Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basiskomitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstritten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit PolitkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratInnen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte angedroht, seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stundenlangen Debatten und zahlreichen gescheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Vázquez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchgebracht: Nin Novoa, Mitglied der regierenden Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident Lacalle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos aufgibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Mariano Arana, ein Architekt und Stadtplaner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fortschrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnisses, wie zum Beispiel die MLN-Tupamaros und die UNIR, wehrten sich mit Händen und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen innerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Verhandlungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Führungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnispolitik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politische Bündnisse, in denen man sich engagieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis heraus”. In seiner Abschlußrede stellte Vázquez dann Themen wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidarität und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt. Eindringlich verlangte er Geschlossenheit und erinnerte an die Geschichte dieser Organisation, die stets eng mit ihren Persönlichkeiten verbunden gewesen sei – wie zum Beispiel dem Gründer der MLN-Tupamaros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Vázquez unter großem Beifall den Delegierten zu. Einige der anwesenden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errichtete die Frente in mehreren Arbeitsgruppen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte beschloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politischer Organisationen, zusammenzuarbeiten. Auslandseinsätze uruguayischer Soldaten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klären.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mercosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegiertenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schuldendienstes und ein machtvoller Zusammenschluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß innerhalb der Frente gerne mit “kritischer Unterstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argentinien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und möglicher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Delegierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Coloradopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mercosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vizepräsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Hauptstadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.
Gegen die Auflösung der Nation
Bereits im Oktober letzten Jahres hatte die Partei Leitlinien zur Erarbeitung eines Regierungsprogramms veröffentlicht und eine Programmkommission eingesetzt, in der alle Strömungen der Partei vertreten waren. Die Erarbeitung eines Regierungsprogrammes war begleitet durch einen breiten innerparteilichen Diskussionsprozeß, wie auch durch ein hartes Ringen um einzelne Punkte. Oberste Leitlinie sollte dabei sein, daß die PT nichts versprechen dürfe, was sie als Regierung schließlich nicht umsetzen könne. Im März dieses Jahres legte die Programmkommission einen 112 Seiten starken Entwurf vor. Bis zum 25. April hatten die Gruppen in der Partei nicht weniger als 289 Änderungsvorschläge erarbeitet, die den Delegierten in einem 124 Seiten umfassenden, größeren DIN A4-Heft präsentiert wurden. Hinzu kamen unzählige nderungsanträge, die in letzter Minute eingereicht wurden – ein Papierwust, der kaum noch zu bewältigen war. Und so konnte es nicht verwundern, da sich die Diskussion auf dem Programmparteitag auf einige wenige symbolische Punkte konzentrierte: Abtreibung, Verhältnis zu den Militärs und die Frage der Auslandsschulden standen bereits im Vorfeld im Blickpunkt der Diskussion. Jenseits aber von Polemiken um einzelne Punkte, mußte die PT in ihrer Programmdiskussion eine Antwort auf die Frage finden, wie denn ein linkes Regierungsprojekt in Lateinamerika aussehen kann.
Die Linke will an die Macht
Eines sei gleich klargestellt: Es gibt unter den linken und fortschrittlichen Kräften keine wichtige Strömung, ja nicht einmal eine individuelle Stimme von Bedeutung, die die Regierungsübernahme nicht will. Die Linke hat in Brasilien die Chance, die Wahlen zu gewinnen und sie will regieren. Selbst die linksradikale PT-Abspaltung PSTU, die der PT übelsten Reformismus vorwirft, unterstützt vorbehaltlos die Kandidatur Lulas. Die Frage ist eher, was kann und will eine Regierung Lula erreichen. Dabei kann die internationale Situation nicht aus dem Blickwinkel geraten: Vier Jahre nach dem Fall der Mauer ist es wohl unmöglich, einen tropischen Sozialismus in einem Land zu verkünden, noch dazu aller Wahrscheinlichkeit nach ohne eine Mehrheit im Parlament. Die große Herausforderung, vor der die PT heute also steht, lautet: Wie kann unter den aktuellen Bedingungen von Weltmarkt, Globalisierung und interner Krise Brasiliens ein gesellschaftlicher Transformationsprozeß eingeleitet werden, der auf mehr Gerechtigkeit zielt.
In den Leitlinien zum Regierungsprogramm hatte die PT versucht, die Stoßrichtung eines solchen Projektes zu beschreiben: “Die Partei der Arbeiter geht in den Wahlkampf mit dem Profil einer sozialistischen, linken Partei, die mit anderen sozialen und politischen Kräften eine breite Koalition formieren muß. Die Vorschläge, die die PT in ihrem Regierungsprogramm vorlegen wird, gehen in die Richtung einer demokratischen und antimonopolistischen – und das heißt antiimperialistischen und gegen den Großgrundbesitz gerichteten – Transformation, die Teil einer langfristigen Strategie ist, um eine Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln, eine demokratische Revolution, die radikal die Basis der Macht ändert. Die Definition dieses sozialistischen Projektes entwickelt sich aus einer Vertiefung der Kritik an den Paradigmen des staatsbürokratischen Sozialismus und der Sozialdemokratie, über den Aufbau einer Alternative zum Kapitalismus, der weltweit und insbesondere in Brasilien seine Unfähigkeit an den Tag legt, die Forderungen der großen Mehrheit der Bevölkerung zu erfüllen. Der Sozialismus kann für die PT nicht das Konstrukt einer Utopie sein, das dann in eine ferne Zukunft verschoben wird. Er hat eine aktuelle Bedeutung.”
Wie aber schlägt sich ein solches Bekenntnis zum Sozialismus im Programm nieder? Einen Hinweis gibt schon der Titel des Programms: “Eine demokratische Revolution in Brasilien.” Eine etwas gründlichere Lektüre des Programmentwurfes wie auch die Debatten um dasselbige, zeigen, daß zwei verschiedene Grundansätze ziemlich unverbunden nebeneinanderstehen: den einen könnte man als Rekonstruktion eines nationalen Entwicklungsprojektes bezeichnen, den anderen als Entwurf für eine neue gesellschaftliche Ethik.
Ein neues nationales Projekt?
Die VertreterInnen des ersten Grundansatzes durften sich vor allem im 4. Kapitel des Regierungsprogrammes ausbreiten: “Wirtschaft und Gesellschaft transformieren und eine Nation errichten”. Das Kapitel trägt deutlich die Handschrift von Cesar Benjamin, einem der Chefökonomen der PT. Es geht aus von einer Analyse der brasilianischen Krise, die nach fünfzehnjähriger Dauer nicht mehr einfach als eine Wirtschaftskrise begriffen werden kann, sondern eine Auflösung der Nation bewirkt: Explodierende Inlands- und Auslandsverschuldung und eine Inflation, die seit Jahren nicht zu besiegen ist, sind die Symptome einer tiefgehenden Systemkrise, die einen vorangegangenen fünzigjährigen Wachstumszyklus endgültig begraben hat. Die neoliberale Antwort auf die Krise verfolgt ein klares Ziel. Eine Gesellschaft mit einigen Entwicklungsenklaven und einer kleinen Oberschicht, während die große Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt.
Diesem Szenario will die PT (oder Cesar Benjamin) einen neuen Entwicklungszyklus entgegensetzen, der auf zwei Elementen aufbaut: über eine Einkommensumverteilung soll der interne Markt stimuliert werden und über politischen Druck soll eine effektive Politik der Armutsbekämpfung eingeleitet werden. Mit Hilfe dieser beiden Elemente kann – so das Szenario der PT – ein neuer, langer Wachstumszyklus eingeleitet werden. Für beides ist ein reformierter, effizienter und aktiver Staat erforderlich, der nicht mehr das Instrument einzelner Machtgruppen, sondern durch den Druck der sozialen Bewegungen zu einem Instrument eines nationalen Projektes werden würde.
Wachstum via Stärkung des internen Marktes ist weder ein neues noch ein besonders revolutionäres Projekt. Das Parteiprogramm bewegt sich hier auf recht traditionellem, altlinkem Terrain, in dem Wachstum der Schlüsselbegriff ist und der Reformaspekt sich auf die Frage der Einkommensverteilung zuspitzt. In demselben Kapitel finden sich aber Passagen, die offensichtlich die Handschrift eines anderen Theoretikers der PT tragen: Christovam Buarque, ehemaliger Rektor der Universität von Brasilia und jetziger Kandidat für das Gouverneursamt in der Hauptstadt. Buarque hat dafür gesorgt, daß der Begriff der “sozialen Apartheid” zu einem Schlüsselbegriff der Zustandsbeschreibung der brasilianischen Gesellschaft wurde. Durch diesen Begriff ist die Frage der sozialen Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Dies ist für die PT ein wichtiger Entwicklungsprozeß. Entstanden als “Partei der Arbeiter” mit starken Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung – deutlich verkörpert Lula diese Tradition der PT – ist sie auch zu einer Partei der unorganisierten Interessen der Gesellschaft geworden.
Noch bei den Wahlen 1989 hatt eine perverse Allianz zwischen Oligarchie und unorgansierten Sektoren der Gesellschaft die Wahl zugunsten des Demagogen Collor entschieden. Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung arbeitet eben nicht in formellen Arbeitsverhältnissen, sondern im informellen Sektor. Und tendenziell nimmt das Gewicht der formalisierten Arbeitsplätze ab. Auf diese Herausforderung kann eine Politik, die sich primär auf die Forderungen der organisierten Sektoren stützt, keine Antworten geben. Und allein ein neuer Wachstumszyklus, das beweisen die Erfahrungen des entwickelten Kapitalismus, kann das Problem der Ausgrenzung nicht lösen. In einem Artikel zur Debatte über das Regierungsprogramm hat Buarque seine Ideen audrücklich den Wachstumsideologien entgegengestellt: “Es gibt zwei verschiedene Linke: Die eine beschäftigt sich mit der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Profit und Lohn… und es gibt eine andere Linke, die eine Revolution der nationalen Prioritäten erreichen will… Die Frage, die wir heute in Brasilien stellen müssen, lautet nicht Wie wachsen? sondern Wohin wachsen?” Für Buarque steht also die Definition von Wachstumszielen an erster Stelle. Und das bedeutet für ihn in erster Linie umfassendes Reformprogramm für die “Ausgeschlossenen”. Diese Orientierung hat er als “ethische Modernität” bezeichnet, die sich von einer rein technischen Modernität unterscheidet. Konzeptionell bedeutet dies eine Abwendung von den organisierten Interessen der Gesellschaft hin zu den unorganisierten Sektoren. Wichtig ist, daß zu der ethischen Modernität auch der Schutz der Umwelt gehört, ein Aspekt der bei den “Wachstumslinken” nicht auftaucht.
Auf die Frage, ob sich die beiden Reformansätze verbinden lassen, gibt der Programmentwurf der PT jedoch noch keine Antwort. Vielleicht ist diese Unklarheit aber auch lediglich Ausdruck der unterschiedlichen Strömungen in der PT.
Lateinamerika im Fußballfieber
Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?
Die Vorstellung mit Kolumbien zu beginnen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstanden. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbianern im Rückspiel in Buenos Aires Historisches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Geschichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthusiastisch feiernden AnhängerInnen. Überschäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleiterscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Präsident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Orden des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußballfachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Knieverletzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wieder fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.
Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”
Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haartracht, die er als Ausdruck seiner Lebensfreude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spielzeug und nicht als schnöder Arbeitsgegenstand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Technik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schlagen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unumschränkt anerkannt, wird er als Anspielstation permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondition von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinterherrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) im letzten Jahr zeigte er neben den gewohnten technischen Kabinettstückchen auch ungewohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Maturana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Länderspiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätzliche Berechtigung. Die Wertschätzung ist indes nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jahres gewählt.
Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie
In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deutschen Fans ist er durch seine Schauspieleinlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wieder quicklebendig auf dem Platz aufzutauchen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Ausgleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valderrama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spanischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Richtig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folglich kehrte er 1992 nach Kolumbien zurück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Karibikküste. Mit dem dortigen Klub Atlético Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Vielleicht doch von europäischem Effizienzdenken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Buntheit?
