches Portugiesisch nicht versteht, be­kommt kaum mit, daß der Gang über die Strandpromenade für sei­ne Partnerin ge­legentlich ei­nem Spießrutenlauf gleicht. Wei­ße Mit­telschichtsmachos der übel­sten Sorte, in Brasilien alles andere als dünn ge­sät, lassen eine Bösartigkeit oder Obszöni­tät nach der anderen fallen, ge­hen davon aus, daß der tumbe Gringo sicher nichts ver­steht und wohl im­mer noch glaubt, was die mei­sten Reiseführer kolportie­ren: Brasilien, ein wun­dervoller Schmelz­tiegel der Rassen, ein Beispiel gelun­gener Integration ver­schiedener Hautfarben, von Dis­kriminierung keine Spur.
Wer aber die Oberfläche, die schil­lernde Er­scheinungsebene ver­läßt, stößt auf Brasiliens hocheffi­ziente verdeckte Apart­heid. Die ist von den schwachen, wenig respektierten Schwarzen­or­ganisationen weit schwerer zu packen und zu attackieren als die aus Süd­afrika bekannte of­fene Ras­sentren­nung. Schwarze, Mu­latt­Innen gehören in die Slums, in die Unterschicht, in die drek­kig­sten, schlechtbezahltesten Be­ru­fe. Schwarze Frauen sind ge­mäß diesem Denk- und Ver­hal­tens­muster Hausdienerinnen, Rei­ne­machefrauen, bestenfalls Su­per­marktkassiererinnen. Oder aber: Schwarze Frauen sind bis zum Beweis des Gegen­teils Pro­sti­tuierte, Touristenhuren, die man entsprechend behandeln kann.
Untersuchungen belegen, daß in­for­melle Mechanismen ge­wöhn­lich den Auf­stieg Dunkel­häutiger in gutbezahlte qualifi­zierte Mittel­schichtsberufe ver­hin­dern. Privatban­ken bilden da keine Ausnahme. Bei meh­reren spricht das gängige System der zwei Kundenschlangen Bände. Wer besser verdient und umge­rech­net mindestens einige tau­send Mark auf seinem Konto hat, steht in der kürzeren Fila, wird bevorzugt behandelt und ist ge­wöhnlich weiß. Wer zu den Schlecht­bezahlten gehört, aber glück­lich ist, dennoch ein Konto besitzen zu dürfen, muß in der längeren Schlange gelegentlich Stunden warten, schaut nei­disch, frustriert oder mit Groll auf die Be­vorzugten mit dem dickeren Geld­beutel. Welche Hautfarbe in der langen Fila domi­niert, läßt sich in Rio gut beobachten.
Wer mit dunkler Haut den­noch den sozialen Aufstieg schafft, hat im Alltag fast pau­sen­los Ärger. In Sâo Paulo wird eine er­folgreiche schwarze Schau­spielerin von weißen Ma­dames im­mer wieder auf der Straße gefragt, ob sie nicht als Haus­dienerin anfangen wolle, sie sehe so gut und gesund aus. Der schwarze Sänger und Komponist Dicró wird in Rio de Janeiro von Si­cherheitsleuten zu seiner eige­nen Show nicht auf die Bühne ge­lassen. Ironisch erklärt er: “Mehr­mals haben sie mich auch schon ge­schnappt, als ich meinen eigenen Wa­gen klauen wollte.” Wie überführte Au­todiebe wer­den ebenfalls immer wieder gut­ver­dienende schwarze Fußball­spieler traktiert, die teure Im­portwagen fahren. Oleude Ri­beiro vom Verein Portuguesa von Sâo Paulo wurde mit Blau­licht in seinem Ford-Jeep ge­stoppt und mit dem Revolver am Kopf gründlich durchsucht: “Mein tiefentsetzter kleiner Sohn woll­te danach wissen, ob diese Männer Ban­diten waren. Schwie­rig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.”
Der auch in Eu­ropa bekannte schwarze brasiliani­sche Musiker Djavan erläutert: “Wenn du be­rühmt wirst, ver­lierst du sozusa­gen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen. Sie beginnen nur, dich zuzulas­sen.”

… soll sie doch selbst etwas tun

Schwarze, Arbeiterin, Frau – das vielstrapazierte Schema der “dreifachen Unterdrückung” drängt sich auf, aber Schablonen haben im Erzählen von Delia Zamudio keinen Platz. Sie berichtet nicht nur von ihrer Rolle als Gewerkschaftlerin und Feministin, sondern erzählt von ihrer Kindheit, von alltäglicher Gewalt in der Familie und am Arbeitsplatz, sie spricht über ihre Beziehungen und über Versuche, sich weiterzubilden. Dabei wird ihre Schilderung nie eindimensional, und darin liegt die Stärke der kaum 100 Seiten umfassenden Autobiographie. Delia Zamudio zeichnet ein dichtes, vielschichtiges Bild von sich und ihrer Gesellschaft, sowohl, wenn sie von ihrem Privatleben erzählt, als auch in den Berichten vom politischen Engagement in Gewerkschaften und Frauenbewegung.
So spricht Delia Zamudio nicht nur von den Machos in der Gewerkschaftsspitze, sondern auch von den Schwierigkeiten, als schwarze Arbeiterin in der Frauenbewegung ihren Platz zu finden. Beim lateinamerikanischen Feministischen Treffen 1985 in Brasilien ist ein Workshop “Frau und Arbeit” nicht vorgesehen, beim nächsten Treffen 1987 wird sie von der peruanischen Delegation geschnitten, nachdem sie offen über Massaker in Peru gesprochen hat.
In den 80er Jahren fanden autobiographische Berichte aus Lateinamerika in der deutschen Linken große Verbreitung. Damals machte vor allem das Bedürfnis, “authentische Zeugnisse von den Unterdrückten” zu vernehmen, Bücher wie das von Domitila Chungara aus den bolivianischen Minen zu alternativen Bestsellern. Die deutsche Ausgabe von Delia Zamudios Buch trifft jetzt auf ein verändertes Publikum: Akzeptieren manche mit bemerkenswerter Leichtigkeit den Status Quo des Neoliberalismus in Lateinamerika, befinden sich andere verklärend-nostalgisch auf der Suche nach neuen Objekten für ihre vereinsamte Solidarität. Delia Zamudios Buch ernüchtert demgegenüber im positiven Sinne: Sie verklärt kein “Subjekt des Widerstandes”, aber sie erzählt vom politischen und privaten Alltag im real existierenden Kapitalismus in Peru, von Machtverhältnissen und von der Gewalt, die die ganze Gesellschaft durchzieht: ein Stück Realität eben.

Delia Zamudio: Frauenhaut – Eine Autobiographie, hg. von Katharina Müller und Reinhart Hoß. Neuer ISP-Verlag, Köln, ISBN 3-929008-29-7; Atlantik, Bremen, ISBN 3-926529-12-1; Oktober 1996, 144 S.

Krieg um die Umwelt?

In der Einleitung des Buches wird der spektakuläre Titel gerechtfertigt: “Wenige würden leugnen, daß Lateinamerika und die Karibik Zeugen eines Umweltkrieges geworden sind, der dramatischer, verbreiteter und sicherlich traumatischer als jeder militärische Konflikt ist.” Wirklich? Tatsächlich wird das Buch weder dem Titel noch dieser Feststellung der Einleitung gerecht. Damit ist schon die zentrale Schwierigkeit, die ich mit dem Buch habe, angedeutet: In dem Reader finden sich eine Vielzahl von Beiträgen zu den unterschiedlichsten Themen, die sich aber nicht mehr zu einer zentralen These verdichten lassen. Das Buch bestätigt meine Abneigung gegen Sammelbände und Bücher, die gleich einen ganzen Kontinent behandeln. Solche Unterfangen können eigentlich nur gelingen, wenn sie paradigmatisch einige zentrale Fallbeispiele analysieren, um so zu diskutierbaren Schlußfolgerungen zu kommen. Ansonsten ist ein Sammelband so sinnvoll und öde wie etwa das Zusammenbinden von LN-Artikeln unter zwei Buchdeckeln.

