Ein Bürgermeister läßt die Linke träumen

Bis weit nach Mitternacht mußten die über 2.000 Delegierten in der Peñarol-Sporthalle ausharren, dann war klar: Die Frente Amplio geht mit Tabaré Vázquez, zur Zeit Bürgermeister der Metropole Montevideo, bei der Präsidentschaftswahl am 27. November ins Rennen. Basis­komitees und an die zwanzig Parteien und politische Organisationen haben sich im Bündnis zusammengeschlossen – genug Stoff für Auseinandersetzungen. Umstrit­ten und heiß diskutiert war vor allem die Frage der politischen Allianzen mit Po­litkerInnen der traditionellen Parteien. So zum Beispiel mit den ChristdemokratIn­nen und den DissidentInnen der derzeit regierenden Nationalen Partei (Blancos). Der Sozialist Tabaré Vázquez hatte ange­droht, seine Kandidatur für das Präsiden­tenamt zurückzuziehen, falls der Kongreß kein grünes Licht für Verhandlungen über eine “Makro-Koalition” gebe. Außerdem forderte er, den Kanditaten für das Amt des Vizepräsidenten außhalb der Reihen der Frente Amplio zu suchen. Nach stun­denlangen Debatten und zahlreichen ge­scheiterten Anträgen war es weit nach 23.00 Uhr so weit: Mit 1403 Stimmen war die Zweidrittel-Mehrheit knapp erreicht – der Weg für Verhandlungen über eine “große fortschrittliche Übereinkunft”, die Makro-Koalition, war frei. Tabaré Váz­quez hat seinen Lieblingskandidaten für das Amt des Vizepräsidenten durchge­bracht: Nin Novoa, Mitglied der regieren­den Partido Nacional und gleichzeitig prominenter Kritiker von Präsident La­calle wird aller Voraussicht nach an der Seite von Vázquez um die Sympathien der WählerInnen kämpfen. Da Vázquez sein Amt als Bürgermeister Montevideos auf­gibt, nominierte der Kongreß auch gleich noch seinen möglichen Nachfolger: Ma­riano Arana, ein Architekt und Stadtpla­ner, wird sich bei der Bürgermeisterwahl, die ebenfalls am 27. November über die Bühne geht, den WählerInnen stellen.
Heftig stritten sich die Frente Amplistas auch über das Wie einer “großen fort­schrittlichen Übereinkunft”, die von vielen RednerInnen als “die historische Chance für eine Veränderung” bezeichnet wurde. Vor allem der linke Flügel des Bündnis­ses, wie zum Beispiel die MLN-Tupama­ros und die UNIR, wehrten sich mit Hän­den und Füßen gegen Verhandlungen mit anderen Parteien. Auch der Kontakt zu VertreterInnen von Flügelfraktionen in­nerhalb dieser Parteien schien ihnen – wenn überhaupt – nur dann sinnvoll, wenn die Frente zuvor klare politische Eckdaten formulieren würde. Harte Kritik gab es auch dafür, daß nur ein erlauchter Kreis von 12 Persönlichkeiten die Ver­hand­lungen über ein Wahlbündnis führen soll. “Wir lehnen eine Politik der Allianzen nicht ab”, sagte Pepe Mijica, legendäre Füh­rungspersönlichkeit der Tupamaros, “aber wir glauben nicht an eine Bündnis­politik, die nur irgendwelche Aufgaben verteilt. Wir glauben vielmehr an politi­sche Bünd­nisse, in denen man sich enga­gieren muß, ohne Gruppenegoismus, aber aus einem linken Selbstverständnis her­aus”. In seiner Abschlußrede stellte Váz­quez dann The­men wie den Kampf gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik, die Demokratisierung der Gesellschaft und das Prinzip Solidari­tät und soziale Ge­rechtigkeit in den Mit­telpunkt. Eindring­lich verlangte er Ge­schlossenheit und er­innerte an die Ge­schichte dieser Organi­sation, die stets eng mit ihren Persönlich­keiten verbunden ge­wesen sei – wie zum Beispiel dem Grün­der der MLN-Tupama­ros Raul Sendic. “Das ist die Frente von Sendic”, rief Váz­quez unter großem Bei­fall den Delegierten zu. Einige der anwe­senden Tupamaros hatten da allerdings so ihre Zweifel.
Programmatischer Schliff
in der Wirtschaftspolitik
In einer fast 24stündigen Sitzung errich­tete die Frente in mehreren Arbeitsgrup­pen die Eckpfeiler ihres sozialpolitischen Programms: Einkommen, Bildungswesen, die Situation der Frauen, Gesundheit, Renten und vieles mehr – eine lange Liste. Zum Komplex internationale Politik, Verteidigung und Menschenrechte be­schloß die Frente, mit dem Foro de Saô Paulo, einem Zusammmenschluß linker lateinamerikanischer Parteien und politi­scher Organisationen, zusammenzuarbei­ten. Auslandseinsätze uruguayischer Sol­daten sollen verboten werden. In Fragen der Menschenrechte drängt die Frente darauf, das Schicksal der während der Militärdikatatur Verschwundenen zu klä­ren.
Beim Thema Wirtschaftspolitik waren vor allem die Auslandsschulden und der Mer­cosur, der gemeinsame südamerikanische Markt, heiß umstritten. Da keine Position eine Zweidrittel-Mehrheit der Delegier­tenstimmen auf sich vereinen konnte, blieb es bei den Beschlüssen, die die Frente auf ihrem Kongreß 1991 gefaßt hatte: Scharfe Kritik an der Politik des Internationalen Währungsfonds und ande­rer internationaler Finanzorganisationen sowie die Einstellung des Schulden­dienstes und ein machtvoller Zusammen­schluß aller Schuldnerländer.
Mercosur als Wahlkampfthema
Zum Mercosur hat die Frente weiterhin ein ambivalentes Verhältnis, daß inner­halb der Frente gerne mit “kritischer Un­terstützung” umschrieben wird. “Ich träume von einem Mercosur mit Lula in Brasilien, der Frente Grande in Argenti­nien und Tabaré Vazquez in Uruguay”, sagte Danilo Astori, Ökonom und mögli­cher Wirtschaftsminister, sollte die Frente die Regierung stellen. Alpträume löste der Mercosur dagegen bei zahlreichen Dele­gierten aus dem Norden Uruguays aus. Dort werden schon jetzt – eineinhalb Jahre vor dem Inkrafttreten der Vereinbarungen zum Mercosur – Arbeitsplätze durch den Billigimport von Zucker aus Brasilien vernichtet.
Der Präsidentschaftskandidat der Colora­dopartei, Julio María Sanguinetti, fährt einen noch härteren Kurs gegen den Mer­cosur als weite Teile der Frente. Der Ex-Präsident hat – im Duett mit seinem Vize­präsidentschaftskandidaten Hugo Batalla, einem Sozialisten und Ex-Frente Amplista – im Augenblick in Umfragen noch die Nase vorn. Die Frente wird in der Haupt­stadt Montevideo, in der etwa die Hälfte der Wahlberechtigten lebt, wohl einen satten Sieg einfahren. Auf dem Land sieht es jedoch anders aus. Dort werden die Wahlen wahrscheinlich entschieden, dort muß die Frente noch Überzeugungsarbeit leisten – bis zum 27. November.

Gegen die Auflösung der Nation

Bereits im Oktober letzten Jahres hatte die Partei Leitlinien zur Erarbeitung eines Re­gierungsprogramms veröffentlicht und eine Programmkommission eingesetzt, in der alle Strömungen der Partei vertreten waren. Die Erarbeitung eines Regierungs­programmes war begleitet durch einen breiten innerparteilichen Diskussionspro­zeß, wie auch durch ein hartes Ringen um einzelne Punkte. Oberste Leitlinie sollte dabei sein, daß die PT nichts versprechen dürfe, was sie als Regierung schließlich nicht umsetzen könne. Im März dieses Jahres legte die Programmkommission einen 112 Seiten starken Entwurf vor. Bis zum 25. April hatten die Gruppen in der Partei nicht weniger als 289 Änderungs­vorschläge erarbeitet, die den Delegierten in einem 124 Seiten umfassenden, größe­ren DIN A4-Heft präsentiert wurden. Hinzu kamen unzählige nderungsan­träge, die in letzter Minute eingereicht wurden – ein Papierwust, der kaum noch zu bewältigen war. Und so konnte es nicht verwundern, da sich die Diskussion auf dem Programmparteitag auf einige wenige symbolische Punkte konzentrierte: Ab­treibung, Verhältnis zu den Militärs und die Frage der Auslandsschulden standen bereits im Vorfeld im Blickpunkt der Dis­kussion. Jenseits aber von Polemiken um einzelne Punkte, mußte die PT in ihrer Programmdiskussion eine Antwort auf die Frage finden, wie denn ein linkes Regie­rungsprojekt in Lateinamerika aussehen kann.