Mexiko – Heimvorteil im Gringoland
An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Mexiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfehlung ruchbar wurde, folgte die empfindliche Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausscheidung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalterland USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmungvollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal geschlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spielenden Hugo Sanchez den Rang abgelaufen hat.
Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen”
Der jetzige US- und ehemalige mexikanische Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumindest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Ausgleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschieden zu sichern. “Das Ganze ist keine inszenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma befreit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Torwart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Vereinsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Heimatstadt Acapulco. Andere Berichte kolportieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.
Kleider machen Leute
Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Grenzen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefallenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkombinationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.
Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft
Bolivien hatte nun wahrlich bei der Prognose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fußballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Bolivien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mannschaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der imposanten Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war geschafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exilgemeinden Washington-Georgetown, Buenos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstammen der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staatssekretär für Sport Rolando Aguilera gegründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.
“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler
Seine Ausbildung an der Tahuichi-Akademie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Seamos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bolivar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spanische Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhandnehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bolivar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienstmöglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chilenische “Exil” bei Colo Colo Santiago suchen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mitwirken in der Schlußphase der Meisterschaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Eröffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.
Argentinien
Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerikameister (1993) natürlich Topfavorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Argentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Argentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien bestreiten, um das Ticket für die USA zu erhalten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Nationalteam zurück. Trotz mangelhafter Fitness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Argentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.
“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokainsünder” – der Mythos Maradona
Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlagzeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstritten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen seiner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argentinien sprach er sich für das Mitte-LinksBündnis Frente Grande aus.
Teures Wunderkind
Seine von zahlreichen Rekorden und Erfolgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Einwechselspieler der Argentinos Juniors Buenos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablösesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablösesumme von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportliche Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.
Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose
Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbstbewußtseins gegenüber den reichen Städten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiastischer gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragender Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular entfernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte erklärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, löste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekommen. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.
Maradona auf der Flucht – die Tragik
Maradona, der sich anfangs in seiner unantastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Meisterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewiesen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entfliehen. Er floh weiter. Zunächst vor der italienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spielsperre wegen Dopings wollte er seine Karriere bei Boca Juniors Buenos Aires fortsetzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Maradona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Maradona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm gemäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zusammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder Angebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.
Brasilien
Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Weltmeisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als Inbegriff für Fußballkunst und Fußballzauber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay berief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmerstar Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestritten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.
Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”
“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schießen.” Romário hat sein Vorhaben eindrucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er dieses Jahr souveräner Schützenkönig. In Europa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Aufmerksamkeit auf sich. Sein darauffolgender Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die ungewöhnliche Finanzierungsart für Schlagzeilen. Philips hatte von der brasilianischen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romários (Vasco da Gama) erhielt im Gegenzug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.
Der launische Strafraumkönig
Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast ausschließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplatzes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nunmal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjägerqualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasilianischen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museumsreife”. Seinen Stürmerkollegen in der Nationalmannschaft, Muller, kritisierte er heftig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé reagierte gelassen: “Manchmal sagt man in Europa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südamerika berichtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Superstars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte einen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoffnungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários Forderung nach einem Stammplatz zu seiner Verbannung geführt. Jetzt hält ganz Brasilien in der Hoffnung still, daß Romário Brasilien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.
Über die Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse
Der brasilianische Rennfahrer Ayrton Senna ist tot. Millionen BrasilianerInnen geben ihm bei der Rückführung nach Sao Paulo ein letztes Geleit, Zehntausende patrouillieren an seinen sterblichen Überresten vorbei. Sennas Tod ist tagelang das bestimmende Thema; die internationale Presse hat schon lange nicht mehr so großräumig aus dem südamerikanischen Land berichtet.
Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, dem der Ex-Weltmeister auf der Rennpiste von Imola erlag. Dennoch ordnet Präsident Itamar Franco dreitägige Staatstrauer an, eine Ehre, die sonst allenfalls verstorbenen Regierungschefs zuteil wird. Schließlich starb das Idol aller brasilianischen Taxifahrer als Nationalheld! In Staatstrauer wird Ayrton Senna gedacht, und die unzähligen anderen Toten in seinem Heimatland werden nicht einmal mehr wahrgenommen. All jene gemeinen Landsleute, die sich feige von Todesschwadronen erschießen oder von der Militärpolizei massakrieren lassen. So wie die acht Straßenkinder, die im vergangenen Juni mitten im Zentrum der brasilianischen Metropole getötet wurden. Und die 23 BewohnerInnen einer Favela in Rio de Janeiro, die eine Woche später bei einem Rachefeldzug der Polizei ihr Leben ließen. Damals wurde kein Gedanke an Staatstrauer verschwendet. Jene Namenlosen kämpften ja nur ums Überleben und nicht für den nationalen Ruhm Brasiliens. Ihr Lebensrisiko in den Slums der Großstädte ist eben viel höher als das Berufsrisiko eines Formel-Eins-Piloten. Und damit sich an dieser Schieflage nichts ändert, wird nun allerorten über weitergehende Sicherheitsmaßnahmen im Motor-“Sport” nachgedacht. Das ist ja auch wesentlich lukrativer, als sich um die Sicherheit der Millionen Habenichtse und Tunichtgute dieser Welt zu sorgen.
Millionen werden die Untersuchungen und Expertisen über die Unfallursachen auf der Rennbahn von Imola verschlingen. Das kann im günstigsten Fall dazu führen, daß der nächste schwere Unfall nicht bei 314, sondern erst bei 330 Stundenkilometern passiert. Als Nebenprodukt wird dem/der normalen AutofahrerIn vielleicht auch mehr Sicherheit hinter dem Lenker geboten werden können. Damit unsere Freiheit noch größer wird. Über die strukturellen Bedingungen, das heißt den ganzen Schwachsinn der prämierten Raserei (gar nicht zu reden von der Ökologie), denkt kaum jemand nach. Und hier endlich findet sich eine Gemeinsamkeit von Senna mit seinen vielen ermordeten Landsleuten: Das offizielle Brasilien beschränkt sich auf Proteste, Diskussionen und parlamentarische Untersuchungen. Über die Ursachen und das Funktionieren der strukturellen Gewalt wird dabei nicht nachgedacht.
Domingos Pellegrini Jr.
Auf die Frage, wer er ist, und was er macht. antwortet er: “Bin geschieden, habe vier Kinder und spreche Englisch.” Er sieht in der Literatur die “größte Brücke der Welt” und behauptet: “Tudocomencou com o homen”(“Alles begann mit dem Mensch/Mann”, wobei er hier den “Mann”meint). “Da gab es Adam und Eva, zwei Söhne, einer tötet den anderen und daraus entstand die Menschheit.” Domingos Pellegrini Jr. ist einer der fünf Autoren, die im Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HdKW) bei der Veranstaltung “Eine Reise ohne Ende” Auszüge ihrer Texte vorlasen. Zusammen mit der brasilianischen Buchkammer lud das HdKW AutorInnen ein, die sie als Vertreterinnen brasilianischer “Wurzeln der Gegenwart” sehen. So schreiben die Herausgeber der Anthologie “Nachdenken über eine Reise ohne Ende” (Babel-Verlag; 24,80 DM): “Vielerorts ist das Klischee lebendig, Brasilien sei ein Land ohne Wurzeln, ein Synonym für Neubeginn oder für den Glauben an den Wechsel und an die Vorzüge rasanter Veränderungen.” Sie wollen “zeigen, da6 es m diesem relativ jungen Land eine Prägung durch vielfältige lebendige Traditionen gibt, die oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber hinter der dynamischen Fassade des Alltags vorhanden sind.” Domingos Pellegrini Jr. wurde 1949 in Londrina.Paraná geboren und lebt dort noch heute als freier Journalist, Schriftsteller und Kinderbuchautor. Er studierte Literaturwissenschaften und beschäftigt sich in seinen Texten u.a. mit der brasilianischen Familie, als deren “Chronist der letzten Jahrzehnte” er von einigen brasilianischen LiteraturkritikerInnen bezeichnet wird. 1987 wurde er mit dem brasilianischen Jugendbuchpreis aus- gezeichnet. Neben seiner Kurzgeschichte “Mann am Meer”, die er auf der Veranstaltung vortrug und die auch in der Anthologie auf deutsch veröffentlicht ist, gibt es nur wenig auf deutsch übersetzte Texte von ihm: “Zärtliche Marmelade”, Berlin, Zürich: Edition dia, 1991; “Die größte Brücke der Welt” in Erhard Engler, Hg.: Erkundungen, Berlin 1988. Die Veranstaltung wird im Juni mit der dritten und letzten AutorInnengruppe zuendegehen. (8.-11.Juni im HdKW, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin.)
“Gleichheit ist eine Utopie”
Das kürzeste Interview mit Domingos Pellegrini Jr.
LN: Wie sind Sie Autor geworden?
Domingos Pellegrini: Deus que sabe -allein Gott weiß es-. Als ich das Lesen lernte, begann ich sofort, die Zeitungsränder mit irgendwelchen Worten vollzukritzeln. Ich war sieben. Ja, ich denke, daß es Gott war.
Was halten Sie von der brasilianischen Literatur von heute?
Es werden nicht mehr gute und schlechte Autoren in Brasilien geboren als in Deutschland.
Gibt es typisch brasilianische Literatur?
Nein. Jeder Autor hat seine eigene Mystik. Márquez zum Beispiel hat seine eigene, Jorge Amado hat eine andere, die von der Kultur Nord-Ost-Brasiliens geprägt ist.
Was ist Ihre Mystik?
Die großen Worte, die auf -ade [sprich: adsche] enden.
Welche?
Liberdade, sinceridade, honestidade, productividade, amizade. (Freiheit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit. Produktivität, Freundschaft). Nur nicht die egualidade (Gleichheit).”
Warum nicht?
Gleichheit ist eine Utopie! Es gibt nicht zwei Menschen, die sich für zehn Dollar, die ich ihnen in die Hand drücke dasselbe kaufen. Die Menschen sind unterschiedlich, das ist nunmal so.”
“Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín”
Ernesto Semán: Wie erklären Sie sich den Erfolg der Frente Grande?
Chacho Alvarez: Wir haben aus drei Gründen gewonnen. Erstens wegen des Paktes von Olivos, der hier in der Hauptstadt einen negativen Effekt hatte: Ein ganzer Bereich im Radikalismus stand dem Pakt zutiefst ablehnend gegenüber. Zweitens wegen des Wunsches nach einer Opposition hier in der Stadt, um den Machtmißbrauch des Menemismus zu stoppen, und drittens, weil ein ideologisch breites Spektrum von Menschen, Liberale eingeschlossen, des Machtmißbrauchs aus moralischen Gründen müde ist und jetzt freier abgestimmt hat als zu anderen Gelegenheiten, wo es mehr um die Verteidigung der wirtschaftlichen Stabilität ging. Unser Sieg ist ein deutliches Zeichen für die Regierung, die dachte, daß die Leute auch in einer institutionellen Frage nach dem Geldbeutel abstimmen.
Nichtsdestotrotz hat die PJ ja eine beträchtliche Stimmenzahl erhalten.
Ja, aus zwei Gründen: Einmal sind die Wähler enorm treu, und zweitens vergleichen sie die heutige Stabilität mit den Zeiten der Hyperinflation. Aber wenn es uns, die wir daran keine Verantwortung tragen, weil wir nicht regierten, gelingt, eine andere Perspektive anzubieten, dann können wir dem Peronismus Stimmen abziehen, zugunsten eines politischen Projekts, das mehr mit den Schwierigkeiten des Alltags zu tun hat.
Ändert sich das politische System durch dieses Ergebnis?
