Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeichnung einer Friedenserklärung in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen darauf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegenüber in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewaldeten Bergen, aber viel mehr mit innenpolitischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der peruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Hauptstadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseitigen Vorteil ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen. Sollte nun ein Grenzkonflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenzverlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelanger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Inszenierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpolitischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeichnung des damals von beiden Seiten anerkannten Protokolls, in dem der Grenzverlauf festgelegt wurde. Brasilien, Argentinien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines amazonischen Tieflands sowie die Stadt Tumbes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Region. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Brasilianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem bestand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuatorianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador betrachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kontrolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt besteht. Der Vertrag sei eindeutig, völkerrechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Condor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurchführbar ist” und darüber hinaus das gesamte nördliche Amazonasgebiet des heutigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territorium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Amazonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf eigenem Territorium zu sein, und beide betrachten die jeweils gegnerischen Patrouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn haben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Territorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öffentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die verbreitete Meinung, hatte aus innenpolitischen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobilisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduktiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabilisierung ist es der gerade wiedergewonnene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwischen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzubauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht verwundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivität für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecuador. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet zielgerichtet an seinem Projekt eines kapitalistisch-modernen, von einem starken Präsidenten namens Fujimori regierten Landes. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das angesichts eines auch ohne Krieg fast sicheren Wahlsiegs. Fujimori müßte von seinem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori inszenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option diplomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler begangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwierigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecuador. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als populär. Wirtschaftliche Probleme und Korruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im November ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Konfliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Regierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flammende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der peruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatorianischen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer peruanisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkommen doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zurückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitleidenswerter Ecuador in der Rolle des Opfers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz ausgerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig betrachtet. Dazu kam die dramatische Warnung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärregimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht positiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze gekommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt diesmal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador gegen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Abschnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täglich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Eindringen ecuatorianischer Truppen in peruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegungen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstillstand und die Bekundung von Friedensabsichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.
Programm der Superreichen
Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wachsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vorherrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Supermacht hat sich Herrschaftsgebiete geschaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahrzehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vielen Produktgebieten verloren, zum Beispiel im Automobil- und Elektronikbereich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deutschland.
Der Rückzug der US-Truppen aus Europa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bündnisse den US-amerikanischen Politikern nicht länger als “wirtschaftspolitischer” Hebel dient. Drohende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-amerikanische Exporteure und Importeure als auch die US-KosumentInnen insbesondere der niedrigen Einkommensschichten treffen können. Der kongenialste und am besten mit historischen US-Strategien (Monroe-Doktrin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Innerhalb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patenteinkünfte aus Lateinamerika herausziehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strategische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die negativen Transfers hinsichtlich anderer Regionen zu kompensieren. Die Handelsbilanzüberschüsse mit den lateinamerikanischen Ländern dienen zur Kompensation der negativen Handelsbilanzen bezüglich Asiens und Westeuropas. Die kostengünstige Produktion in Lateinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikanischen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbewerbern zu konkurrieren.
In diesem Zusammenhang war die Liberalisierung in Lateinamerika notwendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zugang zu Märkten und Einkünften zu liefern und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Sinne ist die Liberalisierung eng mit den globalen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Politik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und kontinentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-amerikanische Offizielle verfolgt: Lateinamerikanische Diktatoren, die die Liberalisierung förderten, wurden finanziert und unterstützt, ein Übergang zu demokratischen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Liberalisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerikanischen globalen Politikstrategie: Insoweit, als Liberalisierung funktioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Transnationalen Konzerne (TNC) und Banken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikanische Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Berücksichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Verhandlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) basiert auf der Tatsache, daß die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 beliefen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Betrug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurchschnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Millionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahresdurchschnitt 189,8 Millionen US-Dollar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Patent- und Lizenzeinkünfte ziehen Einkommen ab, ohne daß Wertschöpfung stattfindet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Investitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen vergleichen. Zwischen 1961 und 1971 betrugen die gesamten Patent- und Lizenzeinkünfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvestitionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzeinkünften zu den Gewinnen aus Direktinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Direktinvestitionen in Lateinamerika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direktinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikanischen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zurück. Dies war die Boomphase der lateinamerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerikanischen Gesellschaften von der ersten Liberalisierungswelle und dem starken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinamerikanischen Marktes. Die Konsumausgaben gingen zurück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kanalisierung der Ressourcen in devisenerzeugende Sektoren, um den Schuldendienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Beziehung zwischen Zinszahlungen und Gewinnrückführungen: Sofern die Banken große Summen an Zins- und Tilgungszahlungen herausziehen, fallen die Profite aus den produktiven Investitionen. Nichtsdestotrotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen Hebel, um die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen zu puschen. Viele dieser Firmen wurden von US-amerikanischen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirtschaftliche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-amerikanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zurücktransferiert. Gegenüber den schlechten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Verbesserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hatten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell negative Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersuchungszeitraum die Hauptquelle bei Privaterträgen aus überseeischen Wirtschaftsaktivitäten. Die wachsende Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren privater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schuldenlasten in Lateinamerika. Spiralenförmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zahlungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-amerikanischen Handelsdefizit gegenüber Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateinamerika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zinszahlungen von Lateinamerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transferiert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negativen Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Exportnachfrage des Subkontinents. Hingegen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die Defizite gegenüber Japan und Deutschland zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge steigender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Produktivvermögen. Liberale Wirtschaftspolitik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentverträgen erleichterte. Privatisierung ermöglichte den Ausverkauf öffentlicher Unternehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zeigen ein insgesamt spektakuläres Ansteigen im Zuge der Vertiefung der Liberalisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlungen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnahmen zum Kernstück der US-Politik wurden und dies ist ein Grund, warum US-PolitikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militärputsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikanischen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika untersuchen, fügen wir eine andere Dimension der asymetrischen Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika hinzu. Eine Dimension, die für die Unterstützung von “Freihandelsabkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechziger Jahren bis zum Beginn der Schuldenkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substantiellen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Millionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschlagen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durchschnittliche jährliche Defizit in der Periode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der ökonomischen Erholung in Lateinamerika begannen die USA erneut einen Handelsbilanzüberschuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliarden US-Dollar. Der Handelsüberschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen sanken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Importe infolge der lateinamerikanischen “Exportstrategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Einkommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpassungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateinamerikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorangegangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Konsequenzen der vertieften Liberalisierung ein Ansteigen des US-amerikanischen Handelsüberschusses über seine historischen Höchstmarken ist. Während einerseits die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateinamerika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 vergleichen, sehen wir, daß die vorteilhaften Bilanzen gegenüber Lateinamerika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Lateinamerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirtschaftlichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber Lateinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan und deckt kaum das Defizit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-amerikanischen Einkommens aus Lateinamerika addieren (Rente, Handelsgewinn, Unternehmensprofit) und mit den Handelsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verstehen wir die strategische Bedeutung Lateinamerikas für die US-amerikanische Gobalpolitik. Lateinamerikas Beitrag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamteinkünfte aus Handel, Investitionen, Darlehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rückfluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliarden US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Handelsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateinamerika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Einkommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärtigen Jahrzehnt fortzusetzen. Die Liberalisierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich verschlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthandelspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politikmaßnahmen zu einer tiefen Polarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften geführt und eine neue Klasse von superreichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungsprozesses: 1987 gab es in Lateinamerika weniger als sechs Milliardäre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die meisten der Superreichen waren vor der Liberalisierung Millionäre. Sie wurden Milliardäre durch den Ausverkauf der öffentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem ausgedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlprozesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Concertación, und in Argentinien, Venezuela und Kolumbien durch die traditionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minenkonzessionen, Telekommunikationssysteme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohlstands auf eine kleine Gruppe von Familien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Obergeschoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung profitiert – zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit – sondern waren dank ihrer Verbindungen zu den liberalen Regierungen die größten Unterstützer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermögenskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Produkt der “neoliberalen Konterrevolution.” Im Zeitraum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie erfaßt die Verflechtungen zwischen den superreichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzierungsabkommen miteinander verbunden. Die Integration der Superreichen in den Weltmarkt und ihre Fähigkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu regulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subventioniert, ist zur auffälligsten Erscheinung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Superreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neoliberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliardäre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Profiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesundheits- und Bildungswesen liegt in der Umverteilung der öffentlichen Ressourcen zum Privatsektor und innerhalb des Privatsektors zu den sehr Reichen. “Neoliberalismus” ist in seiner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transferiert. Die Armen werden dem Überlebenskampf überlassen: Mit marginalen Kleinstunternehmen, mit informeller Beschäftigung und mit Almosen aus Projekten, die von Nicht-Regierungs-Organisationen gesponsert werden, versuchen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgearbeitet wurde, um Lateinamerikas Integration in den Weltmarkt zu erleichtern. Noch ist sie ein unvermeidliches Produkt eines immanenten “Globalisierungsprozesses”. Eher ist Liberalisierung ein Produkt von US-amerikanischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesellschaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Kapitalisten verbunden sind. Es sind spezifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie diktieren. In diesem Sinne muß die Umkehrung der Liberalisierung auf der nationalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.
Im Sog der Integrationswelle
WirtschaftswissenschaftlerInnen bekommen bei Begriffen wie Freihandelszone, Zollunion oder gar Gemeinsamer Markt feuchte Augen. Wachsende Märkte ohne Grenzen bedeuten steigenden Handel, erhöhte Binnennachfrage und intensivierte Investitionstätigkeit, Produktivitätsgewinne und freien Kapital- und Personenverkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorgeführt, wie ein Zusammenschluß funktioniert: Zunächst wird eine Freihandelszone vereinbart, innerhalb der die Zölle schrittweise abgebaut werden. Dann folgt der Übergang zu einer Zollunion mit gemeinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder aufgenommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinierung und Harmonisierung des Personen-, Kapital-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rückschläge bei der angestrebten Währungsunion zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelangen Binnenorientierung, die mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos 1982 ein abruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Blockbildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Kolossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Weltmarktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihandelszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MERCOSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest einbeinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirtschaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwikkelt. Diese Dominanz drückt sich vor allem in einem wettbewerbs- und damit exportfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten profitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer treffen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integrationsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreitenden Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasilien hauptsächlich kapitalintensive Industriegüter nach Argentinien exportiert, bewegen sich die Exporte in die andere Richtung vorwiegend im traditionellen Bereich der Rohstoffe und der wenig verarbeiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanzkrise am stärksten mit dem Übergreifen dieser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argentinien als Abwertungs- und Krisenkandidat Nummer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Überbewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wurden massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurzfristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforderlich, für deren Vergabe die Banken wiederum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitätssteigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent geschätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handelsbilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungsschwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Paraguays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromversorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Während in vielen Ländern der Kauf eines direkt am Heimatland liegenden Grundstückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Landes mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasilianische UnternehmerInnen beschäftigen brasilianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirtschaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem abhängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten versuchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hinausgeworfen zu werden. Ihre Anpassungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompensationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uruguayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in absehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regionalfonds als Kompensationsinstrument verfügt, kann von einer merklichen Angleichung kaum die Rede sein: Portugal und Griechenland bilden weiterhin die Schlußlichter der Gemeinschaft, und auch die übrigen “rückständigen” Regionen kommen durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MERCOSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Zollunion, haben sich bereits weitere Kandidaten für den Beitritt ausgesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Region um Santa Cruz haben sich immer mehr brasilianische Unternehmen angesiedelt und sind zu einem wichtigen Faktor der bolivianischen Wirtschaft geworden -, eventuell wollen auch Kolumbien und Venezuela beitreten. Chile ist grundsätzlich interessiert, hat aber seinen Spagat zwischen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhandlungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrößert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zahlungen des reichen Partners im Norden sollen ein komplettes Ausscheren Mexikos verhindern. Innerhalb des MERCOSURS verfügt kein Land über ausreichende Möglichkeiten, die Krise eines anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Argentinien am Ende. Beide Länder werden sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mitglieder durch Stützungskäufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexikokrise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großamerikanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhandlungen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft Nordamerikas steht, sondern eine eigene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.
NAFTA-Fieber
Die Integration des Musterlandes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaftliche Stabilität und steigende Wachstumsraten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsidenten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Mexiko die Süderweiterung der Freihandelszone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den gesamten Kontinent umfassen soll. Die Verhandlungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Geschäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang Dezember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheidenden Augenblick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir machen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des ganzen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handelsgemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der südamerikanischen Wirtschaftsunion (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chilenischer Regierungsvertreter am konstituierenden MERCOSUR-Treffen im brasilianischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den traditionellen Partnern im Norden weiter offen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investitionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaustausches mit den Partnerstaaten im Norden. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent erwartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete positive Auswirkung der NAFTA auf den Arbeitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die gegenläufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbedingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefälle ist auch durch das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro EinwohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskommen.