Ein zu breiter Überblick

Vielleicht ist das ungerecht. Will man es positiv sehen, so ließe sich anführen, daß der Sammelband eine Vielzahl von Themen angeht und damit die Wahrnehmung von Umweltkonflikten in Lateinamerika, die oft doch sehr auf die Tropenwaldzerstörung fixiert ist, erweitert. Zwar stellt auch “Green Guerrillas” Regenwald und indigene Völker in den Mittelpunkt, aber ein Kapitel widmet sich den Kosten der Modernisierung, ein anderes den Umweltkonflikten in Städten. Der Kauf des Buches wird mit Artikeln belohnt über Ökotourismus in den ecuadorianischen Küstenregenwäldern, über Puerto Ricos Energiepolitik, über Fischer in Honduras und Pionierfrauen in Mexiko, um nur einige Beispiele zu nennen.
Kaum überraschend, daß bei dieser Vielfalt von Themen die Qualität der einzelnen Beiträge extrem schwankend ist. Die Amazonasproblematik zum Beispiel ist mit zwei exzellenten Artikeln vertreten. Stephen Nugent rückt auf knappen acht Seiten einige häufige Wahrnehmungsverkürzungen zurecht. Er plädiert dafür, die Forschungen von Uhl und Mattos zur Kenntnis zu nehmen, die zeigen, daß in einigen Regionen Amazoniens Landwirtschaft und Viehzucht keineswegs in die sofortige ökologische Katastrophe führen. “Die Debatte geht nicht mehr darüber, ob Vieh zu Amazonien paßt. Viehzucht ist gekommen, um zu bleiben.” Diese ist eine These, die in das Zentrum einer wichtigen Diskussion führt, denn längst sind Rinder nicht nur auf den großen fazendas anzutreffen.
Der zweite, ausgezeichnete Artikel zum Thema Amazonien stammt von Anthony Hall und behandelt die Geschichte der Kautschukzapfer, insbesondere nach dem Tod von Chico Mendes. Hall gelingt es trotz der Kürze, einen kleinen Überblick über Erfolge und Schwierigkeiten dieser bedeutenden ökosozialen Bewegung zu geben. Bemerkenswert ist, daß Hall weder den üblichen Heiligenschein verbreitet, noch in das andere Extrem der Denunziation verfällt, sondern Schwierigkeiten der Bewegung, insbesondere beim Versuch, ökonomische Perspektiven zu entwickeln, markiert. Ärgerlich ist lediglich der Titel “Ist Chico Mendes umsonst gestorben?” Soll der Mord, den ein verkommener Großgrundbesitzer begangen hat, tatsächlich historischen Sinn bekommen? Das Lebenswerk Chico Mendes’ mag Früchte tragen, sein Tod bleibt grausam und gemein.
Nach dieser hoffnungsvollen Lektüre dann gleich die Ernüchterung.

Niveau einer Lokalzeitung

Der dritte Beitrag über Amazonien ist so schwach, daß es schon ärgerlich wird. Catherine Matheson kündigt einen Beitrag über “Fruit farming in the Brazilian Amazon” an, der sich als Erlebnisbericht über den Besuch einer Kooperative in Marabá entpuppt. Da ich die dort entwikkelte Arbeit aus eigener Anschaung und Begleitung über mehrere Jahre kenne, kann ich nur bestätigen, daß der Artikel von Ungenauigkeiten und Fehlern nur so wimmelt und alle schlechten Merkmale einer schnellen journalistischen Schreibe trägt. Der Autorin gelingt es nicht, eine einzelne Erfahrung zu analysieren, um daraus diskutierbare Schlußfolgerungen zu ziehen.
Dieses Manko teilt sie leider mit einer Reihe anderer Artikel, die konkrete Fälle oder Projekte behandeln, zum Beispiel über Pionierfrauen oder Ökotourismus in Ecuador. Es ist wohl die Vielzahl relativ belangloser Artikel, die in jeder Sonntagsausgabe einer Lokalzeitung ihren Platz hätten, die den Sammelband diffus und disparat erscheinen lassen.
Schade für die zahlreichen guten Artikel, die in dem Sammelsurium unterzugehen drohen. Tatsächlich finden sich in dem Band eine Reihe von lesenswerten Beiträgen, etwa über Haiti (Charles Arthur) oder Kuba (Peter Rosset). Diesen Artikel gelingt die Balance zwischen konkreter Beschreibung und dem Aufgreifen von Aspekten, die über den Einzelfall hinaus wichtig sind.

Stadtplanungsguerilla

Enttäuschend ist auch das Kapitel über Städte. Die durchaus annehmbare Einleitung versucht zu recht, Gegenakzente zu den allzu leichtfertig vorgetragenen Katastrophenszenarien über Stadtentwicklung in Amazonien zu setzen. Leider findet sich dann kein Beitrag mehr, der die Frage der Entwicklung der Megastädte aufgreift. Die Fallstudien, mit Ausnahme des Artikels über Santo Domingo, bleiben dann wieder zu sehr auf den Einzelfall beschränkt. Brasilien ist mal wieder mit dem unvermeidlichen Curitiba vertreten und einem Artikel, der nur das wiedergibt, was alle, die sich für Lateinamerika interessieren, an verschiedensten Orten (auch in den LN) nachlesen könnten. Curitiba ist sicherlich ein interessantes Beispiel für eine effektive und innovative Stadtplanung – aber Green Guerrilla?

Green Guerrillas. Environmental Conflicts and Initiatives in Latin America and the Caribbean, hg. v. Helen Collinson, London 1996, 250 S., 29,80 DM (ca. 15 Euro).

Kleine Berlinale-Vorschau

Mit zehn Beiträgen ist der lateinamerikanische Film auf den 47. Internationalen Berliner Filmfestspielen vom 13. bis 24. Februar 1997 deutlich besser vertreten als im Jahr zuvor. Am Wettbewerb selbst wird kein Film aus Lateinamerika teilnehmen, sie werden im Forum und im Panorama gezeigt. Der kleine Wermutstropfen: Die Filme kommen aus nur zwei südamerikanischen Ländern. Acht Filme aus Brasilien und zwei aus Argentinien.
Darüberhinaus dokumentiert ein in deutsch-schweizerischer Gemeinschaftsproduktion entstandener Film die Geschichte der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros. Die beiden Filmemacher Rainer Hoffmann und Heidi Specogna, die unter anderem durch ihren Film “Tanja La Guerrillera” bekannt geworden ist, lassen vier Gründungsmitglieder der Tupamaros in sehr persönlichen Gesprächen ihren Weg vom bewaffneten Kampf im Untergrund der 60er und 70er Jahre über die Niederschlagung ihrer Revolution bis hin zu ihrer heutigen Einbindung in das parlamentarische System nachzeichnen. Hauptprotagonist des Films ist Pepe Mujica, der während der Militärdiktatur Uruguays 13 Jahre in völliger Isolierung inhaftiert war und heute Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio ist.
Da bis zum Redaktionsschluß der LN keine genauen Termine für die einzelnen Filme vorlagen, können wir unsere interessierten LeserInnen nur auf das Erscheinen des Berlinaleprogrammheftes vertrösten.

Rot – Schwarze Perspektiven

Als in der Nacht des 15. No­vembers die Stimmenauszählung des zweiten Durchgangs der Kommunalwahlen zu Ende ging, wuchs die Enttäuschung bei der PT (Arbeiterpartei). In elf Städ­ten war sie in die Stichwahl ge­langt, aber in neun verlor sie. Die große Ausnahme war die Ama­zonasmetropole Belém im Nor­den des Landes. Neben Porto Alegre im extremen Süden – wo die PT schon im er­sten Durch­gang gewann – ist Belém die ein­zige Landeshaupt­stadt, die von der PT regiert wird. Ein weiteres markantes Er­gebnis war die Wahl des ersten schwarzen Bür­germeisters in der größten Stadt des Landes, Sâo Paulo. Celso Pitta hat sich als Kandidat des regierenden Bür­germeisters Ma­luf, einem Rechtsaußen der bra­si­lianischen Politik, durchge­setzt und damit alle Hoffungen zer­stört, daß die PT mit ihrer Kan­di­da­tin Luiza Erundina wie­der ins Rat­haus von Sâo Paulo einzieht.
Eine genauere Analyse des Wahlergebnisses bringt einige Überraschungen an den Tag. Die PT ist in den hundert größten Städten des Landes die meistge­wählte Partei, konnte aber nur in 19 Städten die Wahlen gewin­nen. Das heißt, das gute Ab­schneiden der PT als Partei setzt sich aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts, in dem die Direktwahl der Bürgermeister im Mittelpunkt steht, nicht in Ämter um. Hinzu kommt, daß durch das System der Stichwahl in allen größeren Städten des Landes (mit über 100.000 WählerInnen) Bündnisse gegen die PT im zweiten Durchgang mehr Chan­cen haben. Anders gesagt: die PT ist eine erstaunlich erfolgreiche linke Partei, die, was nicht über­raschen sollte, die öffentliche Meinung polarisiert.

Imageprobleme der PT

Die Konsequenzen aus dieser Analyse sind innerhalb der PT umstritten. In Sâo Paulo hatte die PT-Kandidatin und ehemalige Bürgermeisterin Luiza Erundina versucht, durch eine Kampagne mit dem Slogan “Die PT, die Ja sagt” den hohen Grad der Ableh­nung (40 Prozent der Wäh­lerinnen erklärten, auf keinen Fall für Erundina zu stimmen) zu senken. Erundina und ihr Team waren der Meinung, daß die PT ihre positiven Vorschläge in den Mittelpunkt stellen und von dem Image der Oppositionspartei wegkommen sollte. Diese De­batte zielte tatsächlich ins Herz der Identität der PT, die doch ge­rade gewachsen ist als eine Par­tei des Protestes und der Oppo­sition gegen die herrschenden Mißstände in Brasilien, die unter anderem durch das derzeitige Modell des Neoliberalismus auftreten.
Natürlich spricht nichts dage­gen, die konkreten Vorschläge für Veränderungen in den Mit­telpunkt der Kampagne zu stel­len, mit abstrakten Diskursen gegen den Neoliberalismus ist auch in Brasilien kein Blumen­topf mehr zu gewinnen. Aber die Alternative kann wohl nicht sein, den Schaum vor dem Mund durch einen Wahlkampf mit rosaroter Zuckerwatte zu erset­zen. Die Erfolglosigkeit spricht gegen Erundina. Marco Aurélio Garcia, Parteisekretär für inter­nationale Fragen, sieht zwei Hauptgründe für die Niederlage der PT in Sâo Paulo: “Wir haben es nicht verstanden, eine starke Opposition gegen Maluf aufzu­bauen. Unsere Niederlage be­gann vor drei Jahren, als es uns nicht gelang, diese Opposition zu machen.” Der zweite Grund liegt für Garcia in der Schwäche der sozialen Bewegungen. “Die Krise hat die sozialen Bewegun­gen zersetzt und das hatte großen Einfluß in Sâo Paulo.”