Der Wahlkampf hat gezeigt, daß die Regierung in dem PAMI-Bestechungsskandal um jeden Preis hart geblieben ist, mit dem Ziel, die ganze Problematik des “schwarzen Geldes”, der illegalen Finanzierung von Politik und des Systems von Bestechungsgeldern zuzudecken. Wir haben angefangen, über Themen zu reden, die vorher der Zensur zum Opfer gefallen waren, haben die offiziellen Spielregeln zwischen Regierung und Opposition verletzt. Ich glaube, daß zur Utopie der 90er Jahre gehört, den faulen Absprachen, Tauschgeschäften und der Korruption ein Ende zu bereiten.
Dieses Ergebnis hält Sie im Rennen um das Bürgermeisteramt von Buenos Aires.
Das stimmt so nicht. Von morgen an werden wir uns mit der Unidad Socialista an einen Tisch setzen, die uns am nächsten steht, und mit der zusammen wir ein glänzendes Wahlergebnis erzielt hätten. Wir werden Pläne für ’95 diskutieren, in denen das Bürgemeisteramt eine Rolle spielt. Da ist meine Kandidatur aber keine Bedingung.
Aber sie wissen doch schließlich, daß Sie mit dieser Abstimmung ihre Vorteile gegenüber anderen Mitte-Links-Kandidaten erhöht haben.
Ja, aber wir wollen ernsthaft die politische Kultur Argentiniens verändern. Als wir der Unidad Socialista den ersten Listenplatz angeboten haben, war das kein Witz. Und jetzt sag’ ich wieder dasselbe: Man muß sich hinsetzen, um zu diskutieren, ohne irgendeine Kandidatur als Vorbedingung. Zusammen mit den Sozialisten können wir auch mit anderen Kandidaten die Bürgermeisterwahl gewinnen. Ich denke, wir können diese Apathie brechen, die davon ausgeht, daß die Wiederwahl Menems beschlossene Sache ist. Und außerdem hätten wir gemeinsam auch schon in Santa Fe die Mehrheit haben können und ein noch besseres Ergebnis in der Provinz Buenos Aires.
Die Frente Grande gewinnt in den großen Städten an Boden. Aber in den Provinzen mit großen sozialen Problemen, im Nordwesten zum Beispiel, hat sie Schwierigkeiten.
Ja, aber Sympathieströme sind nicht vorhersehbar. Das kann von der Mittelschicht abwärts gehen, wie damals ’83 bei Alfonsín oder wie bei Menem ’89, der unten anfing, bei den Ärmsten, und später erreichte, daß ihm die Leute von den Balkonen der Avenidas zuwinkten.
Sie vergleichen sich mit Alfonsín 1983?
Wir sind Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín, des Scheiterns eines pluralistischen, progressiven, volksnahen Projekts. Für die Radikalen wird es schwierig sein, noch einmal ein ähnliches Programm zu entwerfen.
Wenn Sie an so etwas denken…
Ohne die Besonderheiten der Situation damals. Ich glaube, daß wir erreichen können, daß verschiedene soziale Gruppen mehr politische Verantwortung übernehmen. Schon jetzt verlagert sich die Zustimmung, jedenfalls nach dem, was ich im Wahlkampf gesehen habe, von der Mittelschicht nach unten. Es gibt ähnliche Probleme, Bildung zum Beispiel oder der schlechte Zustand der Stadt. Ich glaube, es gibt Forderungen, die deutlich gestellt werden müssen, besonders in einem Kapitalismus, der gesellschaftlich viele ausschließt, aber auch von den politischen Märkten und in kultureller Hinsicht. Wenn wir das erreichen, haben wir die Möglichkeit, eine neue politische Kraft mit Zukunft auf die Beine zu stellen.
Aber selbst mit diesem Ergebnis scheint es, daß die Frente sehr stark von Ihrer Figur abhängt.
Das glaube ich nicht. Die Frente Grande hat drei der zehn bestangesehensten Politiker der Hauptstadt in ihren Reihen. Wenn wir ein Abkommen mit der Unidad Socialista erreichen, können wir eine Führung etablieren, die wichtiger als der Apparat ist, und die hohe Erwartungen hervorrufen wird.
Aber trotzdem fehlt der Frente die Basis.
Das ist wie bei Erundina in Brasilien. Ich habe mir angeschaut, was der PT passierte, als Erundina in Sao Paulo gewann. Sie selbst sagt, daß ihr Sieg gefährlich war, und daß die Struktur der PT ein Hindernis für ihre Regierung war. Insgesamt hat ihre Struktur der PT eher Probleme bereitet als Lösungen erleichtert. Wir sollten uns also keine großartige politische Struktur vornehmen. In bezug auf die Basis wünsche ich mir, daß wir von der Vielzahl der Farbtöne ausgehend ein politisches Projekt der Zukunft aufbauen.
Das soll reichen, um beispielsweise die Stadtverwaltung von Buenos Aires zu übernehmen?
Erundinas größtes Problem war die Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten, die ihr das Leben schwer gemacht hat. Das andere große Problem war die PT selbst. Erundina sagte einmal: “Man kann nicht gegen die Partei regieren, aber mit ihr auch nicht.”
Kann es sein, daß innerhalb der Frente Grande nicht alle so denken?
Das ist eine Spannung innerhalb aller progressiven Kräfte. Die muß ich auch aushalten. Viele Sektoren kritisieren, ich sei übermäßig light. Gut, dann sollen sie mir erklären, wie man die Dinge anders regeln kann. Man kann doch keinen Diskurs entwickeln, der niemanden erreicht, egal wie hart er ist. Ich habe keine Probleme, light zu sein. Das bedeutet nicht, schwächer oder weniger kritisch zu sein. Light zu sein, hat damit zu tun, daß man alles zur Diskussion stellt. Ich selbst habe den Peronismus in Frage gestellt, meine eigene politische Tradition. Warum kann ich dann nicht verlangen, daß auch andere das machen?
Karneval in Rio
Rio ist nicht die einzige Stadt Brasiliens, deren Karneval berühmt ist. Eine alte Konkurrenz besteht zwischen Salvador, der Hauptstadt von Bahia, und Rio. Salvador steht für den Straßenkarneval, tanzende Massen hinter den “Trio Eletricos”. Zwar hat auch Rio einen Straßenkarneval. In fast allen Stadtvierteln werden “blocos” organisiert, die singend und tanzend durch die Straßen ziehen und abends geht es zu den “bailes”, den Bällen, die inzwischen auch in den ärmeren Teilen der Stadt durch die Stadtverwaltung gesponsort werden. Der Höhepunkt des Karnevals in Rio ist aber zweifelsohne der Umzug der besten Karnevalsschulen in dem eigens dafür erbauten Stadion, dem Sambodromo. Die 16 besten “Sambaschulen” marschieren hier in der Nacht des Sonntags und Montags. Das Spektakel dauert jeweils etwa zehn Stunden und endet erst am frühen Morgen. Jede der Sambaschulen bringt 3000 bis 5000 Menschen auf die Piste, aufwendige Wagen mit Szenen zum Thema des jeweiligen Sambas, farbenprächtige Kostüme. Eines der Klischees über den Karneval in Rio lautet: “Die Leute sind arm, aber sparen das ganze Jahr für ein Kostüm.” Nein, der Aufwand ist inzwischen so groß, daß kein Armer mehr dafür sparen kann. In diesem Jahr geben die größten Sambaschulen jeweils etwa 600.000 US-Dollar für ihren Aufmarsch aus. Der Karneval ist tatsächlich zu einem großen Geschäft geworden.
600.000 US-Dollar wollen also verdient sein. Da ist erstmal die Schallplatte mit den Sambas der 16 Schulen, verlegt durch Sony. Dann die Fernsehrechte. Hinzu kommt der Eintritt, für bessere Plätze von 250 US-Dollar aufwärts, Logen werden zu unglaublichen Preisen an Sponsoren verkauft, die dann Prominente einladen. Und selbst einen Platz im Umzug kann man kaufen. Aber 1000 US-Dollar kann eines der schickeren Kostüme schon leicht kosten. Und nicht zu vergessen die Werbung, allen voran die Brauereien. Dieses Jahr hat der Marktführer Brahma (Abkürzung für Brasilianisch Hopfen und Malz) das Sambodromo übernommen. Die Vermarktung wird durch eine Vereinigung der Sambaschulen der ersten Liga selbst organisiert. Doch das alles reicht nicht aus. Die Schulen brauchen Sponsoren, und die haben sich in den letzten Jahren nicht lumpen lassen. Die Herren des illegalen Glücksspiel in Rio, die “bicheiros” haben schon vor Jahren die Leitung fast aller Sambaschulen übernommen. Das “Tierspiel”, jogo do bicho, ist eine Institution in Rio. Obwohl offiziell verboten, kann man an fast jeder Straßenecke auf Nummern setzen, die inzwischen die ursprünglichen Tiere ersetzt haben. 20.000 Menschen werden von den bicheiros beschäftigt; und obwohl(?) illegal, gehört das jogo do bicho zu den wenigen Einrichtungen, von dem alle EinwohnerInnen Rios glauben, daß sie funktionieren. Die Drahtzieher dieses Glückspiels haben sich also in den letzten Jahren mit einer Ausnahme aller Sambaschulen bemächtigt, um so ihr Ansehen zu erhöhen. Zweifelhafte Figuren, denen Verbindungen zum Drogen- und Waffenhandel nachgesagt werden, sind somit zu den Herren eines der bewundertsten Schauspiele der Welt geworden. (Dieses Jahr mußte allerdings die Créme der bicheiros Karneval im Gefängnis verbringen, verurteilt wegen Steuerhinterziehung.)
Diese Entwicklungen haben kritischen Stimmen Nahrung gegeben, die dem Karneval in Rio die totale Dekadenz bescheinigen. Der Niedergang habe schon mit der Konstruktion des Sambodromos Anfang der achtziger Jahre angefangen. Die Spontaneität der Umzüge, das ungezügelte Treiben auf der Straße, wurde in Beton gebändigt. Baumeister war der Kommunist Oskar Niemeyer, der Betonmonster liebt. Damit wurde der Karneval “zivilisiert” und für den Konsum der Reichen zubereitet, die heute bei Champagner und Hummer in den Logen sitzen.
Samba: die subversive Musik der Hügel
Dabei hatte alles ganz anders begonnen. Anfang des Jahrhunderts war der Karneval eine Domäne der Reichen. Sie fuhren in offenen Autos und Kutschen durch die Straßen und warfen Konfetti in die Menge. Die genoß die freien Tage, amüsierte sich am Rande, in den dunklen Gassen, und spielte eine Musik, die schwarze Sklaven mit nach Brasilien gebracht hatten: den Samba. Die ersten “sambistas” waren allesamt Schwarze und wohnten auf den Hügeln der Stadt, den “morros”, wo die Armen sich niederließen, nachdem eine Stadtreform sie aus dem Zentrum vertrieben hatte. Die Polizei verfolgte die “sambistas”, und auch zu Zeiten des Karnevals war ein allzu ausgelassenes Treiben den Hütern des Gesetzes ein Dorn im Auge. “Wir waren schon üble Burschen”, sagte einer von ihnen, Cartola, der später zu einem der bekanntesten Sambakomponisten werden sollte. Die ersten sambistas waren so etwas wie die Punks der zwanziger Jahre in Rio. Aber bald gab es Bestrebungen, der gesellschaftlichen Ächtung zu entrinnen. 1928 wurde die erste Sambaschule gegründet. Der Name rührt nicht etwa daher, da die Mitglieder lernen mußten, Samba zu spielen oder zu tanzen. Die Sambaschule war eher eine Art Übungsraum, damit die Musikgruppe sich vorbereiten und Feste veranstalten konnte.
Alle lieben Mangueira
Eine der ersten Sambaschulen war “Bahnhof Mangueira”, benannt nach einem Armenviertel, das sich neben einem Halteplatz der Vorstadtzüge erstreckt. Tatsächlich schafften es die von der Polizei verfolgten “sambistas” schnell, den Karneval zu erobern. Und so wurde aus dem betulichen Fest der Vornehmen das wilde, ausgelassene Vergnügen, das bis heute durch die eindringlichen Rhythmen der Schwarzen Musik geprägt ist. Der Preis dieses Erfolges war die Vereinnahmung des Sambas durch die Eliten und den Kommerz. Aus einer subversiven Musik der Vorstädte wurde so ein harmloses und akzeptiertes Vergnügen, aber eben auch eine der Formen, durch die die Schwarzen Anerkennung und Erfolg erringen konnten. Und die Sambas haben sich immer mehr zu einer Art Marschmusik verschnellert und vermanscht.