Das spüren auch diejenigen, die wahrscheinlich am heftigsten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chilenische Landwirte wittern Konkurrenz aus dem hochtechnisierten Norden und dem Billiglohnland Mexiko. Gerade die mittleren und kleinen ProduzentInnen im Süden des Landes sehen ihre inländischen Absatzmärkte in Gefahr. Während in Zentral- und in Nordchile in den vergangenen Jahren gerade in der Agrarwirtschaft diversifiziert wurde, ist das an ihnen im Süden weitgehend vorbeigegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Musterschüler der EntwicklungsstrategInnen zu werden, indem es – obwohl auf der südlichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach einer Untersuchung der Agrarwissenschaftlerin Eugenia Muschnik von der Katholischen Universität in Santiago werden durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeitsplätze in der Landwirtschaft entstehen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten wird es aber ausschließlich in den nördlichen Landesteilen in der Landwirtschaft (Wein und andere Obstsorten, Tabak, Spargel, Geflügel) und in der ebenfalls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obstkonserven, Rosinen, Tomatenmark) geben. In der überwiegend im mittleren Süden angesiedelten traditionellen Landwirtschaft gehen gleichzeitig 7.700 Arbeitsplätze verloren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den LandwirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das südlich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. Ende Dezember machten sie ihre Streikandrohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bauern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Panamericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Management der Wirtschaftspolitik auszeichnet, hat bisher wenig diplomatisches Geschick im Umgang mit denen gezeigt, die Widerstand gegen ihre ausschließlich marktorientierte Politik leisten. Der in allen Medien bejubelte NAFTA-Beitritt vertiefte den Graben zwischen Regierung und ArbeiterInnen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Auswirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chilenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiterhin wichtige Passagen des pinochetistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarifverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeitsminister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Konflikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Januar die Vorlage von Gesetzesentwürfen zur Änderung des Arbeitsrechts versprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hinblick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifelhaft. Die Erinnerungen an die letzte große Weltmarktöffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner KollegInnen noch allzu gut in Erinnerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industriezweige zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerkschaften soziale und arbeitsrechtliche Bestimmungen als integrativen Bestandteil des NAFTA-Vertrages, ähnlich wie im EG-Vertrag verankert (siehe nebenstehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bisher, und weder die chilenischen UnternehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.
Die PT nach der Wahlniederlage
LN: Wie schätzt Du die Situation der PT nach den Wahlen ein?
Carlos Vainer: Wir müssen uns über die heutige Situation in einem größeren Kontext klarwerden. Sie ist gekennzeichnet auf der einen Seite durch eine relative Schwäche der sozialen Bewegungen, auf der anderen Seite durch die Konsolidierung eines neuen hegemonialen Blocks der Bourgeoisie. Angesichts dieser Situation wachsen die Kräfte in der PT, die ich als die Rechten in der PT bezeichnen möchte. Ich zögere, sie Sozialdemokraten zu nennen, das wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber der historischen Sozialdemokratie, denn diese Leute stehen viel weiter rechts. Nennen wir sie mal den “gemäßigten Block”. Für sie steht nicht mehr die Stärkung autonomer politischer Subjekte im Mittelpunkt, sondern die bloße Teilnahme an der Regierung, die Sicherung der Regierbarkeit. Natürlich gibt es andere Kräfte in der PT. Aber das ist die herrschende Logik, die einen Konservativismus produziert, der nur noch die Regierungsbeteiligung im Auge hat. In dieser Perspektive von Realpolitik ist es immer besser, in der Regierung zu sein, als draußen, weil man dort mehr erreichen kann. Ich kann diese Sicht nicht teilen. Das Streben nach Regierungsbeteiligung muß zwangsläufig die Formierung autonomer politischer Subjekte aufgeben. Für mich sind aber Erfolge nur möglich über die Stärkung der autonomen Subjekte.
Aber muß das so entgegengesetzt gesehen werden? Auch eine Regierungsbeteiligung kann dazu beitragen, die autonomen Projekte zu stärken. Das war doch auch die Idee der ersten Administrationen der PT, die sich über “conselhos populares” (Volksräte) verankern wollten.
Wo sind diese conselhos populares verwirklicht worden? Die PT hat sich darauf verlegt, nur eine gute Verwaltung machen zu wollen. Aber das ist nur das absolute Minimum. Jeder Unternehmer will doch heute eine gut funktionierende Verwaltung. Gut, Cristovam Buarque, der neu gewählte PT-Gouverneur von Brasilia, hat auch die Umkehrung der Prioritäten auf seine Fahne geschrieben. Aber auch das unterscheidet die PT nicht von irgendeiner demokratischen Partei. Aber was würde sie unterscheiden? Eine Politik, die wirklich in die Gefüge der Macht eingreift und alternative politische Erfahrungen ermöglicht. Ich meine nicht, daß eine Regierungsbeteiligung per se die Stärkung autonomer politischer Projekte verhindert. Wenn aber die PT-Bürgermeisterin von Sâo Paulo, Luiza Erundina, sagte, sie wolle für alle regieren, dann will sie in Wirklichkeit nicht für alle regieren, sondern sich den dominierenden Interessen unterordnen. Ich stehe auch den Allianzen ablehnend gegenüber, die die PT bei den letzten Wahlen in verschiedenen Bundesstaaten gemacht hat, um in die Regierung zu kommen. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat
Aber die verschiedenen Erfahrungen, die die PT in verschiedenen Lokalverwaltungen gemacht hat, sind doch vielleicht in die Richtung gegangen, in die sie gegangen sind, nicht weil böse Reformisten sich durchgesetzt haben, sondern weil die realen Verhältnisse wenig Spielraum für Veränderungen lassen. Wir dürfen doch auch nicht vergessen, daß die PT oft zwar den/die Bürgermeister/in stellte, aber nicht die Mehrheit der Abgeordneten.
Aber das hängt doch davon ab, wie ich an die Regierung herangehe, ob ich sie als ein Form der Verwaltung sehe oder eine Form der Herrschaft. Im ersten Falle werde ich bemüht sein, die Regierbarkeit zu sichern, im zweiten, mit dieser Herrschaft zu brechen. Wenn ich das will, dann muß ich bereit sein, mit diesen Institutionen in Konfrontation zu gehen. Das erreicht man natürlich nicht innerhalb dieser Institutionen. Eine Partei, die Änderungen will, muß dann außerinstitutionelle Prozesse fördern. Wenn aber die Frage der Regierbarkeit im Mittelpunkt steht, dann handelt es sich um eine konservative Partei. Die PT in ihrer Mehrheit ist heute eine demokratische Partei mit sozialem Anliegen. Von ihrem Ursprung her trägt sie noch eine Spannung in sich. Sie vereinigt noch die Kräfte, die auf die Stärkung der autonomen Subjekte in den sozialen Bewegungen setzen und den Bruch. Aber ich würde sagen, daß das heute nur noch eine schwache Tendenz ist. Das ist alles mit einer Bürokratisierung der PT verbunden. Wer heute entscheidet, das ist der Apparat.
Glaubst Du, daß nach den letzten Wahlen die Linken in der Partei weiter an Einfluß verlieren werden?
Ich möchte eins klar stellen: Was die Presse jetzt so schreibt, daß die Linken in der Partei Einfluß auf die Wahlkampagne hatten und deshalb die Niederlage auf sie zurückfällt, halte ich für völligen Quatsch. Es war die Parteirechte, die die Kampagne dirigiert hat.
Die Rechten sind für die Niederlage verantwortlich
Was hatte denn die Partei für ein Regierungsprogramm? Was ist zum Beispiel die Position der PT zur Rolle des Staates? Zum einen verteidigt sie die korporativistischen Interessen der Staatsangestellten, zum andern stellt sie offen liberale Forderungen auf. Eine Wirtschaftspolitik der PT? Gibt es nicht. Es gibt eine Beliebigkeit, in der einfach ein Menü für alle Geschmäcker zusammengestellt ist. Und wer hat an der Ausarbeitung des Programms teilgenommen? Die sozialen Bewegungen sicherlich nicht.
Nach meinen Beobachtungen haben sie wohl teilgenommen. Zum Beispiel die Bewegungen, die sich um Stadtfragen kümmerten, haben Einfluß auf den betreffenden Teil des Programms genommen, ebenso die “ecologistas”.
Aber ist das zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt worden? Den entscheidenden Einfluß hatten einige Intellektuelle, die oftmals keine historischen Verbindungen mit den sozialen Bewegungen haben. Arbeiter, die soziale Basis – wo? Die Erfahrung der sozialen Kämpfe ist eine Leerstelle im Programmm der PT. Das Programm enthält das gesammelte technische und intellektuelle Wissen der PT-Experten.
Ich will regieren – wofür? Um die Gesundheitsversorgung, die Bildung zu verbessern. Das sagen doch alle. Ein Programm müßte vielmehr die Strategie einer Regierung bestimmen. Was sind die Machtinteressen, die ich angreifen will? Wer sind meine Feinde? Nehmen wir die Landfrage: Welche sozialen Kräfte auf den Land will ich schwächen, mit welchen gehe ich auf Konfrontation. Solche Fragen müßten gestellt werden. Das muß ein strategisches Programm diskutieren. Das jetzige Programm will die Regierungsfähigkeit untermauern und nicht eine Dynamik sozialer Kämpfe. Das ist für mich die große Scheidelinie. Jede linke Partei trägt wohl diese beiden Linien in sich, dieses Moment der Spannung muß es geben, es vitalisiert das Leben der Partei. Was ich befürchte, ist die Erstarrung aufgrund der Vorherrschaft der institutionalisierten Seite. Das geschieht zur Zeit in der PT.
Und die Wahlkampagne?
Das war doch die Herausstellung einer Persönlichkeit (Lula) und nicht die Formierung einer sozialen Dynamik. 1989 war das anders. Da waren die Massen und die PTistas auf den Straßen. Diesmal haben selbst die PT-Mitglieder die Kampagne nicht als ihre angesehen. Schwerwiegend war nicht die Wahlniederlage. Von den Stimmen her war das Ergebnis gar nicht schlecht.
“Die PT wurde politisch massakriert”
Schwerwiegend ist die politische Niederlage. Politisch wurde die PT massakriert. Sie konnte kein alternatives politisches Projekt stärken. Die PT erschien nicht als eine Partei mit einem grundlegend anderen Vorschlag, sondern als eine Partei mit sozialen Anliegen.
Aber vielleicht hat dies nicht nur mit Schwierigkeiten der PT zu tun. Weltweit stellt sich doch die Frage, was ist denn eigentlich noch ein linkes Projekt. Das heißt, wo ist überhaupt eine grundlegende Alternative in Sicht, wenn es im Augenblick wenig realistisch erscheint, einen Bruch mit den ökonomischen Machtstrukturen im Weltmarkt in Erwägung zu ziehen.
Ich glaube, das ist mehr eine politische denn eine ökonomische Frage. Laß mich ein Beispiel geben: Auf dem letzten Parteitag hat die PT aus ihrem Entwurf für das Regierungsprogramm die Legalisierung der Abtreibung gestrichen. Das war eine große politische Niederlage. Es war ein Verrat an einer ganzen Dynamik sozialer Kämpfe, um politische Allianzen zu suchen. Ein weiteres Beispiel: Die beiden gewählten Gouverneure der PT haben Militärs zu den Verantwortlichen für Sicherheitsfragen in ihren Regierungen ernannt.
“‘Wählt Lula’ ist kein Programm!”
Das heißt, die PT gibt demokratische Grundforderungen auf, nämlich daß die bewaffneten Kräfte einer zivilen Kontrolle unterstehen müssen. Hier geht es doch gar nicht um revolutionäre Forderungen. Selbst ganz gewöhnliche demokratische Ziele werden aufgegeben. Das ist die Konsequenz der Logik der Regierungsfähigkeit. Sie führt letztendlich zu einer Schwindsucht auch der Demokratie in der Partei.
Das führt mich zu der Frage nach dem Platz der Basis innerhalb der Partei. Gut sichtbar in der PT sind die Tendenzen, die spezifischen Gruppen wie Gewerkschaften und die professionalisierten Politiker. Schwierig ist es aber, eine funktionierende Basisgruppe (nucleo) der PT zu finden.
Klar, wenn die Partei ein Kanal der politischen Repräsentation, der Stellvertreterpolitik ist, dann sind die Basisgruppen der Partei nicht mehr wichtig. Die PT ist nicht mehr vorwiegend ein Ort der Organisation sozialer Kämpfe. Der nucleo ist nur noch wichtig als Organ der Repräsentation, das heißt: um gewählt zu werden, um an den Hierarchien der Partei teilzuhaben. Was für eine zentrale politische Forderung hat denn die PT in den vergangenen Jahren lanciert, außer “Wählt Lula”? Was waren die politischen Kämpfe, die die Partei in den letzten fünf Jahren geführt hat, bei denen sie die Bewegungen mobilisiert hat? Außer dem Kampf für die Amtsenthebung von Collor sehe ich da nichts. Dagegen sehe ich heute die große Gefahr, daß die PT die Kraft verliert, die Erfahrungen der Basis, der sozialen Bewegungen aufzugreifen. Das ist es, was mit den klassischen sozialdemokratischen Parteien, aber auch mit den kommunistischen Parteien geschehen ist. Ich will dabei gar nicht behaupten, daß die Basis gut und der Apparat schlecht ist. Auch bei der Basis, den sozialen Bewegungen gibt es Machtkämpfe, Intrigen. Aber ich will, daß diese Spannung zwischen Basis, zwischen Gruppen, die den Bruch wollen, und den konservativen Kräften aufrecht-erhalten bleibt. Nach den Wahlen versucht man nun, die Niederlage den Linken in der PT in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Skandal. Die PT hat doch keine linke Kampagne gemacht. Wen hat sie denn bedroht?
Nun, die “Rechten” in der Partei, allen voran Genoino behaupten, der große Fehler sei gewesen, nicht schon am Anfang der Kampagne eine Politik der Bündnisse entwickelt zu haben. Sie behaupten, daß eine Allianz mit der PSDB möglich gewesen sei, ja sogar der Eintritt der PT in eine Regierung Itamar. “Der Plano Real hätte unser sein können”, war zu hören.
