“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

Programm der Superreichen

Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wa­chsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vor­herrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Super­macht hat sich Herrschaftsgebiete ge­schaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahr­zehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vie­len Produktgebieten verloren, zum Bei­spiel im Automobil- und Elektro­nik­be­reich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deu­tsch­land.
Der Rückzug der US-Truppen aus Eu­ropa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bünd­nisse den US-amerikanischen Politi­kern nicht länger als “wirt­schaftspolitischer” Hebel dient. Dro­hende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-ameri­kanische Exporteure und Impor­teure als auch die US-KosumentInnen ins­besondere der nie­drigen Einkom­mens­schichten treffen kön­nen. Der kon­genialste und am besten mit histo­rischen US-Strategien (Monroe-Dok­trin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Inner­halb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patentein­künfte aus Lateiname­rika herausziehen. Von diesem Stand­punkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strate­gische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die ne­gativen Trans­fers hinsichtlich anderer Regi­onen zu kompensieren. Die Handels­bilanz­überschüsse mit den latein­amerikani­schen Ländern dienen zur Kompensa­tion der negativen Handels­bilanzen bezüglich Asiens und Westeuro­pas. Die kostengünstige Pro­duk­tion in La­teinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikani­schen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbe­werbern zu konkur­rieren.
In diesem Zusammenhang war die Li­beralisierung in Lateinamerika not­wendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zu­gang zu Märkten und Ein­künften zu lie­fern und somit wettbe­werbsfähig zu blei­ben. In diesem Sinne ist die Liberalisie­rung eng mit den glo­balen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Po­litik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und konti­nentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-ame­rikanische Of­fizielle verfolgt: Lateiname­rikanische Diktatoren, die die Liberalisie­rung för­derten, wurden finanziert und unter­stützt, ein Übergang zu demokrati­schen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Li­beralisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerika­nischen globalen Politikstrate­gie: Inso­weit, als Liberalisierung funk­tioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Trans­nationalen Konzerne (TNC) und Ban­ken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikani­sche Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Be­rück­sichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Ver­handlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) ba­siert auf der Tatsache, daß die Ein­künfte aus Pa­tenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 belie­fen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Be­trug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurch­schnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Mil­lionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahres­durchschnitt 189,8 Millionen US-Dol­lar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Pa­tent- und Lizenzeinkünfte ziehen Ein­kom­men ab, ohne daß Wertschöpfung statt­findet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Inve­stitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen ver­gleichen. Zwischen 1961 und 1971 betru­gen die gesamten Pa­tent- und Lizenzein­künfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvesti­tionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzein­künften zu den Gewinnen aus Direk­tinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Di­rektinvestitionen in Lateiname­rika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Li­zenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direk­tinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikani­schen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zu­rück. Dies war die Boomphase der latein­amerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerika­nischen Gesellschaften von der er­sten Liberalisierungswelle und dem star­ken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinameri­kanischen Marktes. Die Konsumaus­gaben gingen zu­rück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kana­lisierung der Ressourcen in devisener­zeugende Sektoren, um den Schulden­dienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Bezie­hung zwischen Zinszahlungen und Ge­winn­rück­füh­­rungen: Sofern die Banken große Sum­men an Zins- und Til­gungszahlungen her­aus­ziehen, fallen die Profite aus den produktiven Inve­stitionen. Nichts­desto­trotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen He­bel, um die Privati­sierung von öffentli­chen Unternehmen zu puschen. Viele die­ser Firmen wurden von US-amerikani­schen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirt­schaft­liche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-ameri­kanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zu­rücktransferiert. Gegen­über den schlech­ten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Ver­besserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hat­ten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell nega­tive Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersu­chungszeitraum die Hauptquelle bei Pri­vaterträgen aus überseeischen Wirt­schaftsaktivitäten. Die wachsende Libera­lisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren pri­vater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schul­denlasten in Lateiname­rika. Spiralen­förmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zah­lungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-ame­ri­kanischen Handelsdefizit gegen­über Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateiname­rika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortge­schrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zins­zahlungen von Latein­amerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transfe­riert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negati­ven Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Export­nachfrage des Subkon­tinents. Hinge­gen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die De­fizite gegenüber Japan und Deutsch­land zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge stei­gender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Pro­duktivvermögen. Liberale Wirt­schafts­politik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentver­trägen erleichterte. Pri­vatisierung ermög­lichte den Ausverkauf öffentlicher Unter­nehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zei­gen ein insgesamt spektakuläres An­steigen im Zuge der Vertiefung der Li­beralisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlun­gen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnah­men zum Kernstück der US-Politik wur­den und dies ist ein Grund, warum US-Poli­tikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militär­putsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikani­schen Handelsüberschuß gegenüber La­tein­amerika untersuchen, fügen wir eine an­dere Dimension der asymetri­schen Bezie­hungen zwischen den USA und Latein­amerika hinzu. Eine Dimen­sion, die für die Unterstützung von “Freihandels­abkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechzi­ger Jahren bis zum Beginn der Schul­denkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substan­tiellen Handels­überschuß gegenüber La­teinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Mil­lionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschla­gen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durch­schnittliche jährli­che Defizit in der Pe­riode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der öko­nomischen Er­holung in Lateinamerika be­gannen die USA erneut einen Handels­bilanzüber­schuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliar­den US-Dollar. Der Handels­überschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen san­ken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Im­porte infolge der lateinamerikanischen “Export­strategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Ein­kommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu ge­währleisten. Nichts­destotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpas­sungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateiname­rikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorange­gangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Kon­sequenzen der vertieften Liberali­sierung ein Ansteigen des US-ameri­kanischen Handelsüberschusses über seine histori­schen Höchstmarken ist. Während einer­seits die Schuldenkrise und die Struktu­ranpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateiname­rika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 ver­gleichen, sehen wir, daß die vorteil­haften Bilanzen gegenüber Lateiname­rika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Latein­amerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirt­schaft­lichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber La­teinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegen­über Ja­pan und deckt kaum das Defi­zit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-ame­rikanischen Einkommens aus Latein­amerika addieren (Rente, Handelsge­winn, Unternehmensprofit) und mit den Han­delsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verste­hen wir die strategische Bedeutung Lateinameri­kas für die US-amerikani­sche Gobalpoli­tik. Lateinamerikas Bei­trag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamt­einkünfte aus Handel, Investitionen, Dar­lehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rück­fluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliar­den US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Han­delsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateiname­rika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Ein­kommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärti­gen Jahr­zehnt fortzusetzen. Die Liberali­sierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich ver­schlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthan­delspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung La­teinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politik­maßnahmen zu einer tiefen Po­larisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften ge­führt und eine neue Klasse von super­reichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungs­prozesses: 1987 gab es in Lateiname­rika weniger als sechs Milliar­däre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die mei­sten der Superreichen waren vor der Libe­ralisierung Millionäre. Sie wurden Mil­liardäre durch den Ausverkauf der öf­fentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem aus­gedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlpro­zesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Con­certación, und in Argentinien, Vene­zuela und Kolumbien durch die tradi­tionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minen­konzessionen, Telekommunikationssy­steme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohl­stands auf eine kleine Gruppe von Fami­lien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Oberge­schoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung pro­fitiert – zu Lasten der Bevölkerungs­mehrheit – sondern wa­ren dank ihrer Verbindungen zu den libe­ralen Regierungen die größten Unterstüt­zer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermö­genskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Pro­dukt der “neoliberalen Konterrevolu­tion.” Im Zeit­raum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie er­faßt die Verflechtungen zwischen den super­reichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzie­rungsabkommen mitein­ander verbun­den. Die Integration der Su­perreichen in den Weltmarkt und ihre Fä­higkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu re­gulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subven­tioniert, ist zur auffälligsten Erschei­nung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Su­perreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neo­liberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliar­däre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Pro­fiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesund­heits- und Bildungswesen liegt in der Umver­teilung der öffentlichen Res­sourcen zum Privatsektor und inner­halb des Privatsek­tors zu den sehr Reichen. “Neo­liberalismus” ist in sei­ner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transfe­riert. Die Armen werden dem Überlebens­kampf überlassen: Mit marginalen Kleinst­un­ternehmen, mit informeller Be­schäfti­gung und mit Almosen aus Pro­jekten, die von Nicht-Regierungs-Orga­nisa­tionen gesponsert werden, versu­chen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgear­beitet wurde, um Lateinameri­kas Inte­gration in den Weltmarkt zu erleich­tern. Noch ist sie ein unvermeidli­ches Produkt eines immanenten “Glob­alisierungsprozesses”. Eher ist Libe­ra­lisierung ein Produkt von US-amerika­nischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesell­schaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Ka­pitalisten verbunden sind. Es sind spe­zifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie dik­tieren. In die­sem Sinne muß die Um­kehrung der Liberalisierung auf der natio­nalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