Mangueira ist heute die beliebteste Sambaschule in Brasilien, jeder Brasilianer hat nicht nur einen Fußballverein, sondern auch eine Sambaschule, für die er sich begeistert einsetzt. Und niemand würde bei den Farben rosa-grün an etwas anderes denken als eben an Mangueira. Vielleicht ist aufgrund dieser Popularität Mangueira auch die einzige der großen Sambaschulen, die ohne Verbindung mit dem illegalen Glücksspiel überleben kann.
Samba und Karneval lassen sich also nicht vorschnell auf einen Nenner bringen, sie sind ein widersprüchliches Phänomen. Daß noch nicht alles nur Kommerz ist, läßt sich am besten bei einem Besuch einer der Sambaschulen erfahren. Lange vor dem Karneval schon beginnen die Einübungen, bei denen der aktuelle Samba immer wieder gespielt wird, bis auch der letzte Fan den Text mitsingen kann. Das Gelände von Mangueira liegt wie schon zu Zeiten der Gründung direkt am Fuß des Hügels. Der Raum ist eine riesige Turnhalle, stämmige Wächter sorgen davor für Ordnung. Brav entrichten wir den Eintrittspreis, Männer zahlen das doppelte wie Frauen. Beim Eingang scheinen wir aber fast die einzigen zu sein, die bezahlt haben. Vor uns geht eine große Gruppe einfach so durch, freundlich begrüßt von den Kontrolleuren, man kennt sich. Klar, die Leute vom “Hügel” zahlen nicht, nur die Fremden werden zur Kasse gebeten.
Die Sambas ähneln einander sehr, der aktuelle wird mindestens eine halbe Stunde lang wiederholt, schließlich muß der Vorsänger beim Umzug auch über eine Stunde lang durchhalten. Die Monotonie läßt die Tänzer in Trance geraten, nicht umsonst heißt es, man müsse in den Samba fallen. Hier bei Mangueira wie bei den meisten Sambaschulen ist die Geschichte des Sambas lebendig. Hauptakteure sowohl bei der Gruppe wie bei den Tanzenden sind die Leute vom Hügel, der das Herz der Schule bildet. Die Einheit von Armenviertel und Sambaschule existiert noch, bezahlt wird nicht und die besten Tänzer und die schönsten Frauen bekommen umsonst das Kostüm gestellt.
Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute von Mangueira glauben, den Titel schon in der Tasche zu haben: “Nur wer schon gestorben, tanzt nicht hinter Mangueira her” lautet der tiefsinnige Refrain, den inzwischen ganz Rio singt.
Es ist der herbe Charme der Hügel und Vorstädte, der heute den Samba und den Karneval noch leben läßt, ihn vor der vollständigen Kommerzialisierung und dem Untergang im organisierten Spektakel rettet. Hier ist die Quelle der Kreativität und einer trotzigen, ausgelassenen Lebensfreude, nicht in den sterilen Studios der Reichen. Die Kraft der Hügel, der Armenviertel ist die Basis des Karnevals, deren Höhepunkt der Tourist, sei er aus Europa oder Brasilien, in seinem Logenplatz genießen kann. Karneval ist daher auch mehr als nur ein paar ausgelassene Tage, die eine Existenz im Jammertal vergessen lassen. Er ist Ausdruck einer Kultur des Vergnügens und der Lebensfreude, die an den Tagen des Karnevals ihren luxuriösen Ausdruck findet.
Das schlimme Klischee “arm aber fröhlich” drängt sich geradezu auf. Zweifelsohne, die Allerärmsten amüsieren sich auch im Karneval nicht. Sie sammeln vielmehr den Abfall auf, suchen nach Bierdosen und Lebensmittelresten. Aber wer nicht so tief unten leben muß, schafft es in der Regel, Geld für ein paar Bier zusammenzubekommen. Die vielen Karnevalsbälle sind ein billiges Vergnügen. Eine der besten Beschreibungen der Kraft des Sambas liefern die Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso auf ihrer letzten LP: “Der Samba ist Kind der Trauer und Vater der Fröhlichkeit. Er ist der große Umwandler”. Die Fähigkeit zur Hingabe an das Vergügen, die nicht aus Tumbheit sondern aus Trauer und Begehren wächst, ist eine bewundernswerte Eigenschaft der BrasilianerInnen. So also läßt sich bei aller Kritik am Kommerz die Faszination verstehen, die der Karneval in Rio und vielen anderen Städten Brasiliens immer noch auf alle Welt ausübt. Zum ersten Mal seit Jahren sind die Hotels wieder ausgebucht. Rio wird in diesen Tagen zur Hauptstadt der Lebensfreude und das tut der geschundenen Seele der Stadt und ihrer EinwohnerInnen gut. So singt dann der Vorjahressieger, die Sambaschule Salgueiro, unbekümmert alle Klischees herunter: “Mein Rio ist ein Rio der Freude, vor Glück außer Rand und Band. Rio die wunderbare Stadt, Visitenkarte meines Brasiliens, Rio der Mulatas und des starken Sambas, des Fußballs. Ach, wie mein Herz explodiert”. Ja, und wenn 100.000 Menschen in der Nacht dieses Rosenmontags solche Verse singen, dann werden sie plötzlich wahr.
Skandal bei der Preisverleihung
Drei Tage später kommt der Katzenjammer. Bei der Auszählung der Punkte, die eine Jury verteilt, hält es den Präsidenten von Salgueiro nicht mehr auf dem Stuhl. Er droht, die Jury anzugreifen, schreit lautstark “Betrug” und muß schließlich von der Polizei abgeführt werden. Publikumsliebling Salgueiro, der den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubte, landet nur auf dem zweiten Platz. Noch größer die Enttäuschung bei Mangueira: ein magerer und skandalöser 13. Platz. Die Tränen fließen ungehemmt. Mangueira hatte zweifelsohne den populärsten Samba dieses Jahres. (Nicht nur) Rio sang fast nur diesen einen Samba. Er ist eine Hommage an Bahia (die große Karnevalskonkurrentin) und dessen vier große MusikerInnen: Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethania, die alle an dem Umzug teilnahmen. Mangueiro war es so gelungen, vier absolute Größen der populären brasilianischen Musik zusammenzuführen. Ein Geniestreich, und alle glaubten an den Sieg.
Das schlechte Abschneiden von Mangueira war Auslöser für eine Diskussion, die nicht ganz neu ist. “Zuviel Kommerz, zuwenig Samba” resümiert die alte Garde der Schule. Tatsächlich hatte Mangueira die Politik der Vermarktung am konsequentesten verfolgt und eine Mangueira-GMBH gegründet, die Pauschalreisen zum Karneval mit Platz in der Mangueiraloge zu horrenden Preisen verkaufte. Und die zu große Zahl von verkauften Kostümen hatte dazu geführt, daß ganze Teile des Umzugs von (brasilianischen) Touristen dominiert wurden, die zwar zahlen, aber nicht tanzen können. Die “Decharakterisierung”, die zunehmende Distanz des Managements der Schule vom Morro, der Favela, wurde als Grund für das Desaster angesehen. Immerhin, die Diskussion zeigt, daß die Kommerzialsierung des Karnevals problematisch ist und dazu neigt, den Untergrund, aus dem der Samba seine Kraft bezieht, zu zerstören. Und die Siegerin: Die Sambaschule Imperatriz, mit einem technisch perfekten Umzug, der niemanden begeisterte, die Jury aber auch keine Fehler entdecken ließ. Für die Leute auf der Straße war das Urteil klar: Eine Woche nach dem Karneval wurde bei einem großen Freilichtkonzert der Samba des Jahres 1994 gespielt und begeistert mitgesungen: Natürlich, der von Mangueira.
Kasten
Zwischen Rebellion und Schwachsinn
Jeder Samba der Schulen hat Text und Thema. Die sind oft belanglos bis peinlich. Aber immer gibt es Ausnahmen. Dieses Jahr hatten ohne Zweifel die Unidos de Viradouro den interessantesten Samba: Eine Ehrung an Teres de Benguela, eine Prinzessin, die als Sklavin von Afrika nach Brasilien verschleppt wurde, dort floh und im Pantanal zur Führerin eines “Quilombos”, eines Staates von entlaufenen SklavInnen wurde: “Die Rebellion entzündete die Flamme der Freiheit, den Traum der Freiheit im Quilombo […] Eine goldene Sonne wird leuchten. Das Licht Terezas wird nicht erlöschen und Viradoura wird erstrahlen in der neuen Ära.”
Das Ganze präsentiert nicht von TouristInnen und ohne die sonst üblichen (weißen) Modelle, sondern fast ausschließlich von den dunkelhäutigen AnhängerInnen der Schule. Resultat: ein dritter Platz, der in Niteroi, der Heimat von Viradouro wie ein Sieg gefeiert wurde. Peinlich hingegen wirkt die Freiheitslyrik der Siegerin Imperatriz. Die besingt die beim Karneval äußerst beliebten Indigenas (guter Vorwand, um viel Haut zu zeigen), allerdings mit eher unbrauchbarem Aufhänger: Besungen wird die Präsentierung von Indigenas am französischen Hof im 16. Jahrhundert. “Mon amour c’est si beau” heißt’s auf französisch. Weiter: “Brasilien, das Bild der Nacktheit und des Mutes”. Und im Refrain: “Ich bin Indio, ich bin stark, ich bin Sohn des Glückes, ich bin natürlich, ich bin Krieger, ich bin das Licht der Freiheit.” Nun ja, für die meisten endete die Verschleppung nach Frankreich tödlich.
Der Preis der Demokratie oder was kostet ein Abgeordneter
Nach Angaben einer der größeren Firmen der Branche, Meio e Mensagem, gibt ein Kandidat für das Landesparlament etwa 600.000 bis 800.000 US-Dollar aus. Wer ins Bundesparlament kommen will, muß hingegen 1,5 bis 2 Millionen Dollar hinlegen. Dies, so sagt die Firma, gelte für eine Kampagne mittlerer Größe.
Natürlich geht es auch billiger, erheblich billiger. KandidatInnen, die populär sind, oder die eine feste Stammwählerschaft haben (in einer Stadt oder einer Gewerkschaft) kommen mit erheblich weniger aus. Insbesondere die KandidatInnen der Linken können mit den hier angegebenen Summen nicht aufwarten. Ihre Kampagnen beruhen auf der “Militanz”, dem ehrenamtlichen Einsatz vieler. Dennoch geht der Bundesabgeordnete der PT (Arbeiterpartei) Paulo Paim davon aus, daß er für seine Wiederwahl etwa 40.000 US-Dollar ausgeben muß. Ivanir Santos, Kandidat der PT in Rio und der Schwarzenbewegung verbunden, will hingegen mit etwa 15.000 Dollar den Sprung ins Landesparlament schaffen.
Diese Zahlen werden nur auf dem Hintergrund des brasilianischen Wahlsystems verständlich: JedeR KandidatIn muß – auch bei den linken Parteien – seinen eigenen Wahlkampf führen. Ist seine Kandidatur durch die Partei einmal bestätigt, ist er oder sie, abgesehen von einigen zentralen Wahlmaterialien, weitgehend auf sich angewiesen. Denn am Wahltag kreuzen die WählerInnen keine Parteienliste, sondern nur einen Namen an. Die anderen Namen auf der Liste einer Partei sind für die einzelnen KandidatInnen also auch Konkurrenten, der Kampf um Stimmen wird auch und gerade im Lager der PT-WählerInnen geführt. Aber die Konkurrenz ist nicht grenzenlos: Die Stimmen der meistgewählten Abgeordneten werden umverteilt. Ein erheblich vereinfachtes Beispiel: Wenn zu dem Einzug ins Landesparlament 10.000 Stimmen notwendig wären und der/die meistgewählte KandidatIn einer Partei über 15.000 Stimmen erreicht, könnte auch die Nummer 2 mit 5.000 Stimmen einziehen.