Ja, das führt zu einer anderen Frage. Was ist denn der Charakter des neuen hegemonialen Blocks? Sich an der Regierung beteiligen zu wollen, setzt voraus, daß es in diesem Block einen Platz für die Volksbewegungen gibt. Die PT hat ihren Ursprung im demokratischen Kampf gegen die Militärdiktatur. Damals war es möglich auf der Grundlage demokratischer Forderungen, wie der nach Direktwahl, Bündnisse zu schließen. Diese Etappe hat sich erschöpft. Heute haben wir eine Demokratie in Brasilien, eine brasilianische Demokratie, die via Wahlen ein System der Repräsentation geschaffen hat. Heute muß sich doch die Frage so stellen: Was ist der Platz der progressiven, radikalen Volksbewegungen in einem neoliberalen Projekt? Welche Hoffnungen gibt es innerhalb dieses Projekts? Was heute die Gesellschaft spaltet, ist nicht mehr die Frage Diktatur versus Demokratie. Der neue hegemoniale Block hat sich entlang anderer Fragen herausgebildet und das hat die Linke nicht begriffen. Er ist heute etabliert, mit Widersprüchen und Schwierigkeiten, um neoliberale Politik in Brasilien effektiv umzusetzen. Fernado Henrique verkörpert diese Wendung gut. Er war ein demokratischer Kämpfer gegen die Diktatur. Er muß heute nicht aufhören Demokrat zu sein, um die Führungsfigur der Rechten zu werden. Fernado Henrique hat verkündet, daß wir in eine neue historische Etappe eintreten. Ich glaube, er hat recht, als Präsident und als Soziologe. Für die Linken kann sich doch nicht die Frage stellen, wie beteilige ich mich an diesem neuen hegemonialen Pakt, sondern wie kann ich ihn besiegen. Das haben weite Kreise in der PT nicht begriffen. Die PT ist heute ein Waisenkind des demokratischen Kampfes.
Teurer Atomstrom für Rio de Janeiro
Baubeginn für die Frucht des deutsch-brasilianischen Atomvertrags von 1975 war 1983. Dann begann eine scheinbar endlose Geschichte von Verzögerungen, Pannen und Kostenexplosionen. Waren zunächst 1,3 Milliarden US-Dollar veranschlagt, um Brasilien sein zweites Atomkraftwerk zu bescheren, so sind es nun 6 Milliarden US-Dollar. Von den bisher bereits ausgegebenen 4,6 Milliarden US-Dollar entfielen 1,7 Milliarden auf Zinszahlungen. Daß die teure Bauruine jetzt doch noch zu Ende gebaut werden soll, begründet die Regierung mit den Kosten, die Abriß oder Umwidmung verursachen würden: Die seien genau so hoch wie die Fertigstellung. Die Finanzierung der fehlenden 1,3 Milliarden US-Dollar wurde unter anderem dadurch gesichert, daß ein Kredit eines deutschen Bankenkonsortiums unter Führung der Dresdner Bank vergeben wurde. Dieser war ursprünglich für das geplante Atomkraftwerk Angra3 vorgesehen und wurde nun für den Weiterbau von Angra2 umgewidmet. Für die Fertigstellung hatten sich die wiedererstarkte Atomlobby und Unternehmer aus Rio eingesetzt, die in den nächsten Jahren Stromknappheit fürchten. Nach der Fertigstellung von Angra2 wird der Bundesstaat Rio de Janeiro 30 Prozent seines Stroms aus Atomkraftwerken beziehen.
Umweltgruppen, allen voran Greenpeace hatten im letzten Jahr versucht, die drohende Fertigstellung von Angra2 zu verhindern. Aber in der aktuellen politischen Diskussion, geprägt von neoliberaler Wende, Inflationsbekämpfung und Gewalt, blieb die Frage der Atomkraft nur ein Randthema, das lediglich eine Hand von SpezialistInnen bewegt. Hinzu kommt, daß in der Linken keineswegs Einigkeit zu diesem Thema herrscht. In der PT gibt es starke Strömungen, die mit nationalistischen Argumenten die Kernkraftoption für Brasilien verteidigen. Auch der PT-Bürgermeister von Angra hat sich keineswegs als Vorkämpfer gegen die Kraftwerke profiliert.
Im übrigen ist Angra ein gutes Beispiel für den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis im neoliberalen Diskurs. Eine Megawattstunde Strom von Angra2 soll nach bisherigen Berechnungen 120 US-Dollar kosten, dreimal mehr als die durchschnittlichen Kosten von 40 US-Dollar. Da Furnas aber nur den normalen Strompreis berechnen kann, wird der Rest von der Regierung übernommen. Für die Privatisierung von Angra2 hätten sich wohl kaum Kandidaten gefunden.
Die Projekte in Angra überbieten noch den normalen Wahnsinn der Atomenergie. Sie sind an einer der schönsten Küsten Brasiliens errichtet, mitten in einer Region voller kleiner Buchten und Inseln mit unzähligen Traumstränden. Bisher gehen die PlanerInnen wohl zu Recht davon aus, daß den meisten TouristInnen die Nähe zum Atomkraftwerk herzlich gleichgültig ist. Aber ein Unfall schon weit unter der Schwelle eines GAUs kann eine solche Einstellung schnell ändern. Zudem haben die PlanerInnen die Kraftwerke an einer erdbebengefährdeten Stelle erbaut.
Für eingefleischte RealpoltikerInnen kann aber doch eine Erfolgsbilanz gezogen werden: Ursprünglich waren im deutsch-brasilianischen Atomvertrag acht Kraftwerke vorgesehen. Die Umwidmung der Kredite von Angra3 auf Angra2 deutet darauf hin, daß selbst die BetreiberInnen zur Zeit keine Möglichkeiten sehen, weitere Atomkraftwerke in Angriff zu nehmen. Aber immerhin, mit Angra2 halten sie die Atomenergieoption für Brasilien offen. Auch die AtomkraftgegnerInnen haben nicht ganz aufgegeben. Zur Zeit wird sondiert, wie mit juristischen Mitteln die Inbetriebnahme vielleicht doch noch verhindert werden kann. So entspricht der Katastrophenplan nicht den atomrechtlichen Anforderungen der brasilianischen Gesetzgebung. Ein funktionierender Katastrophenplan, so sagen die KritikerInnen, ist aber praktisch unmöglich.
(Zahlenangaben nach Jornal do Brasil vom 13.12.1994)
Wasmosy in Bedrängnis
In den 35 Jahren seiner Herrschaft hatte Stroessner seine Getreuen fest im Griff. Durch Einschüchterungen, öffentliche Exekutionen, drakonische Strafen und ein unüberschaubares Herr von Spitzeln, die Pyragués (was in der Indianersprache Guaraní diejenigen bezeichnet, die sich zum Anschleichen Fell an die Fußsohlen kleben), machte er Paraguay in kürzester Zeit zur Tierra de paz y sol, zu seinem “Land des Friedens und der Sonne”.
Doch auf einmal waren der Karaí Guazú, der große Herrscher und sein Parteiapparat, deren Liebe offiziell nur dem einfachen Volk galt, verschwunden, vertrieben von anderen Militärs, über deren Lippen ein neues Zauberwort kam: Demokratie.
Nach der Interimspräsidentschaft des Generals Rodriguez wurde im Mai 1993 der erste zivile Präsident des Landes gewählt, der Ingenieur Juan Carlos Wasmosy, Mitglied der Colorado-Partei, die seit fünfzig Jahren die Regierung stellt. Doch schnell schwand seine Popularität, besonders bei seinen eigenen Parteigenossen. Wasmosy habe, so wird heute offen behauptet, bei den internen Wahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Partei Wahlfälschung zu seinen Gunsten betrieben. Sein Gegner, der ehemalige Chef des Justizapparates Luis Argaña, der mit seinen populistischen Reden und seinem Wunsch nach der Rückkehr Stroessners große Teile der Landbevölkerung hinter sich wußte, führt nun verärgert die Riege der Stronistas an, deren Herzenswunsch die Herstellung alter Verhältnisse ist.
Wasmosy, der durch den Bau des Staudammes Itaipú vermögend wurde, ist für die meisten Paraguayos ziemlich unglaubwürdig, wenn es um die Demokratisierung des Staates und die Reform des Justizwesens geht. Wasmosy ist sicherlich der falsche Mann, um den Schmuggel, von dem ein Großteil der Volkswirtschaft lebt, und die Korruption zu unterbinden. Seine Lippenbekenntnisse verhallen unbeachtet.
Positive Veränderungen gibt es dennoch: Neben der Justiz- und Verfassungsreform ist die Zensur abgeschafft. Mutige JournalistInnen werden allerdings immer wieder Opfer von Verfolgungen. Plötzlich ist der so lange geheimgehaltene Drogenhandel ein Thema: Dutzende von kokainbeladenen Flugzeugen, die von den Andenländern nach Rio und Sâo Paulo unterwegs sind, landen angeblich täglich auf entlegenen Militärflugplätzen in Paraguay und werden hier gegen Entgelt gewartet und aufgetankt.
Da unter Stroessner Korruption und Schmuggel als Mittel zur Sicherung des sozialen Friedens gebilligt wurden, haben viele Großgrundbesitzer, Kaufleute und Militärs durch undurchsichtige Transaktionen unermeßliche Reichtümer angehäuft und öffentliche Posten besetzt. Die riesigen Villen der Nobelviertel zeugen davon. Ein besonders krasses Beispiel ist da der Ex-Präsident selber. Im Viertel Las Carmelitas hat sich General Rodríguez ein Loire-Schloß nachbauen lassen, das von mehreren Hundertschaften Soldaten bewacht wird. Im Bad des Ex-Präsidenten sind alle Armaturen angeblich aus purem Gold, wie die Gerüchteküche auf dem Pettirossimarkt zu berichten weiß. Auf die erwirtschafteten Pfründe will verständlicherweise kein Nutznießer der Diktatur freiwillig verzichten, eine wirksame Transformation der ungleichen paraguayischen Gesellschaft wird von vielen wissentlich verhindert.
Neoliberalismus all überall
Die Wirtschaftspolitik Wasmosys schwimmt voll auf der neoliberalen Woge, die in Südamerika um sich greift. Staatsbetriebe sollen privatisiert werden und die Wirtschaft wird nicht zuletzt durch den Mercosur seit dem 1. Januar weiter geöffnet. Die möglichen Auswirkungen des Mercosur sind noch nicht klar abzusehen. Paraguay steuert zum gesamten Bruttosozialpodukt der vier Länder nur ein Prozent bei. Bestenfalls, so hofft man, kommt es durch den Mercosur zu einer Entkriminalisierung des Schmuggels und zur Verringerung des Autodiebstahls in den Mitgliedstaaten, für den Paraguay in den letzten zwanzig Jahren hauptsächlich verantwortlich war, und der generalstabsmäßig vom Militär organisiert wurde. Im schlimmsten Fall aber wird durch die industrielle Übermacht Argentiniens und Brasiliens auch der letzte Keim industrieller Eigenproduktion erstickt.
Die politische und ökonomische Realität nach anderthalb Jahren Wasmosy ist ernüchternd: Die Reallöhne fallen konstant, die Inflation ist mit über zwanzig Prozent im internationalen Vergleich zu hoch, Arbeit gibt es immer weniger. Laut Economist benehmen sich die Politiker Paraguays, die sich seit fünf Jahren in der Demokratie üben, wie im Kindergarten. Die ganze Situation sei a great mess, ein großes Durcheinander.
In dieses Durcheinander und in die schwierige wirtschaftliche Situation des durchschnittlichen Paraguayos mischt sich eine weitere Sorge. Die starke Zunahme von Raubüberfällen und Einbrüchen verunsichert die BewohnerInnen Asuncións zusehends, obwohl die Kriminalitätsrate auch im Vergleich zu europäischen Maßstäben immer noch gering ist. Es sind Boulevardblätter wie La Crónica, die mit unappetitlichen Farbfotos jedes Ermordeten die Angst noch weiter schüren.
Und immer wieder: Putschgerüchte
Rufe nach einem neuen starken Mann im Staat werden immer lauter. Für viele ist dieser Mann General Lino Oviedo. Als Chef des ersten Heereskorps ist er der mächtigste Offizier im Staat, untersteht ihm doch die einzig wirklich kampffähige Einheit der Streitkräfte. Putschgerüchte in Asunción gibt es immer wieder, und die politischen Ambitionen Oviedos sind seit langem bekannt. Öffentlich beteuerte Oviedo beim Amsantritt Wasmosys, es sei seine Pflicht, “als Soldat und Bürger der Demokratie und der Freiheit” loyal zu seinem Präsidenten zu stehen. So bleibt für Paraguay zu hoffen, daß Oviedo eine Tradition der paraguayischen Militärs bricht und sein Wort hält. Einen Putsch könnte er sich aufgrund der folgenden internationalen Isolation kaum leisten. Er hätte ihn auch gar nicht nötig, seine Wahl zum nächsten Präsidenten gilt als sicher.
Kasten:
Der Präsident und der Staudamm
Die Fische bereiteten den Ingenieuren von Yasyretá, dem zweitgrößten Staudamm Südamerikas am Rio Paraná an der Grenze zwischen Argentinien und Paraguay, besonderes Kopfzerbrechen. Um ihnen das Überwinden des neuen Höhenunterschiedes zu ermöglichen, ersann mensch etwas sehr Skurilles: einen Fischaufzug. Anscheinend waren tausende Surubís, Dorados und andere Tropenfische aber von der Technik hilflos überfodert. Tot trieben sie kurz vor der feierlichen Einweihung des Staudammes am 2. September letzten Jahres auf dem Paraná.
Dreizehn Jahre nach dem geplanten Fertigstellungstermin ging nun die erste von insgesamt zwanzig Turbinen des Wasserkraftwerkes endlich ans Netz, alle 72 Tage soll eine weitere folgen. Yasyretá erreicht jedoch im Durchschnitt mit 3080 Megawatt nur ein Viertel der Kapazität des Itaipú-Staudammes, des größten Wasserkraftwerks der Erde, das ebenfalls am Paraná von Paraguay und Brasilien betrieben wird.