Wenn zwei sich streiten…

Das Ergebnis von Sâo Paulo ist jedenfalls ein Rückschlag für die innerparteilichen Kräfte, die die PT in eine Partei der “Mitte” (auch andere Denominierungen wie “moderne linke Partei” wer­den gehandelt) transformieren wollen. Aber es gibt noch wei­tere Gründe für das enttäu­schende Abschneiden der PT in einigen Städten. Die schmerz­lichste Niederlage mußte die PT wohl in Santos einstecken. Dort ist die PT seit acht Jahren an der Regierung – mit beachtlichem Erfolg und großer Zustimmung. Aber die Auswahl der Kandida­tin (zwei Frauen standen sich gegenüber) für die Wahl ’96 führte zu einer schweren inner­parteilichen Zerreißprobe. Der ehemaligen Bürgermeisterin Tel­ma da Souza, die sich schließlich gegen die Kandidatin des aktuell am­tierenden Bürger­meisters durch­setzte, gelang es nicht, die innerparteilichen Dif­ferenzen zu überwinden und scheiterte am Wahltag. Santos zeigt auch, daß bei den mit har­ten Bandagen aus­getragenen Konflikten der ver­schiedenen Tendenzen inner­halb der PT am Ende alle verlieren. Telma ge­hört eher dem “rech­ten” Par­teiflügel an. Ihr Ar­gument, daß sie als “gemäßig­te” für die WählerInnen ak­zep­tab­ler sei, stellte sich schließlich genauso als Trugschluß heraus wie die Kampagne des “Ja” in Sâo Paulo.
Die beiden Erfolgsstorys der PT – Porto Alegre und Belém – legen Schlüsse nahe, die aus dem simplifizierenden rechts-links oder radikal-gemäßigt Schema herausführen. In Porto Alegre wird die PT nun zum dritten Mal den Bürgermeister stellen. Die Aus­wahl der Kandidaten verlief ge­ordnet und versuchte ein in­ner­parteiliches Gleichgewicht her­zustellen. Der jetzt gewählte Bürgermeister Raul Pont gehört, anders als sein Vorgänger, dem linken Parteiflügel an, der trotz­kistischen Grup­pe “Demo­kra­ti­scher So­zialismus”. Aber er wur­de nicht gewählt aufgrund eines per­sonalisierten Wahlkampfes, son­dern aufgrund einer acht­jäh­rigen kompetenten Politik, die mit dem Konzept des “par­ti­zi­pa­ti­ven Haushaltes” ein Exempel al­ternativer Kommu­nalpolitik ge­schaffen hat.
Auch der neue Bürgermeister von Belém, Edmilson Rodriguez, gehört dem linken Parteiflügel an. Er profitierte wesentlich von dem Verschleiß der traditionel­len Eliten, die sich dazu noch untereinan­der einen Schmutz­wahlkampf lieferten. Eine ge­spaltene Rechte war in vielen Fällen ein wichtiges Mo­ment für den Aufstieg der Lin­ken. Edmil­son gelang es ge­schickt, sich demgegenüber als unverbrauch­ter und nicht kor­rupter Politiker darzustellen. Hinzu kam, daß die “militantes”, die Aktivisten der PT und der sozialen Bewegun­gen, sich mit dem Aufstieg des Kandidaten – der seine Kampa­gne mit hoff­nungslosen fünf Prozent in den Umfragen begann – mobilisieren ließen und einen intensiven Wahlkampf in den Armenvierteln Beléms or­gansierten. Schließlich setzte sich Edmilson mit 58 Prozent (!) der Stimmen gegen den Geld­wahlkampf des Bürgermeister­kandidaten durch. Am 15. No­vember war Belém in ein Meer roter Fahnen verwandelt. Hier zeigte sich, wo die traditionelle Stärke der PT liegt: als Partei des “Basta” gegen die Mißwirtschaft und Korruption der Eliten, als Hoffnungsträger für radikale Änderungen.

Sâo Paulo – Schwarzer Bür­germeister aus der Retorte

Mit der Wahl Celso Pittas re­giert zum ersten Mal in der Ge­schichte Brasiliens ein Schwar­zer die größte Stadt Brasiliens. Aber seine Wahl, die in der in­ternationalen Presse mit Auf­merksamkeit registriert wurde, symbolisiert weniger die zuneh­mende Akzeptanz der Schwarzen in einer rassistischen Gesell­schaft, als den Erfolg des bishe­rigen Bügermeisters Maluf, der Pitta als seinen Kandidaten aus­gewählt hatte. Pitta war ein öf­fentlich unbekannter Geschäfts­mann (Angestellter in der Firma eines Bruders von Maluf) als er überraschenderweise nach Aus­fall anderer Kandidaten (wegen Korruptionsvorwürfen) von Ma­luf 1992 zum Finanzsekretär der Stadt ernannt wurde. Unauf­fällig blieb Pitta auch in diesem Amt. Symptomatisch ist nun, wie er zum Kandidaten gekürt wurde. Maluf ließ von jedem möglichen Kandidaten Videos erstellen und ließ diese anschlie­ßend von US-ame­rkanischen Marketing-Ex­per­ten auswerten. Das Ergebnis war die Empfeh­lung zugunsten von Pitta. Freundlich, smart, immer gut angezogen, kontra­stiert seine Er­scheinung mit dem hemdsärme­ligen Populismus des häßlichen Maluf. Pitta wurde lanciert wie ein Konsumprodukt. “Ein Joghurt”, kommentierte die Konkurrenz. Aber seinen Wahl­erfolg verdankt er ausschließlich Maluf. Der Wahlkampf war von einer einzigen Botschaft domi­niert: Das ist der Mann, der die Bauarbeiten von Maluf fortführt.

Hyäne im Schafspelz

Das eigentliche Ergebnis der Wahlen ist also die Stärkung Malufs, der schon der letzte (und damals unterlegene) Kandidat der Militärdiktatur für das Prä­si­dentschaftsamt war. Als Rechts­außen der brasilianischen Politik wurde er mit Haider oder le Pen ver­glichen. In Lateiname­rika mag der Erfolg von Alemán in Nicaragua eine gewisse Pa­rallele sein. Maluf ist mit der Wahl sei­nes Nachfolgers zum un­um­strittenen rechten Gegenpol zu Präsident Fernando Henrique aufgestiegen. Abzuwarten bleibt aber, ob sein Einfluß weit über Sâo Paulo hinausgeht. Maluf hat auch wenig Spielraum für eine systematische Opposition gegen die Regierung, weil Bürgermei­ster und Gouverneure seiner Partei aufgrund hoher Schulden auf Abkommen mit der Zentral­regierung angewiesen sind. Sei­nen Erfolg in Sâo Paulo verdankt Maluf vorwiegend einer ge­schickten Mischung von moder­nem Marketing und traditionell­ster Politik. “Obras”, Bauarbei­ten durchziehen die Stadt und hinterlassen überall die sichtba­ren Monumente seiner Amtszeit. Mit dem Projekt “Neues Singa­pur” verspricht Maluf, die Fave­las durch Billighochhäuser zu er­setzen. Auch wenn die Opposi­tion den marginalen Effekt die­ses Projektes aufzeigen konnte, gelang es Maluf doch, auf natio­naler Ebene ein – wenn auch po­lemisches – Zeichen für seine Sozialpolitik zu setzen. Anson­sten profiliert sich Maluf mit dem traditionellen Diskurs rech­ter Politik: law an order und na­tionalistische Töne mit Angrif­fen auf das ausländische Kapital. Mit Anspielung auf sein moder­ni­sier­tes Marketing wurde er als “Hy­äne im Schafspelz” bezeich­net.
Zurück zu Pitta. Bleibt nicht doch ein symbolischer Rest? Schwer zu sagen. Orginalton Luiza Erundina, die sich anson­sten mit polemischen Tönen sehr zurückhielt: “Celso Pitta sagt, er habe eine schwarze Haut. Aber er hat den Kopf und das Verhal­ten eines weißen Schweinehun­des (um branco safado)”.

KASTEN

Abgeordneter – ein Job, der sich lohnt.