Und wieviel kostet ein Präsident?
Dieses System hat Konsequenzen für die politische Kultur. Zum einen konzentriert sich der Wahlkampf nicht auf Parteien, sondern auf Personen. Dieser hochgradigen Personalisierung entkommt auch die PT nicht, die am ehesten den Charakter einer Partei mit Programm aufweist und kein reiner Wahlverein ist. Zum anderen sind die Kampagnen völlig auf Spenden angewiesen, eine Wahlkostenerstattung wie in der BRD gibt es in Brasilien nicht. Als der Bestechungsskandal um Ex-Präsident Collor aufbrach, ging es zunächst hauptsächlich um die illegale Finanzierung seiner Kampagne. Nach dem damals gültigen Parteiengesetz durften juristische Personen (also Unternehmen) keine Spenden geben; die Sache war illegal. Inzwischen sind Spenden von Unternehmen legalisiert, maximal 180.000 US-Dollar können sie offiziell ihren KandidatInnen zufließen lassen. Dennoch vermutet Carlos Mendes, als Richter für die Wahlaufsicht zuständig, daß von den erwarteten fünf Milliarden Dollar, die in die Wahlkampagnen gehen, mindestens 2 Milliarden illegal bleiben. Die Gründe liegen auf der Hand: Oft ist das Geld illegal erworben und in vielen Fällen soll die massive Unterstützung eines Kandidaten, etwa durch Baufirmen, nicht ruchbar werden.
Die linken Parteien können ihre finanzielle Schwäche am ehesten auf lokaler (durch konkrete Arbeit vor Ort) und auf nationaler Ebene ausgleichen. Bei letzterer spielt natürlich die Popularität Lulas eine große Rolle, aber auch die Tendenz zur Protestwahl. Während sich Abgeordnete durch konkrete Versprechungen für einen bestimmten Ort oder eine Siedlung Stimmen angeln, werden an einen Präsidenten andere Erwartungen gerichtet: Schluß mit der Inflation, wirtschaftlicher Aufschwung. Am schwierigsten ist anscheinend die mittlere Ebene. Die PT stellt zwar viele BürgermeisterInnen in Brasilien, aber keinen Gouverneur. Kein Wunder: Eine Kampagne für den Gouverneursposten kostet etwa 20 bis 30 Millionen Dollar, in Sao Paulo bis zu 100 Millionen.
Ja und wieviel kostet ein Präsident? – 150 bis 200 Millionen Us-Dollar, meint Meio e Mensagem.
(Quelle für die Angaben von Meio e Mensagem: Jornal do Brasil, 17.4.1994)
Großgrundbesitz erobert Amazonien
Niemand weiß so recht, wie die Firmen im einzelnen zu Gebieten dieser Größenordnung gelangen. Fest steht, daß der Umfang der Flächen, die nicht in Privatbesitz sind, in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen ist: Der Bundesstaat Amazonas verlor in den letzten zehn Jahren fast 10 Millionen (!) ha Staatlichen Landes. Davon wurde nur 2.884.961 Hektar in Indianerreservate oder Naturschutzgebiete umgewandelt. Die Experten der INCRA können nicht erklären, wie der restliche Teil des Landes in private Hände gelangt ist. Es wird vermutet, daß Schenkungen von Gemeinden beziehungsweise deren Bürgermeister an ihre Klientel eine große Rolle dabei spielen.
Inzwischen ist in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß über den Verbleib der staatlichen Ländereien eingesetzt worden. Der Vorsitzende des Ausschusses, Ereno Bezerra, nimmt an, daß der größte Teil des Gebietes in unproduktiven Grundbesitz verwandelt wird. “Der Großgrundbesitz in Amazonas ist in den letzten zehn Jahren in alarmierendem Ausmaß gewachsen,” erklärt er.
Offensichtlich bereiten die Holzfirmen lang- oder mittelfristig eine Verlagerung ihrer Aktivitäten in den Bundesstaat Amazonas vor. Dieser zeigt bisher die niedrigsten Entwaldungsraten, weil ein Straßennetz praktisch nicht existiert und der Schiffstransport langwierig ist. Da in den verkehrstechnisch besser erschlossenen Gebieten Amazoniens das wertvollere Holz langsam zu Ende geht, kann sich bei steigenden Holzpreisen bald lohnen, weiter ins Innere Amazoniens vorzudringen.
Die Firmen handeln dabei nach dem altbewährten Motto: “Legal – Illegal – Scheißegal”. Denn eigentlich müßte jeder Landerwerb von über 2.500 Hektar (nach der Landesverfassung von Amazonas sogar von 1.000 Hektar) durch das nationale Parlament oder den Landtag genehmigt werden.
Die fast unvorstellbare Ausdehnung der Latifundien (definiert als Betrieb, dessen Fläche sechshundertmal größer ist als ein durchschnittlicher Betrieb in einer Region) ist kein Phänomen, das auf den Bundesstaat Amazonas beschränkt ist, sondern prägt die gesamte Amazonasregion. 1986 besaßen von den achtzehn größten Landbesitzern Brasiliens fünfzehn Land in Amazonien und zwar eine Fläche von 162.000 Quadratkilometern, mehr Land als das Gebiet der Neuen Bundesländer plus Niedersachsen. Insgesamt besaßen Latifundisten in Amazonien 1986 1,4 Millionen Quadratkilometer, ein Gebiet also, das fast viermal so groß ist wie die Bundesrepublik.
Diese Zahlen können gut dazu dienen, die in Brasilien wieder aufgekommene Diskussion um die Demarkierung der Indianergbiete zurechtzurücken. Konservative Kreise versuchen nämlich mit dem Hinweis auf die große Ausdehnung der Indianergebiete, diese in Frage zu stellen und insbesondere die Demarkierung des Gebiets der Yanomami wieder rückgängig zu machen. In die aktuelle, allerdings nur schleppend vorankommende Verfassungsreform versuchen diese Kreise eine Änderung einzubringen, die die Demarkierung der Indianergbiete zur Sache der Bundesstaaten macht. Der Effekt wäre klar: In Staaten wie Roraima (in dem das Gebiet der Yanomami liegt), wo der lokale Großgrundbesitz dominiert, wären einer Revision der Demarkierung Tor und Tür geöffnet. Die Zahlen über den Zuwachs des Großgrundbesitzes belegen aber, daß nicht die Indianergebiete sondern die Explosion der unproduktiven Latifundien das Grundproblem der Landfrage in Amazonien ist.
Es zeigt sich auch, daß gesellschaftliche Veränderungen in Amazonien nicht an der Landfrage vorbeikommen. Dies betrifft auch den Umweltschutz. Was nützt die Einrichtung einiger Schutzgebiete, wenn die Latifundien sich so ungeniert und unkontrolliert ausbreiten können. Gerade die Landfrage ist aber in Entwicklungsprogrammen wie dem berühmten Pilotprogramm der G-7 ausgespart. Was immer noch auf der Tagesordnung in Amazonien steht ist eine einschneidende Landreform, ohne die alles Gerede von “nachhaltiger Entwicklung” Makulatur bleibt.
Die Unfähigkeit wahrzunehmen
Ein italienischer Anthropologe reist zu Studienzwecken ins Amazonasgebiet. Zunächst landet er in Sao Paulo, um an der dortigen Universität an einer Tagung teilzunehmen. Während der Tagung wird der Vize-Rektor der philosophischen Fakultät (Prof. Rui Coelho) verhaftet und eine junge Soziologin der Universität (Yara Yavelberg) von der Polizei verschleppt und ermordet. Verantwortlich: Die polizeilich-militärische Organisation OBAN mit Sitz in der Rua Tutóia in Sao Paulo.
Der Italiener bricht sein Amazonas-Vorhaben ab. Er bleibt in Sao Paulo und beginnt, über Repressionen und Todesschwadrone zu recherchieren. So geschehen 1971.
Das 350 Seiten starke Buch des Anthropologen Ettore Biocca über den Staatsterrorismus in Brasilien erschien 1974 unter dem Titel “Strategia del Terrore” bei dem angesehenen italienischen Verlag De Donato und beeindruckt noch heute durch die detaillierten Beschreibungen der Entstehungsgeschichte von Todesschwadronen in Brasilien. Biocca verknüpft die Geschichte der staatlichen und halbstaatlichen Repression mit einer Analyse des Systems der sozialen Ungerechtigkeit in Brasilien. Am 5.9.1972 berichtet amnesty international zum ersten Mal ausführlich über den systematischen Einsatz von Folter und Todesschwadronen in Brasilien. Das zweite Russel-Tribunal fand sich im Frühjahr 1974 in Rom zusammen, um die internationale Aufmerksamkeit auf den Staatsterrorismus in Lateinamerika zu lenken; auch über Brasilien wurde ausführlich und dramatisch berichtet.
Die Anfang der 70er Jahre in Sao Paulo aufgebauten polizeilichen Killerkommandos bestehen noch heute. Zum Teil sind es dieselben Chefs, dieselben Namen, dieselben Waffen, die die staatliche Mordmaschine betreiben. Der einzige Unterschied: Ihre Anzahl hat sich ungefähr vervierfacht (von 250 auf über 1000 Mann), und ihre nach militärpolizeilicher Statistik jährlich begangenen Morde haben sich ebenfalls ungefähr vervierfacht. (1992 haben sie in der Stadt Sao Paulo 1470 Personen erschossen.)
Ein zweiter, allerdings gesellschaftspolitischer Unterschied springt ins Auge: Heutzutage bricht kein Professor deswegen seine Forschungsreise ab. Kein internationales Tribunal klagt an. Keine wissenschaftlichen Bücher werden darüber geschrieben. Keine Schriften mit politisierender Absicht dazu abgefaßt. Keine großen Kampagnen entfesselt.
Mörder machen Medien
Alle wissen, daß es in Brasilien Morde an Straßenkindern gibt und daß der brasilianischen Militärpolizei der Colt locker sitzt. Weltweit wird über Massaker berichtet – als Skandal. Es gibt sogar brasilianische Radiosender und Tageszeitungen, die ausschließlich über Mord und Totschlag – auch von Todesschwadronen – berichten. Sie sind in der Hand der Hintermänner der Todesschwadrone, die Repression organisiert die Information gewissermaßen selbst.
Aber über die Kontinuität des Apparats berichtet niemand. Liegt das daran, daß die Stadtguerilla, gegen die damals die Killerkommandos aufgebaut wurden, nicht mehr existiert? Daß die politische Opposition von heute nicht mehr von den Spezialeinheiten attackiert wird? Entsteht eine gesellschaftliche Unfähigkeit wahrzunehmen, was an den Rändern der offiziellen Gesellschaft geschieht? Wächst die Welt der Ausgeschlossenen, der Armen, der Billiglohnverdienenden, der Wohnungslosen – wird dieses soziale Universum zu einer neuen terra incognita?
Altes Thema – Neue Verpackung
Gegen diese Annahme spricht, daß der investigative Journalismus Brasiliens zu diesem Thema jüngst einen Bestseller landen konnte: Claudio (“Caco”) Barcellos, ein Reporter des Medientrusts “Globo”, schrieb einen Kriminalroman unter dem Titel “ROTA 66. A história da polícia que mata”.(*) Der Titel spricht für sich: In Brasilien weiß jeder, daß die Abkürzung ROTA 66 für eine berüchtigte Killereinheit der Militärpolizei in Sao Paulo steht. Ihre Entstehungsgeschichte seit 1970, ihre Praktiken, statistische Informationen über ihre Einsätze und Morde, ihre politischen Hintermänner, ihre Deckung und Einbindung in den gesamten polizeilichen und militärischen Apparat finden sich – nicht in einer politischen Analyse, nicht in einer juristischen Anklageschrift, nicht in einer soziologischen Abhandlung über Repression und Armut – sondern in einem Kriminalroman. Dem Bestseller-Erfolg schloß sich keine Menschenrechtskampagne und keine staatsanwaltliche Ermittlung an. Für die sofortige Abschaffung dieser Spezialeinheit hat bisher keine Demonstration stattgefunden.