Als 1973 der Vertrag von Itaipú zwischen Brasilia und Asunción unterschrieben war, erwachte die alte Rivalität zwischen den Giganten Argentinien und Brasilien. Der bereits schwer erkrankte argentinische Präsident Perón schickte umgehend seine Frau Isabel in die paraguayische Hauptstadt, wo sie mit dem Diktator Stroessner den Vertrag über die hydroelektrische Nutzung des Paraná nahe der Insel Yasyretá abschloß.
Das paraguayische Volk nimmt die Existenz des neuen Staudamms außerordentlich gelassen hin. Mit der ökologischen Katastrophe, die eine künstliche Anhäufung solcher gewaltiger Wassermassen verursacht, hat mensch ja Erfahrung, schließlich hat das Aufstauen des Paraná durch Itaipú ab 1982 das gesamte Klima Paraguays durcheinandergebracht. Der Regenkalender des Forschers Moises Bertoni, der Anfang dieses Jahrhunderts durch intensive Wetterbeobachtung eine Tabelle entwickelte, mit deren Hilfe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Regentage vorausberechnen konnte und die in keinem paraguayischen Haushalt fehlt, ist unbrauchbar geworden. “El tiempo hace lo que quiere”, das Wetter macht was es will, sagt Carolina Acosta, eine junge Verkäuferin aus dem immerschwülen Asunción und zeigt belustigt auf einen dicken wollenen Strampelanzug: “So etwas trugen die Babies früher, als es im Juli noch kalt wurde”, lacht sie.
Daß die Anrainer des angestauten Beckens von Itaipú ein erhöhtes Auftreten von Leishmaniose und anderen durch Stechmücken übertragbare Krankheiten beobachten, bringt niemanden aus der Ruhe. Eher schon die Tatsache, daß durch Itaipú die angeblich schönsten Wasserfälle der Erde, die Sete Quedas, für immer verschwunden sind.
Für Yasyretá erwartet man ähnliche Folgen: 800 Quadratkilometer des paraguayischen Territoriums werden in den nächsten Monaten für immer überschwemmt, aber “nur” 200 Quadratkilometer auf der argentinischen Seite. 27 paraguayische Inseln werden unter den Wassermassen verschwinden, darunter auch diejenige, die dem Damm den Namen gab und die als eines der letzten Refugien subtropischer Flora und Fauna gilt. Auch die Menschen sind betroffen: 3.974 Familien müssen allein in Paraguay umgesiedelt werden, und ein ganzer Stadtteil der drittgrößten paraguayischen Stadt Encarnación wird evakuiert.
12 Milliarden US-Dollar wird Yasyretá bei seiner endgültigen Fertigstellung verschlungen haben. Die Finanzierung teilen sich die Weltbank, die Interamerican Development Bank, die argentinische Regierung und einige private Investoren. Bei der Finanzierung von Yasyretá wird analog wie bei dem Kreditmodell Itaipús vorgegangen: Argentinien gibt das Geld, Paraguay das Wasser seiner Flüsse. Die dadurch entstandene Geldschuld Paraguays wird mit dem Strom des neuen Kraftwerks abbezahlt. Im Klartext heißt das, daß Paraguay in den nächsten zwanzig Jahren so gut wie keine einzige Kilowattstunde von Yasyretá beziehen wird. Einen dringenden Bedarf Paraguays an Strom gibt es ohnehin nicht. Durch Itaipú erhält das kleine Land mit seinen fünf Millionen EinwohnerInnen mehr Elektrizität als es jemals verbrauchen könnte, so daß über 80 Prozent des Stroms nach Brasilien exportiert wird.
Kritik an dem Projekt Yasyretá kommt dem Präsidenten sehr ungelegen. Die mutige Zeitung ABC Color wies in einem Editorial unmißverständlich daraufhin, daß Paraguay den neuen Staudamm nicht benötige. Den Strom brauche man sowieso nicht, der sei schließlich für Buenos Aires, aber der ökologische Preis, den Paraguay zahlt, sei, wie die Redakteure befanden, einfach zu hoch.
Offizielle Stellen, allen voran Wasmosy selber, reagieren gereizt auf solche unpatriotischen Meinungen. Die Hauptsache sei schließlich, daß das technische Wunder der hydroelektischen Energieerzeugung mit paraguayischem Wasser zustande komme. Darauf könne doch jeder Paraguayo und jede Paraguaya stolz sein, heißt es.
Auf den Präsidenten hört das paraguayische Volk jedoch kaum. Wasmosy, so sagt man in Asunción, sei bola, ein Mensch, der meist die Unwahrheit erzählt. Der Staatsmann besitzt die größten Baufirmen des Landes und wurde durch den Bau von Itaipú vermögend. Sein argentinischer Kollege Menem provozierte vor fünf Jahren, als die Fertigstellung Yasyretás noch in den Sternen stand, eine diplomatische Krise zwischen beiden Ländern. Yasyretá, so sagte er damals, sei nichts anderes als ein Betondenkmal der Korruption.
Philipp Lepenies
Die Seifenblase ist geplatzt
Salinas de Gortari, der erst im Dezember das Präsidentenamt an Zedillo abgegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte abwerten sollen. Seine Regierung habe jedoch im Vorfeld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgründen nicht von ihrer Wechselkurspolitik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezember immer noch ihre ökonomische Erfolgsbilanz, die sich ebenfalls auf Stabilität gründete: Geringe Inflation, die allerdings nur wegen eines immer größer werdenden Kapitalbilanzdefizites möglich war, machte die Staatspartei, im Bewußtsein der Wähler, zum einzigen Garanten der Stabilität und sicherte ihr bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN werfen dem Ex-Präsidenten Salinas inzwischen persönliche Bereicherung vor. Doch die USA, deren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbeschränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne entsprechende Pesoabwertungen lobte, fördern die Kandidatur Salinas zum Vorsitzenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welthandelsorganisation) weiterhin. Salinas zeige hervorragende Führungsqualitäten, erklärte US-Handelsminister Ron Brown. Der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei bekannt gewesen, daß der Wechselkurs des Peso korrigiert werden mußte. Die Regierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomischen Daten gut nach außen habe darstellen können. Diese Seifenblase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wieder einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schockprogramm Zedillos wird natürlich vom Internationalen Währungsfond (IWF) unterstützt, in der Bevölkerung dürfte der Rückhalt allerdings nicht groß sein. Im Notstandsprogramm sind innerhalb der nächsten zwei Jahre lediglich Lohnsteigerungen von sieben Prozent vorgesehen. Die Unternehmen konnten nur zu dem Versprechen gebracht werden, die Preise nicht “ungerechtfertigt” zu erhöhen. Dieses “Abkommen für die Einheit”, das Anfang Januar von der Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband und den Unternehmen ausgehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vorgesehen, die Staatsausgaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu verhindern.
Doch inzwischen meldete die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter den Anspruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Angestellten der staatlichen Presseagentur Notimex verlangen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Nationale Kammer der Weiterverarbeitenden Industrie (Canacintra), die 85 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in Mexiko repräsentiert, forderte ein sechsmonatiges Schuldenmoratorium und die Stundung von Steuerrückständen. Außerdem forderte der Verband Hilfe für Unternehmen, die vor der Abwertung Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten. Alle Importprodukte sind wesentlich teurer geworden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölgesellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungsvertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu privatisieren, wächst. Immerhin war die mexikanische Regierung erstmals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu verwenden. Denn die Kapitalflucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeblich bis zu zehn Milliarden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko geworben werden. Zwar sind diese Summen überwiegend im nichtproduktiven Bereich eingesetzt worden, denn Spekulation verspricht höhere Gewinne, doch die Sicherung ausländischer Kapitalanlagen in Mexiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikanischen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vorzüge des Standortes Mexiko. Enrique Vilatela, Präsident der Banco Nacional de Comercio Exterior und Leiter der vom mexikanischen Finanzministerium nach Europa entsandten Delegation, verkündete in Frankfurt, daß über konkrete Finanzarrangements nicht gesprochen worden sei. Doch mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, beteiligten sich zwei deutsche Großbanken an einem Stützungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über dessen Modalitäten nichts bekannt wurde und der Teil eines 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind insgesamt 30 internationale Geldinstitute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kreditbürgschaften von bis zu 40 Milliarden Dollar bereitstellen, um Mexikos kurzfristige Zahlungsverpflichtungen auf einen längeren Zeitraum umschulden zu können.
Durch diese offene Unterstützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Prozent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dollar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Autoproduktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexikanische Inlandsnachfrage zusammengebrochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Arbeitsrechte Halbfertigprodukte aus den USA zusammengefügt und wieder in die USA re-importiert. Jede Lohnsenkung erhöht die Profite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexikanischen Krise auf ganz Lateinamerika ist währenddessen unübersehbar. Mexiko als eines der größten und entwickeltsten Länder des Subkontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbunden ist, symbolisierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf diese Weise den gesamten Kontinent stabilisieren wollen, beginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neugeschaffene Währung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird abgewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Börsenkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für den Nachbarstaat Argentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinnehmen. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Ausweitung des Freihandelsabkommens NAFTA auf den gesamten Kontinent auf Schwierigkeiten stoßen. Der extrem ungleich verteilte Reichtum in Lateinamerika erscheint zwar in den Handelsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung gefährden.
Kasten:
Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.
Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. “Tierra”: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die “Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes”, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-
Nein zur Gewalt gegen Frauen
Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) konstatiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, beobachten Menschenrechts- und Frauenorganisationen gleichzeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Diktatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Auseinandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herrschende politische und ökonomische System. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schlagen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivistinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, ermordet und zerstückelt oder – genauso sensationalistisch – vermarktet als strahlende Gewinnerin eines regionalen, nationalen oder weltweiten Schönheitswettbewerbes. Weder die Gewalt noch die Misswahlen kennen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der selben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltriges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldungen nicht. Ein für Zentralamerika einmaliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weiblichen Polizistinnen besetzt ist, registriert nur einen Bruchteil der Gewalttaten, die in der Hauptstadt begangen werden. Und obwohl viele andere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzentren wenden, ist die Zahl der tatsächlichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusammengeschlossen. Das Netz gehört damit zu den wenigen Bewegungen Nicaraguas, die noch nicht von inneren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauengesundheitszentren von Si Mujer und Ixchen, die Stiftungen Xochiquetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzentren von AMNLAE, der sandinistischen Frauenorganisation, die bisher mit den unabhängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewaltigungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zunimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden können und daß sie dieses Unrecht nicht stillschweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Erfolg unserer Kampagne”, so Paola.
Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffentlicht, die kostenlos landesweit mit Auflagen von über 50 000 Exemplaren verteilt wurden. In der leicht verständlich geschriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtliche Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwartet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch immer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chancen, dorthin wieder zurückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinamerikas, illegal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetzbuch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhandlungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Verurteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Jugendliche beiderlei Geschlechts und zeigen, wie Gewaltstrukturen entstehen und wie sie abgebaut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bildungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publikationen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen genutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zusammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominikanischen Republik und Venezuela bei der Generalversammlung der lateinamerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionierung und Vernichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfassende Konvention bietet die rechtliche Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugunsten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Gewaltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäusern und psychologischen Beratungsstellen, die Anstellung speziell geschulten Personals in den Justizapparaten, sowie die Bereitstellung staatlicher Mittel zur Zahlung von Wiedergutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Parlament ratifiziert und in die Praxis umgesetzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Gesundheitspolitik seit der Weltbevölkerungskonferenz vom Opus-Dei-Mitglied und Erziehungsminister Humberto Belli diktiert wird, gerät dadurch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, daher brauchen wir die 40 000 Unterschriften”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.
Favela-Einsätze gegen ramponiertes Image
Elói Pietá referierte im Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) zu staatlicher Gewalt in Brasilien, und das heißt im extremen Fall: zu Folter, Mord und Totschlag durch die Polizei und parastaatliche Einheiten. Seit vielen Jahren ist Pietá als engagierter Gefängniskritiker und Mitglied zahlreicher Ausschüsse zur Untersuchung von Massakern und Folter in Brasilien bekannt. Staatliche Gewalt richtet sich laut Pietá in Brasilien ganz offensichtlich gegen die Armen, jede Statistik belege das. Hintergrund sei die soziale Ungleichheit, die in dem südamerikanischen Land besondere Ausmaße angenommen habe.
“An den Verhältnissen in den brasilianischen Gefängnissen ist die soziale Ungerechtigkeit deutlich ablesbar: 80 Prozent der Personen befinden sich dort wegen Einkommensdelikten”, das ist die erste Bilanz, die Pietá an diesem Abend vorstellt. Die zweite bezieht sich auf die gezielten Todesschüsse der Militärpolizei. “1990 kamen allein im Großraum Sao Paulo ca. 1000 Personen durch Schußverletzungen der Militärpolizei um. Es handelt sich dabei meist um regelrechte Hinrichtungen, obwohl die Todesstrafe seit der Errichtung der Republik 1889 abgeschafft ist. 1992 waren es in Sao Paulo bereits 1.471 gesetzeswidrige Hinrichtungen.”
Die “Sicherheitsdebatte”
Elói Pietá ist einer der wenigen, der sich um kritische Erklärungsmuster für die Gewalt durch staatliche Apparate bemüht. Wie wir auch aus den hiesigen Medien wissen, wird normalerweise weggeschaut, wenn es um strukturelle Formen der Unterdrückung geht. Spektakulärer, als Nachricht besser verkaufbar und im Wahlkampf stimmeneinträglicher ist dagegen die “Sicherheitsdebatte”, deren strategische Dimension ausgeblendet wird. Pietá machte darauf aufmerksam, daß am vergangenen 15. November beide Kandidaten der Gouverneurs-Stichwahl des Bundesstaats von Rio de Janeiro vorbehaltlos hinter der Militarisierung der inneren Sicherheit standen, hinter den geschaffenen Fakten in der Stadt Rio: der Armee um und in den Favelas.