Das Ansehen von PolitikerInnen mag in Brasilien das aller­schlech­teste sein, in Wahl­kampfzeiten fehlt es dennoch nicht an Kan­didatInnen. Die Erklärung ist einfach. Die Mühen des Wahl­kampfes werden oft mit fürstlichen Gehäl­tern belohnt. Bei­spiel Belém, eine Stadt mit etwas über einer Million EinwohnerInnen. Dort verdient ein Abgeordneter im Kommunalparlament 3513,- Reais, schlappe 5000,- DM. Mit diesem Hunger­gehalt sind die Herren und Damen aber nicht mehr zufrieden und ha­ben sich für 1997 schon eine Ge­haltserhöhung be­willigt: knapp 4500,- Reais sind es dann, mehr als 6700,- DM. Aber das ist bei weitem nicht alles. Jede(r) Abgeord­nete hat ein Recht auf fünf (!) persönliche Mitar­beiterInnen mit einem Gehalt von jeweils etwa 1700,- Reais oder 2500,- DM.
Belém liegt mit seinen Gehältern vielleicht im guten Mittelfeld. Einige kleinere Munizipien, beson­ders solche, die aufgrund von Groß­projekten erhöhte Steuereinnahmen haben, zahlen weit hö­here Gehälter, oder besser ge­sagt, die Abgeord­neten bewilligen sich diese Gelder. In Belém hat sich eine Bürgerinitia­tive for­miert, die solch eine Absahn­mentalität nicht mehr hinnehmen will. (tof)

Menschenrechte ja – aber nicht für Schwule

Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und gal­ten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kom­mandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmän­ner stoßen die beiden bis zur na­hen Bahnlinie, dann krachen Pi­stolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ih­rem Blut, stellen erschüttert Ker­zen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Bra­silien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Ho­mosexuellen her. Seit 1980 wur­den über 1300 Schwule ermor­det, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr un­vollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letz­ten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorur­teile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens ver­schweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Se­kretär für Menschenrechte der Bra­silianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordost­brasilianischen Küstenmetropole Sal­vador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, ver­folgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Ma­chismus”, die Täter gingen ge­wöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter er­mittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Ge­richt und wurden dann fast im­mer freigesprochen.

Archiv über Homosexualität

Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinameri­kanischen Archiv über Homose­xualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenver­einigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besu­cher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höf­lich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexu­elle teilnehmen. Vor dem Ab­stieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präserva­tive, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe beson­ders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführ­ten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vor­sicht – suche Deine amantes bes­ser aus”, steht groß auf Schauta­feln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermor­den!” Die Warnung ist nicht un­begründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salva­dor sauber – töte jeden Tag einen Homo!”

Erscheinungsebene – Wirklichkeit

Brasiliens Schwulenszene prä­sentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeit­schriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen wei­ter, scheint sogar stark zuzuneh­men. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Über­le­benshandbuch” publi­ziert, das zahl­reiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasi­lia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen be­kannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.

Umfragen und Machismus

Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsenta­tive Umfragen: So würden 36 Pro­zent der BrasilianerInnen ei­nem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kol­legen bewußt fernhalten, 56 Pro­zent würden zumindest ihr Ver­halten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, ak­zeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Ho­mosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne er­zwingen müßten.

Politisches Asyl für Schwule

Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Teno­rio, Luiz Mott trat in dem Asyl­verfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Me­dien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylsta­tus, wollen aber anonym blei­ben, aus Angst, daß Familienan­ge­hö­ri­ge in Brasilien Repressa­lien er­lei­den könnten. Eine un­bekannte Zahl brasilianischer Homo­sexu­el­ler lebt illegal in den USA. Mög­licherweise werden jetzt wei­tere einen Asylantrag stellen.

KASTEN

Staatstrauer für Ex-Diktator

Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im Sep­tember 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso gela­den worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Gei­sel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Or­lando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die kei­nes­wegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, fol­tern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeit­zeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Dik­taturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Groß­teil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit be­gangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amts­vorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

Sprinter Kohl in Lateinamerika

Die erste Station: Argentinien
Zwölf Jahre nach seinem ersten Argentinien-Besuch traf Bundeskanzler Kohl am 14. September in Buenos Aires ein. In Argentinien wurde dieser Besuch als der bedeutendste seit der Visite des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, George Bush, im Jahr 1990 gehandelt.
Seit 1989 richtete sich der Blick der deutschen Wirtschaft hauptsächlich gen Osten. An den ersten großen Privatisierungswellen in Argentinien wurde nur beobachtend teilgenommen. Telefon-, Flug-, und Erdölgesellschaft wie auch die Wasser-, Gas-, Stromversorgungsunternehmen sind nun in spanischer, französischer oder nordamerikanischer Hand, die sich daran eine goldene Nase verdienen. Die bevorstehende Privatisierung der argentinischen Flughäfen soll nun nicht ohne deutsche Beteiligung geschehen. Der Prozeß der Wiedervereinigung und die Ostorientierung der deutschen Wirtschaft soll einem Engagement in Argentinien nicht mehr im Wege stehen. Rechtssicherheit, die Investitionen auch mittel- und langfristig sichern, wirtschaftlich stabile Rahmenbedingungen und politische Kontinuität werden nun seitens der Wirtschaft besser eingeschätzt als noch vor Jahren, müssen aber nichtsdestotrotz weiterhin ausgebaut werden. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sind nur indirekt von Belang, der soziale Frieden und damit die politische Stabilität darf durch eine allzu ungleiche Verteilung nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Internationale Unterstützung

Nur eine Woche nachdem der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Camdessus und der Präsident der Welthandelsorganisation (WTO) Ruggero in Buenos Aires die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens lobten, ordnete sich Kohl in diese illustre Reihe ein. Er bezeichnete den seit Anfang der neunziger Jahre verfolgten neoliberalen Wirtschaftskurs als sehr mutig und empfahl Menem ihn beizubehalten. Die Argentinier sollten sich in “Sturmzeiten” in Geduld üben, da letztendlich die Reformen ihre Wirkung zeigen und sich die Opfer auszahlen würden.
Die Parallelen zu der deutschen Wirtschaftssituation liegen für Kohl auf der Hand. Aus diesem Grund vertrat er die Meinung, daß in der heutigen Zeit, in der Globalisierung und die Standortkonkurrenz die Realität beherrschen, es keine Alternative – weder für Argentinien noch für Deutschland – zu einer Politik der Kostenreduktion, der Arbeitsflexibilisierung und der Neudefinition des Sozialstaates gäbe.
Nur mit gleichwertigen Partnern wie Argentinien, mit denen mensch viel gemeinsam habe, unter anderem die Vorliebe für die Marktwirtschaft, könnten die globalen Herausforderungen – Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Armut – gemeinsam gemeistert werden.
Menem kann die Unterstützung durch Kohl derzeit gut gebrauchen: Seine Popularität und damit auch die seiner Politik hat einen Tiefpunkt erreicht. Die Geduld der Bevölkerung, auf deren Rücken die Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden, geht zu Ende. Bisher war es Menem gelungen, dank des “Inflationsbekämpfungsbonus” die Menschen immer wieder zu vertrösten. Die Zeiten der Hyperinflation Ende der achtziger sind noch sehr gut im Gedächtnis. Um die gewonnene Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen wurden viele Opfer in Kauf genommen. Das letzte Sparpaket aber (siehe LN 266/267) brachte das Faß zum überlaufen. Der Generalstreik am 8. August legte das Land fast vollständig lahm – die OrganisatorInnen sprachen von einer neunzigprozentigen Streikbeteiligung. Damit nicht genug. Am 26. und 27. September erfolgte der nächste Generalstreik. 36 Stunden wurde gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Auf der Plaza de Mayo, vor dem Regierungsgebäude, versammelten sich 70.000 DemonstrantInnen, die größte Demonstration seit 1989. Bemerkenswert ist, daß zu dem Streik der regierungsnahe Dachverband der Gewerkschaften aufrief und sowohl von dem Oppositionsdachverband als auch den Oppositionsparteien unterstützt wurde.