Die Linke will an die Macht

Eines sei gleich klargestellt: Es gibt unter den linken und fortschrittlichen Kräften keine wichtige Strömung, ja nicht einmal eine individuelle Stimme von Bedeutung, die die Regierungsübernahme nicht will. Die Linke hat in Brasilien die Chance, die Wahlen zu gewinnen und sie will regie­ren. Selbst die linksradikale PT-Abspal­tung PSTU, die der PT übelsten Refor­mismus vorwirft, unterstützt vorbehaltlos die Kandidatur Lulas. Die Frage ist eher, was kann und will eine Regierung Lula er­reichen. Dabei kann die internationale Si­tuation nicht aus dem Blickwinkel gera­ten: Vier Jahre nach dem Fall der Mauer ist es wohl unmöglich, einen tropischen Sozialismus in einem Land zu verkünden, noch dazu aller Wahrscheinlichkeit nach ohne eine Mehrheit im Parlament. Die große Herausforderung, vor der die PT heute also steht, lautet: Wie kann unter den aktuellen Bedingungen von Welt­markt, Globalisierung und interner Krise Brasiliens ein gesellschaftlicher Trans­formationsprozeß eingeleitet werden, der auf mehr Gerechtigkeit zielt.
In den Leitlinien zum Regierungspro­gramm hatte die PT versucht, die Stoß­richtung eines solchen Projektes zu be­schreiben: “Die Partei der Arbeiter geht in den Wahlkampf mit dem Profil einer so­zialistischen, linken Partei, die mit ande­ren sozialen und politischen Kräften eine breite Koalition formieren muß. Die Vor­schläge, die die PT in ihrem Regierungs­programm vorlegen wird, gehen in die Richtung einer demokratischen und anti­monopolistischen – und das heißt antiim­perialistischen und gegen den Großgrund­besitz gerichteten – Transformation, die Teil einer langfristigen Strategie ist, um eine Alternative zum Kapitalismus zu ent­wickeln, eine demokratische Revolu­tion, die radikal die Basis der Macht än­dert. Die Definition dieses sozialistischen Pro­jektes entwickelt sich aus einer Vertie­fung der Kritik an den Paradigmen des staats­bürokratischen Sozialismus und der So­zialdemokratie, über den Aufbau einer Alternative zum Kapitalismus, der welt­weit und insbesondere in Brasilien seine Unfähigkeit an den Tag legt, die Forde­rungen der großen Mehrheit der Bevölke­rung zu erfüllen. Der Sozialismus kann für die PT nicht das Konstrukt einer Utopie sein, das dann in eine ferne Zukunft ver­schoben wird. Er hat eine aktuelle Be­deutung.”
Wie aber schlägt sich ein solches Be­kenntnis zum Sozialismus im Programm nieder? Einen Hinweis gibt schon der Ti­tel des Programms: “Eine demokratische Revolution in Brasilien.” Eine etwas gründlichere Lektüre des Programment­wurfes wie auch die Debatten um dassel­bige, zeigen, daß zwei verschiedene Grundansätze ziemlich unverbunden ne­beneinanderstehen: den einen könnte man als Rekonstruktion eines nationalen Ent­wicklungsprojektes bezeichnen, den ande­ren als Entwurf für eine neue gesell­schaftliche Ethik.

Ein neues nationales Projekt?

Die VertreterInnen des ersten Grundan­satzes durften sich vor allem im 4. Kapitel des Regierungsprogrammes ausbreiten: “Wirtschaft und Gesellschaft transformie­ren und eine Nation errichten”. Das Kapi­tel trägt deutlich die Handschrift von Cesar Benjamin, einem der Chefökono­men der PT. Es geht aus von einer Ana­lyse der brasilianischen Krise, die nach fünfzehnjähriger Dauer nicht mehr einfach als eine Wirtschaftskrise begriffen werden kann, sondern eine Auflösung der Nation bewirkt: Explodierende Inlands- und Auslandsverschuldung und eine Inflation, die seit Jahren nicht zu besiegen ist, sind die Symptome einer tiefgehenden Sy­stemkrise, die einen vorangegangenen fünzigjährigen Wachstumszyklus endgül­tig begraben hat. Die neoliberale Antwort auf die Krise verfolgt ein klares Ziel. Eine Gesellschaft mit einigen Entwicklungs­enklaven und einer kleinen Oberschicht, während die große Mehrheit der Bevölke­rung ausgeschlossen bleibt.
Diesem Szenario will die PT (oder Cesar Benjamin) einen neuen Entwicklungszy­klus entgegensetzen, der auf zwei Ele­menten aufbaut: über eine Einkommens­umverteilung soll der interne Markt sti­muliert werden und über politischen Druck soll eine effektive Politik der Ar­mutsbekämpfung eingeleitet werden. Mit Hilfe dieser beiden Elemente kann – so das Szenario der PT – ein neuer, langer Wachstumszyklus eingeleitet werden. Für beides ist ein reformierter, effizienter und aktiver Staat erforderlich, der nicht mehr das Instrument einzelner Machtgruppen, sondern durch den Druck der sozialen Bewegungen zu einem Instrument eines nationalen Projektes werden würde.
Wachstum via Stärkung des internen Marktes ist weder ein neues noch ein be­sonders revolutionäres Projekt. Das Par­teiprogramm bewegt sich hier auf recht traditionellem, altlinkem Terrain, in dem Wachstum der Schlüsselbegriff ist und der Reformaspekt sich auf die Frage der Ein­kommensverteilung zuspitzt. In demsel­ben Kapitel finden sich aber Passagen, die offensichtlich die Handschrift eines ande­ren Theoretikers der PT tragen: Christo­vam Buarque, ehemaliger Rektor der Uni­versität von Brasilia und jetziger Kandidat für das Gouverneursamt in der Hauptstadt. Buarque hat dafür gesorgt, daß der Begriff der “sozialen Apartheid” zu einem Schlüs­selbegriff der Zustandsbeschreibung der brasilianischen Gesellschaft wurde. Durch diesen Begriff ist die Frage der sozialen Ausgrenzung in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Dies ist für die PT ein wichtiger Entwicklungsprozeß. Entstan­den als “Partei der Arbeiter” mit starken Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung – deutlich verkörpert Lula diese Tradition der PT – ist sie auch zu einer Partei der unorgani­sierten Interessen der Gesell­schaft gewor­den.
Noch bei den Wahlen 1989 hatt eine per­verse Allianz zwischen Oligarchie und unorgansierten Sektoren der Gesellschaft die Wahl zugunsten des Demagogen Collor entschieden. Die Mehrheit der bra­silianischen Bevölkerung arbeitet eben nicht in formellen Arbeitsverhältnissen, sondern im informellen Sektor. Und ten­denziell nimmt das Gewicht der formali­sierten Arbeitsplätze ab. Auf diese Her­ausforderung kann eine Politik, die sich primär auf die Forderungen der organi­sierten Sektoren stützt, keine Antworten geben. Und allein ein neuer Wachstums­zyklus, das beweisen die Erfahrungen des entwickelten Kapitalismus, kann das Pro­blem der Ausgrenzung nicht lösen. In einem Artikel zur Debatte über das Regierungs­programm hat Buarque seine Ideen au­drücklich den Wachstumsideo­logien ent­gegengestellt: “Es gibt zwei ver­schiedene Linke: Die eine beschäftigt sich mit der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Profit und Lohn… und es gibt eine andere Linke, die eine Revolu­tion der nationalen Prioritäten erreichen will… Die Frage, die wir heute in Brasi­lien stellen müssen, lautet nicht Wie wachsen? son­dern Wohin wachsen?” Für Buarque steht also die Definition von Wachstumszielen an erster Stelle. Und das bedeutet für ihn in erster Linie umfassen­des Reformpro­gramm für die “Ausge­schlossenen”. Diese Orientierung hat er als “ethische Moder­nität” bezeichnet, die sich von einer rein technischen Modernität unterscheidet. Konzeptionell bedeutet dies eine Abwen­dung von den organisierten Interessen der Gesellschaft hin zu den unorganisierten Sektoren. Wichtig ist, daß zu der ethi­schen Moder­nität auch der Schutz der Umwelt gehört, ein Aspekt der bei den “Wachstumslinken” nicht auf­taucht.
Auf die Frage, ob sich die beiden Re­formansätze verbinden lassen, gibt der Programmentwurf der PT jedoch noch keine Antwort. Vielleicht ist diese Un­klarheit aber auch lediglich Ausdruck der unterschiedlichen Strömungen in der PT.

Lateinamerika im Fußballfieber

Kolumbien – auf leisen Sohlen zum Titel?

Die Vorstellung mit Kolumbien zu begin­nen, rührt aus der schlichten Tatsache, daß die Kolumbianer als einzige Mannschaft die Qualifikation ungeschlagen überstan­den. Zu zwei Siegen über Peru und zwei Unentschieden gegen Paraguay gesellten sich zwei Siege gegen den Topfavoriten und Südamerikameister Argentinien. Nach dem 2:1 Heimsieg gelang den Kolumbia­nern im Rückspiel in Buenos Aires Histo­risches. Mit 5:0 wurde Argentinien die höchste Heimniederlage in seiner Ge­schichte verpaßt. Kurz nach Schlußpfiff füllten sich in Kolumbien landesweit die Straßen mit fünf Finger zeigenden, enthu­siastisch feiernden AnhängerInnen. Über­schäumende Begeisterung mit tödlichen Folgen für Dutzende. Gewalt als Begleit­erscheinung des Massenspektakels Fußball ist leider auch in Kolumbien an der Tagesordnung.
Dem hohen Stellenwert des Fußballs im allgemeinen und dieses Triumphes über Argentinien im besonderen, trug auch Prä­sident Gaviria Rechnung. Alle Spieler und der Trainer wurden mit dem höchsten Or­den des Landes dekoriert. In Kolumbien träumen viele vom Titel, auch die Fußball­fachwelt traut den Supertechnikern den Coup zu. Unbestritten der populärste und schillerndste Fußballer des Landes ist der Kapitän und Mittelfeldregisseur Carlos Alberto Valderrama. Nach einer Kniever­letzung Ende Februar bangte eine ganze Nation um seine Teilnahme. Tausende von Kerzen wurden angezündet, tausende von Gebeten gesprochen. Unerwartet schnell wurde “El Pibe” (der Kleine) wie­der fit und die Träume vom Titel erhielten mit seinem Comeback neue Nahrung.

Der Kopf Kolumbiens: “El Pibe” – “Ich liebe das Leben in seiner ganzen Buntheit”

Schon äußerlich fällt Carlos Valderrama mit seinem blonden Afro-Look aus dem Rahmen. So eigenwillig wie seine Haar­tracht, die er als Ausdruck seiner Lebens­freude beschreibt, so eigenwillig zeigt er sich auf dem Spielfeld. Der Ball als Spiel­zeug und nicht als schnöder Arbeitsgegen­stand. Dieser Spielauffassung zu Folge “streichelt” Valderrama erst ausgiebig den Ball, bevor er ihn zu einem Mitspieler weiterpaßt. All dies mit ausgefeilter Tech­nik, die den ÄsthetInnen unter den FußballanhängerInnen das Herz höher schla­gen läßt. Brillant seine Spielübersicht, die exakten Pässe, die nahezu Ausgang jedes Angriffes seiner Mannschaft sind. Als Kopf von seinen Mitspielern unum­schränkt anerkannt, wird er als Anspiel­station permanent gesucht und meist auch gefunden. Zumindest so lange die Kondi­tion von “El Pibe” reicht. Laufen war vor allem zu Beginn seiner Karriere nicht sein Ding. “Ich bin keiner, der anderen hinter­herrennt. Ich muß das Spiel machen und Tore schießen, sonst nichts.” Im reifen Alter von knapp 33 Jahren hat er sich scheints doch noch besonnen. Bei der “Copa America” (Südamerika­meister­schaft) im letzten Jahr zeigte er neben den ge­wohnten techni­schen Kabinettstückchen auch unge­wohnten kämpferischen Einsatz. Der dem Nationaltrainer Francisco Matu­rana vor Jahren zugeschriebene Satz: “Ein Län­der­spiel ohne Carlos ist wie ein Tag ohne Sonne”, gewinnt so gesehen zusätz­liche Berechtigung. Die Wertschätzung ist in­des nicht auf Kolumbien beschränkt. Sowohl 1987, als Valderrama bei der “Copa America” erstmals international in Erscheinung trat, als auch 1993 wurde er zum südamerikanischen Fußballer des Jah­res gewählt.