Ein Kriminalroman: Zum einen bietet dem Autor dieses Genre Möglichkeiten, auch persönliche Geschichte aufzuarbeiten. Als Jugendlicher lebte Caco Barcellos Anfang der 70er Jahre in der Kultur der Gegenbewegungen, die gerne nächtliche Autorennen in der Stadt veranstalteten, häufig kifften, die Rolling Stones hörten. ROTA 66 brachte den Tod auch in diese Gruppen mittelständischer Herkunft: So zieht sich das Band der Reportage von diesen frühen Erfahrungen bis zu dem Versuch einer journalistisch gefärbten Bestandsaufnahme dessen, was aus dieser Killereinheit heute geworden ist. Am gelungensten sind sicherlich die “politischen” Passagen: Dort verläßt Caco Barcellos die Krimi-Handlungsstränge und berichtet, resümiert, klagt an. So festigt sich der Eindruck, daß hier etwas erzählt wird, für das es im Grunde kein literarisches Genre mehr gibt. Ein Hintergrundaufsatz zum Thema würde keine Beachtung finden, eine große Aufmachung, eine Enthüllung wäre morgen vergessen. Also wird verpackt in die Form des Krimis.
Und damit ist die andere Seite angedeutet: Ein Kriminalroman ist Lektüre aus einer anderen Welt, ähnlich wie Science Fiction. Ein Krimi entspricht der Schnellebigkeit unserer Zeit. Der Zugewinn an Erkenntnis wird gesellschaftlich nicht umgesetzt. Der Bestseller, die kritisch-kriminalistische Aufarbeitung, gehört gleichermaßen zum Bestehenden wie “die Polizei, die tötet”.
Jeder weiß von den Todesschwadronen. Man weiß, welche Autos sie fahren. Man kennt die Namen der Veranwortlichen. Die Einsatzzentrale ist bekannt. Aber über die sozialpolitischen Gründe ihrer Kontinuität, über die systemhaften Ziele ihrer Einsätze, über ihre gesellschaftliche Funktion wird nicht gesprochen, nicht geschrieben, dagegen wird nicht gehandelt.
Der Krimi von Claudio “Caco” Barcellos ist zu empfehlen. Dem Autor gebührt Respekt und Schutz – er hat Todesdrohungen erhalten. Der Zugewinn an kritischer Erkenntnis ist beispielhaft.
Doch die Existenz dieses Buchs weist darauf hin, daß die herrschende Gesellschaft Grenzen im eigenen Lande aufzieht: Berichtet wird über die andere Welt der Ausgeschlossenen, der bis aufs Blut Ausgebeuteten, der Verhungernden, der von Killerkommandos Bedrohten nur noch in den Formen des schnellen Vergessens: Skandalblätter, Krimis und Massakermeldungen werden zur Abschottung dieser neuen terra incognita beitragen.
Caco Barcellos berichtet, daß er sich oft als Reporter in lebensbedrohlichen Situationen befunden hat: Er eilt zum Ort des Verbrechens in die Favelas und wird von einer aufgebrachten Menge empfangen. Er schreibt, die Favelabewohner würden die Reporter regelmäßig mit den Polizisten “verwechseln”, die dort als Killerkommandos gewütet haben, und es würde unendliche Mühe kosten, sie zu überzeugen, auf welcher Seite die Reporter in Wirklichkeit stehen. Vielleicht ahnt Caco Barcellos aber auch, daß die Herumstehenden in der Regel richtig erkannt haben, aber in der Situation ohnmächtig sind, weil sie keine Stimme in der Medienwelt haben. Im Grunde arbeitet sich Barcellos an diesem Widerspruch ab, und gerade das macht das Buch von ihm so lesenswert.
(*) Wörtlich: Sondereinsatzkommando (Rondas Ostensivas Tobias Aguiar) Nummer 66. Die Geschichte der Polizei, die tötet”. Sao Paulo 1992. Der deutsche Titel “Mord in Sao Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur”, Göttingen (Lamuv) 1994 erfaßt leider nicht die Brisanz des Originalstitels. An manchen Textstellen des Kriminalromans wäre eine freiere Übersetzung angebracht. Die assoziative Einbettung in das Großstadtleben Sao Paulos ist für das hiesige Lesepublikum ohne Erläuterungen teilweise schwer nachzuvollziehen.
Anti – Lula verzweifelt gesucht
Die Nummer 1 der Bürgerlichen, Fernando Henrique Cardoso, allgemein als FHC abgekürzt, war bisher Wirtschaftsminister und hat jetzt seine Kandidatur offen verkündet. In einem anderen, längst vergangenen Leben war FHC ein leibhaftiger Vordenker der Dependenztheorie und scharfer Kritiker des brasilianischen Kapitalismus. Heute jedenfalls ist er die erste Wahl bei der Besetzung der Rolle des “Anti-Lulas”. Er kandidiert für die PSDB, die Partei in Brasilien, die sich am intensivsten um ein “modernes” und “sozialdemokratisches” Image bemüht und die für viele in der PT als der wichtigste potentielle Bündnispartner angesehen wird. Im Augenblick bahnt sich allerdings ein ganz anderes Bündnis an. Die PFL (“Partei der liberalen Front”) biedert sich recht unverblümt an. Ein problematischer Bündnispartner für das moderne Image der PSDB, denn das inhaltliche Profil der PFL ist schwer auszumachen. Als Abspaltung der Partei der Militärs wurde sie erst 1985 gegründet, so daß sie rechtzeitig den Absprung schaffte, um mit der damaligen Opposition 1985 die erste zivile Regierung zu übernehmen. Architekt des unerwarteten Bündnisses ist der Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes, ein wahrer Überlebenskünstler der brasilianischen Politik. Noch 1992 gehörte er zu den letzten, die den korrupten Collor im Amt halten wollten.
Die Avancen der PFL werfen ein Schlaglicht auf die politische Situation Brasiliens. Sie sind Ausdruck dafür, wie schwierig es für das rechte Lager ist, einen populären Kandidaten ins Rennen zu schicken. Alle Umfragen deuten darauf hin, daß kein Kandidat, der klar dem konservativen Lager zuzuordnen ist, in einem wahrscheinlich notwendigen zweiten Wahlgang eine Chance gegen Lula hätte. Die PFL will anscheinend auch eine Lehre aus dem Desaster von 1989 ziehen. Damals hatte die Zerstrittenheit des bürgerlichen Lagers dazu geführt, daß sich nur noch der linke Lula und der “newcomer” Collor als Alternative stellten. Lula ist also nur mit einem Kandidaten zu schlagen, der in den zweifelhaften politischen Zuordnungen zumindest imagemäßig das Mitte-Links Spektrum repräsentiert.
Dafür ist FHC ideal. Ein jovialer Intellektueller mit linker Vergangenheit, ein erfahrener Politiker und besonnener Vermittler, eben ein “concilador” (“Versöhner”); beliebt bei der Presse, den UnternehmerInnen und weiten Teilen der Mittelschicht. Das große Problem FHCs ist, daß sich mit diesem Image zwar Sympathie, aber kein Wahlkampf gewinnen läßt. Das war die deutliche Lehre von 1989 für die PSDB. Über die Aussichten FHCs wird letzlich nur eins entscheiden: der Erfolg des Wirtschaftsplanes (vgl. LN 237), der seinen Namen trägt. Gelingt es dem Nachfolger FHCs im Amt des Wirtschaftsministers, mit Hilfe des Plans die Inflation zu senken, ohne das Land in eine schwere Wirtschaftskrise zu stürzen und ohne allzu drastische Einkommensver-luste, dann hat FHC sehr gute Chancen, Lula zu schlagen. Doch sollte der Plan ins Schlingern geraten, ist der hoffnungs-vollste “Anti-Lula” erledigt und damit wohl auch die Chancen des bürgerlichen Lagers, den Wahlsieg Lulas zu verhindern.
Die entscheidende Phase des Wirtschaftsplans beginnt im Mai, wenn aus der an den Dollar gebundenen Rechnungseinheit URV die neue Währung Brasiliens werden soll. Im Grunde läuft der Plan auf eine abgefederte Dollarisierung hinaus. Er wird, und das unterscheidet ihn von der Situation in Argentinien, von einer Regierung durchgeführt, die sich in den letzten Monaten ihrer Amtszeit befindet, der ein schwacher und unentschlossener Präsident vorsteht, und deren wichtigste personelle Stütze nun in den Wahlkampf zieht. Die Gefahren für den Plan sind also insbesondere politischer Natur. Gegenwind im Parlament würde der Plan nicht überleben. Die offene Unterstützung von Präsident Itamar Franco für Cardoso macht die Sache nicht einfacher: Die Regierung steht im Wahlkampf und braucht gleichzeitig politische Unterstützung. Nun wird auch klar, warum die PSDB das Angebot der PFL kaum ablehnen kann: Ohne schlagkräftige Unterstützung aus dem rechten Lager hat der Wirtschaftsplan (und damit die Kandidatur von Fernando Henrique Cardoso) wenig Chancen. Problematisch ist allerdings für die PSDB, daß damit ihr “modernes” Image erheblich angekratzt wird und ein Teil der Partei wohl diese Kehrtwende nicht mitmacht. Immerhin, alle anderen Kandidaten haben große Chancen, überhaupt kein Risiko für Lula zu werden.
Nr. 2 und 3: Die Problemkinder
Die PMDB, hervorgegangen aus der MDB, der legalen und offiziösen Oppositionspartei zu Zeiten der Militärdiktatur, ist nach wie vor die größte politische Partei Brasiliens. Aber aus einer Bewegung, die einst auch große Teile der linken Opposition vereinte, ist inzwischen ein konturloser Wahlverein geworden, der aber noch in vielen Teilen des Landes die lokalen Eliten organisiert. Es ist nur natürlich, daß die größte Partei Brasiliens einen eigenen Kandidaten präsentiert. Und sie hat einen Politiker, der mit aller Macht Kandidat der Partei sein will: Orestes Quercia, Ex-Gouverneur von Sao Paulo. Und Quercia ist das große Problem der PMDB. Er ist vielleicht der geschickteste Politiker Brasiliens, sicherlich aber einer der skrupellosesten und korruptesten. Galt er nach seiner recht populären Amtszeit in Sao Paulo als absolutes Schwergewicht in der brasilianischen Politik, so machen ihm seit zwei Jahren nachträgliche Enthüllungen der Presse das Leben schwer. Insbesondere hängt ihm ein Waffengeschäft mit Israel nach, bei dem für hunderte von Millionen US-Dollar überteuerte Waffen für die Polizei von Sao Paulo gekauft wurden.
Aber Quercia ist zäh und beherrscht große Teile des Apparates der PMDB. Nur ist seine Kandidatur in Zeiten, in denen nach den traumatischen Erfahrungen mit Collor Politiker gefragt sind, die nicht korrupt sind, äußerst verwundbar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die PMDB sich wieder einmal selbst im Wege steht: Der Machiavellist Quercia hat große Chancen, sich in der Partei durchzusetzen, aber nicht beim Wahlvolk. Außerdem ist klar, daß eine Kandidatur Quercias die Partei spalten würde, da der “progressive” Flügel wohl eher FHC als Quercia unterstützen würde.