Dabei verdient dieser Fall mehr als eine kritische Randbemerkung, hat hier doch die Armee neun Jahre nach Ende der Diktatur die politische Initiative offensiv in die Hand genommen. Den Schlüssel dazu lieferte der Think-Tank der militärisch-wirtschaftlichen Elite Brasiliens, die Höhere Kriegsakadamie (ESG). Seit Ende der Ost-West-Konfrontation hat dort eine intensive Debatte über die zukünftigen Beziehungen zwischen Militär und Gesellschaft eingesetzt. Die alte Doktrin der Nationalen Sicherheit, die jede Opposition und jeden Unruhefaktor als Ausdruck des Einflusses der Sowjetunion bekämpft hatte, wurde mehr und mehr durch Konzepte ersetzt, die um die soziale Frage kreisten. Die Umdeutung der Widersprüche des Landes in einen Fall von Kriminologie, von Notstand durch Armut, nahm seinen Lauf. Parteien und viele Nichtregierungsorganisationen gingen in den letzten Jahren auf Gesprächsangebote der ESG ein; es entstand ein wahres Netzwerk an Sicherheits-Diskussionen. Immer im Visier: Die BewohnerInnen der Favelas, die Delinquenten.
So entstanden auf der einen Seite elaborierte Konzepte der militärischen “Banditenbekämpfung”, gebilligt durch die großen Parteien. Bekannt wurde 1989 die Schrift “Struktur der Macht für das Jahr 2001”, vorgelegt von der ESG. Szenario ist dort u.a. der Einsatz der Armee gegen Straßenkinder mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Exekutionskommandos gegen die Armen
Auf der anderen Seite entwickelten sich nach 1989 die existierenden Spezialeinheiten zu wahren Exekutionskommandos. Pietá merkt zur Herkunft dieser Gruppen und zum Hintergrund der gesetzeswidrigen Hinrichtungen an: “Die heutige Struktur der Militärpolizei ist während der Diktatur organisiert worden. Damals wurden besondere Elite-Einheiten gegründet, zum Einsatz gegen die Aktionen der politischen Opposition. Mit dem Ende der Diktatur änderte sich der Aufgabenbereich dieser Spezialeinheiten. Sie wurden nun in erster Linie gegen die Armen eingesetzt, gegen die Armutskriminalität. Typisch für diese Einheiten ist ihre personelle Kontinuität. Die Kommandanten der speziellen Repressionstruppen der 70er Jahre sind inzwischen die Karriereleiter hochgeklettert, sie befinden sich heute in der Kommando-Ebene der Polizei.”
Die tödliche Gewalt dieser Einheiten wird dadurch gefestigt, daß sie von den Medien, fast allen Parteien und der Regierung toleriert wird. “Die Regierung übernimmt zwar in der Öffentlichkeit nicht die Verantwortung dafür, aber doch sind die Morde inzwischen ein integraler Bestandteil der Regierungspolitik.” Eine deutliche Anklage. Pietá belegt sie mit einer Statistik aus dem Jahr 1993: Nach dem Gefängnismassaker in Carandiru (Sao Paulo, 2.-3. Oktober 1992) kam es zu einer Welle der Empörung auf nationaler wie internationaler Ebene, die Regierung geriet unter Druck. Herausgekommen war: Militärpolizisten hatten nach einer angeblichen Rebellion in einem Trakt mindestens 111 Gefangene umgebracht. Die Gefangenen saßen oder lagen in den Zellen auf dem Boden – so die Rekonstruktion – ,als sie von den Maschinengewehrsalven (u.a. Heckler & Koch) getroffen wurden. Verletzte wurden anschliessend exekutiert.
Nach der großen Empörung sank im folgenden Jahr 1993 die Zahl der gesetzeswidrig Hingerichteten im Großraum Sao Paulo auf 400 Personen. “Wenn die Regierung will,” so Pietá, “kann sie die Hinrichtungspraxis reduzieren und beenden, sie hat selbst den Beleg geliefert.”
Nun hat die Armee interveniert. Ein Ziel ist, so gibt sie bekannt, die Säuberung der Militärpolizei von korrupten Chefs und Einheiten. In den letzten Jahren hat die Militärpolizei in Rio de Janeiro tatsächlich ihr Gesicht verloren. Da waren die Menschenrechtskampagnen gegen die gesetzeswidrigen Hinrichtungen und Folterpraktiken, da waren die Aufdeckungen von Todesschwadronen in ihren Einheiten, da waren die Verstrickungen großer Teile der Militärpolizei mit dem Drogenhandel. Konkurrenzkämpfe unter Drogenkartellen waren vermutlich der Grund für Rachefeldzüge der Militärpolizei gegen Armensiedlungen. Zivilbevölkerung als Geisel, als Stimmvieh, als Hochburg territorialer Männerherrschaft – das ist die Realität für die Favela-BewohnerInnen von Rio de Janeiro.
Neue Konzepte?
Die aktuellen Nachrichten über den Armee-Einsatz weisen darauf hin, so Pietá, daß sich an dieser Konstellation im Grunde nichts ändern werde. Neben den Elite-Einheiten der Armee gehe der Drogenhandel sichtbar weiter. Die Profitstrukturen der großen Kartelle würden nicht angegriffen.
Das Kommando über diesen Einsatz verbindet Militär, Geheimdienste und Polizeiapparate in einer Hand. Vorbild dieser organisatorischen Zusammenfassung ist das Modell der CODI der Militärdiktatur; das waren die Einheiten, die Kommando-, Folter- und Mordfunktionen koordinierten. Heute heißt dieses Zentrum in Anlehnung daran COSI (statt “Operations-zentrum zur Inneren Verteidigung” nun “Operationszentrum zur Inneren Sicher-heit”), und General Newton Cruz spricht bereits davon, daß nur noch die traditionelle Anbindung der Geheimdienstebene fehlt.
Die Armee-Einheiten umstellen nach und nach die Favelas. Alle Zugänge werden kontrolliert. Wer keinen Ausweis hat, wird abgeführt. Kinder werden angehalten und entwürdigend von den hochbewaffneten Soldaten durchsucht. Dann kommt der Sturm auf die Favela, mit Hilfe von Hubschraubern und Panzern. Zum angekündigten Krieg kommt es nirgends. Die bewaffneten Gruppen der Drogenkartelle und anderer Organisationen verschwinden einfach und kommen abends wieder, wenn die Soldaten nach Hause gehen.
Die Armee demonstriert, zunächst unter Ausschluß der JournalistInnen, dann mit aller Medienmacht, daß die BewohnerInnen der Armensiedlungen von wesentlichen Rechten ausgeschlossen sind: Auf das Vorweisen eines richterlichen Durchsuchungsbefehls dürfe niemand pochen, so Elói Pietá. Vier Millionen Menschen wohnen in Rio und Sao Paulo in Slums, gegen sie gelte eine Art Notstand. Illegale Razzien und Interventionen der Armee unterstrichen dies.
“Aus der Geschichte wissen wir” – so Pietá – “daß die Militärs gerne dort bleiben, wohin sie ausgerückt sind, und daß sie eher noch ihren Einfluß in andere Bereiche der Gesellschaft ausdehnen. In jeder brasilianischen Großstadt gibt es Favelas, die nach dem neuen Konzept der Armee zu Orten ihrer Intervention werden können. Zwei Jahre lagen die neuen Pläne gegen die Armen in der Schublade der Militärstrategen. Ihr Problem war, wie sie das ramponierte Image der Militärs nach der Zeit der Diktatur und des Kalten Kriegs wieder aufpolieren könnten. Die Hysterie zu Fragen der inneren Sicherheit war nur Mittel zu diesem Zweck.”
Was bleibt von den Intellektuellen?
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit Musik und Fernsehbildern – oder wird sogar gänzlich ersetzt.
Der Schwarze Zeitabschnitt
Immanuel Wallerstein behauptete kürzlich, der “Schwarze Zeitabschnitt” habe begonnen, “der symbolisch betrachtet bereits 1989 begann und mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wird.” In unserer Zeit gebe es keinen gemeinsamen sozialen Diskurs mehr, so daß in naher Zukunft “die Menschen blind handeln werden.” Wallerstein ist gewiß nicht der Einzige, der meint, die Gegenwart sei verwirrend und die Zukunft unvorhersehbar. In Lateinamerika tragen Jugendliche aus Randgruppen T-Shirts mit dem Aufdruck “sin futuro”. Diesen Slogan könnten sich auch die Intellektuellen zu eigen machen, von denen viele immer noch dem Ende der Utopie nachtrauern. Wenn die Unsicherheit in dieser Region besonders tief verwurzelt ist, dann vielleicht deshalb, weil Lateinamerika von der Kolonialzeit an ein ausgewählter Ort für die Verwirklichung utopischer Projekte war, so wie die Gründung von Vera Paz durch die Dominikaner im 16. Jahrhundert, die tolstoischen Zurück-aufs-Land-Utopien jener, die die europäische Industrialisierung Anfang dieses Jahrhunderts ablehnten sowie die politischen Utopien der Guerillabewegungen in den letzten Jahren. Die utopische Zukunftsvision ist jedoch verschwunden. Wenn es überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft gibt, dann gleicht sie einer Stadt in Trümmern so wie in dem Roman “Maytas Gechichte” des peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa, oder bestenfalls der gemäßigten sozialdemokratischen Form der “Utopía Desarmada” des mexikanischen Politikwissenschaftlers Jorge Castañeda.
Das Projekt Kuba
Die utopische Vision wurde von einer literarisch gebildeten Intelligenz aufrechterhalten, deren Medium die Schrift ist. Diese Intellektuellen formten die Identität von Nationen. Sie waren es, die als kritisches Bewußtsein der Gesellschaft agierten, als Stimme der Unterdrückten, als Lehrer der künftigen Generationen. Sie standen nicht nur in hohem Ansehen, sondern hatten auch von sich selbst eine hohe Meinung. Kubas Unabhängigkeitsheld José Martí gilt noch immer als “der Apostel”. Der Mexikaner José Vasconcelos verglich sich selbst mit Moses, und für den nicaraguanischen Dichter Rubén Darío waren Dichter die “Bollwerke Gottes”. Dieses Ansehen muß im Zusammenhang von Gesellschaften mit einer geringen Lesefähigkeit verstanden werden. Die Intellektuellen traten nicht nur als Hauptakteure auf der öffentlichen Bühne hervor, sondern auch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung- als Vermittler für die unteren Klassen und Anwälte sozialer Veränderung.
Die kubanische Revolution war sowohl ein Ereignis von kultureller als auch politischer Bedeutung für die lateinamerikanische Intelligenz. Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa gehörten zu ihren ersten Anhängern. Länger als ein Jahrzehnt hatte Kuba die politische Kultur in der Hemisphäre mitgestaltet. In den späten sechziger Jahren wurde die Definition von revolutionärem Schreiben immer enger gefaßt. Die Homosexuellenverfolgung in Kuba sowie die Maßregelung und spätere Gefangenschaft des Dichters Heberto Padilla Anfang der 70er Jahre spalteten die Autoren in jene, die wie García Márquez weiterhin die Revolution unterstützten, und jene, die wie Vargas Llosa zu deren Kritikern wurden.
Die herrschende Unsicherheit
Aber die Desillusionierung bezüglich des Sozialismus, die Wahlniederlage der Sandinisten und der Zusammenbruch des Kommunismus erklären die herrschende Unsicherheit nicht vollständig. Die Werke der Gegenwartsautoren in Süd- und Zentralamerika spiegeln auch die traumatischen Nachwirkungen repressiver Militärregierungen und Bürgerkriege, gefolgt von einer neuen Ära der Modernisierung unter der Ägide des Neoliberalismus wider, die extreme Armut und schnelle technologische Entwicklung vermischt hat. Diese Modernisierung macht sich besonders durch dramatische Veränderungen der Stadt bemerkbar. Die sonst so vertrauten Stadtlandschaften mit ihren Kneipen, zentral gelegenen Theatern und öffentlichen Plätzen haben sich in einen urbanen Alptraum verwandelt. Kulturelle Orte wurden praktisch vernichtet. Zuhause Videos anzusehen wird als sicherer und praktischer empfunden als abends in den gefährlichen Stadtzentren auszugehen.
Überall im heutigen Lateinamerika verspürt man die schwindende Bedeutung der Literatur und ihre Verdrängung aus den öffentlichen Diskursen. Diese Verdrängung wird von der wachsenden Privatisierung der Kultur noch verschärft. Zunehmend werden kulturelle Institutionen wie Galerien, Musikunternehmen und Fernsehkanäle von Privatunternehmern geführt. Sogar die nationalen Universitäten, traditionell Zentren politischer Aktivitäten, konkurrieren heute mit unzähligen privaten Universitäten, die in der Mehrzahl eher auf Wirtschaft denn auf Kultur ausgerichtet sind. In Mexiko, wo die Kultur immer unter starker staatlicher Schirmherrschaft stand, ist der Fernsehmagnat Emilio Azcárraga, der Telenovelas in so entfernten Ländern wie Rußland und China vertreibt, heute zu einem der führenden Akteure der Kunstwelt geworden.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben eine neue Klasse von Technokraten und ein neues Publikum hervorgebracht, für die das gedruckte Wort seinen Glanz verloren hat. Heute konkurriert es mit der visuellen und oralen Kultur oder wird sogar gänzlich abgelöst. Gleichzeitig hat die industrielle Herstellung volkstümlicher Kunst – wie Kunsthandwerk und regionale Musik – eingesetzt. Hinzu kommt die wachsende Massenkulturindustrie, vor allem die des Fernsehens. Der argentinische Kulturkritiker Nestor García Canclini bezeichnet die Neuordnung des kulturellen Terrains als “Rekonversion”. Im Zeitalter von High-tech erfährt Kultur einen Bedeutungswandel. Ein hohes Niveau an Lesefähigkeit ist nicht länger unbedingte Voraussetzung für Modernität. Nicht das gedruckte Wort, sondern Musik und Fernsehbilder werden heute erforscht, wenn es um lateinamerikanische Identität geht. Sie sind zum Inbegriff der Modernität geworden.