Europäische Effizienz und lateinamerikanisches Genie

In Europa gehen die Meinungen bezüglich Valderrama auseinander. Bei den deut­schen Fans ist er durch seine Schauspiel­einlage im WM-Spiel 1990 gegen die deutsche Elf unrühmlich in Erinnerung geblieben. Mehrere Minuten lang spielte er den “toten Mann”, ließ sich mit der Bahre vom Platz tragen, um Sekunden später, wie von Geisterhand genesen, wie­der quicklebendig auf dem Platz aufzutau­chen und zu allem Überfluß mit einem genialen Paß das kolumbianische Aus­gleichstor vorzubereiten.
Als erster Kolumbianer suchte Valder­rama 1988 das lukrative Legionärsdasein in Europa. Seine Leistungen während der drei Jahre im französischen Montpellier und dem halbjährigen Aufenthalt im spa­nischen Valladolid waren aber eher durchwachsen. Seine lateinamerikanische Spielauffassung vertrug sich nicht recht mit europäischem Effizienzdenken. Rich­tig glänzen konnte Valderrama nur bei seinen Auftritten im Nationaltrikot. Folg­lich kehrte er 1992 nach Kolumbien zu­rück. Seit 93 spielt er nun in Barranquila, unweit entfernt von seiner Geburtsstadt Santa Marta an der kolumbianischen Ka­ribikküste. Mit dem dortigen Klub Atlé­tico Junior wurde er erstmals in seiner Laufbahn kolumbianischer Meister. Viel­leicht doch von europäischem Effizienz­denken beeinflußt oder etwa nur ein Aspekt des Lebens in seiner ganzen Bunt­heit?

Mexiko – Heimvorteil im Gringoland

An der Qualifikation zur letzten WM durfte Mexiko nicht teilnehmen. Der Grund: Bei einer Junioren-WM hatte Me­xiko diverse ältere Spieler mit getunten Pässen eingesetzt. Nachdem die Verfeh­lung ruchbar wurde, folgte die empfindli­che Strafe durch den Weltfußballverband (FIFA) auf dem Fuß. Nach achtjähriger WM-Abstinenz war die Freude nun um so größer, daß Mexiko seiner Favoritenrolle in der Nord- und Mittelamerika-Ausschei­dung gerecht wurde und somit neben dem automatisch qualifizierten Veranstalter­land USA als einziges Land diese Region vertritt. Die Spiele der mexikanischen Mannschaft werden wohl die stimmung­vollsten der WM werden – zumindest, was die Atmosphäre auf den Rängen betrifft. Hauptspielort für Mexiko ist Washington. Die riesige mexikanische Gemeinde in den USA wird zu Tausenden in die Hauptstadt pilgern.
Zwei Niederlagen in der Qualifikation in Costa Rica und El Salvador konnte das mexikanische Team verkraften, da der Hauptkonkurrent Kanada zweimal ge­schlagen wurde. In zwölf Spielen nur acht Gegentore. Nicht zuletzt ein Verdienst des Ausnahmetorwarts Jorge Campos, der als populärster Spieler dem in Spanien spie­lenden Hugo Sanchez den Rang abgelau­fen hat.

Der komplette Spieler:Campos – “Ich liebe grelle Farben und verrückte Kleider­kombinationen”

Der jetzige US- und ehemalige mexikani­sche Nationaltrainer Bora Milutinovic hält ihn für den kompletten Spieler der letzten hundert Jahre. Einfach deshalb, weil Jorge Campos auf den zwei gegensätzlichsten Positionen, die es im Fußball gibt, zumin­dest nationale Spitzenklasse darstellt. Sowohl in der Nationalmannschaft, als auch vor allem im Verein, spielt er je nach Lage Torwart oder Mittelstürmer, mitunter gar in einem Spiel. Den Höhepunkt seiner Doppelrolle zelebrierte er 1992 bei einem Erstligaspiel. Zuerst vom Tor in den Sturm gewechselt, sorgte er für den Aus­gleich, um kurz vor Ende der Partie bei einem Elfmeter für die gegnerische Mannnschaft ins Tor zurückzukehren und mit seiner Abwehrparade das Unentschie­den zu sichern. “Das Ganze ist keine in­szenierte Show von mir. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, ob ich nur Tore verhindern oder nur Tore schießen soll.” Aber Entscheidungen über die Aufstellung trifft im Fußball ja gemeinhin der Trainer, womit Campos aus seinem Dilemma be­freit wäre. Seinem Spieltrieb gibt Campos mit Billigung seiner Trainer auch als Tor­wart nach. Da sowohl die mexikanische Nationalmannschaft als auch seine Ver­einsmannschaft UNAM Mexiko ohne letzten Mann (Libero) spielen, bekleidet Campos diese Position ersatzweise.
Seine für einen Torhüter geringe Größe von 175 cm gleicht er mit einem enormen Sprungvermögen aus. Entwickelt hat er diese Sprungkraft nach eigenen Angaben beim Fußballspiel am Strand seiner Hei­matstadt Acapulco. Andere Berichte kol­portieren indessen, daß er seiner Tätigkeit als Hühnerfänger auf der großväterlichen Farm einen Gutteil seiner Fangtechnik und Sprungkraft verdankt.

Kleider machen Leute

Seine Position als Torwart verleiht ihm alle Freiheiten bei der Kleiderwahl. Haben Feldspieler ob des einheitlichen Trikots nur geringen Spielraum, mit ihrer Kluft auf sich aufmerksam zu machen, so sind der Phantasie des Torhüters keine Gren­zen gesetzt. Kein Torhüter nützt dies so weidlich aus, wie Jorge Campos. “Das meiste Geld gebe ich für meine ausgefal­lenen Torhüterausrüstungen aus, ich liebe grelle Farben und verrückte Kleiderkom­binationen.” Wenn er auch verrückte Kleiderkombinationen bevorzugt, verrückt ist er keineswegs, sondern mit einer guten Portion Realitätssinn ausgestattet. Nach Europa will er auf keinen Fall wechseln. Er befürchtet wohl zu Recht, daß er mit seinem Stil im nüchternen Europa nicht ankommen würde.

Bolivien – Höhenflug in dünner Andenluft

Bolivien hatte nun wahrlich bei der Pro­gnose der WM-Teilnehmer niemand auf der Rechnung. Während ihrer zweier WM-Teilnahmen 1930 und 1950 gelang ihnen weder Punkt noch Tor. Einer der “Fußballzwerge” schlechthin. Die Fuß­ballgrößen Brasilien und Uruguay galten vor Beginn der Qualifikation als haushohe Favoriten, Ecuador als Außenseiter und Bolivien als Punktelieferant. Aber es kam ganz anders. Seine Heimspiele trägt Boli­vien auf 3800m Höhe in La Paz aus. Folglich geht den gegnerischen Mann­schaften in La Paz im wahrsten Sinne des Wortes gegen Ende des Spiels die Luft aus. Dies ist nicht neu, doch noch nie schlug Bolivien soviel Kapital daraus wie diesmal. Brasilien mußte in den letzen drei Minuten zwei Gegentore hinnehmen und verlor 0:2. Uruguay bekam in den letzten zehn Minuten gar drei Eier ins Nest gelegt und verlor 1:3. Daß Bolivien in Brasilien mit 0:6 unter die Räder kam, konnte verschmerzt werden. Der zweite Platz hinter Brasilien blieb dank der impo­santen Heimbilanz gewahrt. Die erste WM-Teilnahme seit 44 Jahren war ge­schafft. Der Verkehr brach zusammen. Nicht nur in La Paz, auch in den Exil­gemeinden Washington-Georgetown, Bu­enos Aires, Santiago und Lima.
Sechs aktuelle Nationalspieler entstam­men der berühmten Academia Tahuichi Aguilera (Fußballnachwuchsschule) in Santa Cruz, die 1978 vom jetzigen Staats­sekretär für Sport Rolando Aguilera ge­gründet wurde. Auch der Stürmerstar Marco Antonio Etcheverry erlernte dort sein fußballerisches Rüstzeug.

“El diabolo”: Ein teuflischer Dribbler

Seine Ausbildung an der Tahuichi-Aka­demie verdankt Marco Etcheverry der Antidrogen-Organisation “Seamos”. “Sea­mos” kam für den Monatsbeitrag von 16 DM auf, da dieser die finanziellen Mög­lichkeiten seiner Eltern überstieg. Mit 17 Jahren unterschrieb “El diabolo” (der Teufel) seinen ersten Profivertrag bei Bo­livar La Paz. Mit 21 Jahren feierte er 1991 sein Debüt in der Nationalmannschaft. Im gleichen Jahr glänzte er mit spektakulären Dribblings bei der “Copa America” (Südamerikameisterschaft) so sehr, daß er ins All-Star-Team der besten 11 Spieler des Turniers gewählt wurde. Der Weg ins lukrative Europa war geebnet. Der spani­sche Erstligist Albacete sicherte sich flugs die Dienste des umworbenen Stürmers. Doch alles Geld konnte das überhand­nehmende Heimweh nicht kompensieren. Etcheverry wurde mehr in Kneipen als auf dem Trainigsplatz gesehen. Nach einem halben Jahr brach “El diabolo” seine Zelte im europäischen “Paradies” wieder ab, um nach La Paz zu seinem Stammverein Bo­livar zurückzukehren. Die in Bolivien für einen Fußballprofi kärglichen Verdienst­möglichkeiten von im Schnitt 1700 DM, ließen ihn aber nach einem Jahr das chile­nische “Exil” bei Colo Colo Santiago su­chen. Mit diesem Club wurde er 1993 auf Anhieb Meister, wenngleich eine schwere Knieverletzung im November sein Mit­wirken in der Schlußphase der Meister­schaft verhinderte. Bei der WM soll er aber wieder fit sein und kann somit im Er­öffnungsspiel dem deutschen Team die Hölle heiß machen.