NAFTA-Fieber

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Die PT nach der Wahlniederlage

LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müs­sen uns über die heu­tige Si­tu­ation in einem größeren Kontext klar­werden. Sie ist ge­kenn­zeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewe­gungen, auf der anderen Seite durch die Kon­solidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bour­geoisie. Angesichts dieser Situation wach­sen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT be­zeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozial­demokraten zu nennen, das wäre eine Un­gerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stär­kung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die blo­ße Teilnahme an der Regierung, die Sich­erung der Re­gier­barkeit. Natürlich gibt es an­dere Kräfte in der PT. Aber das ist die herr­schende Logik, die einen Konser­vativis­mus produziert, der nur noch die Regie­rungsbeteiligung im Auge hat. In die­ser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung auto­no­mer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt ge­sehen werden? Auch eine Regierungs­beteiligung kann dazu beitragen, die au­tonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Admini­strationen der PT, die sich über “con­selhos populares” (Volksräte) ver­ankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares ver­wirklicht worden? Die PT hat sich dar­auf ver­legt, nur eine gute Verwaltung ma­chen zu wollen. Aber das ist nur das ab­solute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Ver­wal­tung. Gut, Cristovam Buarque, der neu ge­wählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das un­ter­scheidet die PT nicht von irgendeiner demo­kratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirk­lich in die Gefüge der Macht eingreift und al­ter­native politische Erfahrungen er­möglicht. Ich meine nicht, daß eine Re­gie­rungsbeteiligung per se die Stärkung au­to­no­mer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirk­lichkeit nicht für alle regieren, son­dern sich den dominierenden Interessen unter­ordnen. Ich stehe auch den Allianzen ab­lehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundes­staaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalver­waltungen gemacht hat, sind doch viel­leicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Re­formisten sich durchgesetzt haben, son­dern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermei­ster/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle wer­de ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sich­ern, im zweiten, mit dieser Herr­schaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen In­stitutionen in Kon­frontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb die­ser In­sti­tu­tionen. Eine Partei, die Ände­rungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse för­dern. Wenn aber die Frage der Regier­barkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Par­tei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demo­kratische Partei mit sozialem Anlie­gen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der auto­nomen Subjekte in den sozialen Bewe­gungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbun­den. Wer heute entscheidet, das ist der Ap­parat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regie­rungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativi­stischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forde­rungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebig­keit, in der einfach ein Menü für alle Ge­schmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den be­treffenden Teil des Programms genom­men, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zu­sam­men­geführt worden? Den ent­schei­den­den Einfluß hatten einige In­tel­lek­tuelle, die oftmals keine historischen Ver­bin­dungen mit den sozialen Bewegun­gen ha­ben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Ge­sund­heitsversorgung, die Bildung zu ver­bes­sern. Das sagen doch alle. Ein Pro­gramm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jet­zige Programm will die Regierungsfä­higkeit untermauern und nicht eine Dy­namik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es ge­ben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung auf­grund der Vorherrschaft der institutionali­sierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die For­mierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal ha­ben selbst die PT-Mitglieder die Kampa­gne nicht als ihre angesehen. Schwerwie­gend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Nie­derlage. Politisch wurde die PT massa­kriert. Sie konnte kein alternatives politi­sches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundle­gend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundle­gende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Macht­strukturen im Weltmarkt in Erwä­gung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Par­teitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisie­rung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozi­aler Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Si­cher­heitsfragen in ihren Regierungen er­nannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Zie­le werden aufgegeben. Das ist die Kon­sequenz der Logik der Regierungsfä­higkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwind­sucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerk­schaften und die professionalisierten Po­litiker. Schwierig ist es aber, eine funk­tionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der po­litischen Repräsentation, der Stellvertre­terpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Orga­nisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsen­tation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzu­haben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergan­genen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Be­wegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialde­mokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewe­gungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwi­schen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, al­len voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am An­fang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie be­haupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen he­gemonialen Blocks? Sich an der Regie­rung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf ge­gen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokrati­scher Forderungen, wie der nach Direkt­wahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neo­liberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokra­tie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue histo­rische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokrati­schen Kampfes.