Die Moderne ist nicht kreativ
Die Kritik der mexikanischen Literatin Elena Poniatowska, die in der kürzlich erschienenen Ausgabe des Magazins Nexos den Verlust der goldenen Jahre der Volkskunst beklagte, hört sich in diesem Zusammenhang anachronistisch an. “Heute produzieren sie in Unmengen San Martín de Porras, die alle nach demselben Muster geschaffen sind”, schreibt sie. “Die Jesuskinder, die von den Gemeinden eingekleidet werden, die kleinen Babies, das heilige Kind von Atocha: sie alle hatten ihre eigene Persönlichkeit. Heute tragen sie den gleichen Hut, die gleichen Sandalen und haben die gleichen Kürbisflaschen und Körbe. Populäre religiöse Kunst ist übel. Modernität ist nicht kreativ.”
Obwohl diese Furcht vor der Homogenisierung und Massenherstellung seit dem neunzehnten Jahrhundert ein Leitmotiv der Schriftsteller war, sagen uns heute die postmodernen Kulturkritiker, wir sollten diese Authentizität vergessen. Sie behaupten, daß Fernsehen, Massenmarketing und neue Technologien die Kultur demokratisieren, die Grenzen zwischen “oben” und “unten” abbauen, und Hybridkreuzungen (wie zum Beispiel Salsa) möglich machen, was zur Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur beiträgt. Ihrer Meinung nach war die lateinamerikanische Kultur schon immer heterogen, hat sich immer aller Repertoires bedient und kann deshalb für sich beanspruchen, postmodern avant-la-lettre zu sein. Gegen die Position vom Sterben der lokalen Kulturen setzt García Canclini das Argument, der Markt rege zu Neuerungen in der Kunstgestaltung an und ermögliche es der Kultur, ein neues Publikum zu erreichen. Der Markt zwinge die Menschen, eine neue politische Symbolik und eine neue Form der sozialen Aktion zu erfinden. Als Beispiel für das letztere verweist er auf den maskierten Superbarrio aus Mexiko-Stadt, dessen Kostüm sowohl an Supermann als auch an das kitschige Aussehen der Ringer erinnert und Fürsprecher der marginalisierten Bevölkerungsschichten ist. Eines der wichtigsten Merkmale des Aufstands in Chiapas war die Art und Weise, wie die Rebellen sich der modernen Technologie, besonders e-mail, Fax und Video bedient haben, um ihre Forderungen zu übermitteln.
Kulturelles Rückspiel Süd-Nord
Selbst wenn Technologien und Informationen vorwiegend von Nord nach Süd fließen, verweisen viele Kritiker darauf, daß bestimmte Merkmale postmoderner Kultur – wie Persiflage, Zitat und Parodie – schon immer charakteristisch für lateinamerikanische Kultur gewesen seien. Was früher einmal als “Kulturimperialismus” galt, in dem Lateinamerika der passive Abnehmer von Hollywood- und Mickey-Maus-Filmen war, wird nun als kulturelles Rückspiel betrachtet, bei dem importierte Technologien und Moden benutzt werden, um Neues zu schaffen. Die Modernisierung des 19. Jahrhunderts, die eine rassisch heterogene Bevölkerung in die großen Städte zog, hat nicht nur die Erneuerung in der Kunst stimuliert, sondern ließ auch einen Stil entstehen, der heute gern als “Latin” bezeichnet wird: eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und indigenen Einflüssen. Die etablierte Kultur hat sich später Tango, Bolero und Samba, die ihre Ursprünge in den ärmeren Stadtvierteln haben, als die Verkörperung des “Lateinamerikanischen” zu eigen gemacht. Romane wie “Der schönste Tango der Welt” des Argentiniers Manuel Puig und “La importancia de llamarse Daniel Santos” (Wie wichtig es ist, Daniel Santos zu heißen) des puertoricanischen Autors Luis Rafael Sánchez, die Essays von Carlos Monsivais über Agustín Lara in “Lost Love” und Filme wie “Danzón” von der Mexikanerin Marla Novaro oder der des Argentiniers Fernando Solanas “Tangos: Das Exil Gardels” erkunden die Wege, wie populäre Lyrik, Tanz und Rhythmus eine gemeinsame regionale Sprache bilden, die soziale Gruppen und individuelle Verhältnisse miteinander verbindet.
Rockmusik und kultureller Wandel
Rockmusik ist ein hervorstechendes Beispiel für den kulturellen Wandel. Trotzdem sie vom Zentrum der Macht ausging und Teil einer internationalen Musikindustrie ist, wurde Rock zur Vorhut des Widerstandes gegen strenge Moral und Familienhierarchien. Die südamerikanischen Militärregierungen machten die Rockmusik zum Mittel einer Widerstandsbewegung, indem sie Musikmagazine verboten und junge Leute, die die falsche Kleidung trugen, verhaften ließen. In ganz Lateinamerika greift die Rockmusik den Autoritarismus der älteren Generation, aber auch die idealistische Nostalgie der Linken an. Wie im Fall von Samba oder Tango kann man Rockmusik in unterschiedlicher Weise verstehen. Der enge Begriff des “rock nacional”, der in Argentinien benutzt wird, symbolisiert den Versuch, die Musik von ihren “satanischen” Ursprüngen in den USA zu säubern. Gerade während des Malvinen/Falkland-Kriegs organisierte die Militärregierung ein Rockkonzert der Nationalen Solidarität, um so um die Unterstützung der Jugend zu werben. Ebenso machte es Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Er ließ in Brasilien ein großes Rockkonzert veranstalten, um seinen neoliberalen Sieg zu feiern. Auf der anderen Seite machen sich die marginalisierten Gruppen der lateinamerikanischen Gesellschaften Punk und Funk zu eigen.
Merengue: Rhythmus für die Füße, Botschaft für den Kopf
Popularität und Populismus hängen in Lateinamerika eng zusammen. Als der aus der dominikanischen Republik stammende Musiker Juan Luis Guerra in Lima ein Konzert gab, wurde es mit einem Fußballspiel oder dem Besuch des Papstes verglichen. Wie der Salsa-Sänger Rubén Blades nutzte Guerra seine Popularität, um auf Armut und andere soziale Mißstände hinzuweisen. Die Titel seiner Lieder sprechen für sich: “El costo de la vida” (Die Lebenshaltungskosten), “Si saliera petróleo” (Wenn Erdöl sprudeln würde) und “Ojalá que llueva café” (Hoffentlich regnet es Kaffee). Er beschreibt Merengue als einen Rhythmus für die Füße und eine Botschaft für den Kopf und meint, daß seine Texte von den Leiden des Kontinents handeln. Bezeichnenderweise kandidierte nicht nur ein Schriftsteller, wie der neoliberale Vargas Llosa für die Präsidentschaft, sondern auch der progressive Musiker Blades.
Die gegenwärtige Verkünderin des “Lateinamerikanischen” ist die kubanisch-amerikanische Salsa-Sängerin Celia Cruz und nicht Rodó oder Bolívar. In “Pasaporte Latinoamericano” singt sie von “einem Volk Lateinamerikas”, das in der gemeinsamen Sprache des Sambas, Guarachas und der Salsa kommuniziert. Es sind Musiker wie Rubén Blades, der Brasilianer Caetano Veloso und Juan Luis Guerra, die Themen wie soziale Gerechtigkeit aufnehmen und – im Falle von Veloso – das Verhältnis zwischen Konsumkultur und “Authentizität” untersuchen.
An der Musik wird deutlich, daß zwischen Tradition und Moderne, einheimischer Reinheit und aufgenommener Importe nicht mehr klar unterschieden werden kann. Musik formt die Konsumkultur, sie konzentriert Wünsche und Erwartungen in unberechenbarer Weise – einer Weise, die die literarische Intelligenz nicht unbedingt vermitteln kann.
Der mächtige Rivale des geschriebenen Wortes
Der andere mächtige Rivale des gedruckten Wortes ist das Fernsehen, dessen Einfluß auf das Publikum viel größer ist als der eines Buches oder einer Zeitschrift. Der mäßige Erfolg als Gastgeber von Fernsehshows von vielen bekannten Schriftstellern, wie Vargas Llosa, Octavio Paz und José Arreola, ist also kaum verwunderlich. In Chile macht der Roman- und Stückeschreiber Antonio Skármeta Literatur durch das Fernsehen populär. Durch zahlreiche Fernsehauftritte wurde Carlos Fuentes bis in die Vereinigten Staaten hinein zu einem der Sprecher für Lateinamerika.
García Márquez ist sich der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Telenovela ein viel größeres Publikum erreicht als die gesamte Leserschaft all seiner Romane. Márquez: “An einem einzigen Abend kann eine Episode allein in Kolumbien 10 bis 15 Million Menschen erreichen. Ich habe noch immer nicht 10 bis 15 Millionen Exemplare meiner Bücher verkauft. Werdas Publikum erreichen will, findet Telenovelas selbstverständlich attraktiv. Dieses Medium ist ein Mittel zur massenhaften Verbreitung der eigenen Ideen und muß daher genutzt werden. In einer Telenovela verfüge ich über dieselben Ausdrucksmöglichkeiten wie in der Literatur und im Film. Da bin ich absolut sicher.” Brasilianische Produzenten übernehmen häufig Romane für das Fernsehen. Und das Melodrama als Standbein des populären Theaters ist jetzt wiederentdeckt worden, wobei ein Typ von Telenovelas produziert wird, der die US-Produkte auf dem Weltmarkt übertrifft.
Während das gedruckte Wort früher Ausdruck der Modernität und der Bildung eines nationalen Bewußtseins war, ist das Fernsehen der Wegweiser heutiger globaler Kultur geworden. Wie der argentinische Politikwissenschaftler Oscar Landi bemerkt, hat das Fernsehen eine zweideutige Wirkung auf die Kultur. Es “kolonisiert und zerstört unsere vorherige Lebensweise”, aber es “setzt uns auch in Verbindung mit der Welt und bringt uns dazu, Dinge zu verstehen, die wir ohne Fernsehen nie erfahren hätten.” Der frühere Anspruch der Literatur, Einblicke in die tiefen Untertöne der Geschichte und der Natur der Sprache zu gewähren, ist heutzutage zur Domäne des Fernsehens geworden.
Aber der Gebrauch des Fernsehens ist in der jüngsten Vergangenheit zu eng mit autoritären oder Militärregierungen verknüpft gewesen. Es war in einigen Ländern in ideologischer Hinsicht zu stark mit dem Staat verbunden, als daß die literarische Intelligenz in Bezug auf seine pädagogischen Möglichkeiten optimistisch sein könnte.
Die argentinische Kritikerin Beatriz Sarlo führt aus, daß der öffentliche Raum, die einstige Domäne der Intelligenz, jetzt von den Massenmedien beansprucht wird. Die Parameter einer sozialen Debatte in einer massenmedialen Gesellschaft werden eher von impliziten als von expliziten Regeln bestimmt.
Marktkonformes Schreiben
Die Literatur ist außerdem in zunehmenden Maße selbst massenmedialisiert. Mit der Globalisierung der Buchindustrie, mit Übersetzungen und Bestsellern sind die Anforderungen an Verallgemeinerbarkeit und Übersetzbarkeit gestiegen. Der Markt verhält sich nicht tolerant gegenüber den literarischen Werken, die zu experimentell oder “nicht übersetzbar” sind. Manche Schriftsteller bemühen sich jetzt um Kommerzialisierung, anstatt sie abzulehnen. Beispielsweise ist es offensichtlich, daß “Bittersüße Schokolade” der mexikanischen Schriftstellerin Laura Esquivel geschrieben wurde, um einen breiten Markt zu erreichen. Auch der älteren Schriftsteller-Generation ist die Marktfähigkeit nicht gleichgültig. In diesem Sinne ist es interessant, Vargas Llosas im Plauderton geschriebenen “El Pez en el Agua” (Der Fisch im Wasser, 1993) mit seinem tiefschichtigen politischen Roman “Gespräch in der Kathedrale” (1969) oder den klaren Erzählstil von García Márquez in “Der General in seinem Labyrinth” (1989) mit dem barocken und verschlungenen “Herbst des Patriarchen” (1975) zu vergleichen. Experimentelles Schreiben, das früher von kleinen Verlagsunternehmen wie Joaquín Mortiz und Sudamericana gefördert wurde, ist jetzt auf der Strecke geblieben.
Rütteln an Tabus
Doch trotzdem floriert die Literatur – zumindest oberflächlich betrachtet. Es gibt eine Fülle neuer Schriftsteller, junger Dichter und Künstler, die in jedem denkbaren Stil, über jedes denkbare Thema schreiben. Literatur wird noch immer die Aufgabe zugewiesen, diejenigen zu vertreten, die früher schon von der Staatsbürgerschaft der “ciudad letrada” (Stadt der Schriftgelehrten) ausgeschlossen waren – wie Angel Rama sie nannte: Indígenas, Schwarze, Mulatten, Frauen und Homosexuelle. Die Literatur stellt sich noch immer gegen die offizielle Geschichtsschreibung, untersucht die Bedeutung des Exils und der Erinnerung und rüttelt an den Tabus, die der weiblichen Sexualität auferlegt wurden.