Argentinien

Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften jeweils Endspielgegner der deutschen Mannschaft, war der Weltmeister von 1978 und 1986 und amtierende Südamerika­meister (1993) natürlich Top­favorit in seiner Gruppe. Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Das unterentwickelte Kolumbien könne in Ar­gentinien doch gar nicht gewinnen, soll Diego Maradona vor dem Rückspiel in Buenos Aires geäußert haben. Mit dem schon erwähnten 5:0 Sensationssieg gaben die Kolumbianer auf dem Spielfeld eine deutliche Antwort. Das ruhmreiche Ar­gentinien mußte so eine interkontinentale Zusatzqualifikation gegen Australien be­streiten, um das Ticket für die USA zu er­halten. Mit diesen beiden Spielen kehrte auch Argentiniens bester Fußballer aller Zeiten, Diego Armando Maradona nach dreijähriger Abstinenz wieder ins Natio­nalteam zurück. Trotz mangelhafter Fit­ness trug Maradona mit seiner Vorlage zum 1:1 in Australien und beim knappen 1:0 in Buenos Aires mit seinem Mythos entscheidend zur Qualifikation bei. Wenn auch im Moment ohne Verein und von seiner Höchstform weit entfernt, hofft Ar­gentinien, daß Maradona auch bei der WM mit Genieblitzen die Mannschaft führen und inspirieren kann.

“Dieguito”: “Fußballgott” und “Kokain­sünder” – der Mythos Maradona

Neben dem Brasilianer Pelé gilt er als weltbester Spieler aller Zeiten. Schlag­zeilen produziert er im Privatleben ebenso ausgiebig wie auf dem Spielfeld. Seine Größe als Fußballer ist ebenso unumstrit­ten, wie seine Persönlichkeit umstritten. Politisch zeichnet sich Maradona durch wechselnde Positionen aus. Einst Verehrer von Menem, schenkte er als Zeichen sei­ner Wertschätzung unlängst dem máximo líder Fidel Castro sein Trikot. Bei den kürzlichen Kommunalwahlen in Argenti­nien sprach er sich für das Mitte-Links­Bündnis Frente Grande aus.

Teures Wunderkind

Seine von zahlreichen Rekorden und Er­folgen gekrönte Profikarriere begann Diego Armando Maradona schon zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag als Ein­wechselspieler der Argentinos Juniors Bu­enos Aires. Vier Monate später feierte das Supertalent als jüngster Nationalspieler des Landes aller Zeiten seinen Einstand in der Nationalmannschaft. Mit 21 Jahren wechselte er für die damalige Rekordablö­sesumme von ca. 20 Millionen DM zum spanischen Club FC Barcelona; 1984, mit 23 Jahren, für die neue Rekordablöse­summe von ca. 24 Millionen DM an den Vesuv zum SSC Neapel. Größere sportli­che Erfolge hatte “Dieguito” bis dato überhaupt noch nicht errungen. Allein sein Ruf als weltbester Fußballspieler ließ die Ablösesumme in ungeahnte Höhen schnellen. Mit der Zeit in Neapel (84 bis 91) ist der Aufstieg zum verehrten “Fußballgott” wie auch der Fall zum “Kokainsünder” verbunden.

Eine Stadt und ihr Spieler – die Symbiose

Schon zu seiner Vorstellung pilgerten 80.000 ZuschauerInnen ins Stadion San Paolo. Maradona, einer, der den Aufstieg geschafft hat, als Symbol der Hoffnung für die Armen. “Bienvenuti a Italia” – so wurde das Afrika zugeordnete Neapel in Genua oder Mailand hämisch empfangen. Maradona als Symbol eines neuen Selbst­bewußtseins gegenüber den reichen Städ­ten des Nordens.
Maradona gab die Sympathien, die ihm in Neapel entgegenschlugen, zurück. Auf dem Spielfeld ließ er mit seinen Tricks Alltagssorgen verblassen. Privat lud er des öfteren Kinder für ein Wochenende in seine Prunkvilla ein. Wenn überhaupt, dann wurde in Argentinien der Gewinn der Weltmeisterschaft 1986 enthusiasti­scher gefeiert als in Neapel. Auch Neapel war Weltmeister geworden, schließlich war es ihr “Dieguito”, der als überragen­der Spieler dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt hatte. Unsterblich machte sich Maradona im Jahr darauf. Der Begriff scudetto (italienischer Meistertitel) war aus dem neapolitanischen Vokabular ent­fernt worden, schien doch ein Fluch auf ihm zu lasten oder wie anders konnte er­klärt werden, daß Neapel noch nie Meister geworden war. Maradona, der Magier, lö­ste auch diesen Fluch. Meisterschaft und Pokal in einem Jahr. Maradona war auf dem Höhepunkt seines Ruhms angekom­men. Eine ganze Stadt lag “Dieguito” zu Füßen, umarmte ihn – und hätte ihn fast erdrückt.

Maradona auf der Flucht – die Tragik

Maradona, der sich anfangs in seiner un­antastbaren, gottähnlichen Rolle gefiel, wurde es zuviel. “Ich fühle mich wie ein Gefangener” äußerte er 1989. Er wollte weg, obwohl der sportliche Erfolg immer noch gegeben war. 1990 wurde die Mei­sterschaft ein zweites Mal errungen. Maradona gehen lassen, Neapel ohne Gott und Hoffnung? Wie sollte ein Präsident das verantworten? Maradona im Käfig. Im Februar 91 wurde Maradona mit ersten Drogenvorwürfen konfrontiert. Im März wurde es amtlich. Nach einem Ligaspiel wurde ihm der Kokaingenuß nachgewie­sen. Er habe zu den Drogen gegriffen, um dem Rummel um seine Person zu entflie­hen. Er floh weiter. Zunächst vor der ita­lienischen Justiz nach Argentinien. Dort wiederum in die Drogen. Nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz bewahrte ihn nur sein Name und die Bereitschaft, sich einer Entziehungskur zu unterziehen, vor einer Haftstrafe. Seine Karriere schien beendet.
Nach Ablauf seiner 15monatigen Spiel­sperre wegen Dopings wollte er seine Kar­riere bei Boca Juniors Buenos Aires fort­setzen. Neapel gab seinen Sohn preis – für 11,3 Millionen DM. Nie war er so billig und dennoch für Boca zu teuer. So hieß der glückliche Erwerber Sevilla. Mit Ma­radona setzte ein Zuschauerboom ein. Der Mythos Maradona hatte an Zugkraft nichts eingebüßt. Glücklich wurde Diego in Sevilla jedoch nicht. Die Eskapaden häuften sich. Im Sommer 93 hatte Mara­dona sein Ziel erreicht. Er wurde entlassen und kehrte nach Argentinien zurück. Sein neuer Club hieß Newell’s Old Boys aus Rosario – bis zum 1. Februar. “Maradonas Vertrag mit unserem Klub ist beendet, weil Diego psychisch nicht in der Lage ist, mit Anstand und Würde in einer ihm ge­mäßen Art zu spielen.” Mit diesen Worten beendete der Vereinspräsident die Zu­sammenarbeit mit dem enfant terrible. Die WM ist Maradonas neuer Fluchtpunkt. “Die Argentinier können beruhigt sein. Ich werde bei der WM dabei sein und in den USA wie um mein Leben spielen” ließ er kurz nach seiner Entlassung verlauten. Wohin sein Weg oder seine Flucht danach führen wird, ist noch offen. Der Mythos lebt weiter. Nur so ist zu erklären, daß dem bald 34jährigen Maradona auch für die Zeit nach der WM schon wieder An­gebote vorliegen. Darunter eins vom SSC Neapel.

Brasilien

Brasilien ist das einzige Land der Welt, das an allen 14 Weltmeisterschaften teil­genommen hat. Brasilien ist das einzige Land, das auf einem fremden Kontinent Weltmeister wurde (1958 in Schweden). Die glorreiche Zeit des dreifachen Welt­meisters liegt indessen weit zurück. Seit 24 Jahren kein Weltmeistertitel mehr. Dennoch gilt Brasilien immer noch als In­begriff für Fußballkunst und Fußballzau­ber. Wenngleich auch die Kolumbianer inzwischen als “die letzten Brasilianer” tituliert werden, gilt Brasilien wie immer als einer der Topfavoriten auf den Titel. Daran ändert auch die erstmals in einer Qualifikation erlittene Niederlage gegen Bolivien nichts. Gruppensieger wurden die Brasilianer trotzdem. Im letzten und entscheidenden Spiel gegen Uruguay be­rief der Nationaltrainer Parreira nach neunmonatiger Verbannung den Stürmer­star Romário wieder ins Aufgebot. Dieser bedankte sich mit zwei Toren. Unbestrit­ten als Torjäger, ist er innerhalb der Mannschaft ob seiner Starallüren jedoch ständiger Unruheherd.

Heirat im Strafraum: Romário: “Training ist Kalorienverschwendung”

“Ich wollte schon seit frühester Jugend immer ganz vorne spielen und Tore schie­ßen.” Romário hat sein Vorhaben ein­drucksvoll umgesetzt. Von 89 bis 91 wurde er dreimal in Folge holländischer Torschützenkönig. Auch in seiner ersten Saison beim FC Barcelona wurde er die­ses Jahr souveräner Schützenkönig. In Eu­ropa zog er als Torschützenkönig bei den Olympischen Spielen 1988 erste Auf­merksamkeit auf sich. Sein darauffolgen­der Wechsel zum Philips-Sport-Verein (PSV) Eindhoven sorgte durch die unge­wöhnliche Finanzierungsart für Schlag­zeilen. Philips hatte von der brasiliani­schen Zentralbank mit einem Abschlag Schuldentitel in Höhe von 2,8 Millionen US-Dollar aufgekauft, der Verein Romá­rios (Vasco da Gama) erhielt im Gegen­zug von der Zentralbank Cruzados zum Tageswert von 3,91 Millionen US-Dollar (siehe LN 176). Zum ersten Mal wurde so ein Fußballspieler zum Zwecke staatlicher Schuldentilgung verwendet.