Teurer Atomstrom für Rio de Janeiro

Baubeginn für die Frucht des deutsch-brasilianischen Atomvertrags von 1975 war 1983. Dann begann eine scheinbar endlose Geschichte von Verzögerungen, Pannen und Kostenexplosionen. Waren zunächst 1,3 Milliarden US-Dollar veran­schlagt, um Brasilien sein zweites Atom­kraftwerk zu bescheren, so sind es nun 6 Milliarden US-Dollar. Von den bisher be­reits ausgegebenen 4,6 Milliarden US-Dollar entfielen 1,7 Milliarden auf Zins­zahlungen. Daß die teure Bauruine jetzt doch noch zu Ende gebaut werden soll, begründet die Regierung mit den Kosten, die Abriß oder Umwidmung verursachen würden: Die seien genau so hoch wie die Fertigstellung. Die Finanzierung der feh­lenden 1,3 Milliarden US-Dollar wurde unter anderem dadurch gesichert, daß ein Kredit eines deutschen Banken­kon­sor­tiums unter Führung der Dresdner Bank ver­geben wurde. Dieser war ursprünglich für das geplante Atom­kraftwerk Angra3 vorgesehen und wurde nun für den Wei­terbau von Angra2 um­gewidmet. Für die Fertigstellung hatten sich die wie­dererstarkte Atomlobby und Unter­nehmer aus Rio eingesetzt, die in den nächsten Jahren Stromknappheit fürchten. Nach der Fertigstellung von Angra2 wird der Bun­desstaat Rio de Janeiro 30 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken be­ziehen.
Umweltgruppen, allen voran Green­peace hatten im letzten Jahr versucht, die drohende Fertigstellung von Angra2 zu verhindern. Aber in der aktuellen po­litischen Diskussion, geprägt von neoli­be­raler Wende, Inflationsbekämp­fung und Gewalt, blieb die Frage der Atomkraft nur ein Randthema, das ledig­lich eine Hand von SpezialistInnen be­wegt. Hinzu kommt, daß in der Linken keineswegs Ei­nigkeit zu diesem Thema herrscht. In der PT gibt es starke Strö­mungen, die mit na­tionalistischen Argu­menten die Kern­kraftoption für Brasilien verteidigen. Auch der PT-Bürgermeister von Angra hat sich keineswegs als Vor­kämpfer gegen die Kraftwerke profiliert.
Im übrigen ist Angra ein gutes Beispiel für den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis im neoliberalen Diskurs. Eine Megawattstunde Strom von Angra2 soll nach bisherigen Berechnungen 120 US-Dollar kosten, dreimal mehr als die durchschnittlichen Kosten von 40 US-Dollar. Da Furnas aber nur den normalen Strompreis berechnen kann, wird der Rest von der Regierung übernommen. Für die Privatisierung von Angra2 hätten sich wohl kaum Kandidaten gefunden.
Die Projekte in Angra überbieten noch den normalen Wahnsinn der Atomenergie. Sie sind an einer der schönsten Küsten Brasiliens errichtet, mitten in einer Region voller kleiner Buchten und Inseln mit un­zähligen Traumstränden. Bisher gehen die PlanerInnen wohl zu Recht davon aus, daß den meisten TouristInnen die Nähe zum Atomkraftwerk herzlich gleichgültig ist. Aber ein Unfall schon weit unter der Schwelle eines GAUs kann eine solche Einstellung schnell ändern. Zudem haben die PlanerInnen die Kraftwerke an einer erdbebengefährdeten Stelle erbaut.
Für eingefleischte RealpoltikerInnen kann aber doch eine Erfolgsbilanz gezo­gen werden: Ursprünglich waren im deutsch-brasilianischen Atomvertrag acht Kraftwerke vorgesehen. Die Umwidmung der Kredite von Angra3 auf Angra2 deutet darauf hin, daß selbst die BetreiberInnen zur Zeit keine Möglichkeiten sehen, wei­tere Atomkraftwerke in Angriff zu neh­men. Aber immerhin, mit Angra2 halten sie die Atomenergieoption für Brasilien offen. Auch die AtomkraftgegnerInnen haben nicht ganz aufgegeben. Zur Zeit wird sondiert, wie mit juristischen Mitteln die Inbetriebnahme vielleicht doch noch verhindert werden kann. So entspricht der Katastrophenplan nicht den atomrechtli­chen Anforderungen der brasilianischen Gesetzgebung. Ein funktionierender Kata­strophenplan, so sagen die KritikerInnen, ist aber praktisch unmöglich.

(Zahlenangaben nach Jornal do Brasil vom 13.12.1994)

Wasmosy in Bedrängnis

In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Par­teiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, ver­trieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: De­mokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes ge­wählt, der Ingenieur Juan Carlos Was­mosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenos­sen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrie­ben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Stau­dammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich un­glaub­würdig, wenn es um die Demokrati­sierung des Staates und die Reform des Jus­tiz­wesens geht. Wasmosy ist sicherlich der fal­sche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lip­pen­bekenntnisse verhallen un­be­ach­tet.
Positive Veränderungen gibt es den­noch: Neben der Justiz- und Verfassungs­reform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogen­handel ein Thema: Dutzende von kokain­beladenen Flugzeugen, die von den An­denländern nach Rio und Sâo Paulo un­terwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transak­tionen unermeßliche Reichtümer ange­häuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten be­wacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständli­cherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Trans­formation der ungleichen paraguayi­schen Gesellschaft wird von vielen wis­sentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staats­betriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöff­net. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Brutto­sozialpodukt der vier Länder nur ein Pro­zent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkrimi­nalisierung des Schmuggels und zur Ver­ringerung des Autodiebstahls in den Mit­gliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich ver­antwortlich war, und der generalstabs­mäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die in­dustrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industri­eller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Reali­tät nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen kon­stant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen ver­unsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maß­stäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermorde­ten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu sei­nem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tra­dition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internatio­nalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.

Kasten:

Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Süd­amerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, be­sonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhen­unterschiedes zu ermögli­chen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. An­scheinend waren tau­sende Surubís, Dorados und andere Tropen­fische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Ein­weihung des Staudam­mes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Drei­zehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insge­samt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, er­wachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der be­reits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Ver­trag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich ge­lassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung sol­cher ge­waltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Auf­stauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinander­gebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhun­derts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vor­ausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauch­bar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies frü­her, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leis­hmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeb­lich schön­sten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayi­schen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Men­schen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Para­guay umge­siedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encar­nación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlun­gen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorge­gangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbe­zahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohne­hin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit sei­nen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Para­guay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatrioti­schen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wun­der der hydro­elektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staats­mann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fer­tigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen bei­den Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies

Die Seifenblase ist geplatzt

Salinas de Gortari, der erst im Dezem­ber das Prä­sidentenamt an Zedillo ab­gegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem frü­heren Zeitpunkt hätte ab­werten sollen. Seine Re­gierung habe jedoch im Vor­feld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgrün­den nicht von ihrer Wechselkurs­politik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezem­ber immer noch ihre öko­nomi­sche Er­folgsbilanz, die sich eben­falls auf Stabilität gründete: Geringe In­fla­tion, die allerdings nur wegen eines immer größer werden­den Kapitalbilanz­defizites möglich war, machte die Staatspartei, im Be­wußtsein der Wähler, zum einzigen Ga­ranten der Stabilität und sicherte ihr bei den Prä­sident­schaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN wer­fen dem Ex-Präsidenten Salinas in­zwi­schen persönliche Be­reiche­rung vor. Doch die USA, de­ren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbe­schränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne ent­sprechende Peso­abwertungen lobte, för­dern die Kandida­tur Salinas zum Vorsit­zenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welt­handelsorganisation) wei­terhin. Sa­linas zeige her­vorragende Führungs­quali­täten, erklärte US-Handels­minister Ron Brown. Der ve­nezo­lan­ische Wirtschafts­wis­sen­schaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei be­kannt ge­wesen, daß der We­chselkurs des Peso kor­rigiert werden mußte. Die Re­gierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomi­schen Daten gut nach au­ßen habe darstellen können. Diese Seifen­blase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wie­der einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schock­programm Zedillos wird na­türlich vom In­ternationalen Wäh­rungsfond (IWF) unter­stützt, in der Be­völkerung dürfte der Rückhalt aller­dings nicht groß sein. Im Notstands­programm sind in­nerhalb der nächsten zwei Jahre le­diglich Lohnsteige­rungen von sieben Pro­zent vorgesehen. Die Unter­nehmen konn­ten nur zu dem Ver­sprechen gebracht werden, die Preise nicht “un­gerechtfertigt” zu erhö­hen. Dieses “Ab­kom­men für die Einheit”, das Anfang Januar von der Re­gierung mit dem Gewerk­schaftsdach­verband und den Unternehmen aus­gehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vor­gesehen, die Staats­aus­gaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu ver­hin­dern.
Doch inzwischen meldete die Gewerk­schaft der Elek­trizitätsarbeiter den An­spruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Ange­stellten der staatlichen Presseagentur Notimex ver­langen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Natio­nale Kammer der Weiter­ver­arbei­tenden Industrie (Canacintra), die 85 Pro­zent aller industriel­len Ar­beitsplätze in Mexi­ko reprä­sentiert, for­derte ein sechs­monatiges Schuldenmo­ra­torium und die Stundung von Steuerrückständen. Außer­dem forderte der Ver­band Hilfe für Un­ternehmen, die vor der Ab­wertung Kre­dite bei ausländischen Ban­ken auf­genommen hatten. Alle Importprodukte sind we­sent­lich teurer ge­worden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölge­sellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungs­vertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu pri­vatisieren, wächst. Immerhin war die mexi­kanische Regie­rung erst­mals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu ver­wenden. Denn die Kapital­flucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeb­lich bis zu zehn Milli­arden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko ge­worben werden. Zwar sind diese Summen überwie­gend im nicht­produktiven Bereich ein­gesetzt worden, denn Spekulation ver­spricht höhere Gewinne, doch die Siche­rung ausländischer Ka­pitalanlagen in Me­xiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikani­schen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vor­züge des Standortes Mexiko. Enri­que Vilatela, Präsident der Banco Na­cional de Co­mercio Ex­terior und Leiter der vom mexikanischen Fi­nanz­mi­nis­terium nach Europa entsandten Dele­ga­tion, ver­kündete in Frankfurt, daß über kon­krete Finanz­arrange­ments nicht ge­sprochen worden sei. Doch mit der Deut­schen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, be­teiligten sich zwei deutsche Großban­ken an einem Stüt­zungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über des­sen Moda­li­tä­ten nichts be­kannt wurde und der Teil ei­nes 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind ins­gesamt 30 inter­na­tionale Geldinsti­tute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kre­dit­bürg­schaften von bis zu 40 Mil­liarden Dollar bereitstellen, um Mexi­kos kurz­fristige Zahlungs­verpflichtungen auf einen längeren Zeitraum um­schulden zu können.
Durch diese offene Un­ter­stützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Pro­zent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dol­lar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Auto­produktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexi­ka­nische Inlands­nachfrage zusammen­ge­brochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Ar­beitsrechte Halb­fertigpro­dukte aus den USA zusam­mengefügt und wieder in die USA re-im­portiert. Jede Lohn­senkung erhöht die Pro­fite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexi­kani­schen Krise auf ganz La­teinamerika ist wäh­renddes­sen un­über­sehbar. Mexiko als eines der größ­ten und ent­wickeltsten Länder des Sub­kontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbun­den ist, symboli­sierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzar­beit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorüber­gehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gott­schalk, betonte dagegen die Vorteile der Peso­abwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnko­sten “nicht un­bedingt wett­bewerbs­fähig” gewesen. Die Krise verbil­ligt die ar­beits­intensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nord­grenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf die­se Weise den ge­samten Kontinent sta­bili­sieren wollen, be­ginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neuge­schaffene Wäh­rung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird ab­gewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Bör­senkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent ge­fallen. Ähnliches gilt für den Nach­barstaat Ar­gentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinneh­men. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Aus­wei­tung des Freihandelsab­kommens NAFTA auf den ge­samten Kontinent auf Schwie­rigkeiten stoßen. Der extrem un­gleich verteilte Reichtum in Lateiname­rika erscheint zwar in den Han­delsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabi­lität der Wirtschaftsent­wicklung gefährden.

Kasten:

Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

Nein zur Gewalt gegen Frauen

Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) kon­statiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Ar­mutsgrenze leben, beobachten Menschen­rechts- und Frauenorganisationen gleich­zeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Dik­tatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Aus­einandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herr­schende politische und ökonomi­sche Sy­stem. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schla­gen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivi­stinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, er­mordet und zerstückelt oder – genauso sensatio­nalistisch – vermarktet als strahlende Ge­winnerin eines regiona­len, nationalen oder weltweiten Schön­heitswettbewerbes. We­der die Gewalt noch die Misswahlen ken­nen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der sel­ben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltri­ges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldun­gen nicht. Ein für Zen­tralamerika ein­maliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weibli­chen Polizistinnen besetzt ist, re­gistriert nur einen Bruchteil der Ge­walttaten, die in der Hauptstadt be­gangen werden. Und obwohl viele an­dere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzen­tren wenden, ist die Zahl der tatsäch­lichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusam­mengeschlossen. Das Netz ge­hört damit zu den wenigen Bewegun­gen Nicaraguas, die noch nicht von in­neren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauen­gesundheitszentren von Si Mu­jer und Ixchen, die Stiftungen Xochi­quetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzen­tren von AMNLAE, der sandinisti­schen Frau­enorganisation, die bisher mit den unab­hängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewalti­gungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zu­nimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden kön­nen und daß sie dieses Unrecht nicht still­schweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Er­folg unserer Kampagne”, so Paola.

Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffent­licht, die kostenlos landesweit mit Aufla­gen von über 50 000 Exem­plaren verteilt wurden. In der leicht verständlich ge­schriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotio­naler, körperlicher und sexueller Ge­walt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtli­che Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwar­tet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch im­mer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chan­cen, dorthin wieder zu­rückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinameri­kas, ille­gal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetz­buch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhand­lungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Ver­urteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Ju­gendliche beiderlei Geschlechts und zei­gen, wie Gewalt­strukturen entstehen und wie sie abge­baut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bil­dungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publika­tionen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Ein­zelpersonen als auch von Gruppen ge­nutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zu­sammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominika­nischen Republik und Venezuela bei der General­versammlung der latein­amerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionie­rung und Ver­nichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfas­sende Konvention bietet die rechtli­che Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugun­sten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Ge­waltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäu­sern und psychologischen Beratungs­stellen, die Anstellung speziell ge­schulten Personals in den Justizappa­raten, sowie die Bereitstellung staatli­cher Mittel zur Zahlung von Wieder­gutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Par­lament ratifiziert und in die Praxis umge­setzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Ge­sundheitspolitik seit der Weltbevölke­rungskonferenz vom Opus-Dei-Mit­glied und Erziehungsminister Hum­berto Belli diktiert wird, gerät da­durch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, da­her brauchen wir die 40 000 Unterschrif­ten”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.

Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image

Elói Pietá referierte im Berliner For­schungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatli­cher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Tot­schlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mit­glied zahlreicher Ausschüsse zur Untersu­chung von Massakern und Folter in Brasi­lien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offen­sichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikani­schen Land besondere Ausmaße ange­nommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasiliani­schen Gefängnissen ist die soziale Unge­rechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Ein­kommensdelikten”, das ist die erste Bi­lanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich da­bei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 geset­zeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Un­terdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist da­gegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vor­behaltlos hinter der Militarisierung der in­neren Sicherheit standen, hinter den ge­schaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militä­risch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Ge­sellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Kon­zepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprü­che des Landes in einen Fall von Krimi­nologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtre­gierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elabo­rierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Ar­mee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialein­heiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidri­gen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wur­den be­sondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politi­schen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Konti­nuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklet­tert, sie befinden sich heute in der Kom­mando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Me­dien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Ver­antwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Be­standteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekon­struktion – ,als sie von den Maschinenge­wehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getrof­fen wurden. Verletzte wurden anschlies­send exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im fol­genden Jahr 1993 die Zahl der gesetzes­widrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Re­gierung will,” so Pietá, “kann sie die Hin­richtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Men­schenrechtskampagnen gegen die geset­zeswidrigen Hinrichtungen und Folter­praktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einhei­ten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogen­handel. Konkurrenzkämpfe unter Drogen­kartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg ter­ritorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Ar­mee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Dro­genhandel sichtbar weiter. Die Profit­strukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz ver­bindet Militär, Geheimdienste und Poli­zeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinier­ten. Heute heißt dieses Zentrum in Anleh­nung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidi­gung” nun “Operationszentrum zur Inne­ren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheim­dienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaff­neten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum ange­kündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerIn­nen der Armensiedlungen von wesentli­chen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durch­suchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort blei­ben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Be­reiche der Gesellschaft ausdehnen. In je­der brasilianischen Großstadt gibt es Fa­velas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”

Was bleibt von den Intellektuellen?

Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz ver­loren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürz­lich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet be­reits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zu­kunft “die Menschen blind handeln wer­den.” Wallerstein ist gewiß nicht der Ein­zige, der meint, die Gegenwart sei verwir­rend und die Zukunft unvorhersehbar. In La­teinamerika tragen Jugendliche aus Rand­gruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsi­cherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirkli­chung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Domi­nikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoi­schen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industriali­sierung An­fang dieses Jahrhunderts ab­lehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewe­gungen in den letzten Jahren. Die utopi­sche Zukunftsvision ist jedoch ver­schwunden. Wenn es überhaupt eine Vor­stellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruani­schen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozial­demo­kratischen Form der “Utopía Desar­ma­da” des mexikani­schen Politik­wissen­schaft­lers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer lite­rarisch gebildeten Intelligenz aufrechter­halten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kriti­sches Bewußtsein der Gesellschaft agier­ten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, son­dern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apo­stel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Got­tes”. Dieses Ansehen muß im Zusammen­hang von Gesellschaften mit einer gerin­gen Lesefähigkeit verstan­den werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Haupt­akteure auf der öffent­lichen Bühne hervor, sondern auch – zu­mindest in der öffentli­chen Wahrneh­mung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Verände­rung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch poli­tischer Bedeutung für die lateinamerikani­sche Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemi­sphäre mitgestaltet. In den späten sechzi­ger Jahren wurde die Definition von re­volutionärem Schreiben immer enger ge­faßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Pa­dilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unter­stützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der San­dinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zen­tralamerika spiegeln auch die traumati­schen Nachwirkungen repressiver Militär­regierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologi­sche Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentli­chen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Vi­deos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika ver­spürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrän­gung wird von der wachsenden Pri­vatisierung der Kultur noch verschärft. Zuneh­mend werden kulturelle Institutio­nen wie Galerien, Musikunternehmen und Fern­sehkanäle von Privatunternehmern ge­führt. Sogar die nationalen Universitä­ten, traditionell Zentren politischer Akti­vitäten, konkurrieren heute mit un­zähligen privaten Universitäten, die in der Mehr­zahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernseh­magnat Emilio Azcárraga, der Telenove­las in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der füh­renden Akteure der Kunstwelt gewor­den.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird so­gar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor al­lem die des Fernsehens. Der argentini­sche Kulturkritiker Nestor García Canclini be­zeichnet die Neuordnung des kulturel­len Terrains als “Rekonversion”. Im Zeit­alter von High-tech erfährt Kultur einen Be­deutungswandel. Ein hohes Niveau an Le­sefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fern­sehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität gewor­den.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich er­schienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volks­kunst beklagte, hört sich in diesem Zu­sammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesus­kinder, die von den Gemeinden ein­gekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sanda­len und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogeni­sierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie be­haupten, daß Fernsehen, Massenmarke­ting und neue Technologien die Kultur demo­kratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybrid­kreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinameri­kanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argu­ment, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu errei­chen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfin­den. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aus­sehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschich­ten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der moder­nen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forde­rungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informa­tionen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für latein­amerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimpe­rialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technolo­gien und Moden be­nutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, son­dern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäi­schen und indi­genen Einflüssen. Die eta­blierte Kultur hat sich später Tango, Bo­lero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvier­teln haben, als die Ver­körperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schön­ste Tango der Welt” des Argentiniers Ma­nuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander ver­bindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Bei­spiel für den kulturellen Wandel. Trotz­dem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindu­strie ist, wurde Rock zur Vorhut des Wi­derstandes gegen strenge Moral und Fa­milienhierarchien. Die südamerikani­schen Militärregierungen machten die Rock­musik zum Mittel einer Wider­standsbewegung, indem sie Musikmaga­zine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rock­musik den Autoritarismus der älteren Ge­neration, aber auch die idealistische Nost­algie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvi­nen/Falkland-Kriegs organisierte die Mi­litärregierung ein Rockkonzert der Natio­nalen Solidarität, um so um die Unterstüt­zung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um sei­nen neo­liberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginali­sierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesell­schaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußball­spiel oder dem Besuch des Papstes vergli­chen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hin­zuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Le­benshaltungskosten), “Si saliera petró­leo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich reg­net es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Konti­nents handeln. Bezeichnenderweise kan­didierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Var­gas Llosa für die Prä­sidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Gua­rachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Bra­silianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerech­tigkeit aufnehmen und – im Falle von Ve­loso – das Verhältnis zwischen Kon­sumkultur und “Authentizität” unter­suchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruck­ten Wortes ist das Fernsehen, dessen Ein­fluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum ver­wunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinig­ten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache be­wußt, daß die durchschnittliche Teleno­vela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Ko­lumbien 10 bis 15 Million Menschen er­reichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich at­traktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über diesel­ben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasili­anische Produzenten über­nehmen häufig Romane für das Fernse­hen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wieder­entdeckt worden, wobei ein Typ von Tele­novelas produziert wird, der die US-Pro­dukte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Aus­druck der Modernität und der Bildung ei­nes nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger glo­baler Kultur geworden. Wie der argentini­sche Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideu­tige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frü­here Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen ver­knüpft gewesen. Es war in einigen Län­dern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literari­sche Intelligenz in Bezug auf seine päd­agogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmen­den Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzuleh­nen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexika­nischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfä­higkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plau­derton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlun­genen “Herbst des Patri­archen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunterneh­men wie Joaquín Mortiz und Sudameri­cana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zu­mindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denk­baren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu ver­treten, die früher schon von der Staatsbür­gerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homo­sexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichts­schreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwi­schen oben und unten, Fiktion und Reali­tät verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppo­sitionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakom­ben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Frei­heit ihn oft als Freiheitlich-Konserva­tiven erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Kon­sumgesellschaft zu widerstehen – verhol­fen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Ent­schlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autono­mie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und All­gemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Oppo­sition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei re­volutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschrei­ber.
Was für heutige Schriftsteller problema­tisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Verein­nahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schrei­bens in Trend oder Stil. “Magischer Re­alismus” war einst ein Wegweiser für la­teinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exo­tik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kri­tiker die politischen und ethischen Funk­tionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kri­tiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteils­vermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezo­gen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populis­mus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion redu­ziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Feh­lens anderer Unter­scheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumen­tiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstleri­schen Produkte, die mit der Kulturindu­strie verbunden sind, und ver­drängt so die hierarchische Autorität der Fachleute tra­ditioneller Prägung. Hierar­chien stürzen ist eine Sache, aber kriti­sches Urteilsver­mögen zurückzuweisen, ist Sarlos Mei­nung nach eben schlimmer, weil der Ver­zicht, über Werte zu diskutie­ren, zur pas­siven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forde­rung nach Wiederaufwertung des Ästheti­schen gerade im Zusammenhang mit Re­demokratisierung und angesichts wach­sender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Ver­teidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kri­tische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trot­zen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rück­kehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditio­nelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es be­freit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzei­tig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allge­mein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schrift­steller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wie­derum die Ära der internationale Bennet­ton-Epoche und den E-mail-Universalis­mus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie er­scheinen mag: In der Epoche globaler In­formationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität ge­worden.