Allgegenwärtige Wirtschaft

So wie die wirtschaftlichen Probleme die Alltagssorgen der ArgentinierInnen dominieren, beherrschten wirtschaftliche Interessen den Kanzler-Aufenthalt. Und zwar auch dann, wenn der öffentliche Auftritt gar nicht im Zeichen der Wirtschaft stand. So geschehen beim Empfang der deutsch-argentinischen Gemeinschaft in der 1897 gegründeten Goethe-Schule. In der mit etwa 2000 Gästen überfüllten Turnhalle genoß Kohl ein Bad in der Menge. In Deutschland wäre ein solches Unterfangen an jenem Wochenende – nachdem die Kanzlermehrheit das Kürzungspaket im Bundestag endgültig verabschiedet hatte – wohl nicht sehr ratsam gewesen. Doch hier, in geschlossener Gesellschaft, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem wohlhabenden Wohnbezirk und abgeschottet von jeglichen sozialen Spannungen, war dieses gefahrlos möglich. Seine zum Ärger mancher Presseleute nicht ins Spanisch übersetzte Rede stand im Zeichen des deutsch-argentinischen Kulturaustausches, an dem die deutschen Schulen einen großen Anteil hatten. Ganz in seinem Sinne wurde die deutsch-argentische Freundschaft kulinarisch besiegelt. Dabei war es sicher kein Zufall, daß er sich zum Abschluß medienwirksam mit einem Becher Warsteiner erfrischte, hat doch Warsteiner kürzlich in ihre argentinische Tochtergesellschaft Isenbeck 80 Millionen Dollar investiert. Diese avancierte so zu einer der größten Brauereien des Landes. Die Rückfahrt erfolgte in einem von Mercedes Benz an die argentinische Regierung gestifteten Bus. Es war zwar kein Sprinter, aber der gute Stern auf allen Wegen war dabei nicht zu übersehen.
Claudia Martínez/Martin Spahr

Zweite Station: Kohl in Brasilien

Dreißig Stunden Staatsbesuch sind nicht viel Zeit, aber es reicht allemal, um sich ein wenig als Regenwaldbewahrer ins Rampenlicht zu rücken. Deutschland ist in dieser Disziplin nämlich führend unter den G-7-Nationen, wie die Brasilianer im September aus berufenem Munde erfuhren: “Alle reden, während wir zahlen”, brüstete sich Helmut Kohl bei einem Frühstück mit Industrievertretern in Brasilia. Gemeint hat er damit unter anderem die 187 Millionen US-Dollar, die Deutschland für ein kürzlich bewilligtes EU-Pilotprojekt in Amazonien ausgeben will. Mit dem Geld sollen nachhaltige Entwicklungsmodelle im größten Regenwaldgebiet der Erde finanziert werden. Brasilien probt derweil den schlanken Staat. Nachdem im Juni eine Studie ergab, daß der Regenwald im Moment schneller abgeholzt wird als noch zur Zeit des Erdgipfels in Rio 1992, wurde als Gegenmaßnahme das Abholzen einiger Edelholzarten verboten – eine überaus schlanke und kostengünstige Maßnahme. Dabei sollten die Beamten in Brasilia doch wissen, daß in Amazonien das Gesetz nicht viel wert ist. Immerhin mußte die Sicherheit der Gemeindewahlen Mitte Oktober dort mit Hilfe der Bundesarmee sichergestellt werden, weil sonst Großgrundbesitzer und kleine Industrielle mit bewaffneten Milizen für einen genehmen Wahlausgang sorgen. Die Soldaten ziehen nach dem Urnengang wieder ab, und mit ihnen vermutlich die staatliche Indianerstiftung FUNAI (Fundacao Nacional do Indígena), die im Zuge der Verminderung des Staatsdefizits aufgelöst werden soll. Ihre Aufgabe war es bislang, die Indianer vor der Gier der Goldsucher und Holzfäller und vor dem nackten Überlebenswillen von landlosen Siedlern zu schützen. Man braucht gar nicht darauf zu warten, daß das EU-Pilotprojekt in dieser Hinsicht etwas bewirkt.
Aber sicherlich hat Helmut Kohl recht, wenn er sagt, daß es Industriestaaten gibt, die weniger für Umweltschutz in Brasilien bezahlen als Deutschland. Brasilien selbst zum Beispiel, das in weiten Teilen ein Industriestaat ist und im Moment andere Probleme als den Raubbau im Dschungel meistern muß. Einige sind ganz ähnlich gelagert wie bei uns: Brasilien wie Deutschland wollen unbedingt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, ein hohes außenpolitisches Ziel, für das sich die Diplomaten Staatsbesuch um Staatsbesuch gegenseitige Unterstützung zusichern. Das brasilianische Staatsdefizit (3,72 Prozent des BIP) ist wie das deutsche zu hoch, und hier wie dort will die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems nicht so recht gelingen. Wenn Brasiliens Staatsoberhaupt Fernando Henrique Cardoso in seiner Begrüßungsrede für Kohl dessen Erfolg bei der Reform des Renten- und Krankenversicherungssystems lobt, so nur, um seinem Kongreß ein wenig Beine zu machen. Denn für eine Reform des Staates braucht es jedesmal eine Verfassungsänderung, also eine Drei-fünftel-Mehrheit in beiden Kammern. Und diese Reformen sind nach Meinung von vielen WirtschaftsanalytikerInnen der einzige Weg, um Präsident Cardosos bislang erfolgreiche Antiinflationspolitik – die einer Regierungsstudie zufolge seit der Währungsreform im Juli 1994 die Zahl der Armen in den Ballungsgebieten um zwanzig Prozent vermindert hat – in einen nachhaltigen wirtschaftlichen Boom umzuwandeln. Ein wenig boomt es jetzt schon. 5 Prozent Wachstum für 1996 sind nicht umwerfend viel, auch wenn einige ganz zufrieden sein können: etwa der deutsche Elektrokonzern Siemens, der Telefonanlagen und Kraftwerkturbinen verkauft, und dessen Gewinn in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr um satte 400 Prozent gestiegen ist. In den nächsten fünf Jahren, so weissagt die deutsch-brasilianische IHK, werden jährlich Direktinvestitionen in der Höhe von einer Milliarde US-Dollar nach Brasilien fließen. Ganz vorne mit dabei: die Automobilhersteller Volkswagen und Mercedes, die in Europa keine wachsenden Märkte mehr sehen und den Anschluß an den Mercosur nicht verpassen wollen. Brasilien wird in Zukunft das einzige Land außer Deutschland sein, in dem Mercedes die legendären Luxusautos mit dem Stern anfertigen läßt. “Die Qualität der Produktion”, so ein Sprecher von Mercedes Benz do Brasil selbstbewußt, “ist in Brasilien so gut wie in Deutschland.” Den Reichen, die sich auch im Mercosur angemessen fortbewegen möchten, bietet Brasilien noch zwei weitere Chancen für deutsches Geld: eine Reihe von Staatsunternehmen stehen zur Privatisierung an, aus so lukrativen Sektoren wie Rohstoffabbau, Telekommunikation und Häfen. Und schließlich ist da noch die “Industrie der Zukunft”, wie Helmut Kohl betonte: Umweltschutz-Technik aus Deutschland, nicht im Regenwald, sondern dort, wo die Industrialisierung bereits mit Wucht zugeschlagen hat. Gewinn für Deutschland verspicht nicht der Regenwald, sondern die riesigen Müllhalden der Großstädte und die ungeklärten Abwässer der Industrie.
Martin Virtel

Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung

Das Bundeskabinett beschloß am 17. Mai 95 das Lateinamerika-Konzept. Dieser Maßnahmenkatalog, der nicht nur das Engagement der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, sondern auch die technische und politische Zusammenarbeit fördern soll, wurde vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschaftsministerium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemeinsam mit dem Bund der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) und dem Ibero-Amerika-Verein (IAV) erarbeitet. Diese Art der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Industrie ist nicht neu: Eine ähnliche Initiative war schon 1993 ins Leben gerufen worden, als die Asien-Strategie in Zusammenarbeit mit dem Asien-Pazifik-Ausschuß der deutschen Wirtschaft entstand. Im Gegensatz zu Asien kann im Fall Lateinamerika auf eine jahrzehntelange Präsenz aufgebaut werden.
Als Anlaß für die konzertierte Aktion wird ein Brief der deutschen Wirtschaftsverbände an Kanzler Kohl gesehen, in dem davor gewarnt wurde, daß die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß in Lateinamerika verpassen würden. Dabei sei das verlorene Jahrzehnt in Lateinamerika doch vorbei und der Subkontinent auf dem besten Wege zu einer politisch und ökonomisch stabilen, wachstumstarken Region. Obwohl es noch Nachholbedarf bei der sozialen Lage und der Menschenrechtssituation der indianischen Völker gebe, seien Fortschritte im Demokratisierungsprozeß, beim Aufbau von rechtstaatlichen Systemen und der Wahrung der Menschenrechte zu verzeichnen. Zusätzlich bemühten sich die Regierungen der jungen Demokratien – mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung der Wirtschaftsexperten des Internationalen Währungsfonds (IWF) – wirtschaftspolitische Veränderungen in Richtung Marktwirtschaft nach neoliberalem Vorbild durchzuziehen: Stabilisierungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, Deregulierung der Märkte, Liberalisierung der Handel- und Kapitalströme. Zudem werden durch die Privatisierung der maroden Staatsbetriebe Anstrengungen unternommen, die Staatshaushalte zu konsolideren. Klare Zeichen dafür, daß die Reformen ernst gemeint sind und die jahrzehntelange Binnenorientierung vorbei ist. Hinzu kommt der offene Integrationsprozeß (NAFTA, Mercosur, Andenpakt), der zu einer Ausweitung des intraregionalen Handels geführt und damit einen Beitrag zum Erfolg der Wirtschaftsentwicklung geleistet hat.
Die deutsche Wirtschaft hat diesen Prozeß beobachtet, ohne sich aber stark an ihm zu engagieren: an den Privatisierungen waren überwiegend die Nordamerikaner, Franzosen, Spanier und Italiener beteiligt. Marktanteile gegenüber den Japanern, dessen Engagement in Lateinamerika schon vor einigen Jahren stieg, ging verloren. Zwar leisteten im Jahr 1995 die deutschen Tochtergesellschaften in Brasilien und Mexiko fast 15 Prozent der nationalen Industrieproduktion, die Exporte in die Region sind aber nur unterproportional gegenüber den Exporten in Richtung Süd-Ost-Asien und Osteuropa gewachsen. Die deutsche Wirtschaft befürchtet nun, daß durch den Wandel neue Wirtschaftsbeziehungen entstehen, die mittel- und langfristig auf Kosten der deutschen Lieferanten gehen. Um diesem Trend entgegenzuwirken soll nun Vater Staat der deutschen exportorientierten Wirtschaft unter die Arme greifen. Kräfte sollen gebündelt werden und politischen Rückhalt für die Rückgewinnung verlorenen Terrains erhalten: Durch Regionalkonferenzen mit Beteiligung deutscher Regierungsvertreter, Entsendung von Wirtschaftsdelegationen und einer aktiven Messepolitik sollen den Latinos die Produkte “Made in Germany” wieder schmackhaft gemacht werden. Gute Chancen werden in den Bereichen der Umwelt- und Verkehrstechnologie, Kraftwerkbau, Stromverteilung und Telekommunikation gesehen. Besondere Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte soll der deutsche Mittelstand erfahren, dessen Angst vor wirtschaftspolitischen Rückschlägen noch nicht ganz genommen werden konnte. Er soll in besonderem Maß durch einen verbesserten Informationsservice über potentielle Wirtschaftpartner von dem engen Netz bilateraler Handelskammern profitieren.