Der launische Strafraumkönig

Der Strafraum ist Romários Lebensfeld. Nicht nur, daß er seine Tore fast aus­schließlich aus kurzer Distanz im selbigen erzielt, nein selbst geheiratet hat er in ihm. Zu seiner Trauung wurde eigens ein Altar auf dem Elfmeterpunkt eines Fußballplat­zes aufgebaut. Launisch zeigt er sich auch bei der Wohnungssuche in Barcelona. Nach knapp einem Jahr wohnt er immer noch in einem Luxushotel, weil er sich für kein Appartement entscheiden kann. Mal hat’s keinen Meeresblick, mal ist’s zu klein, mal ist’s zu weit vom Trainingsplatz entfernt. Ansonsten mißt er dem Training eher weniger Bedeutung bei. Training sei “Kalorienverschwendung” ließ er einmal verlauten. Dementsprechend häufig blieb er ihm fern. Tore schießen läßt sich nun­mal nicht trainieren. “Ich glaube, daß ich mit diesem Talent auf die Welt gekommen bin”, äußerte er sich zu seinen Torjäger­qualitäten. An Selbstvertrauen mangelt es Romário wirklich nicht. Dem brasiliani­schen Nationalheiligen Pelé unterstellte er kürzlich sogar in aller Öffentlichkeit “Schwachsinnigkeit” und “Museums­reife”. Seinen Stürmerkollegen in der Na­tio­nalmannschaft, Muller, kriti­sierte er hef­tig und kündigte an, daß er nicht mit ihm zusammenspielen wolle. Pelé rea­gierte gelassen: “Manchmal sagt man in Eu­ropa eine Sache und sie wird in einer anderen Art und Weise in Südame­rika be­richtet”. Er bezeichnete sich sogar als Fan Romários und erwartet ihn als einen der Super­stars bei der WM. Die Mitspieler des Torjägers reagierten gar nicht. Der Grund: Nationaltrainer Parreira verhängte ei­nen “Maulkorberlaß”. Keiner darf sich in der Öffentlichkeit negativ über den Hoff­nungsträger der Nation äußern. Vor neun Monaten noch hatte Romários For­derung nach einem Stammplatz zu sei­ner Ver­bannung geführt. Jetzt hält ganz Bra­silien in der Hoffnung still, daß Romá­rio Bra­silien zum Weltmeistertitel schießt. Wehe Romário, wenn er nicht trifft.

Über die Unverhältnismäßigkeit der Verhältnisse

Der brasilianische Rennfahrer Ayrton Senna ist tot. Millionen BrasilianerIn­nen geben ihm bei der Rückführung nach Sao Paulo ein letztes Geleit, Zehntausende pa­trouillieren an seinen sterblichen Überre­sten vorbei. Sennas Tod ist tagelang das bestimmende Thema; die internationale Presse hat schon lange nicht mehr so großräumig aus dem südamerikanischen Land be­richtet.
Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, dem der Ex-Weltmeister auf der Rennpiste von Imola erlag. Den­noch ordnet Präsi­dent Itamar Franco dreitägige Staatstrauer an, eine Ehre, die sonst allenfalls verstor­benen Re­gierungschefs zuteil wird. Schließlich starb das Idol aller brasiliani­schen Ta­xifahrer als Nationalheld! In Staats­trauer wird Ayrton Senna gedacht, und die unzähligen anderen Toten in sei­nem Heimatland werden nicht einmal mehr wahrgenommen. All jene gemei­nen Landsleute, die sich feige von To­desschwadronen erschießen oder von der Militärpolizei massakrieren lassen. So wie die acht Straßenkinder, die im vergange­nen Juni mitten im Zentrum der brasiliani­schen Metropole getötet wurden. Und die 23 BewohnerInnen einer Favela in Rio de Janeiro, die eine Woche später bei einem Rachefeldzug der Polizei ihr Leben ließen. Damals wurde kein Gedanke an Staats­trauer verschwendet. Jene Namenlosen kämpften ja nur ums Überleben und nicht für den nationalen Ruhm Brasi­liens. Ihr Lebensrisiko in den Slums der Großstädte ist eben viel höher als das Berufsrisiko ei­nes Formel-Eins-Piloten. Und damit sich an dieser Schieflage nichts ändert, wird nun al­lerorten über weitergehende Sicher­heitsmaßnahmen im Motor-“Sport” nach­gedacht. Das ist ja auch wesent­lich lukra­tiver, als sich um die Sicher­heit der Mil­lionen Habenichtse und Tunichtgute die­ser Welt zu sorgen.
Millionen werden die Untersuchungen und Expertisen über die Unfallursa­chen auf der Rennbahn von Imola ver­schlingen. Das kann im gün­stigsten Fall dazu führen, daß der nächste schwere Un­fall nicht bei 314, son­dern erst bei 330 Stundenkilome­tern passiert. Als Ne­benprodukt wird dem/der normalen Auto­fahrerIn vielleicht auch mehr Sicherheit hinter dem Lenker geboten werden kön­nen. Damit unsere Freiheit noch größer wird. Über die strukturellen Bedingun­gen, das heißt den ganzen Schwachsinn der prämi­erten Rase­rei (gar nicht zu reden von der Ökologie), denkt kaum jemand nach. Und hier end­lich findet sich eine Gemeinsam­keit von Senna mit seinen vielen ermor­deten Landsleuten: Das offi­zielle Brasilien be­schränkt sich auf Prote­ste, Diskussionen und parlamen­tarische Untersuchungen. Über die Ursachen und das Funktionieren der strukturellen Ge­walt wird dabei nicht nachgedacht.

Domingos Pellegrini Jr.

Auf die Frage, wer er ist, und was er macht. antwortet er: “Bin geschieden, habe vier Kinder und spreche Englisch.” Er sieht in der Literatur die “größte Brücke der Welt” und behauptet: “Tudocomencou com o homen”(“Alles begann mit dem Mensch/Mann”, wobei er hier den “Mann”meint). “Da gab es Adam und Eva, zwei Söhne, einer tötet den anderen und daraus entstand die Menschheit.” Domingos Pellegrini Jr. ist einer der fünf Autoren, die im Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HdKW) bei der Veranstaltung “Eine Reise ohne Ende” Auszüge ihrer Texte vorlasen. Zusammen mit der brasilianischen Buchkammer lud das HdKW AutorInnen ein, die sie als Vertreterinnen brasilianischer “Wurzeln der Gegenwart” sehen. So schreiben die Herausgeber der Anthologie “Nachdenken über eine Reise ohne Ende” (Babel-Verlag; 24,80 DM): “Vielerorts ist das Klischee lebendig, Brasilien sei ein Land ohne Wurzeln, ein Synonym für Neubeginn oder für den Glauben an den Wechsel und an die Vorzüge rasanter Veränderungen.” Sie wollen “zeigen, da6 es m diesem relativ jungen Land eine Prägung durch vielfältige lebendige Traditionen gibt, die oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber hinter der dynamischen Fassade des Alltags vorhanden sind.” Domingos Pellegrini Jr. wurde 1949 in Londrina.Paraná geboren und lebt dort noch heute als freier Journalist, Schriftsteller und Kinderbuchautor. Er studierte Literaturwissenschaften und beschäftigt sich in seinen Texten u.a. mit der brasilianischen Familie, als deren “Chronist der letzten Jahrzehnte” er von einigen brasilianischen LiteraturkritikerInnen bezeichnet wird. 1987 wurde er mit dem brasilianischen Jugendbuchpreis aus- gezeichnet. Neben seiner Kurzgeschichte “Mann am Meer”, die er auf der Veranstaltung vortrug und die auch in der Anthologie auf deutsch veröffentlicht ist, gibt es nur wenig auf deutsch übersetzte Texte von ihm: “Zärtliche Marmelade”, Berlin, Zürich: Edition dia, 1991; “Die größte Brücke der Welt” in Erhard Engler, Hg.: Erkundungen, Berlin 1988. Die Veranstaltung wird im Juni mit der dritten und letzten AutorInnengruppe zuendegehen. (8.-11.Juni im HdKW, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin.)

“Gleichheit ist eine Utopie”

Das kürzeste Interview mit Domingos Pellegrini Jr.

LN: Wie sind Sie Autor geworden?
Domingos Pellegrini: Deus que sabe -allein Gott weiß es-. Als ich das Lesen lernte, begann ich sofort, die Zeitungsränder mit irgendwelchen Worten vollzukritzeln. Ich war sieben. Ja, ich denke, daß es Gott war.

Was halten Sie von der brasilianischen Literatur von heute?
Es werden nicht mehr gute und schlechte Autoren in Brasilien geboren als in Deutschland.

Gibt es typisch brasilianische Literatur?
Nein. Jeder Autor hat seine eigene Mystik. Márquez zum Beispiel hat seine eigene, Jorge Amado hat eine andere, die von der Kultur Nord-Ost-Brasiliens geprägt ist.

Was ist Ihre Mystik?
Die großen Worte, die auf -ade [sprich: adsche] enden.

Welche?
Liberdade, sinceridade, honestidade, productividade, amizade. (Freiheit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit. Produktivität, Freundschaft). Nur nicht die egualidade (Gleichheit).”

Warum nicht?
Gleichheit ist eine Utopie! Es gibt nicht zwei Menschen, die sich für zehn Dollar, die ich ihnen in die Hand drücke dasselbe kaufen. Die Menschen sind unterschiedlich, das ist nunmal so.”

“Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín”

Ernesto Semán: Wie erklären Sie sich den Erfolg der Frente Grande?
Chacho Alvarez: Wir haben aus drei Gründen gewonnen. Erstens wegen des Paktes von Olivos, der hier in der Haupt­stadt einen negativen Effekt hatte: Ein ganzer Bereich im Radikalismus stand dem Pakt zutiefst ablehnend gegenüber. Zweitens wegen des Wunsches nach einer Opposition hier in der Stadt, um den Machtmißbrauch des Menemismus zu stoppen, und drittens, weil ein ideolo­gisch breites Spektrum von Menschen, Liberale eingeschlossen, des Machtmiß­brauchs aus moralischen Gründen müde ist und jetzt freier abgestimmt hat als zu anderen Gelegenheiten, wo es mehr um die Verteidigung der wirtschaftlichen Sta­bilität ging. Unser Sieg ist ein deutliches Zeichen für die Regierung, die dachte, daß die Leute auch in einer institutionellen Frage nach dem Geldbeutel abstimmen.

Nichtsdestotrotz hat die PJ ja eine be­trächtliche Stimmenzahl erhalten.
Ja, aus zwei Gründen: Einmal sind die Wähler enorm treu, und zweitens vergleichen sie die heutige Stabilität mit den Zeiten der Hyperinflation. Aber wenn es uns, die wir daran keine Verantwortung tragen, weil wir nicht regierten, gelingt, eine andere Perspektive anzubieten, dann können wir dem Peronismus Stimmen ab­ziehen, zugunsten eines politischen Pro­jekts, das mehr mit den Schwierigkeiten des Alltags zu tun hat.