Dabei könnte gerade dieser Flügel der Partei den idealen “Anti-Lula” aufbieten: Antonio Britto, der als Arbeitsminister der jetzigen Regierung einen ausgezeichneten Eindruck machte, liegt bei den meisten Umfragen schon auf Platz zwei hinter Lula. Viele halten eine Liste FHC/Britto für unschlagbar. Und Britto hätte den Vorteil, ungefähr das gleiche Image zu verkörpern wie FHC, ohne aber so stark von dem Erfolg des Planes abhängig zu sein. Einziger Haken: Er ist nicht Kandidat und hätte es wohl auch schwer, sich in der PMDB gegen Quercia durchzusetzen. Der schießt auch schon mit hartem Kaliber gegen Britto, bezeichnet ihn als Gauner und ließ ermitteln, Britto sei als fünfzehnjähriger(!) wegen eines angeblichen Diebstahls von der Schule geflogen. Britto selbst will anscheinend lieber Gouverneur in einem Bundesstaat werden, als sich auf das Abenteuer Präsidentschaftswahlkampf einzulassen. Geriete aber FHC frühzeitig ins Schlingern, könnte er doch noch als Joker des “Mitte-Links Lagers” ins Rennen geschickt werden.
Ein anderer hingegen zweifelt nicht und ist Kandidat. Paulo Maluf, Bürgermeister von Sao Paulo und starker Mann der PPR, die aus der Partei der Militärs hervorgegangen ist. Er repräsentiert den rechten Flügel des bürgerlichen Lagers und profiliert sich durch einen lautstarken “law and order”-Diskurs. Er ist sicherlich die unerfreulichste Erscheinung im Wahlkampf, und glücklicherweise reicht seine Popularität kaum über Sao Paulo hinaus. Aber wenn es ihm gelingt, die Wahlen mit Hilfe des Themas “Innere Sicherheit” zu polarisieren, könnten seine Wahlchancen doch noch steigen. Die Strategen im bürgerlichen Lager befürchten allerdings, daß Maluf im zweiten Wahlgang die allerwenigsten Chancen gegen Lula hätte.
Die PT: Streits und Hetze
Es kann nicht verwundern, daß das bürgerliche Lager mit schweren Geschützen auf Lula schießt. Ein Gewerkschafter, Arbeiterführer und Chef einer Partei, die sich zum Sozialismus bekennt, als künftiger Präsident Brasiliens?! Nachdem eine Schmutzkampagne gegen den der PT nahestehenden Gewerkschaftsverband CUT – ein Mord wegen persönlicher Auseinandersetzungen sollte der PT in die Schuhe geschoben werden – nicht recht greifen wollte, schwenkt die Presse auf eine andere Linie ein. Lula, der als Superstar dargestellt wird (Luis Ignacio “Sinatra” da Silva), ist zwar politisch unerfahren (kein administratives Amt bisher), aber eigentlich ein guter Kerl. Böse hingegen sind die Radikalen in der PT, die “Schiiten”, welche die Partei beherrschen und Lula dominieren wollen. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die es in der PT zweifelsohne gibt, werden von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet.
Dem hat die PT auch durch nutzlose Streitigkeiten Vorschub geleistet. Zuerst ging es um die Frage der Bündnisse, vor allem mit der PSDB. Der “rechte” Flügel der Partei wollte unbedingt schon im ersten Wahlgang eine Allianz mit dem bürgerlichen Lager eingehen, die aber schon aus mangelndem Interesse der anderen Seite gar nicht zur Debatte stand. Zum anderen wollte die Parlamentsfraktion der PT unbedingt an der Verfassungsreform mitwirken, die die Partei boykottiert. Resultat: ein endloses Gezerre zwischen Fraktion und Parteivorstand, ein gefundenes Fressen für die Presse.
Die Hauptlinie aber zeichnet sich schon ab: Die PT soll als Partei eines archaischen und gescheiterten Sozialismus erscheinen, deren Machtergreifung ein Abenteuer wäre, das Brasilien auf jeden Fall erspart werden müßte. Und die PT reagiert da bisher eher negativ: Insbesondere Lula (“Lula 94”) versucht sich als seriös und moderat zu verkaufen: Die Suche nach der Mehrhit bestimmt die Politik.
Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten
Bisher war mehr von Image- und Designfragen die Rede als von Inhalten. Nicht ohne Grund. Tatsächlich sind inhaltliche Differenzen im bürgerlichen Lager in den großen Fragen kaum noch auszumachen. Der Präsident der PFL, Jorge Bornhausen (Ex-Minister unter den Militärs und Collor) beschreibt die programmatischen Grundlagen seiner Partei folgendermaßen: “Wir wollen die Verkleinerung des Staates. Wir wollen die Privatisierung. Wir wollen einen modernen Staat, in dem der Bürger respektiert wird, und der sich um Erziehung, Gesundheit und Sicherheit kümmert.” Hinter diesem Mainstreammotto steht wohl das gesamte bürgerliche Lager. Die relativ beliebigen Bündnisse zeigen schon die fehlenden inhaltlichen Konturen. Zerstritten bleibt das bürgerliche Lager, aber dabei geht es eben darum, Macht und Einfluß zu sichern, und nicht um gesellschaftliche Grundkonzepte.
Aus diesem Schema bricht – trotz allem – die PT deutlich heraus. Sie bemüht sich um eine breite programmatische Diskussion innerhalb der Partei und sucht ernsthaft nach ein Konzept für linke Politik heute in Brasilien. Sie hat deshalb mehr verdient als süffisante Randbemerkungen. Zum 1. Mai wird auf einem Parteitag der PT das Regierungsprogramm des Kandidaten Lula diskutiert und verabschiedet werden.
Sleeping with the enemy?
Im November 1993 lud die PT zu einem “Nationalen Seminar” ein, um das Programm einer Regierung Lula zu diskutieren. Ein Thema lautete “Die Streitkräfte in den neunziger Jahren”. Am Tisch saßen zwei Militärs von der ESG (Escola Superior de Guerra), dem “think-tank” der Streitkräfte, ein Ex-Militär, der nun an der angesehenen Universität von Campinas Vordenker für strategische Fragen ist (Geraldo Cavagnari) und Marco Aurelio Garcia, verantwortlich in der PT für Internationales.
Nationalismus = Antiimperialismus?
Die Thesen der Militärs, dem staunenden PT-Publikum vorgetragen, lassen sich stichwortartig folgendermaßen zusammenfassen:
* Der konstituierende Grund für die Existenz von Streitkräften ist die Bedrohung durch einen äußeren Feind.
* Die Gewährleistung “Innerer Sicherheit” ist Aufgabe anderer (bewaffneter) Segmente des Staatsapparates, vor allem der Polizei. Die Streitkräfte können diese höchstens unterstützen. Gäbe es keinen äußeren Feind, wären die Streitkräfte letztendlich überflüssig.
* Ist Brasilien aber durch einen äußeren Feind bedroht? Die klare Antwort lautet: Ja. Und wer ist es? Die Anmaßung der reichen Länder, überall zu intervenieren, stellt eine Bedrohung für Brasilien dar. Der “pax boreal”, der nördliche Friede, ist eine Gefahr für die Entwicklung im Süden.
* Ist diese Gefahr aber für Brasilien real? Auch hier lautet die Antwort “ja” und die angeblich bedrohte Souveränität Amazoniens muß als Illustration herhalten.
* Um ein nationales Projekt gegen den “borealen Frieden” entwickeln zu können, brauchen die Streitkräfte natürlich zum Beispiel atomgetriebene U-Boote und vor allem Geld…
Cavagnari setzte noch einen drauf: “Das Projekt ‘Brasilien – große Nation’ der Miltärs war ein Schwindel. Eine große Nation erbaut man nicht über Deklarationen und nationalistische Propaganda, sondern über eine Vereinigung des Volkes, die auf Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit beruht.” Lula als Führer von “Brasil- grande nacao” mit antiimperalistischer Ausrichtung – ist das kein Lockangebot? Die anwesenden PTlerInnen jedenfalls waren sichtlich beeindruckt.
Editorial Ausgabe 238 – April 1994
Auf dem Redaktionstisch liegen sie regelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Actions” in Sachen Menschenrechtsverletzungen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwunden, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Einzelfälle doch immer wieder zur Kernaussage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlagzeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Obwohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Handlungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffenen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen werden zum nachrichtenrelevanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Verlauf mehrerer Monate bleiben im Hintergrund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Professors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefunden; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbarkeit zuschob und damit den Rücktritt seines Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Menschenrechtsverletzungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug gesetzt werden können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Menschenrechtsverletzungen verändert. Waren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispielsweise Brasilien heute eine traurige Spitzenposition bei Menschenrechtsverletzungen neuen Typs ein: “soziale Säuberungen”, das Ausmerzen derer, deren Existenz die Wohlhabenden stört: Straßenkinder, Obdachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbeschreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammenhänge in bezug auf Menschenrechtsverletzungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschenrechte jenseits von endlosen EinzelfallListen und von Sensationssuche umgegangen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.
Editorial Ausgabe 237 – März 1994
Kaum will der Regierende Bürgermeister einmal seine rhetorischen Fähigkeiten und seinen politischen Überblick unter Beweis stellen, geht es auch schon in die Hose. Neben einem besoffenen Innenminister schwang sich Eberhard Diepgen anläßlich der Eröffnung der 44. Berliner Filmfestspiele dazu auf, dem erstaunten Publikum zu verkünden: “Der Film ist keine Banane!” Vordergründig betrachtet eine triviale Aussage. Eigentlich wäre daran nichts als pure Unsinnigkeit auszusetzen, hätte der Regierende sie nicht gezielt auf die soeben abgeschlossenen GATT-Verhandlungen über den internationalen Handel bezogen. Ein Irrtum, wie auf der diesjährigen Berlinale deutlich wurde.
Die Filmfestspiele bieten Jahr für Jahr dem interessierten Publikum eine einzigartige Gelegenheit, Filme aus allen Teilen dieser Welt zu sehen. Die internationale Journaille scheint allerdings weniger an den dramaturgischen oder ästhetischen Vorstellungen der RegisseurInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika interessiert zu sein, ihre Fragen zielen teilweise penetrant auf die ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Während Hollywood für jeden Streifen etliche Millionen Dollar ausgeben kann, sind die Filmproduktionen aus den armen Ländern durch ständige Geldknappheit gekennzeichnet. Umso beachtlicher das Niveau beispielsweise der Filmemacher aus Kuba, die aufgrund der Wirtschaftskrise jährlich nur drei oder vier Filme drehen können und für ihr hervorragendes Werk “Erdbeer und Schokolade” einen Silbernen Bären bekamen. Gerade dieser Film zeigt jedoch gleichzeitig die Abhängigkeit des lateinamerikanischen Films von GeldgeberInnen in den reichen Ländern dieser Welt. Erst ein Preis im Umfang von 100.000 $, vergeben vom spanischen Fernsehen, machte die Dreharbeiten möglich. Da im vergangenen Jahr auf der Karibikinsel wegen des Ersatzteilmangels kein Filmlabor funktionierte, mußte die technische Fertigstellung in Mexiko erfolgen, wofür die Mexikaner nun mitkassieren wollen.
Ähnlich erging es dem brasilianischen Regisseur Nelson Pereira dos Santos mit seinem Wettbewerbsbeitrag “A terceira margem do rio” (Das dritte Ufer des Flusses). Der Film konnte nur mit finanzieller Unterstützung des französischen Fernsehens realisiert werden. Die Kosten für den kolumbianischen Film “La Estrategia del Caracol” (Die Strategie der Schnecke) brachten im wesentlichen in- und ausländische Nicht-Regierungsorganisationen auf. Ohne diese Art von “Ent-wicklungshilfe” sähe es ganz anders aus.
Auf der anderen Seite überbieten sich die sog. Dritte-Welt-Länder mit günstigen Bedingungen für ausländische Filmproduktionen. So wurde der Film “Tirano Banderas” (Tyrann Banderas) des spanischen Regisseurs José Luis García Sánchez überwiegend in Kuba gedreht. Als Bühnenbild dient die malerische Altstadt von Havanna, produziert wurde der Film überwiegend mit kubanischem Personal – was die Kosten erheblich senken dürfte. Doch der Preis für derartige Deviseneinnahmen ist nicht ohne: Tagelang zogen hunderte von Komparsen durch Alt-Havanna und skandierten “¡Abajo el tirano!” (Nieder mit dem Tyrannen!). Die Obrigkeit ließ sie ohne Probleme gewähren.