Zu einer Zeit, da die Grenzen zwischen den Gattungen und die Unterschiede zwischen oben und unten, Fiktion und Realität verschwimmen, ist es schwierig, die Besonderheit der Literatur in ihrer oppositionellen Bedeutung zu verteidigen. Octavio Paz hat vor kurzem behauptet, daß “die Lyrik eine Kunst an den Rändern der Gesellschaft geworden ist. Sie ist die andere Stimme. Sie lebt in den Katakomben, aber sie wird nicht verschwinden.” Nach Paz erlaubt dieser marginalisierte Status der “klandestinen Poesie” als “Kritik an der Konsumgesellschaft” zu handeln. Es ist schon eine Ironie, wenn Paz, dessen Achtung vor der abstrakten Freiheit ihn oft als Freiheitlich-Konservativen erscheinen ließ, sich nun in einer Allianz mit einigen jungen Kritikern in Opposition gegen die Kulturindustrie und den Markt wiederfindet.
Die Versuchung der Konsumgesellschaft
Was der Literatur in der Vergangenheit zu ihrem besonderen Anspruch – der Konsumgesellschaft zu widerstehen – verholfen hat, hatte mit der Natur des Lesens zu tun. Avantgardistische und modernistische Literatur lenkten die Aufmerksamkeit auf die Sprache, erforderten langsames und sorgsames Lesen und verlangten das Entschlüsseln von Kodes sowie das Lesen zwischen den Zeilen. Es galt als Autonomie des literarischen Textes, wenn darin schnöde Populärität und Allgemeinverständlichkeit abgelehnt wurden. Durch diese Autonomie sollte die Opposition zu sozialen Konventionen deutlich werden. Noch in den 60er Jahren konnte getrost behauptet werden, Literatur sei revolutionär und der Schriftsteller führe Guerillakämpfe mit seinem Kugelschreiber.
Was für heutige Schriftsteller problematisch ist, ist nicht nur die Verlockung der Popularität, sondern die schnelle Vereinnahmung und Verwandlung des früher schockierenden oder innovativen Schreibens in Trend oder Stil. “Magischer Realismus” war einst ein Wegweiser für lateinamerikanische Originalität und ist heute nur noch ein Markenname für Exotik. Es ist kein Wunder, daß für linke Kritiker die politischen und ethischen Funktionen der Literatur schon lange von der Zeugnisliteratur erfüllt wird.
Vielleicht das größte Problem für die Kritiker ist das der Wertung. In der heutigen Kultur scheint kritisches Urteilsvermögen im Hinblick auf gute und schlechte Kunst verschwunden zu sein. In einer Diskussion über Kunst, die auch auf Literatur bezogen werden kann, kritisiert Beatriz Sarlo die Verbreitung des “kulturellen Populismus” der Sozialkritik, der jede Kunst auf ihre Funktion reduziere. “In Anbetracht der Relativierung der Werte und des Fehlens anderer Unterscheidungskriterien wird der Markt als der ideale Raum für Pluralismus betrachtet.” Anstatt neutral zu bleiben, könnte mit dem Markt argumentiert werden, der Publikum und Künstler beeinflußt. Der Markt übt die absolute Macht aus, besonders über die künstlerischen Produkte, die mit der Kulturindustrie verbunden sind, und verdrängt so die hierarchische Autorität der Fachleute traditioneller Prägung. Hierarchien stürzen ist eine Sache, aber kritisches Urteilsvermögen zurückzuweisen, ist Sarlos Meinung nach eben schlimmer, weil der Verzicht, über Werte zu diskutieren, zur passiven Zusammenarbeit mit neoliberalen Demokratiemodellen führt und die Kunst ihres Widerstandcharakters beraubt.
Die Wiederaufwertung des Ästhetischen
Es ist gewiß nicht zufällig, daß die Forderung nach Wiederaufwertung des Ästhetischen gerade im Zusammenhang mit Redemokratisierung und angesichts wachsender sozialer Unterschiede erhoben wird. Massenkultur und Neoliberalismus reduzieren das Widerstandspotential der Ästhetik. Andererseits kann Sarlos Verteidigung der ästhetischen Werte nicht so einfach aus der elitären Kultur enträtselt werden, wie sie dies gehofft hatte.
Für literarische Praktiker ist nicht das kritische Urteilsvermögen das entscheidende Problem, sondern die Schwierigkeit, den Versuchungen der Konsumwelt zu trotzen. Diamela Eltit zum Beispiel, die mit dem Schreiben während der Pinochet-Diktatur begann, empfindet es als ihre Aufgabe, als Schriftstellerin “etwas ins Schreiben zu stecken, was sich Waren und Zeichen widersetzt.”
Vom Apostel zum Nomaden
Dies könnte sich anhören wie die Rückkehr zu avantgardistischen Programmen, würde Eltit in ihren Romanen nicht die totale Wiedergestaltung von Geschlecht und Sexualität auf sich nehmen – etwas, das die Avantgarde als selbstverständlich betrachtet hatte. Eltit nutzt ein traditionelles Genre – in diesem Fall den Roman – obwohl sie seine Syntax völlig verändert. Interessanterweise ist dies eine literarische Gattung, die die Stimmung der Zeit sehr gut gestaltet, ohne sich dem Zeitgeist zu unterwerfen: “eine Chronik”, die durch das liberalistische Netz hindurchschlüpft. Auch das Essay hat sich verändert: es befreit sich von pedantischem Anliegen und umfaßt das Phantastische.
Die Beispiele ähneln sich, indem sie sich weigern, die Grenzen der Gattung oder den klaren Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachen zu respektieren. Gleichzeitig betonen sie die Ausdrucksfähigkeit der Sprache als die zentrale Metapher für Künstler und für das Alltagsleben allgemein.
Dies sind natürlich willkürlich gewählte Beispiele, aber sie zeigen doch die grundlegende Verschiebung vom Schriftsteller als Apostel zum Schriftsteller als Teil nomadische Randgruppen – was wiederum die Ära der internationale Bennetton-Epoche und den E-mail-Universalismus kennzeichnet. Die Schlußfolgerung ist nicht so widersprüchlich wie sie erscheinen mag: In der Epoche globaler Informationsflüsse und Netzwerke sind die begrenzten lokalen Zusammenhänge zu den Orten mit der größten Intensität geworden.
Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung
Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahinter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; dafür aber ist die Weltbank als Durchführungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Programme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da gerade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusammengefaßt. Die UNEP darf in einer Nebenrolle einen Wissenschaftlichen und Technischen Beirat einsetzen, der die Kriterien für die Mittelvergabe erarbeitet. Diese werden als reine Zuschüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Organisationen die Empfänger dieser GEF-Zuschüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Projekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Bereiche verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Vergleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Lateinamerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbesondere auch von internationalen Naturschutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnissen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Verschuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nordens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissentlich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsultationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfristige Projekte, obwohl gerade der Umweltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Bereich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteiligung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezweifeln die meisten die allgemeine Kompetenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitsprache zu verschaffen, wurde der GEF-Aufsichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projektdurchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen verantwortlich, so daß von einer “grundsätzlichen Reform”, wie es die Geberländer gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabekriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwürdig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund dieser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt werden können. Daraus ergeben sich so absurde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufgezwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Nationalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausreichend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmanagements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht gefragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, geschweige denn auf andere Gebiete übertragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den genannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institutionen über bolivianischen Treuhandfonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Managements von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhaltung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regionalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung sowie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologischer Forschung und Training von Parkmanagement (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwicklung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)
Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgelisteten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weitergeführt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existierenden wie in Bolivien ist unter diesen Umständen besser als stark eingegrenzte Projekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden können. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Guatemala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unterschiedliche Ökosysteme ab, vom tropischen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Experten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt beweisen und übernimmt sich ganz ordentlich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gutachter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” unterbunden. Die meisten lateinamerikanischen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabflußdruckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspolitik, Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme und Gesetze über Bodeneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Umweltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berechtigterweise gefordert wird, wird unter diesen Umständen keine erhebliche Verbesserung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunkten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer ExpertInnen und rein symbolische Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen finanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Bedeutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Umweltzerstörung nicht angeht.
Zelle No. 34 steht bereit
Für Antonio Araníbar wäre es ein Höhepunkt seiner Amtszeit: Der bolivianische Außenminister hat mit allen Kräften daran gearbeitet, García Meza nach Bolivien ins Gefängnis zu bringen. Luis García Meza ist nicht irgendeiner der in Bolivien zahlreichen Ex-Diktatoren. Seine Diktatur gilt als die blutigste und brutalste in der jüngeren Geschichte Boliviens und als diejenige, die am offensichtlichsten in den Drogenhandel involviert war. Die Geschichte von Araníbars Partei, des sozialdemokratischen Movimiento Bolivia Libre (MBL), ist eng mit der Diktatur García verknüpft. Der MBL ist eine Abspaltung des Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR), der zur Regierungszeit García Mezas zu den bevorzugten Zielen der Repression gehörte. Die Parteigeschichte hat mit dem “Massaker der Calle Harrington” einen traurigen Höhepunkt zu verzeichnen: Am 15. Januar 1981 brachte ein Militärkommando in besagter Calle Harrington acht Mitglieder der Parteiführung des MIR um. Das sind nicht die einzigen Opfer der Diktatur: Im Zuge des Putsches am 17. Juli 1980 stürmten die Militärs die Zentrale des Gewerkschaftsdachverbandes COB. Unter den Toten war auch Marcelo Quiroga Santa Cruz, einer der profiliertesten sozialistischen Politiker dieser Zeit.
Rechtzeitig untergetaucht
Unter anderem wurde Luis García Meza wegen dieser Morde vom Obersten Gerichtshof Boliviens in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft in Chonchocoro verurteilt, nur einer von 32 Anklagepunkten neben anderen wie Korruption, Drogenhandel und dem Raub der Tagebücher Che Guevaras. Am 7. April 1986 begann der “Jahrhundertprozeß” vor dem Obersten Gerichtshof. García Meza lebte währenddessen in Sucre. Erst als am 12. Januar 1989 neue Anklagen zu bisher noch nicht einbezogenen Punkten erhoben wurden, tauchte er unter. Der Prozeß mußte in Abwesenheit des Angeklagten beendet werden. Am 11. März 1994 schließlich wurde García Meza im brasilianischen Sao Paulo verhaftet, wo er unter falschem Namen lebte. Die gefälschten Papiere wurden ihm zum Verhängnis, stellten sie doch den Grund für seine Verhaftung in Brasilien dar. Die bolivianische Regierung gewann damit die notwendige Zeit, um das Auslieferungsverfahren in Gang zu bringen. Am 12. April schließlich war es soweit: Bolivien beantragte offiziell gegenüber der brasilianischen Justiz die Auslieferung Luis García Mezas. Das Oberste Bundesgericht Brasiliens mußte die Entscheidung über den bolivianischen Antrag fällen und tat es am 19. Oktober mit überwältigender Mehrheit: Zehn der elf Richter sprachen sich für die Auslieferung aus. Die einzige Gegenstimme kam pikanterweise von Marco Aurelio de Mello, einem Cousin des früheren Präsidenten Collor de Mello. Er sah in García Meza einen Fall von politischer Verfolgung im Heimatland, eine sehr eigenwillige Meinung, mit der er dann auch alleine blieb.
Laute Freude, leise Sorgen
In Bolivien brach nach dem Urteil der brasilianischen Richter Euphorie aus. Die Parteien im Parlament, der Oberste Gerichtshof, die Presse, sie alle schwelgten in lautstarkem Jubel darüber, daß gerade in Bolivien zum ersten Mal in Lateinamerika ein Ex-Diktator im eigenen Land wahrscheinlich für den Rest seines Lebens hinter Gitter gehen sollte.
Dabei werden einige Politiker der Rückkehr García Mezas nicht ganz ohne Sorgen entgegensehen. Der frühere Diktator weiß viel über all diejenigen, die an der Militärregierung 1980/81 beteiligt waren, Vorteile davon hatten oder sie nur stillschweigend im Sinne ihres eigenen politischen Kalküls begrüßt hatten. García Meza selbst äußerte sich dazu in einem Interview am 29. Oktober: “Den Prozeß vom 17. Juli (1980) führten die Streitkräfte mit der Unterstützung einiger politischer Kräfte durch”, so der frühere Diktator unter Verweis auf die Mitwirkung der heutigen Regierungspartei MNR, damals noch unter Victor Paz Estenssoro, und der größten Oppositionspartei ADN unter Hugo Bánzer Suárez, ebenfalls Ex-General und Ex-Diktator. Er sei allerdings, so fügte García Meza hinzu, ein Mensch, der verzeiht und nicht auf Rache sinnt – was nichts anderes bedeutet, als daß er keine Namen nennen wird.
Morddrohungen an García-Meza-GegnerInnen
Luis García Meza hat noch FreundInnen in Bolivien, die zum Teil mit drastischen Maßnahmen auf die eindeutige Entscheidung in Brasilien reagierten: Mehrere profilierte García Meza-GegenerInnen, erhielten Morddrohungen, so zum Beispiel Juan del Granado, MBL-Abgeordneter, Vorsitzender der Menschenrechtskommission des Parlaments und Anwalt im García-Meza-Prozeß. Carlos Mesa, der bekannteste bolivianische Fernsehjournalist, erhielt, nachdem er sich sehr eindeutig zum Fall García Meza geäußert hatte, eine Briefbombe. Die Bombe wurde in der Hauptpost entdeckt und entschärft, sorgte aber trotzdem für öffentliche Unruhe. Derartige Formen der “politischen Auseinandersetzung” schienen abgehakt zu sein in einem Land, das sich seit 1985 an relative Stabilität und Ruhe gewöhnt hat. Die politisch stürmischen Zeiten liegen allerdings noch nicht so weit zurück, als daß man nicht sehr empfindlich auf neue Anzeichen reagieren würde.