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

Zelle No. 34 steht bereit

Für Antonio Araníbar wäre es ein Höhe­punkt seiner Amtszeit: Der bolivianische Außenminister hat mit allen Kräften daran gearbeitet, García Meza nach Bolivien ins Gefängnis zu bringen. Luis García Meza ist nicht irgendeiner der in Bolivien zahl­reichen Ex-Diktatoren. Seine Diktatur gilt als die blutigste und brutalste in der jünge­ren Geschichte Boliviens und als dieje­nige, die am offensichtlichsten in den Drogenhandel involviert war. Die Ge­schichte von Araníbars Partei, des sozial­demokratischen Movimiento Bolivia Libre (MBL), ist eng mit der Diktatur García verknüpft. Der MBL ist eine Ab­spaltung des Movimiento de Izquierda Revolu­cionaria (MIR), der zur Regie­rungszeit García Mezas zu den bevorzug­ten Zielen der Repression gehörte. Die Parteige­schichte hat mit dem “Massaker der Calle Harrington” einen traurigen Hö­hepunkt zu verzeichnen: Am 15. Januar 1981 brachte ein Militärkommando in be­sagter Calle Harrington acht Mitglieder der Parteifüh­rung des MIR um. Das sind nicht die ein­zigen Opfer der Diktatur: Im Zuge des Putsches am 17. Juli 1980 stürmten die Militärs die Zentrale des Gewerkschafts­dachverbandes COB. Unter den Toten war auch Marcelo Quiroga Santa Cruz, einer der profiliertesten so­zialistischen Politiker dieser Zeit.
Rechtzeitig untergetaucht
Unter anderem wurde Luis García Meza wegen dieser Morde vom Obersten Ge­richtshof Boliviens in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft in Chonchocoro verurteilt, nur einer von 32 Anklagepunkten neben ande­ren wie Korruption, Drogenhandel und dem Raub der Tagebücher Che Guevaras. Am 7. April 1986 begann der “Jahrhundertprozeß” vor dem Obersten Gerichtshof. García Meza lebte während­dessen in Sucre. Erst als am 12. Januar 1989 neue Anklagen zu bisher noch nicht einbezogenen Punkten erhoben wurden, tauchte er unter. Der Prozeß mußte in Abwesenheit des Angeklagten beendet werden. Am 11. März 1994 schließlich wurde García Meza im brasilianischen Sao Paulo verhaftet, wo er unter falschem Namen lebte. Die gefälschten Papiere wurden ihm zum Verhängnis, stellten sie doch den Grund für seine Verhaftung in Brasilien dar. Die bolivianische Regierung gewann damit die notwendige Zeit, um das Auslieferungsverfahren in Gang zu bringen. Am 12. April schließlich war es soweit: Bolivien beantragte offiziell ge­genüber der brasilianischen Justiz die Auslieferung Luis García Mezas. Das Oberste Bundesgericht Brasiliens mußte die Entscheidung über den bolivianischen Antrag fällen und tat es am 19. Oktober mit überwältigender Mehrheit: Zehn der elf Richter sprachen sich für die Ausliefe­rung aus. Die einzige Gegenstimme kam pikanterweise von Marco Aurelio de Mello, einem Cousin des früheren Präsi­denten Collor de Mello. Er sah in García Meza einen Fall von politischer Verfol­gung im Heimatland, eine sehr eigenwil­lige Meinung, mit der er dann auch alleine blieb.
Laute Freude, leise Sorgen
In Bolivien brach nach dem Urteil der brasilianischen Richter Euphorie aus. Die Parteien im Parlament, der Oberste Ge­richtshof, die Presse, sie alle schwelgten in lautstarkem Jubel darüber, daß gerade in Bolivien zum ersten Mal in Lateiname­rika ein Ex-Diktator im eigenen Land wahrscheinlich für den Rest seines Lebens hinter Gitter gehen sollte.
Dabei werden einige Politiker der Rück­kehr García Mezas nicht ganz ohne Sor­gen entgegensehen. Der frühere Diktator weiß viel über all diejenigen, die an der Militärregierung 1980/81 beteiligt waren, Vorteile davon hatten oder sie nur still­schweigend im Sinne ihres eigenen politi­schen Kalküls begrüßt hatten. García Meza selbst äußerte sich dazu in einem Interview am 29. Oktober: “Den Prozeß vom 17. Juli (1980) führten die Streit­kräfte mit der Unterstützung einiger politi­scher Kräfte durch”, so der frühere Dik­tator unter Verweis auf die Mitwir­kung der heutigen Regierungspartei MNR, da­mals noch unter Victor Paz Estenssoro, und der größten Oppositionspartei ADN unter Hugo Bánzer Suárez, ebenfalls Ex-General und Ex-Diktator. Er sei aller­dings, so fügte García Meza hinzu, ein Mensch, der verzeiht und nicht auf Rache sinnt – was nichts anderes bedeutet, als daß er keine Namen nennen wird.
Morddrohungen an García-Meza-GegnerInnen
Luis García Meza hat noch FreundInnen in Bolivien, die zum Teil mit drastischen Maßnahmen auf die eindeutige Entschei­dung in Brasilien reagierten: Mehrere pro­filierte García Meza-GegenerInnen, er­hielten Morddrohungen, so zum Beispiel Juan del Granado, MBL-Abgeordneter, Vorsitzender der Menschenrechtskommis­sion des Parlaments und Anwalt im Gar­cía-Meza-Prozeß. Carlos Mesa, der be­kannteste bolivianische Fernsehjourna­list, erhielt, nachdem er sich sehr eindeu­tig zum Fall García Meza geäußert hatte, eine Briefbombe. Die Bombe wurde in der Hauptpost entdeckt und entschärft, sorgte aber trotzdem für öffentliche Unruhe. Derartige Formen der “politischen Aus­einandersetzung” schienen abgehakt zu sein in einem Land, das sich seit 1985 an relative Stabilität und Ruhe gewöhnt hat. Die politisch stürmischen Zeiten liegen allerdings noch nicht so weit zurück, als daß man nicht sehr empfindlich auf neue Anzeichen reagieren würde.
“Niemand kann sich darüber freuen…”
Nicht gerade beruhigend wirkten dabei of­fensichtlich verärgerte Stimmen aus Mili­tärkreisen. Niemand könne sich über die Auslieferung García Mezas freuen, so der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Fernando Sanjinés, die Rückkehr García Mezas habe allerdings einen ge­wissen Wert für die Konsolidierung der Demokratie. Andere höhere Offiziere, so die Tageszeitung “La Razón”, erklärten in Interviews ihre Loyalität gegenüber den “militärischen und patriotischen Prinzi­pien, die General García Meza während seines Dienstes an der Institution (dem Militär) und dem Vaterland vertrat… Der General hat Freunde in den Streitkräften.” Unzufriedenheit herrscht vor allem dar­über, daß García Meza seine Strafe in einem normalen Gefängnis unter einem Dach mit gewöhnlichen Kriminellen ver­büßen soll und nicht unter Verantwortung der Militärjustiz in einem Militärgefäng­nis. Von “Unwohlsein in den Streitkräf­ten” sprach am 31. Oktober Enrique Toro, Parlamentsabgeordneter von ADN, unter Verweis auf die guten Kontakte seiner Partei in Militärkreisen. Allerdings, so Toro, wüßten die Militärs, daß sie nicht putschen können, “denn der internationale Gendarm, die Vereinigten Staaten, ist da und wird sie nicht putschen lassen. Aber es gibt Unzufriedenheit.”
Winkelzüge, um Zeit zu gewinnen
Die Anwälte von García Meza geben in­dessen nicht auf. Nach brasilianischem Recht muß Bolivien García Meza inner­halb von 60 Tagen nach Rechtsgültigkeit der Auslieferungsgenehmigung tatsächlich abholen, sonst muß er in Brasilien freige­lassen werden. Zunächst einmal wurde García Meza mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte aller­dings entließen ihn nach 18 Stunden wie­der, es liege kein schwerer Fall vor, so ihr Kommentar. Kurz darauf legten García Mezas Anwälte auf der Grundlage des Votums von Marco Aurelio de Cello noch einmal Beschwerde gegen die Ausliefe­rungsentscheidung ein. Nach überein­stimmender Einschätzung der boliviani­schen Presse hat die Beschwerde juristisch keine Chance, müßte das Oberste Bundes­gericht Brasiliens doch seine eigene Ent­scheidung revidieren. Aber wieder werden Stellungnahmen, Einsprüche, Kommen­tare durch den bürokratischen Urwald schleichen. Ob die ominösen 60 Tage da­bei weiterlaufen oder nicht, in jedem Fall gewinnt García Meza Zeit: Zeit, damit seine FreundInnen in Bolivien die Diskus­sion um den Sicherheitsstandard von Chonchocoro anheizen können. Aber auch Zeit, um Druck auf die Verantwortlichen in Bolivien auszuüben, ihn gegen das Ur­teil des Gerichtshofes doch in einem Mi­litärgefängnis unterzubringen.
Die Auslieferung García Mezas an Boli­vien hat vor allem symbolischen Wert. Ein erster wichtiger symbolischer Akt war der Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof, wenn er auch durch das Abtauchen García Mezas und durch die Frage, wer ihm dabei geholfen hat, verdüstert wurde. Mit der Verfolgung García Mezas bestätigt sich das demokratisch-rechtsstaatliche Boli­vien symbolisch und grenzt sich von der Vergangenheit der unzähligen Militärput­sche ab. Aber die Vergangenheitsbewälti­gung hat Grenzen. García Meza ist nicht der einzige mit einer dunklen Vergangen­heit aus den Zeiten der Diktatur. Seine Diktatur war nicht die einzige in den letz­ten zwanzig Jahren. Ein anderer ehemali­ger Diktator, Hugo Bánzer, gehört als Gründer von ADN zu den zentralen Figu­ren der bolivianischen Politik. Bei jeder Wahl seit Ende der Diktatur trat er als Präsidentschaftskandidat an. Aber es geht nicht nur um die ehemaligen Diktatoren. Nicht wenige, die unauffälliger aus der zweiten Reihe heraus in die Verbrechen der Diktatur verwickelt waren, wären er­leichert, würde das Kapitel “juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatu­ren” abgehakt, sitzt García Meza erst ein­mal hinter Gittern.