Der brasilianische Regisseur Pereira dos Santos nutzte die Pressekonferenz im Anschluß an die Vorführung seines Wettbewerbsfilms, die Standortvorteile seines Heimatlandes hervorzuheben: In Brasilien, das seine eigenen cineastischen Kapazitäten derzeit gar nicht ausnutzt, könnten Filme etwa um ein Drittel billiger produziert werden als anderswo. Und spätestens da wurde klar, daß die Banane und der Film doch wesentlich mehr miteinander zu tun haben, als uns Herr Diepgen glauben machen wollte.
Brasilien 1994 oder die alte Unübersichtlichkeit
1993: Die Katastrophe
Je nach politischem Standort oder Temperament kann eine völlig unterschiedliche Bilanz des Jahres gezogen werden. Die Regierung Itamar Franco hat jedenfalls bei dem Ziel Inflationsbekämfung – und das heißt eben auch gesamtwirtschaftliche Stabilisierung – völlig versagt. 2567,46% betrug die Inflation im letzten Jahr nach dem meist verbreiteten Index, dem IGP-M der Stiftung Getulio Vargas. Es ist damit die höchste Inflationsrate seit deren statistischer Erfassung, das heißt seit 1829. Es ist auch eine der höchsten der Welt im Jahre 1993, weit über der Rate in lateinamerikanischen Ländern, ebenso wie etwa in Rußland (590%) oder Kroatien (1027%). Lediglich Restjugoslawien steht mit 30.000% erheblich schlechter da.
Die hohe Inflation ist seit etwa 1985 das makroökonomische Problem Brasiliens, und eine ganze Serie von gescheiterten Plänen hat es nicht gelöst. Nach einer Welle heterodoxer Schocks war nun seit 1992 Orthodoxie angesagt. Die wechselnden Regierungen (von Collor zu Itamar) und Wirtschaftsminister verkündeten unisono, daß nur über eine Eliminierung des Haushaltsdefizits die Voraussetzungen für eine nachhaltige Inflationsbekämpfung geschaffen werden könnten. Die Grundformel lautet also: Solide Haushalts-(sprich: Spar-)politik und Vertrauen in die Berechenbarkeit der Regierung (also keine über Nacht verhängten Preisstopps) schaffen ein Klima für eine graduelle Senkung der Inflationsrate. Der jetzige Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso – FHC, in den siebziger Jahren bekannt als linker Theoretiker und Verfechter der Dependenztheorie – verfolgt nun konsequent den orthodoxen Gradualismus. Ergebnis: die höchste Inflationsrate der Geschichte trotz praktischer Eliminierung des Haushaltsdefizits. Die brasilianische Inflation ist jedenfalls eine harte Nuß für alle traditionellen Wirtschaftstheorien. Die klassischen Inflationstheorien hatten eins nicht vorhergesehen: daß nicht zuletzt dank modernster Computertechnik die Wirtschaft auch eine Inflation von 40% ganz gut managen kann, und daß es wichtige Inflationsgewinner gibt (den Finanzsektor), daß es also trotz eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der eine solche Inflation für untragbar hält, wirksame Widerstände gegen die Erbringung von “Opfern” zu ihrer Überwindung gibt. Dazu gehört jetzt sogar die untere Mittelschicht, die plötzlich mit einem simplen Sparbuch unglaubliche Gewinne erzielen kann. Das heißt, Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft haben sehr gut gelernt, mit der Inflation zu leben oder gar von ihr zu profitieren.
Auf dem Weg zur Dollarisierung?
Was will nun Fernando Henrique Cardoso (FHC) angesichts dieser dramatischen Situation tun? Ohne unmittelbaren Erfolg hat der Wirtschaftsminister Ende letzten Jahres seinen “Plan FHC” lanciert. Der sieht eben an erster Stelle die Eliminierung des Haushaltsdefizits vor. Der neue Haushalt enthält folglich wichtige Kürzungen (vor allem im sozialen Bereich). Dennoch wird er gegenüber 1993 an Umfang zunehmen, in erster Linie wegen der Kosten der internen und externen Verschuldung. Also tritt nun die im letzten Jahr von der Justiz kassierte Steuer auf finanzielle Transaktionen (auf jede Überweisung oder Abhebung vom Bankkonto wird eine Steuer von 0,25% des Betrages erhoben) in Kraft und einige wichtige Steuern werden um 5% erhöht – eine Maßnahme, die zu erbittertem Widerstand von Seiten der Industrie geführt hat. Die Steuererhöhungen müssen noch vom Parlament bewilligt werden, danach kommt die zweite und entscheidende Phase des “Plan FHC”. Wenn die Regierung ihren Zeitplan durchhalten kann (bei Redaktionsschluß fehlte noch die Zustimmung des Senates), wird am 1.März ein neuer einheitlicher Index (URV) geschaffen, der sich nach der Entwicklung des Wechselkurses des Dollars richtet. Dieser Index soll alle anderen Anpassungsmechanismen ersetzen und nach und nach freiwillig von der Wirtschaft angewendet werden, etwa auch für die Festsetzung der Löhne. Praktisch soll dies folgendermaßen funktionieren: Zur Einführung des URV ist dieser zum Beispiel 500 Cruzeiros wert, der Preis für ein Bier. Einen Monat später würde (bei einer Inflation von 40%) das Bier zwar 700 Cruzeiros kosten, aber immer noch etwa 1 URV. So sollen die BrasilianerInnen wieder an stabile Preise gewöhnt werden. Der Cruzeiro wäre bald nur noch eine Kleingeldwährung, während alle größeren Transaktionen und die Festsetzung von Mieten und Preisen in URV liefe.
Der Markt hat auf die Ankündigung des Planes mit Unsicherheit reagiert, wie das Ansteigen der Inflationsrate im Januar zeigt. Niemand weiß genau, wie die Anwendung des URV im einzelnen funktionieren wird und ob die Regierung nicht versucht sein wird, den URV zu weitgehenden Preiseinfrierungen zu nutzen und die Variation des Wechselkurses unter der Inflationsrate festzusetzen, um so die Inflation nach unten zu indexieren – mit entsprechenden Auswirkungen für die Exportwirtschaft. Die Zweifel am “Plan FHC” sind aber auch politisch motiviert. Itamar Franco hat sich bisher als eher schwacher und unberechenbarer Präsident erwiesen und FHC verheimlicht seit dem 12. Januar nicht mehr seine Ambitionen auf das Präsidentenamt. Wenn er wirklich kandidieren will, müßte er bald die Regierung verlassen. Zweifel werden auch angemeldet, ob der URV nicht im juristischen Gestrüpp verenden wird.
1993: der Boom
Auf der Seite der Inflationsbekämpfung bleiben also bisher eine negative Bilanz und ungewisse Aussichten. Dennoch kann Brasilien Erfolge vorweisen. Nach drei Jahren Rezession (1990 und 1991) und Stagnation (1992) ist das Bruttoinlandsprodukt 1993 wieder kräftig gewachsen: 4,5%. Und angesichts des Wachstums der Industrie um 8,5% sieht mancheR Brasilien schon in die Reihe der ostasiatischen Tiger vorrücken (Die Zahlen sind noch nicht endgültig, sondern Projektionen des Regierungsinstituts IPEA aufgrund der Daten bis November 1993). Beispielhaft für die Erfolge ist die Autoindustrie: Sie wuchs 1993 um 29,5% und erreichte mit der Produktion von 1.390.000 Fahrzeugen einen neuen Rekord. Diese Zahlen sind besonders beeindruckend, da sie in einer Phase des weltweiten Einbruchs der Automobilindustrie und trotz Rückgangs der Exporte (- 3,3%) und Steigerung der Importe (+ 125%, was aber nur etwas über 100000 Fahrzeugen entspricht) erzielt wurden. Die Entwicklung dieses Sektors wird nun von vielen als ein Beispiel für eine gelungene Alternative zu neoliberalen Strategien gesehen. Brasilien hatte einen gegen Importe abgeschotteten Binnenmarkt. Statt brutaler Marktöffnung werden die Steuern auf Importe allmählich gesenkt, was den Konkurrenz- und Modernisierungsdruck auf die Industrie erhöht, ihr aber Zeit gibt für Anpassungen. Gleichzeitig kam es 1992 zu einem Sektorabkommen zwischen Industrie und Gewerkschaften, bei dem Beschäftigung und Lohnsteigerungen garantiert sowie von der Regierung Steuererleichterungen gewährt wurden. Die brasilianische Autoindustrie (das heißt natürlich: die Multis, die in Brasilien produzieren) versprühen jedenfalls Optimismus und sehen ein weiteres Wachstum um 10% für dieses Jahr vor.
Durchweg Positives auch bei der Handelsbilanz. 1993 hatte Brasilien für 38,8 Milliarden US$ exportiert, was einen Außenhandelsüberschuß von etwa 13 Milliarden Dollar bedeutet. Das Ergebnis ist um so bemerkenswerter, als die Importe (wenn auch langsam) ansteigen. 75% der Exporterlöse werden durch Verkauf von Industrieprodukten erzielt (Zahlen nach Jornal do Brasil, 21.12.93).
Die Situation Brasiliens ist also überaus widersprüchlich. Insbesondere das Wachstum der Industrie und der Exporte industrieller Produkte lassen Brasilien zumindest für 1993 im Vergleich zu neoliberalen “Erfolgen” wie Argentinien und Mexico überaus gut dastehen. Und diese Erfolge wurden eben gerade ohne drastische makroökonomische Strukturanpassung erzielt. Dennoch kann auch in Brasilien der Preis dieser Erfolge nicht übersehen werden. Das Wachstum in der Industrie vollzog sich ohne nennenswerte Effekte für die Beschäftigung. Trotz Wachstum ging die Arbeitslosenquote nur gering zurück und in der Industrie sank die Zahl der Beschäftigten 1993 gar um 5% gegenüber 1992 (Nach Jornal do Brasil vom 1.2.1994; Zahlen bis September 1993). Das heißt auch, Brasilien lernt nun das Symptom Wachstum ohne Beschäftigung kennen, zumindest in den fortgeschrittensten Bereichen der Produktion. Wichtige Sektoren haben die Krise 1990 bis 1992 dazu genutzt, ihre Belegschaften zu reduzieren. Die Erfolge in der Automobilindustrie wurden ohne Neueinstellungen realsiert, lediglich mit Produktivitätssteigerungen und Überstunden. Die positiven Beschäftigungsentwicklungen vollzogen sich praktisch ausschließlich im informellen Sektor oder im Handel und in den Randbereichen der Industrie, also dort, wo Löhne und Sozialleistungen geringer sind.
Auch ist die Regierung offensichtlich bereit, viele Grundforderungen einer neoliberalen Strukturanpassung zu erfüllen: Haushaltsdisziplin steht im Vordergund, auch auf Kosten der Sozialausgaben. Die Politik der Privatisierung wird fortgesetzt, auch wenn ihre Ausdehnug auf die Ölgesellschaft Petrobras und die Telekommunikation nach wie vor umstritten ist und wohl von dieser Regierung nicht mehr in Angriff genommen werden kann. Und die hohe Inflation trifft am härtesten die, die sich am wenigsten dagegen schützen können: 2/3 der Bevölkerung, die kein Bankkonto haben und ausschließlich von ihren Löhnen und Einkommen leben. Die Inflation ist eine tägliche Umverteilung von unten nach oben. So kann es auch nicht verwundern, daß die fabelhaften Wachstumsraten von der Mehrheit der Bevölkerung kaum wahrgenommen werden: Nach Umfragen zu Jahresbeginn schätzen 84 % der Bevölkerung die Lage des Landes als schlecht oder sehr schlecht ein, während nur 2% sie für gut erachten. Und die Aussichten für 1994 sind kaum besser.
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