Ändert sich das politische System durch dieses Ergebnis?
Der Wahlkampf hat gezeigt, daß die Re­gierung in dem PAMI-Bestechungsskandal um jeden Preis hart geblieben ist, mit dem Ziel, die ganze Problematik des “schwarzen Geldes”, der illegalen Finanzierung von Politik und des Systems von Beste­chungsgeldern zuzudecken. Wir haben angefangen, über Themen zu reden, die vorher der Zensur zum Opfer gefallen wa­ren, haben die offiziellen Spielregeln zwi­schen Regierung und Opposition verletzt. Ich glaube, daß zur Utopie der 90er Jahre gehört, den faulen Absprachen, Tauschge­schäften und der Korruption ein Ende zu bereiten.

Dieses Ergebnis hält Sie im Rennen um das Bürgermeisteramt von Buenos Aires.
Das stimmt so nicht. Von morgen an wer­den wir uns mit der Unidad Socialista an einen Tisch setzen, die uns am nächsten steht, und mit der zusammen wir ein glänzendes Wahlergebnis erzielt hätten. Wir werden Pläne für ’95 diskutieren, in denen das Bürgemeisteramt eine Rolle spielt. Da ist meine Kandidatur aber keine Bedingung.

Aber sie wissen doch schließlich, daß Sie mit dieser Abstimmung ihre Vor­teile gegenüber anderen Mitte-Links-Kandidaten erhöht haben.
Ja, aber wir wollen ernsthaft die politische Kultur Argentiniens verändern. Als wir der Unidad Socialista den ersten Listen­platz angeboten haben, war das kein Witz. Und jetzt sag’ ich wieder dasselbe: Man muß sich hinsetzen, um zu diskutieren, ohne irgendeine Kandidatur als Vorbedin­gung. Zusammen mit den Sozialisten kön­nen wir auch mit anderen Kandidaten die Bürgermeisterwahl gewinnen. Ich denke, wir können diese Apathie brechen, die da­von ausgeht, daß die Wiederwahl Menems beschlossene Sache ist. Und außerdem hätten wir gemeinsam auch schon in Santa Fe die Mehrheit haben können und ein noch besseres Ergebnis in der Provinz Bu­enos Aires.

Die Frente Grande gewinnt in den großen Städten an Boden. Aber in den Provinzen mit großen sozialen Proble­men, im Nordwesten zum Beispiel, hat sie Schwierigkeiten.
Ja, aber Sympathieströme sind nicht vorher­sehbar. Das kann von der Mittelschicht abwärts gehen, wie damals ’83 bei Alfon­sín oder wie bei Menem ’89, der unten an­fing, bei den Ärmsten, und später erreichte, daß ihm die Leute von den Bal­konen der Avenidas zuwinkten.

Sie vergleichen sich mit Alfonsín 1983?
Wir sind Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín, des Scheiterns eines pluralisti­schen, progressiven, volksnahen Projekts. Für die Radikalen wird es schwierig sein, noch einmal ein ähnliches Programm zu entwerfen.

Wenn Sie an so etwas denken…
Ohne die Besonderheiten der Situation damals. Ich glaube, daß wir erreichen können, daß verschiedene soziale Grup­pen mehr politische Verantwortung über­nehmen. Schon jetzt verlagert sich die Zu­stimmung, jedenfalls nach dem, was ich im Wahlkampf gesehen habe, von der Mittel­schicht nach unten. Es gibt ähnliche Pro­bleme, Bildung zum Beispiel oder der schlechte Zustand der Stadt. Ich glaube, es gibt Forderungen, die deutlich gestellt werden müssen, besonders in einem Ka­pitalismus, der gesellschaftlich viele aus­schließt, aber auch von den politischen Märkten und in kultureller Hinsicht. Wenn wir das er­reichen, haben wir die Möglichkeit, eine neue politische Kraft mit Zukunft auf die Beine zu stellen.

Aber selbst mit diesem Ergebnis scheint es, daß die Frente sehr stark von Ihrer Figur abhängt.
Das glaube ich nicht. Die Frente Grande hat drei der zehn bestangesehensten Poli­tiker der Hauptstadt in ihren Reihen. Wenn wir ein Abkommen mit der Unidad Socialista erreichen, können wir eine Füh­rung etablieren, die wichtiger als der Ap­parat ist, und die hohe Erwartungen hervorrufen wird.

Aber trotzdem fehlt der Frente die Ba­sis.
Das ist wie bei Erundina in Brasilien. Ich habe mir angeschaut, was der PT pas­sierte, als Erundina in Sao Paulo gewann. Sie selbst sagt, daß ihr Sieg gefährlich war, und daß die Struktur der PT ein Hindernis für ihre Regierung war. Insgesamt hat ihre Struktur der PT eher Probleme bereitet als Lösungen erleichtert. Wir sollten uns also keine großartige politische Struktur vor­nehmen. In bezug auf die Basis wünsche ich mir, daß wir von der Vielzahl der Farbtöne ausgehend ein politisches Pro­jekt der Zukunft aufbauen.

Das soll reichen, um beispielsweise die Stadtverwaltung von Buenos Aires zu übernehmen?
Erundinas größtes Problem war die Ge­werkschaft der öffentlichen Angestellten, die ihr das Leben schwer gemacht hat. Das andere große Problem war die PT selbst. Erundina sagte einmal: “Man kann nicht gegen die Partei regieren, aber mit ihr auch nicht.”

Kann es sein, daß innerhalb der Frente Grande nicht alle so denken?
Das ist eine Spannung innerhalb aller pro­gressiven Kräfte. Die muß ich auch aus­halten. Viele Sektoren kritisieren, ich sei übermäßig light. Gut, dann sollen sie mir erklären, wie man die Dinge anders regeln kann. Man kann doch keinen Diskurs entwickeln, der niemanden erreicht, egal wie hart er ist. Ich habe keine Probleme, light zu sein. Das bedeutet nicht, schwä­cher oder weniger kritisch zu sein. Light zu sein, hat damit zu tun, daß man alles zur Diskussion stellt. Ich selbst habe den Peronismus in Frage gestellt, meine ei­gene politische Tradition. Warum kann ich dann nicht verlangen, daß auch andere das machen?

Karneval in Rio

Rio ist nicht die einzige Stadt Brasili­ens, deren Karneval berühmt ist. Eine alte Konkurrenz besteht zwischen Sal­vador, der Hauptstadt von Bahia, und Rio. Salva­dor steht für den Straßen­karneval, tan­zende Massen hinter den “Trio Eletricos”. Zwar hat auch Rio einen Straßenkarneval. In fast allen Stadtvierteln werden “blocos” organi­siert, die singend und tanzend durch die Straßen ziehen und abends geht es zu den “bailes”, den Bällen, die inzwi­schen auch in den ärmeren Teilen der Stadt durch die Stadtverwaltung ge­sponsort werden. Der Höhepunkt des Karnevals in Rio ist aber zweifelsohne der Umzug der besten Karnevalsschu­len in dem eigens dafür erbauten Sta­dion, dem Sambo­dromo. Die 16 besten “Sambaschulen” marschieren hier in der Nacht des Sonn­tags und Montags. Das Spektakel dauert jeweils etwa zehn Stunden und endet erst am frühen Morgen. Jede der Sambaschu­len bringt 3000 bis 5000 Menschen auf die Piste, aufwendige Wagen mit Szenen zum Thema des jeweiligen Sambas, farben­prächtige Kostüme. Eines der Kli­schees über den Karneval in Rio lau­tet: “Die Leute sind arm, aber sparen das ganze Jahr für ein Kostüm.” Nein, der Aufwand ist inzwischen so groß, daß kein Armer mehr dafür sparen kann. In diesem Jahr geben die größ­ten Sambaschulen je­weils etwa 600.000 US-Dollar für ihren Auf­marsch aus. Der Karneval ist tatsächlich zu einem großen Geschäft ge­worden.
600.000 US-Dollar wollen also verdient sein. Da ist erstmal die Schallplatte mit den Sambas der 16 Schulen, verlegt durch Sony. Dann die Fernsehrechte. Hinzu kommt der Eintritt, für bessere Plätze von 250 US-Dollar aufwärts, Logen werden zu unglaublichen Prei­sen an Sponsoren ver­kauft, die dann Prominente einladen. Und selbst einen Platz im Umzug kann man kaufen. Aber 1000 US-Dollar kann eines der schickeren Kostüme schon leicht ko­sten. Und nicht zu vergessen die Wer­bung, allen voran die Brauereien. Die­ses Jahr hat der Marktführer Brahma (Abkürzung für Brasilianisch Hopfen und Malz) das Sambodromo über­nommen. Die Vermarktung wird durch eine Vereinigung der Sambaschulen der ersten Liga selbst organisiert. Doch das alles reicht nicht aus. Die Schulen brauchen Sponsoren, und die haben sich in den letzten Jahren nicht lum­pen lassen. Die Herren des ille­galen Glücksspiel in Rio, die “bicheiros” ha­ben schon vor Jahren die Leitung fast aller Sambaschulen über­nommen. Das “Tierspiel”, jogo do bicho, ist eine Institu­tion in Rio. Obwohl offiziell verboten, kann man an fast jeder Stra­ßenecke auf Nummern setzen, die in­zwischen die ur­sprünglichen Tiere er­setzt haben. 20.000 Menschen wer­den von den bicheiros beschäftigt; und obwohl(?) illegal, gehört das jogo do bicho zu den wenigen Einrichtun­gen, von dem alle Einwohne­rInnen Rios glauben, daß sie funktionie­ren. Die Drahtzieher dieses Glückspiels ha­ben sich also in den letzten Jahren mit einer Ausnahme aller Sambaschulen be­mächtigt, um so ihr Ansehen zu er­höhen. Zweifelhafte Figuren, denen Verbindun­gen zum Drogen- und Waffenhandel nachgesagt werden, sind somit zu den Herren eines der bewun­dertsten Schau­spiele der Welt gewor­den. (Dieses Jahr mußte allerdings die Créme der bicheiros Karneval im Gefängnis verbringen, ver­urteilt wegen Steuerhinterziehung.)
Diese Entwicklungen haben kritischen Stimmen Nahrung gegeben, die dem Kar­neval in Rio die totale Dekadenz beschei­nigen. Der Niedergang habe schon mit der Konstruktion des Sam­bodromos Anfang der achtziger Jahre angefangen. Die Spontaneität der Umzüge, das ungezügelte Treiben auf der Straße, wurde in Beton gebändigt. Baumeister war der Kommu­nist Oskar Niemeyer, der Betonmonster liebt. Damit wurde der Karneval “zivilisiert” und für den Konsum der Rei­chen zu­bereitet, die heute bei Champagner und Hummer in den Logen sitzen.