In Rio greift das Militär ein

Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Gewalt in Rio immer bedrohlichere Aus­maße angenommen. In dem Zeitraum von 1985 bis 1991 sind in Rio 70 061 Men­schen ermordet worden, und die Tendenz ist weiter steigend. In der Altersgruppe von 15 – 45 Jahren ist der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache. Die alltägli­che Gewalt in Rio existiert in vielfachen Formen. Am augenfälligsten ist die Ver­bindung von bewaffneter Macht und Dro­genhandel. In den Armenvierteln von Rio, den Favelas, haben lokale Drogenbosse das Sagen. Sie verfügen über bestens aus­gerüstete bewaffnete Gefolgschaft, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Seit dem letzten Jahr hat, anscheinend auf­grund der Verhaftung einiger Schlüsselfi­guren, der Kampf unter den Drogen­banden um Einflußgebiete zugenommen. Diese Kriege werden mit aller Heftigkeit geführt und lassen immer wieder die Be­völkerung ins Kreuzfeuer der rivalisieren­den Gruppen geraten. Im größten öf­fentlichen Krankenhaus Rios hat sich die Zahl der Personen, die wegen Schußver­letzungen behandelt werden müssen, seit 1984 vervierfacht.
Der Staat hat in den Favelas offensichtlich das Gewaltmonopol verloren. Die Dro­genbanden verfügen über das im Golf­krieg eingesetzte Maschinengewehr AR 15, das auch über hunderte von Metern tötet. Sie greifen Polizeistationen an oder befreien verhaftete Kumpane aus dem Krankenhaus. Würde sich das alles in ent­fernten Vororten der Peripherie abspielen, wäre die Beunruhigung der Öffentlichkeit sicherlich nur halb so groß. Aber die Hü­gel, auf denen sich die Favelas zumeist angesiedelt haben, sind in der gesamten Stadt verstreut. So grassiert bei der Mittel­schicht nun die Angst vor den verirrten Kugeln. Angeblich sind dieses Jahr schon mehr als zehn Menschen Opfer von verirrten Kugeln geworden.
Es ist diese Form von Gewalt, die Presse und Fernsehen ausführlich zeigen. Fast je­den Abend kann der Drogenkrieg in Rio im Fernsehen verfolgt werden. Und die damit vermittelte Botschaft ist klar: Die Polizei versagt, weil sie zu schwach ist, wir brauchen die Aufrüstung des Staates. Die Kampagne der Massenmedien hat an­scheinend Wirkung gezeigt. Inzwischen befürwortet nach Meinungsumfragen eine Mehrheit der Einwohner Rios ein Eingrei­fen der Militärs.