“Niemand kann sich darüber freuen…”
Nicht gerade beruhigend wirkten dabei offensichtlich verärgerte Stimmen aus Militärkreisen. Niemand könne sich über die Auslieferung García Mezas freuen, so der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Fernando Sanjinés, die Rückkehr García Mezas habe allerdings einen gewissen Wert für die Konsolidierung der Demokratie. Andere höhere Offiziere, so die Tageszeitung “La Razón”, erklärten in Interviews ihre Loyalität gegenüber den “militärischen und patriotischen Prinzipien, die General García Meza während seines Dienstes an der Institution (dem Militär) und dem Vaterland vertrat… Der General hat Freunde in den Streitkräften.” Unzufriedenheit herrscht vor allem darüber, daß García Meza seine Strafe in einem normalen Gefängnis unter einem Dach mit gewöhnlichen Kriminellen verbüßen soll und nicht unter Verantwortung der Militärjustiz in einem Militärgefängnis. Von “Unwohlsein in den Streitkräften” sprach am 31. Oktober Enrique Toro, Parlamentsabgeordneter von ADN, unter Verweis auf die guten Kontakte seiner Partei in Militärkreisen. Allerdings, so Toro, wüßten die Militärs, daß sie nicht putschen können, “denn der internationale Gendarm, die Vereinigten Staaten, ist da und wird sie nicht putschen lassen. Aber es gibt Unzufriedenheit.”
Winkelzüge, um Zeit zu gewinnen
Die Anwälte von García Meza geben indessen nicht auf. Nach brasilianischem Recht muß Bolivien García Meza innerhalb von 60 Tagen nach Rechtsgültigkeit der Auslieferungsgenehmigung tatsächlich abholen, sonst muß er in Brasilien freigelassen werden. Zunächst einmal wurde García Meza mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte allerdings entließen ihn nach 18 Stunden wieder, es liege kein schwerer Fall vor, so ihr Kommentar. Kurz darauf legten García Mezas Anwälte auf der Grundlage des Votums von Marco Aurelio de Cello noch einmal Beschwerde gegen die Auslieferungsentscheidung ein. Nach übereinstimmender Einschätzung der bolivianischen Presse hat die Beschwerde juristisch keine Chance, müßte das Oberste Bundesgericht Brasiliens doch seine eigene Entscheidung revidieren. Aber wieder werden Stellungnahmen, Einsprüche, Kommentare durch den bürokratischen Urwald schleichen. Ob die ominösen 60 Tage dabei weiterlaufen oder nicht, in jedem Fall gewinnt García Meza Zeit: Zeit, damit seine FreundInnen in Bolivien die Diskussion um den Sicherheitsstandard von Chonchocoro anheizen können. Aber auch Zeit, um Druck auf die Verantwortlichen in Bolivien auszuüben, ihn gegen das Urteil des Gerichtshofes doch in einem Militärgefängnis unterzubringen.
Die Auslieferung García Mezas an Bolivien hat vor allem symbolischen Wert. Ein erster wichtiger symbolischer Akt war der Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof, wenn er auch durch das Abtauchen García Mezas und durch die Frage, wer ihm dabei geholfen hat, verdüstert wurde. Mit der Verfolgung García Mezas bestätigt sich das demokratisch-rechtsstaatliche Bolivien symbolisch und grenzt sich von der Vergangenheit der unzähligen Militärputsche ab. Aber die Vergangenheitsbewältigung hat Grenzen. García Meza ist nicht der einzige mit einer dunklen Vergangenheit aus den Zeiten der Diktatur. Seine Diktatur war nicht die einzige in den letzten zwanzig Jahren. Ein anderer ehemaliger Diktator, Hugo Bánzer, gehört als Gründer von ADN zu den zentralen Figuren der bolivianischen Politik. Bei jeder Wahl seit Ende der Diktatur trat er als Präsidentschaftskandidat an. Aber es geht nicht nur um die ehemaligen Diktatoren. Nicht wenige, die unauffälliger aus der zweiten Reihe heraus in die Verbrechen der Diktatur verwickelt waren, wären erleichert, würde das Kapitel “juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Diktaturen” abgehakt, sitzt García Meza erst einmal hinter Gittern.
In Rio greift das Militär ein
Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Gewalt in Rio immer bedrohlichere Ausmaße angenommen. In dem Zeitraum von 1985 bis 1991 sind in Rio 70 061 Menschen ermordet worden, und die Tendenz ist weiter steigend. In der Altersgruppe von 15 – 45 Jahren ist der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache. Die alltägliche Gewalt in Rio existiert in vielfachen Formen. Am augenfälligsten ist die Verbindung von bewaffneter Macht und Drogenhandel. In den Armenvierteln von Rio, den Favelas, haben lokale Drogenbosse das Sagen. Sie verfügen über bestens ausgerüstete bewaffnete Gefolgschaft, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Seit dem letzten Jahr hat, anscheinend aufgrund der Verhaftung einiger Schlüsselfiguren, der Kampf unter den Drogenbanden um Einflußgebiete zugenommen. Diese Kriege werden mit aller Heftigkeit geführt und lassen immer wieder die Bevölkerung ins Kreuzfeuer der rivalisierenden Gruppen geraten. Im größten öffentlichen Krankenhaus Rios hat sich die Zahl der Personen, die wegen Schußverletzungen behandelt werden müssen, seit 1984 vervierfacht.
Der Staat hat in den Favelas offensichtlich das Gewaltmonopol verloren. Die Drogenbanden verfügen über das im Golfkrieg eingesetzte Maschinengewehr AR 15, das auch über hunderte von Metern tötet. Sie greifen Polizeistationen an oder befreien verhaftete Kumpane aus dem Krankenhaus. Würde sich das alles in entfernten Vororten der Peripherie abspielen, wäre die Beunruhigung der Öffentlichkeit sicherlich nur halb so groß. Aber die Hügel, auf denen sich die Favelas zumeist angesiedelt haben, sind in der gesamten Stadt verstreut. So grassiert bei der Mittelschicht nun die Angst vor den verirrten Kugeln. Angeblich sind dieses Jahr schon mehr als zehn Menschen Opfer von verirrten Kugeln geworden.
Es ist diese Form von Gewalt, die Presse und Fernsehen ausführlich zeigen. Fast jeden Abend kann der Drogenkrieg in Rio im Fernsehen verfolgt werden. Und die damit vermittelte Botschaft ist klar: Die Polizei versagt, weil sie zu schwach ist, wir brauchen die Aufrüstung des Staates. Die Kampagne der Massenmedien hat anscheinend Wirkung gezeigt. Inzwischen befürwortet nach Meinungsumfragen eine Mehrheit der Einwohner Rios ein Eingreifen der Militärs.
Massaker auf dem Hügel ‘des Deutschen’
Für die BewohnerInnen in den Favelas stellt allerdings eher die Polizei als die lokalen Drogenbosse eine Bedrohung dar. Letztere bemühen sich in der Regel um ein gutes Verhältnis zu den BewohnerInnen, finanzieren sogar soziale Einrichtungen, und viele der Bewaffneten stammen aus der Favela. Die Polizei hingegen stürmt wahllos die Viertel und tötet, was ihr in den Weg kommt. In dieser alltäglichen Gewalt ragte im Oktober eine Polizeiaktion auf dem ‘Hügel des Deutschen’, mit 200.000 BewohnerInnen einer der größten Favelakomplexe von Rio, heraus. 13 Tote in einer Schlacht von wenigen Stunden, das ist weder in Bosnien noch in Rio normal. Vorausgegangen war ein Angriff der Drogenbande des Hügels auf ein Polizeirevier, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, daß ein Bein amputiert werden mußte. Der Angriff auf die Favela trug also Züge einer Racheaktion. Für die Polizei war das Ergebnis der Aktion ein voller Erfolg: “Das Gesetz erlaubt uns zu töten, ohne ein Verbrechen zu begehen”, erklärt der Chef der Drogenpolizei Maurilo Moreira und fährt fort: “Wir werden uns nicht wie Schafe von den Hügeln vertreiben lassen. Die Waffe ist das Symbol unserer Autorität. Wenn wir sie nicht gebrauchen, sind wir Feiglinge. Wenn wir 100 töten müssen, dann töten wir 100.”
Für die Polizei war das Massaker offensichtlich ein großes Fest, wie Mitschnitte vom Polizeifunk beweisen. Die Zahl der Getöteten wurde als Erfolgsziffer mit Jubel begrüßt. Selbst der Gouverneur von Rio, Nilo Batista, der die Aktion angeordnet hatte, kritisierte die Feststimmung und mußte eine Untersuchungskommission anordnen. Denn an Merkwürdigkeiten fehlt es nicht: Wenn die Polizisten tatsächlich in Notwehr gehandelt haben, wie kann es möglich sein, daß 13 getöteten Drogenhändlern nur ein verletzter Polizist gegenübersteht? Von den dreizehn Getöteten waren nur drei vorbestraft, vier waren minderjährig. Bewohner der Favela beschuldigen die Polizei, ein wahres Massaker veranstaltet zu haben. Eine Mutter erkannte ihren Sohn bei Fernsehaufnahmen wieder: “Er war von der Polizei verhaftet worden. Aber wenig später lag sein Körper auf dem Haufen der Toten.” Am Tag nach dem Massaker schlossen alle Geschäfte der Favela im Zeichen der Trauer.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß trotz solcher martialischen Aktionen ein großer Teil der Polizei zutiefst im Drogenhandel verstrickt ist, in der Regel durch Abkassieren von Bestechungsgeldern. Diese spannungsgeladene Symbiose führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen, wie im vergangenen Jahr in der Favela Vigario Geral. Dort hatten die lokalen Drogenbosse vier Polizisten offensichtlich wegen zu hoher Schmiergeldforderungen umgebracht. Die Polizei reagierte mit einem Massaker an 21 völlig unbeteiligten Bewohnern der Favela.
Polizei: eine kriminelle Vereinigung
Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande. Dieser kriminell-polizeiliche Komplex steht dazu in vielfältigen Verbindungen mit der Politik, die immer mehr einer Mafia gleicht. Höhepunkte waren die massiven Fälschungen bei den allgemeinen Wahlen am 3.10., die schließlich zu deren Anullierung führten. Am 15.11. mußten in Rio sowohl die Bundestags- wie die Landtagswahlen wiederholt werden! Gegen all dies hilft gewiß nicht das Militär. Die Verbindung der Polizei zum organisierten Verbrechen ist allerdings inzwischen so offensichtlich, daß sie auch von Seiten der Bundesregierung nicht geleugnet wird. Presseberichten zufolge sollen die Militärs über ein internes Dossier verfügen, nach dem 70 Prozent der Zivilpolizei (policia civil) und 30 Prozent der Militärpolizei (policia militar) in illegale Machenschaften verstrickt sind. Dem jetzigen Gouverneur von Rio, der seine politische Karriere dereinst als Menschenrechtsanwalt begonnnen hatte, ist es offensichtlich nicht gelungen, den Polizeiapparat in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist er anscheinend dessen Komplize geworden. Wäre es der Bundesregierung mit der Bekämpfung des Drogenhandels wirklich ernst, so müßte sie nicht in den Favelas ansetzen, sondern bei der Polizei und den Hintermännern des Waffenhandels und der Drogenbeschaffung. Diese wird sie sicherlich nicht in den Favelas finden. So zielt der geplante Militäreinsatz im besten Fall auf die unterste Riege des Handels: die Jugendlichen, die an den Umschlagplätzen Wache schieben und den Verkauf an die Mittelschichtskunden bewerkstelligen. Gegenüber der Komplexität des kriminellen Milieus in Brasilien gibt der bewaffnete Drogenhändler auf dem Hügel eher die Karikatur eines Feindbildes ab, das sich aber gerne durch seine martialische Ausstaffierung gut für die mediale Ausschlachtung eignet. Die Medien haben die vielen Facetten der Gewalt auf das Feindbild des Drogenbosses reduziert, der, weil identifizierbar, auch gezielt zu bekämpfen ist. Gleichzeitig erfolgte die Berichterstattung immer aus der Sicht der normalen Bevölkerung außerhalb der Favelas. Diese werden so zu einem feindlichen Territorium erklärt, das es zu erobern gilt, um es wieder in die staatliche Kontrolle einzubeziehen. Wie Militärs feindliche Territorien erobern, ist allerdings nur allzu bekannt. Bestürzend ist, daß nur zehn Jahre nach dem Ende der blutigen Militärdiktatur die Streitkräfte sich wieder als interner Ordnungsfaktor profilieren können. Hierin liegt vielleicht die langfristige politische Bedeutung des Militäreinsatzes in Rio. Ob die Militärs nämlich in der Lage sind, vielmehr als ein blutiges Spektakel zu veranstalten, ist äußerst fraglich. Die 158 Favelas, in denen es nach Angaben des militärischen Geheimdienstes Drogenumschlagplätze gibt, sind auf die Dauer gar nicht zu besetzen. Es wird erwartet, daß militärische Aktionen erst nach dem 15. November beginnen, also nach den Wahlen in den Bundesstaaten, in denen die Gouverneurswahlen nicht im ersten Durchgang zusammen mit den Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober entschieden wurden. Zunächst also lebt Rio seine fragwürdige Normalität weiter. Am ersten Sonntag nach der Vereinbarung über den Einsatz der Streitkräfte waren die Strände an einem wunderschönen Sonntag übervoll.
Lesetip: T. W. Fatheuer: Jenseits des staatlichen Gewaltmonopols. Drogenbanden, Todesschwadronen und Profiteure: die andere Privatisierung in Rio de Janeiro. In: Lateinamerika – Analysen und Berichte Nr. 18, Horlemann-Verlag.
- « Vorherige Seite
- 1
- …
- 70
- 71
- 72
- 73
- 74
- …
- 79
- Nächste Seite »