Samba: die subversive Musik der Hügel

Dabei hatte alles ganz anders begon­nen. Anfang des Jahrhunderts war der Karne­val eine Domäne der Reichen. Sie fuhren in offenen Autos und Kut­schen durch die Straßen und warfen Konfetti in die Menge. Die genoß die freien Tage, amü­sierte sich am Rande, in den dunklen Gas­sen, und spielte eine Musik, die schwarze Sklaven mit nach Brasilien gebracht hat­ten: den Samba. Die ersten “sambistas” waren allesamt Schwarze und wohnten auf den Hügeln der Stadt, den “morros”, wo die Armen sich niederließen, nachdem eine Stadtreform sie aus dem Zentrum vertrieben hatte. Die Polizei verfolgte die “sambistas”, und auch zu Zeiten des Karnevals war ein allzu ausgelas­senes Treiben den Hütern des Geset­zes ein Dorn im Auge. “Wir waren schon üble Bur­schen”, sagte einer von ihnen, Cartola, der später zu einem der bekanntesten Samba­komponisten wer­den sollte. Die ersten sambistas waren so etwas wie die Punks der zwanziger Jahre in Rio. Aber bald gab es Bestre­bungen, der gesellschaftlichen Ächtung zu entrinnen. 1928 wurde die er­ste Sambaschule gegründet. Der Name rührt nicht etwa daher, da die Mit­glieder lernen mußten, Samba zu spie­len oder zu tanzen. Die Sambaschule war eher eine Art Übungsraum, damit die Musikgruppe sich vorbereiten und Feste veranstalten konnte.

Alle lieben Mangueira

Eine der ersten Sambaschulen war “Bahnhof Mangueira”, benannt nach ei­nem Armenviertel, das sich neben ei­nem Halteplatz der Vorstadtzüge er­streckt. Tatsächlich schafften es die von der Poli­zei verfolgten “sambistas” schnell, den Karneval zu erobern. Und so wurde aus dem betulichen Fest der Vornehmen das wilde, ausgelassene Vergnügen, das bis heute durch die eindringlichen Rhythmen der Schwar­zen Musik geprägt ist. Der Preis dieses Erfolges war die Vereinnah­mung des Sambas durch die Eliten und den Kommerz. Aus einer subversiven Mu­sik der Vorstädte wurde so ein harm­loses und akzeptiertes Vergnügen, aber eben auch eine der Formen, durch die die Schwarzen Anerkennung und Er­folg er­ringen konnten. Und die Sambas haben sich immer mehr zu einer Art Marschmu­sik verschnellert und vermanscht.
Mangueira ist heute die beliebteste Sam­baschule in Brasilien, jeder Brasi­lianer hat nicht nur einen Fußball­verein, sondern auch eine Samba­schule, für die er sich be­geistert ein­setzt. Und niemand würde bei den Farben rosa-grün an etwas anderes denken als eben an Mangueira. Viel­leicht ist aufgrund dieser Popularität Mangueira auch die einzige der großen Sambaschu­len, die ohne Verbindung mit dem illega­len Glücksspiel überle­ben kann.
Samba und Karneval lassen sich also nicht vorschnell auf einen Nenner bringen, sie sind ein widersprüchliches Phänomen. Daß noch nicht alles nur Kommerz ist, läßt sich am besten bei einem Besuch ei­ner der Sambaschulen erfahren. Lange vor dem Karneval schon beginnen die Ein­übungen, bei denen der aktuelle Samba immer wie­der gespielt wird, bis auch der letzte Fan den Text mitsingen kann. Das Gelände von Mangueira liegt wie schon zu Zeiten der Gründung direkt am Fuß des Hügels. Der Raum ist eine riesige Turn­halle, stämmige Wächter sorgen davor für Ordnung. Brav entrichten wir den Ein­trittspreis, Män­ner zahlen das doppelte wie Frauen. Beim Eingang scheinen wir aber fast die einzigen zu sein, die bezahlt haben. Vor uns geht eine große Gruppe ein­fach so durch, freundlich begrüßt von den Kontrolleuren, man kennt sich. Klar, die Leute vom “Hügel” zahlen nicht, nur die Fremden werden zur Kasse gebeten.
Die Sambas ähneln einander sehr, der ak­tuelle wird mindestens eine halbe Stunde lang wiederholt, schließlich muß der Vor­sänger beim Umzug auch über eine Stunde lang durchhalten. Die Monotonie läßt die Tänzer in Trance geraten, nicht umsonst heißt es, man müsse in den Samba fallen. Hier bei Mangueira wie bei den meisten Sam­baschulen ist die Ge­schichte des Sam­bas lebendig. Hauptak­teure sowohl bei der Gruppe wie bei den Tanzenden sind die Leute vom Hügel, der das Herz der Schule bildet. Die Einheit von Armenviertel und Sambaschule exi­stiert noch, bezahlt wird nicht und die be­sten Tänzer und die schönsten Frauen be­kommen umsonst das Ko­stüm gestellt.
Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute von Mangueira glauben, den Titel schon in der Tasche zu haben: “Nur wer schon gestorben, tanzt nicht hinter Mangueira her” lautet der tief­sinnige Re­frain, den inzwischen ganz Rio singt.
Es ist der herbe Charme der Hügel und Vorstädte, der heute den Samba und den Karneval noch leben läßt, ihn vor der voll­ständigen Kommerzialisie­rung und dem Untergang im organi­sierten Spektakel rettet. Hier ist die Quelle der Kreativität und einer trotzi­gen, ausgelassenen Le­bensfreude, nicht in den sterilen Studios der Reichen. Die Kraft der Hügel, der Armenviertel ist die Basis des Karnevals, deren Hö­hepunkt der Tourist, sei er aus Europa oder Brasilien, in seinem Logen­platz genießen kann. Karneval ist daher auch mehr als nur ein paar ausgelas­sene Tage, die eine Existenz im Jam­mertal ver­gessen lassen. Er ist Ausdruck einer Kul­tur des Vergnügens und der Lebensfreude, die an den Ta­gen des Karnevals ihren lu­xuriösen Ausdruck findet.
Das schlimme Klischee “arm aber fröh­lich” drängt sich geradezu auf. Zwei­felsohne, die Allerärmsten amü­sieren sich auch im Karneval nicht. Sie sammeln vielmehr den Abfall auf, su­chen nach Bierdosen und Lebensmit­telresten. Aber wer nicht so tief unten leben muß, schafft es in der Regel, Geld für ein paar Bier zusammenzube­kommen. Die vielen Kar­nevalsbälle sind ein billiges Vergnügen. Eine der besten Beschreibungen der Kraft des Sambas liefern die Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso auf ihrer letzten LP: “Der Samba ist Kind der Trauer und Vater der Fröhlichkeit. Er ist der große Umwandler”. Die Fähigkeit zur Hingabe an das Vergügen, die nicht aus Tumbheit sondern aus Trauer und Begehren wächst, ist eine bewunderns­werte Eigenschaft der BrasilianerInnen. So also läßt sich bei al­ler Kritik am Kommerz die Faszination verstehen, die der Karneval in Rio und vielen an­deren Städten Brasiliens immer noch auf alle Welt ausübt. Zum ersten Mal seit Jahren sind die Hotels wieder aus­gebucht. Rio wird in diesen Tagen zur Hauptstadt der Lebensfreude und das tut der geschundenen Seele der Stadt und ih­rer EinwohnerInnen gut. So singt dann der Vorjahressieger, die Sambaschule Salgueiro, unbekümmert alle Klischees herunter: “Mein Rio ist ein Rio der Freude, vor Glück außer Rand und Band. Rio die wunderbare Stadt, Visitenkarte meines Brasiliens, Rio der Mulatas und des starken Sam­bas, des Fußballs. Ach, wie mein Herz explodiert”. Ja, und wenn 100.000 Menschen in der Nacht dieses Rosen­montags solche Verse singen, dann werden sie plötzlich wahr.

Skandal bei der Preisverleihung

Drei Tage später kommt der Katzen­jammer. Bei der Auszählung der Punkte, die eine Jury verteilt, hält es den Präsidenten von Salgueiro nicht mehr auf dem Stuhl. Er droht, die Jury anzugreifen, schreit lautstark “Betrug” und muß schließlich von der Polizei abgeführt werden. Publikumsliebling Salgueiro, der den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubte, landet nur auf dem zweiten Platz. Noch größer die Enttäuschung bei Mangueira: ein magerer und skandalöser 13. Platz. Die Tränen fließen ungehemmt. Mangueira hatte zweifelsohne den populärsten Samba dieses Jahres. (Nicht nur) Rio sang fast nur diesen einen Samba. Er ist eine Hommage an Bahia (die große Karnevalskonkurrentin) und dessen vier große MusikerInnen: Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethania, die alle an dem Umzug teilnahmen. Mangueiro war es so ge­lungen, vier absolute Größen der po­pulären brasilianischen Musik zusam­menzuführen. Ein Geniestreich, und alle glaubten an den Sieg.
Das schlechte Abschneiden von Man­gueira war Auslöser für eine Diskus­sion, die nicht ganz neu ist. “Zuviel Kommerz, zuwenig Samba” resümiert die alte Garde der Schule. Tatsächlich hatte Mangueira die Politik der Ver­marktung am konsequentesten verfolgt und eine Mangueira-GMBH gegrün­det, die Pauschalreisen zum Karneval mit Platz in der Mangueiraloge zu horrenden Preisen verkaufte. Und die zu große Zahl von verkauften Kostü­men hatte dazu geführt, daß ganze Teile des Umzugs von (brasilianischen) Touristen dominiert wurden, die zwar zahlen, aber nicht tanzen können. Die “Decharakterisierung”, die zuneh­mende Distanz des Managements der Schule vom Morro, der Favela, wurde als Grund für das Desaster angesehen. Immerhin, die Diskussion zeigt, daß die Kommerzialsierung des Karnevals problematisch ist und dazu neigt, den Untergrund, aus dem der Samba seine Kraft bezieht, zu zerstören. Und die Siegerin: Die Sambaschule Imperatriz, mit einem technisch perfekten Umzug, der niemanden begeisterte, die Jury aber auch keine Fehler entdecken ließ. Für die Leute auf der Straße war das Urteil klar: Eine Woche nach dem Karneval wurde bei einem großen Freilichtkonzert der Samba des Jahres 1994 gespielt und begeistert mitgesun­gen: Natürlich, der von Mangueira.