Massaker auf dem Hügel ‘des Deutschen’
Für die BewohnerInnen in den Favelas stellt allerdings eher die Polizei als die lo­kalen Drogenbosse eine Bedrohung dar. Letz­tere bemühen sich in der Regel um ein gutes Verhältnis zu den BewohnerIn­nen, fi­nanzieren sogar soziale Einrichtun­gen, und viele der Bewaffneten stammen aus der Favela. Die Polizei hingegen stürmt wahllos die Viertel und tötet, was ihr in den Weg kommt. In dieser alltägli­chen Gewalt ragte im Oktober eine Poli­zeiaktion auf dem ‘Hügel des Deutschen’, mit 200.000 BewohnerInnen einer der größten Favelakomplexe von Rio, heraus. 13 Tote in einer Schlacht von wenigen Stunden, das ist weder in Bosnien noch in Rio normal. Vorausgegangen war ein An­griff der Drogenbande des Hügels auf ein Polizeirevier, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, daß ein Bein am­putiert werden mußte. Der Angriff auf die Favela trug also Züge einer Racheaktion. Für die Polizei war das Ergebnis der Ak­tion ein voller Erfolg: “Das Gesetz erlaubt uns zu töten, ohne ein Verbrechen zu be­gehen”, erklärt der Chef der Drogenpolizei Maurilo Moreira und fährt fort: “Wir wer­den uns nicht wie Schafe von den Hügeln vertreiben lassen. Die Waffe ist das Sym­bol unserer Autorität. Wenn wir sie nicht gebrauchen, sind wir Feiglinge. Wenn wir 100 töten müssen, dann töten wir 100.”
Für die Polizei war das Massaker offen­sichtlich ein großes Fest, wie Mitschnitte vom Polizeifunk beweisen. Die Zahl der Getöteten wurde als Erfolgsziffer mit Ju­bel begrüßt. Selbst der Gouverneur von Rio, Nilo Batista, der die Aktion angeord­net hatte, kritisierte die Feststimmung und mußte eine Untersuchungskommission anordnen. Denn an Merkwürdigkeiten fehlt es nicht: Wenn die Polizisten tatsächlich in Notwehr gehandelt haben, wie kann es möglich sein, daß 13 getöte­ten Drogenhändlern nur ein verletzter Po­lizist gegenübersteht? Von den dreizehn Getöteten waren nur drei vorbestraft, vier waren minderjährig. Bewohner der Favela beschuldigen die Polizei, ein wahres Mas­saker veranstaltet zu haben. Eine Mutter erkannte ihren Sohn bei Fernsehaufnah­men wieder: “Er war von der Polizei ver­haftet worden. Aber wenig später lag sein Körper auf dem Haufen der Toten.” Am Tag nach dem Massaker schlossen alle Geschäfte der Favela im Zeichen der Trauer.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß trotz solcher martialischen Aktionen ein großer Teil der Polizei zu­tiefst im Drogenhandel verstrickt ist, in der Regel durch Abkassieren von Be­stechungsgeldern. Diese spannungs­geladene Symbiose führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen, wie im vergangenen Jahr in der Favela Vigario Geral. Dort hatten die lokalen Drogen­bosse vier Polizisten offensichtlich wegen zu hoher Schmiergeldforderungen umge­bracht. Die Polizei reagierte mit einem Massaker an 21 völlig unbeteiligten Be­wohnern der Favela.
Polizei: eine kriminelle Vereini­gung
Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande. Dieser krimi­nell-polizeiliche Komplex steht dazu in vielfältigen Verbindungen mit der Politik, die immer mehr einer Mafia gleicht. Hö­hepunkte waren die massiven Fälschungen bei den allgemeinen Wahlen am 3.10., die schließlich zu deren Anullierung führten. Am 15.11. mußten in Rio sowohl die Bundestags- wie die Landtagswahlen wie­derholt werden! Gegen all dies hilft gewiß nicht das Militär. Die Verbindung der Po­lizei zum organisierten Verbrechen ist al­lerdings inzwischen so offensichtlich, daß sie auch von Seiten der Bundesregierung nicht geleugnet wird. Presseberichten zu­folge sollen die Militärs über ein internes Dossier verfügen, nach dem 70 Prozent der Zi­vilpolizei (policia civil) und 30 Pro­zent der Mi­litärpolizei (policia militar) in illegale Ma­chenschaften verstrickt sind. Dem jetzigen Gouverneur von Rio, der seine politische Karriere dereinst als Menschenrechtsan­walt begonnnen hatte, ist es offensichtlich nicht gelungen, den Polizeiapparat in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist er an­scheinend dessen Komplize geworden. Wäre es der Bundes­regierung mit der Be­kämpfung des Dro­genhandels wirklich ernst, so müßte sie nicht in den Favelas ansetzen, sondern bei der Polizei und den Hintermännern des Waffenhandels und der Drogenbeschaf­fung. Diese wird sie si­cherlich nicht in den Favelas finden. So zielt der geplante Militäreinsatz im besten Fall auf die un­terste Riege des Handels: die Jugendli­chen, die an den Umschlag­plätzen Wache schieben und den Verkauf an die Mittel­schichtskunden bewerkstelli­gen. Gegen­über der Komplexität des kri­minellen Mi­lieus in Brasilien gibt der be­waffnete Dro­genhändler auf dem Hügel eher die Kari­katur eines Feindbildes ab, das sich aber gerne durch seine martiali­sche Ausstaffie­rung gut für die mediale Ausschlachtung eignet. Die Medien haben die vielen Fa­cetten der Gewalt auf das Feindbild des Drogenbosses reduziert, der, weil identifi­zierbar, auch gezielt zu be­kämpfen ist. Gleichzeitig erfolgte die Be­richterstattung immer aus der Sicht der normalen Bevöl­kerung außerhalb der Fa­velas. Diese wer­den so zu einem feindli­chen Territorium erklärt, das es zu erobern gilt, um es wie­der in die staatliche Kon­trolle einzubezie­hen. Wie Militärs feindli­che Territorien erobern, ist allerdings nur allzu bekannt. Bestürzend ist, daß nur zehn Jahre nach dem Ende der blutigen Militärdiktatur die Streitkräfte sich wieder als interner Ord­nungsfaktor profilieren können. Hierin liegt vielleicht die langfri­stige politische Bedeutung des Militärein­satzes in Rio. Ob die Militärs nämlich in der Lage sind, vielmehr als ein blutiges Spektakel zu veranstalten, ist äußerst fraglich. Die 158 Favelas, in denen es nach Anga­ben des militärischen Geheimdienstes Drogenum­schlagplätze gibt, sind auf die Dauer gar nicht zu besetzen. Es wird erwartet, daß militärische Aktionen erst nach dem 15. November beginnen, also nach den Wah­len in den Bundesstaaten, in denen die Gouverneurswahlen nicht im ersten Durchgang zusammen mit den Präsident­schaftswahlen am 3. Oktober entschieden wurden. Zunächst also lebt Rio seine fragwürdige Normalität weiter. Am ersten Sonntag nach der Vereinbarung über den Einsatz der Streitkräfte waren die Strände an einem wunderschönen Sonntag über­voll.

Lesetip: T. W. Fatheuer: Jenseits des staatli­chen Gewaltmonopols. Drogen­banden, Todesschwadronen und Profi­teure: die an­dere Privatisierung in Rio de Janeiro. In: Lateinamerika – Analysen und Berichte Nr. 18, Horlemann-Verlag.

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