Mogelpackung Lateinamerika-Konzept

Die vorangigen Bemühungen der Bundesregierung beschränken sich derweil aber nur auf die Erweiterung bestehender, beziehungsweise der Erschließung neuer Märkte auf dem Subkontinent, der 450 Millionen Menschen beherbergt und ein Bruttosozialprodukt von über 1 Billion Dollar aufweist: Ein riesiger Absatzmarkt, der nicht allein den anderen Industrienationen überlassen werden soll. Laut Angaben der Vereinten Nationen sind aber vierzig Prozent der Bevölkerung an dem jetzigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht beteiligt. In einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung La Nación anläßlich der Konferenz in Buenos Aires im Juni 1995 bekannte Rexrodt Farbe: im Mittelpunkt der Analyse seien die ökonomischen Aspekte. Damit werden andere wie politische Kooperation, Entwicklungshilfe und Umweltschutz mal wieder diesem Ziel untergeordnet. Bei der Lektüre des dritten Kapitels des Lateinamerika-Konzeptes über Entwicklung und Umwelt stechen hochgesteckte Ziele hervor, die zur Zeit anscheinend in Vergessenheit geraten sind: die Länder Lateinamerikas sollen “auf ihrem Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung” unterstützt werden. Dieses sei nur in einem “entwicklungsfördernden Umfeld”, mit einer marktwirtschaftlichen und sozialen Wirtschaftsordnung in ökologischer Verantwortung möglich. Entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, die Achtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit müsse ebenfalls gewährleistet werden. Schwerpunkte seien dabei unter anderem die Bekämpfung der Armut und die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes. Wenngleich Kohl während seiner Reise auch immer wieder auf die sozialen Aspekte hinwies, die im Wachstumsprozeß nicht außer acht gelassen werden dürften, war sein Schwerpunkt ein anderer. Er lobte die mutigen Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme. Die hohen sozialen Kosten blieben nachgeordnet, die weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich ebenso. Die tendenziell kapitalintensiven deutschen Investitionen, insbesondere aus der Autobranche, haben relativ geringe Beschäftigungseffekte. Der Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und damit der soziale Situation bleibt schwach. Somit verkommt das Lateinamerika-Konzept zu einem simplen Exportförderungspaket.
Martin Spahr

Dritte Station: Mexiko

Mariachi-Musik, jede Menge wohlklingender Reden und begeisternd kreischende Schulkinder – vom Kanzler Besuch in Mexiko bleibt vor allem Stimmung. Ansonsten fällt die Bilanz von insgesamt 10 öffentlichen Kohl-Auftritten in nur zwei Tagen mager aus: konkret vereinbart wurde nichts. Der Bundeskanzler versicherte seinen Gastgebern, daß die deutsche Fixierung auf die Einheit nun vorbei sei. Die Bundesregierung werde nun auch in Richtung Lateinamerika wieder aktiver – mit Mexiko als einem Schwerpunktland. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo empfing den Kanzler als den Architekten der deutschen Vereinigung und größten Europäer. Er lobte die Rolle der deutschen Investoren, die 1995 mehr Geld in Mexikos Wirtschaft pumpten (eine Milliarde DM) als in jedes andere Schwellenland der Welt. In so gut wie allen Nachrichtensendungen des nationalen Fernsehens war die Kohl-Visite der Aufmacher. Die völlig überfüllte Pressekonferenz des Kanzlers wurde in einem Kanal sogar live übertragen. Dem deutschen Regierungschef, schon 14 Jahre an der Macht, schlug offene Bewunderung entgegen. Viele Mexikaner sahen den mächtigen Mann, der ihren eigenen Präsidenten um mehr als Haupteslange überragte, als Repräsentanten von Europas größter Wirtschaftsmacht und als eine Möglichkeit, sich von der erdrückenden Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mexiko drängt seit langem schon auf ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union (EU) und hofft dabei auf deutsche Unterstützung. Diese hatte Außenminister Kinkel bei seinem Besuch im April auch zugesagt, sich jedoch anschließend bei der Agrarlobby in Brüssel eine blutige Nase geholt. So gab es denn die absehbare herbe Enttäuschung. “Wir verhandeln nicht mehr über ein Freihandelsabkommen”, hieß es während der Kanzler-Visite von deutscher Seite. Für die nun im Oktober beginnenden Verhandlungen zwischen EU und Mexiko wurde hastig ein neuer Begriff erfunden: Progressive Handelsliberalisierung. Im Klartext: Die Zölle sollen runter, aber nur für Waren, die keinem weh tun. Heikle Produktgruppen wie mexikanischer Honig, Bananen oder gerösteter Kaffee werden ausgeklammert und weiterhin an den Zollhürden der EU scheitern. Dennoch versicherte der Kanzler: “Wir wollen ein europäisches Haus errichten, keine Festung.”
Ein weiterer Mißerfolg: wie zuvor schon Klaus Kinkel konnte auch Helmut Kohl das lange schon avisierte Investionsschutzabkommen nicht mit nach Hause bringen. Denn Bonn beharrt auf der Änderung einer Enteignungsklausel in der mexikanischen Verfassung und damit ist vor den Parlamentswahlen nächstes Jahr nicht zu rechnen.
Kohls erster Mexiko-Besuch seit dem Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 blieb im wesentlichen eine Werbetour für die Lateinamerika-Initiative der Bundesregierung und ihre Beteuerungen, zukünftig nicht mehr nur nach Osteuropa und Asien zu schielen, wenn es um wirtschaftliche Wachstrumsregionen geht. Die Chemie bei diesem Besuch jedoch stimmte. Bei der Grundsteinlegung für den Neubau der deutschen Schule in Puebla bereiteten hunderte Jungs und Mädels dem Kanzler einen euphorischen Empfang, führten folkloristische Tänze auf und sangen auf deutsch das Lied: Die Gedanken sind frei. Und Präsident Zedillo, ein ernster Mann, nahm sich ungewöhnlich viel Zeit für seinen Gast, traf sich insgesamt dreimal mit ihm. Im Volkswagen-Werk in Puebla zwängte er sich schließlich sogar gemeinsam mit ihm in einen handgearbeiteten Prototypen des Käfer-Nachfolgers New Beetle hinein. VW (mit 12 000 Beschäftigten größter deutscher Arbeitgeber in Mexiko) und Zulieferer wollen sich den Aufbau dieser Produktion insgesamt rund 1,5 Millarden DM kosten lassen. Das neue Auto soll nur in Mexiko gebaut und von hier aus in die ganze Welt exportiert werden. Bundeskanzler Kohl bezeichnete Mexikos Präsidenten bei einer Tischrede als ungewöhnlich offen und sympathisch, äußerte Bewunderung für die von ihm eingeschlagene Politik in den ersten 20 Monaten seiner Amtszeit. Zedillo hat Mexikos Wirtschaft in der schwersten Krisensituation seit über 60 Jahren übernommen und fährt seither einen harten Anpassungskurs mit hohen sozialen Kosten. Tags darauf, beim Frühstück mit deutschen und mexikanischen Unternehmern, mahnte Kohl, mehr auf den inneren Frieden im Lande zu achten. Der Abstand zwischen Arm und Reich im Land der Azteken ist so groß wie fast nirgendwo sonst. In der Forbes-Weltrangliste der US-Dollar-Milliardäre steht Mexiko auf Platz 5 – gleichzeitig aber leben hier 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze.
Luten Peer Leinhos

Rettet die Weltbank den Regenwald?

Satellitenbilder der jüngsten Erhebung zeigen deutlich, daß in einem Zeitraum von zwei Jahren (von Mitte 1992 bis Mitte 1994) 14.896 km² Regenwald zerstört wurden. Dies bedeutet einen Anstieg von immerhin 34 Prozent gegenüber dem Zeitraum 1990-1991. Insgesamt sind inzwischen 469.978 km² Primärwald vernichtet worden, was etwa 12 Prozent des Waldbestandes der Region entspricht. Diese von dem brasilianischen Regierungsinstitut INPE gelieferten Zahlen sind die offiziellen Angaben der Regierung, die in der Vergangenheit oft erheblich unter den Daten anderer Institutionen lagen.
Die Zahlen schlugen ein wie eine Bombe, hatte die brasilianische Regierung doch versucht, eine gewisse Entwarnung zu geben. Die immensen Entwaldungsraten von über 20.000 km² pro Jahr in den siebziger und achtziger Jahren hatten sich Anfang der neunziger Jahre fast halbiert. Zwar liegen die neuen Zahlen immer noch erheblich unter den alten Spitzenwerten, aber es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß eine Tendenz zu Minderung der Entwaldung stabilisiert worden ist. Im Gegenteil, die Kritiker, die in den niedrigeren Zahlen von 1989 -1999 eher die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sahen als eine Folge gezielter Politikbemühungen oder verbesserter Kontrollen, scheinen recht zu behalten.

Ungebremster Holzeinschlag

Ein vom brasilianischen Umweltministerium und der Weltbank herausgegebenes Papier zum Bonner Treffen zitiert die brasilianische Umweltbehörde IBAMA, die drei Hauptursachen in der erneuten Zunahme der Entwaldung sieht: den illegalen Holzeinschlag, die Ausweitung der Viehweiden und den Bau von Straßen. Dies ist eigentlich nichts Neues, allerdings hat sich in den letzten Jahren in Amazonien eine bedeutende und schwerwiegende Veränderung ergeben: Während vor noch etwa 10 Jahren die Auswirkungen des kommerziellen Holzeinschlages in der Region gering waren, hat sich dies bis heute drastisch geändert. Um es nur mit zwei Zahlen zu dokumentieren: Para, der wirtschaftlich bedeutendste Bundesstaat der Amazonasregion, exportierte 1988 Holz im Volumen von 492.000 Kubikmetern, 1992 waren es schon 922.500 Kubikmeter. In einem Zeitraum von 10 Jahren (1982-1992) hat sich das registrierte Volumen an eingeschlagenem Holz fast verdreifacht. Und selbst nach Regierungsangaben kommt nur ein zu vernachlässigender Anteil von weniger als 1 Prozent dieses Holzes aus nachhaltiger Nutzung.

Das Pilotprogramm – ein innovativer Ansatz in der Entwicklungspolitik?

Es fehlt also nicht an guten Gründen für konkrete Aktionen zum Schutz der brasilianischen Regenwälder. Das Pilotprogramm, das während des G-7 Treffens 1990 in Houston, auf die Initiative Kohls hin, ins Leben gerufen wurde, wird inzwischen als das größte internationale Programm für nachhaltige Entwicklung angepriesen. Es beeindruckt dabei weniger durch die Summe der Geldmittel, denn 250 Millionen US$ für das gesamte brasilianische Amazonasgebiet sind letztendlich eher bescheiden. Dafür steht hinter dem Pilotprogramm eine geballte politische Kraft: Die G-7 (+EG) und die Weltbank vereint können gegenüber der brasilianischen Regierung natürlich eine große Verhandlungsmacht in die Waagschale werfen. Die G-7 Staaten fungieren dabei als Geldgeber (die Bundesregierung steuert etwa 2/3 der Gesamtsumme bei), während die Weltbank koordiniert. Die administrative Struktur des Pilotprogramms ist hochkomplex. Es vereinigt eine multilaterale Finanzierung über einen Regenwaldfond, in den die Geberstaaten einzahlen, mit sogenannten bilateral-assoziierten Projekten. Den innovativen Charakter des Programms macht jedoch nicht dieser eher problematische Komplexitätszuwachs aus, sondern folgende Merkmale:
– Das Programm verfolgt einen policy-Ansatz. Das heißt, daß im Mittelpunkt nicht konkrete Projekte (die es durchaus gibt) stehen sondern die Beeinflussung und Umformulierung der Politiken, die zur Vernichtung der Wälder führen.
– Das Programm bekennt sich zum Ideal einer nachhaltigen Entwicklung und setzt konkret das Ziel, eine Reduzierung der Entwaldungsrate zu erreichen. Mit der Unterschrift zu dem Programm hat sich auch die brasilianische Regierung diesem Oberziel verpflichtet.
– Nichtregierungsorganisationen und soziale Bewegungen sind in das Programm einbezogen. Zwei Unterprogramme beziehen sich direkt auf wichtige soziale Gruppen des Regenwaldes: das Programm zur Demarkierung von Indianergebieten und das Programm für die Einrichtung von Sammelreserven für Kautschukzapfer.
– Etwa 12 Prozent der Gesamtmittel sollen direkt an NGOs fließen, in sogenannte Demonstrativprojekte. In den anderen, den sogenannten strukturellen Programmen geht es zum Beispiel um die Stärkung der Landesumweltbehörden, um die Förderung von Forschungszentren und die Einrichtung von Naturparks. Bisher hat sich die Umsetzung dieser einzelnen Programmteile schwerfällig angelassen, aber in diesem Jahr ist der Mittelfluß doch einigermaßen in Gang gekommen.

Grenzen des Pilotprogramms

Entscheidendes Merkmal des Pilotprogramms soll die Einbeziehung der “Zivilgesellschaft” in Ausarbeitung und Umsetzung der einzelnen Programmteile sein. Die GTA (Grupo de Trabalho Amazônico, Arbeitsgruppe Amazonien), ein Zusammenschluß von NGOs, wurde eigens gegründet um die Begleitung des Pilotprogramms zu garantieren und umfaßt inzwischen über 300 Organisationen, von größeren Dachverbänden bis hin zu Basisgruppen. Und so waren in Bonn auch die NGOs vertreten. Die GTA durften drei Repräsentanten schicken: einen Vertreter der Kautschukzapfer, einen Indio (des Dachverbandes COIAB) und einen Vertreter der Organisation der traditionellen Fischer. Deutsche (Urgewald, Kobra) und internationale NGOs (WWF, Friends of the Earth) waren mit vier Personen vertreten. Angesichts der über 50 Regierungsvertreter, Unternehmer und Berater von internationalen Entwicklungsagenturen war die Präsenz von sieben Exemplaren der “Zivilgesellschaft” doch eher bescheiden. Aber immerhin hatten sowohl die deutschen wie auch die internationalen und brasilianischen NGOs (ein joint-venture von Friends of the Earth und GTA) Dokumente zum Stand des Pilotprogramms erarbeitet.
Bei beiden Dokumenten fällt zunächst auf, daß die Kritik an dem Pilotprogramm eher vorsichtig formuliert ist und von einer Zustimmung zu den Grundideen des Programms ausgeht. Tatsächlich sieht das Pilotprogramm vor, die Forderungen der indianischen Völker und der Kautschukzapfer umsetzen. Es geht also eher um die Garantie der Umsetzung, als darum grundsätzliche Kritik zu üben. Jenseits von Detaildiskussionen über einzelne Subprogramme ergibt sich die zentrale Fragestellung, ob das Pilotprogramm tatsächlich seinem policy-Ansatz gerecht werden kann.
Beide Dokumente stellen fest, daß die Realität von einer Kohärenz des Pilotprogramms mit anderen politischen und ökonomischen Interventionen in Amazonien weit entfernt ist. So hat die brasilianische Regierung mit dem Erlaß des Dekrets 1775 die Überprüfung aller Demarkierungen von Indianergebieten zugelassen und damit große Unsicherheit und Proteste provoziert. Zwar haben die zuständigen Behörden inzwischen fast alle Einsprüche zurückgewiesen, doch die rechtlich Lage von immerhin acht Indianergebieten (zwei davon fallen unter das Pilotprogramm) bleibt vorerst ungeklärt.

Letztendlich Erschließungspolitik

Ein großer Entwicklungplan (Brasil em Acçâo) von der Regierung FHC im August diese Jahres lanciert, sieht Investitionen im Infrastukturbereich von 54 Milliarden US$ bis 1998 vor. Von den insgesamt 42 Projekten entfallen sechs mit einem Volumen von 2.3 Millarden auf die Amazonasregion. Die Mittel sind dabei ausschließlich für Projekte der allertraditionellsten Art vorgesehen: Ausbau von Wasserstraßen, Bundesstraßen und der Energieversorgung. Amazonaspolitik wird so immer noch als Erschließungspolitik verstanden.
Die Infrastrukturprojekte im Regierungsprogramm bestätigen die Wahl von Integrationsachsen als regionale Entwikklungsstrategie. Auch die Sprache dieser Pläne betont das nachhaltige Wachstum in Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung (GTA /Friends of the Earth).

Mehr Macht für die Weltbank dank NGOs?

So fällt die Schlußfolgerung nicht schwer, daß das Pilotprogramm bisher nicht zu einem Schlüssel für ein grundsätzliche Umorientierung der brasilianischen Amazonaspolitik geworden ist. Eine andere Kritik findet zumindest Eingang in das Dokument der GTA und Friends of the Earth: Das Pilotprogramm behandelt Amazonien als großen Wald und reduziert damit eine komplexe soziale Realität auf eines ihrer (allerdings zentralen) Elemente. Damit bekommt das Programm einen starken naturschützerischen Akzent, der nur noch die sozialen Gruppen einschließt (indigene Völker und traditionelle Sammler), die vermeintlich leicht an Schutzkonzepte anzukoppeln sind. Weitgehend ausgegrenzt bleiben dabei die KleinbäuerInnen, die mit Abstand größte Gruppe auf dem Land. Ausgeblendet wird auch, daß in Amazonien, im Gegensatz zu allen Klisches, inzwischen fast 60 Prozent der Bevölkerung in Städten lebt.
Alle diese Kritiken gehen davon aus, daß das Pilotprogramm eher unzureichend als falsch ist. Tatsächlich hat das Pilotprogramm durch die Einbeziehung von Kautschukzapfern, Indios und zahlreichen NGOs einen Grad von Legitimität erreicht, der von außen schwer zu kritisieren ist. Und offensichtlich haben die beteiligten brasilianischen Gruppen wenig grundsätzliche Einwände hervorzubringen. Allerdings bleibt bis heute die Frage unbeantwortet, ob die Beteiligung der Zivilgesellschaft ein Programm legitimiert, das diese letztendlich nicht oder nur marginal beeinflussen kann, oder ob hier im Umfeld der internationalen Kooperation neue Handlungsspielräume eröffnet werden können, die tatsächlich Positionen stärken, die der Regenwaldvernichtung und der damit verbundenen Marginalisierung der traditionellen Bevölkerung Einhalt gebieten kann.
Bei aller Kritik im Einzelnen sehen die beteiligten brasilianischen Gruppen im Pilotprogramm doch einen Ansatz, der erfolgversprechend ist und dessen Umsetzung ernsthaft versucht werden sollte. Das Pilotprogramm steht dabei nicht allein, sondern auch andere Programme, die durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwikklungsbank koordiniert werden, haben inzwischen die Beteiligung auf ihre Fahnen geschrieben. Hier stellt sich natürlich die Frage, inwieweit NGOs dazu dienen, über eine fragmentierte Beteiligung an spezifischen Projekten, bei denen sich dann oft noch Beteiligung mit dem Empfang von Geldmitteln verknüpft, den internationalen Banken über ihre Legitimationskrise hinwegzuhelfen. Der Weltbank kann jedenfalls ein Unternehmen wie das Pilotprogramm, zu dem sie noch dazu keinen Pfennig beigesteuert hat, nur hochwillkommen sein, um ihre Öffnung hin zu Umweltbelangen zu demonstrieren.
Im Falle des Pilotprogramms gibt es aber noch einen besonderen Aspekt zu beachten. Sein Entstehen ist zum einen sicherlich eine Konsequenz der Kritik an zerstörerischen Projekten der internationalen Kooperation in Amazonien, zum anderen aber auch Ausdruck von Tendenzen, bestimmte Probleme als globale Aufgaben zu definieren. Das Pilotprogramm selbst nimmt in seiner offiziellen Begründung ausdrücklich auf zwei globale Aspekte der Regenwaldzerstörung Bezug: den Beitrag des Abbrennens des Regenwaldes zu den Kohlendioxyd Emissionen und die Verminderung der Artenvielfalt. Auch das bereits zitierte Papier von Weltbank und brasilianischem Umweltministerium stellt fest, daß die nachhaltige Entwicklung der Ökosysteme der tropischen Regenwälder Brasiliens eine globale Herausforderung ist.
Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal, daß Brasilien internationale Mittel bereitgestellt werden müßten, um Aufgaben zu lösen, die globale Aspekte beinhalten. Zum anderen aber bedeutet es auch, daß Definitionsmacht neu verteilt wird, weg von nationalen hin zu internationalen Instanzen. Für NGOs und soziale Bewegungen, die durch nationale Instanzen drangsaliert oder auch brutal unterdrückt werden, kann dies zunächst durchaus attraktiv erscheinen. Aber ist es dies auch auf lange Sicht? Oder laufen NGOs da nicht Gefahr, zum Spielball von Interessen zu werden, die sie gar nicht mehr kontrollieren können?
Nur scheint es, daß dies eher eine Frage langfristiger Perspektiven ist. Die angeführte Kritik, daß das Pilotprogramm bisher seinem policy-Ansatz nicht gerecht wird, weist eher in eine andere Richtung: Nicht daß die Weltbank enorme Definitionsmacht in Amazonien gewinnt, sondern daß es – trotz Weltbank und G-7 – ein marginales Programm bleibt. Dann wäre also weniger ein neues hegemoniales Projekt zu fürchten als (postmoderne) Beliebigkeit nach dem Modell des Supermarktes: Der ist zwar bei weitem kein ökologisches Projekt, bietet aber doch auch inzwischen Ökowaschpulver und Müsli aus biologisch-organischem Anbau an. Das Pilotprogramm diene dann wohl der Befriedigung der Umwelt-, Regenwald- und Indianerlobby, die sich zwar lautstark artikuliert, aber auf lange Sicht doch immer marginal geblieben ist.
Das Bonner Treffen jedenfalls belegt eher die Marginalitätsthese. Die brasilianische Seite (Regierung wie NGOs) hatte offensichtlich gehofft, daß in Bonn eine zweite Phase des Pilotprogramms eingeläutet werden könnte, bei der dann eine ursprünglich in Aussicht gestellte Milliardensumme ins Spiel käme. Stattdesen bekräftigten lediglich Deutschland und die EU die Außsicht auf eine zweite Phase. Und die Bundesregierung zog es vor, statt eine bereits angekündigte Aufstockung der Gelder für die NGO-Projekte zu ratifizieren, auf eine gleichere Verteilung der Finanzierungslasten unter den Geberländern zu pochen. Auch hier ließ anscheinend Waigel grüssen.

KASTEN:
Die Jahrestagung des Pilotprogramms fand in diesem Jahr vom 9. bis 12. September in Bonn statt. Um Einfluß auf diese Konferenz und den entsprechenden politischen Prozeß zu nehmen wurde von deutschen NGOs eine öffentliche Erlärung zum Pilotprogramm und der Politik, in die es eingebunden ist, abgegeben. Auch die LN schloß sich dieser Erklärung an.
Aus der Erklärung deutscher NGOs zur Teilnehmerkonferenz des Pilotprogramms:
(…)Wenn die G7 und andere Industrieländer über Sachstand und Perspektiven des “Pilotprogramms zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien” beraten, können sie ihre Verantwortung für die Folgen ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen nicht ignorieren. Für den Erfolg ist nicht nur die Kohärenz der brasilianischen Politik erforderlich, sondern auch die Kohärenz der Außenwirtschaftspolitik der Industrieländer mit den Zielen des Pilotprogramms. Über sechs Jahre nach seiner Initiierung besteht die Herausforderung an die Industrieländer darin, ihre außenwirtschaftliche Verantwortung anzuerkennen und praktische Schritte zu unternehmen, um Ziele des Pilotprogramms durch das Handeln aller relevanten Ressorts zu unterstützen.
Zur Teilnehmertagung 1996 stellt sich dementsprechend eine Reihe aktueller Herausforderungen an die Träger des Programms:
– Die Teilnehmer sollen den dringendsten sozialen und ökologischen Anliegen, darunter an erster Stelle der Schutz der indigenen Völker, in der Programmdurchführung einen höheren Stellenwert geben und diese zu einem beschleunigten Abschluß bringen.
– Die Teilnehmer sollen die politischen, finanziellen und zeitlichen Aktivitäten auf die öko-sozialen Kernpunkte dieses Programms konzentrieren, damit es den Charakter eines echten Pilotprogramms gewinnt.
– Die Industrieländer sollen eine praxisorientierte Überprüfung ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem Ziel auf den Weg bringen, die dem Pilotprogramm entgegenwirkende Einflüsse zu korrigieren und solche Außenbeziehungen zu unterstützen, die den Zielen des Pilotprogramms förderlich sind.
– Nach der langen Stagnation in ihrer Indianerpolitik soll die brasilianische Regierung die Demarkierung und den nachhaltigen Schutz der Indianergebiete zügig voranbringen und die juristischen und politischen Rahmenbedingungen entsprechend den Forderungen der betroffenen Indianer gestalten. Zudem soll die brasilianische Regierung weitere deutliche Schritte in Richtung auf Tropenwaldschutz und fort von riskanten Erschließungsstrategien unternehmen.
Der Bedrohung der brasilianischen Tropenwälder kann nur mit einem strategischen, kohärenten Entwurf begegnet werden, der die hier skizzierten Elemente integriert. In dem Maße, wie die Teilnehmer des Programms entsprechende Schritte unternehmen, kann das Pilotprogramm zu einem wichtigen Beitrag für eine zukunftsfähige Entwicklung werden.

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