Kasten

Zwischen Rebellion und Schwachsinn

Jeder Samba der Schulen hat Text und Thema. Die sind oft belanglos bis peinlich. Aber immer gibt es Ausnah­men. Dieses Jahr hatten ohne Zweifel die Unidos de Viradouro den interes­santesten Samba: Eine Ehrung an Teres de Benguela, eine Prinzessin, die als Sklavin von Afrika nach Brasilien verschleppt wurde, dort floh und im Pantanal zur Führerin eines “Quilombos”, eines Staates von ent­laufenen SklavInnen wurde: “Die Re­bellion entzündete die Flamme der Freiheit, den Traum der Freiheit im Quilombo […] Eine goldene Sonne wird leuchten. Das Licht Terezas wird nicht erlöschen und Viradoura wird erstrah­len in der neuen Ära.”
Das Ganze präsentiert nicht von Tou­ristInnen und ohne die sonst üblichen (weißen) Modelle, sondern fast aus­schließlich von den dunkelhäutigen AnhängerInnen der Schule. Resultat: ein dritter Platz, der in Niteroi, der Heimat von Viradouro wie ein Sieg gefeiert wurde. Peinlich hingegen wirkt die Freiheitslyrik der Siegerin Impe­ratriz. Die besingt die beim Karneval äußerst beliebten Indigenas (guter Vorwand, um viel Haut zu zeigen), al­lerdings mit eher unbrauchbarem Auf­hänger: Besungen wird die Präsentie­rung von Indigenas am französischen Hof im 16. Jahrhundert. “Mon amour c’est si beau” heißt’s auf französisch. Weiter: “Brasilien, das Bild der Nackt­heit und des Mutes”. Und im Refrain: “Ich bin Indio, ich bin stark, ich bin Sohn des Glückes, ich bin natürlich, ich bin Krieger, ich bin das Licht der Freiheit.” Nun ja, für die meisten en­dete die Verschleppung nach Frankreich tödlich.

Der Preis der Demokratie oder was kostet ein Abgeordneter

Nach Angaben einer der größeren Firmen der Branche, Meio e Mensagem, gibt ein Kandidat für das Landesparlament etwa 600.000 bis 800.000 US-Dollar aus. Wer ins Bundesparlament kommen will, muß hingegen 1,5 bis 2 Millionen Dollar hinle­gen. Dies, so sagt die Firma, gelte für eine Kampagne mittlerer Größe.
Natürlich geht es auch billiger, erheblich billiger. KandidatInnen, die populär sind, oder die eine feste Stammwählerschaft haben (in einer Stadt oder einer Gewerk­schaft) kommen mit erheblich weniger aus. Insbesondere die KandidatInnen der Linken können mit den hier angegebenen Summen nicht aufwarten. Ihre Kampa­gnen beruhen auf der “Militanz”, dem eh­renamtlichen Einsatz vieler. Dennoch geht der Bundesabgeordnete der PT (Arbeiterpartei) Paulo Paim davon aus, daß er für seine Wiederwahl etwa 40.000 US-Dollar ausgeben muß. Ivanir Santos, Kandidat der PT in Rio und der Schwar­zenbewegung verbunden, will hingegen mit etwa 15.000 Dollar den Sprung ins Landesparlament schaffen.
Diese Zahlen werden nur auf dem Hinter­grund des brasilianischen Wahlsystems verständlich: JedeR KandidatIn muß – auch bei den linken Parteien – seinen ei­genen Wahlkampf führen. Ist seine Kan­didatur durch die Partei einmal bestätigt, ist er oder sie, abgesehen von einigen zentralen Wahlmaterialien, weitgehend auf sich angewiesen. Denn am Wahltag kreuzen die WählerInnen keine Parteienliste, sondern nur einen Namen an. Die anderen Namen auf der Liste einer Partei sind für die einzelnen KandidatIn­nen also auch Konkurrenten, der Kampf um Stimmen wird auch und gerade im La­ger der PT-WählerInnen geführt. Aber die Konkurrenz ist nicht grenzenlos: Die Stimmen der meistgewählten Abgeordne­ten werden umverteilt. Ein erheblich ver­einfachtes Beispiel: Wenn zu dem Einzug ins Landesparlament 10.000 Stimmen notwendig wären und der/die meistge­wählte KandidatIn einer Partei über 15.000 Stimmen erreicht, könnte auch die Nummer 2 mit 5.000 Stimmen einziehen.

Und wieviel kostet ein Präsident?

Dieses System hat Konsequenzen für die politische Kultur. Zum einen konzentriert sich der Wahlkampf nicht auf Parteien, sondern auf Personen. Dieser hochgradi­gen Personalisierung entkommt auch die PT nicht, die am ehesten den Charakter einer Partei mit Programm aufweist und kein reiner Wahlverein ist. Zum anderen sind die Kampagnen völlig auf Spenden angewiesen, eine Wahlkostenerstattung wie in der BRD gibt es in Brasilien nicht. Als der Bestechungsskandal um Ex-Präsi­dent Collor aufbrach, ging es zunächst hauptsächlich um die illegale Finanzie­rung seiner Kampagne. Nach dem damals gültigen Parteiengesetz durften juristische Personen (also Unternehmen) keine Spen­den geben; die Sache war illegal. Inzwi­schen sind Spenden von Unternehmen legalisiert, maximal 180.000 US-Dollar können sie offiziell ihren KandidatInnen zufließen lassen. Dennoch vermutet Car­los Mendes, als Richter für die Wahlauf­sicht zuständig, daß von den erwarteten fünf Milliarden Dollar, die in die Wahl­kampagnen gehen, mindestens 2 Milliar­den illegal bleiben. Die Gründe liegen auf der Hand: Oft ist das Geld illegal erwor­ben und in vielen Fällen soll die massive Unterstützung eines Kandidaten, etwa durch Baufirmen, nicht ruchbar werden.
Die linken Parteien können ihre finan­zielle Schwäche am ehesten auf lokaler (durch konkrete Arbeit vor Ort) und auf nationaler Ebene ausgleichen. Bei letzte­rer spielt natürlich die Popularität Lulas eine große Rolle, aber auch die Tendenz zur Protestwahl. Während sich Abgeord­nete durch konkrete Versprechungen für einen bestimmten Ort oder eine Siedlung Stimmen angeln, werden an einen Präsi­denten andere Erwartungen gerichtet: Schluß mit der Inflation, wirtschaftlicher Aufschwung. Am schwierigsten ist an­scheinend die mittlere Ebene. Die PT stellt zwar viele BürgermeisterInnen in Brasilien, aber keinen Gouverneur. Kein Wunder: Eine Kampagne für den Gouver­neursposten kostet etwa 20 bis 30 Millio­nen Dollar, in Sao Paulo bis zu 100 Mil­lionen.
Ja und wieviel kostet ein Präsident? – 150 bis 200 Millionen Us-Dollar, meint Meio e Mensagem.

(Quelle für die Angaben von Meio e Men­sagem: Jornal do Brasil, 17.4.1994)

Großgrundbesitz erobert Amazonien

Niemand weiß so recht, wie die Firmen im einzelnen zu Gebieten dieser Größenord­nung gelangen. Fest steht, daß der Um­fang der Flächen, die nicht in Privatbesitz sind, in den letzten Jahren drastisch zu­rückgegangen ist: Der Bundesstaat Ama­zonas verlor in den letzten zehn Jahren fast 10 Millionen (!) ha Staatlichen Lan­des. Davon wurde nur 2.884.961 Hektar in Indianerreservate oder Naturschutzgebiete umgewandelt. Die Experten der INCRA können nicht erklä­ren, wie der restliche Teil des Landes in private Hände gelangt ist. Es wird ver­mutet, daß Schenkungen von Gemeinden beziehungsweise deren Bürgermeister an ihre Klientel eine große Rolle dabei spie­len.
Inzwischen ist in Manaus, der Haupt­stadt des Bundesstaa­tes, ein parlamentari­scher Untersuchungs­ausschuß über den Ver­bleib der staatli­chen Ländereien einge­setzt worden. Der Vorsitzende des Aus­schus­ses, Ereno Be­zerra, nimmt an, daß der größte Teil des Gebietes in unproduk­tiven Grundbesitz verwandelt wird. “Der Groß­grundbesitz in Amazonas ist in den letzten zehn Jahren in alarmierendem Ausmaß gewachsen,” er­klärt er.
Offensichtlich bereiten die Holzfirmen lang- oder mittelfristig eine Verlagerung ihrer Aktivitäten in den Bundesstaat Ama­zonas vor. Dieser zeigt bisher die niedrig­sten Entwaldungsraten, weil ein Straßen­netz praktisch nicht existiert und der Schiffstransport langwierig ist. Da in den verkehrstechnisch besser erschlossenen Gebieten Amazoniens das wertvollere Holz langsam zu Ende geht, kann sich bei steigenden Holzpreisen bald lohnen, wei­ter ins Innere Amazoniens vorzudringen.
Die Firmen handeln dabei nach dem alt­bewährten Motto: “Legal – Illegal – Scheißegal”. Denn eigentlich müßte jeder Landerwerb von über 2.500 Hektar (nach der Landesverfassung von Amazonas so­gar von 1.000 Hektar) durch das nationale Par­lament oder den Landtag genehmigt wer­den.
Die fast unvorstellbare Ausdehnung der Latifundien (definiert als Betrieb, dessen Fläche sechshundertmal größer ist als ein durchschnittlicher Betrieb in einer Re­gion) ist kein Phänomen, das auf den Bundesstaat Amazonas beschränkt ist, sondern prägt die gesamte Amazonasre­gion. 1986 besa­ßen von den achtzehn größten Landbesit­zern Brasiliens fünfzehn Land in Amazo­nien und zwar eine Fläche von 162.000 Quadratkilometern, mehr Land als das Gebiet der Neuen Bundes­länder plus Niedersachsen. Insge­samt be­saßen Latifundisten in Amazonien 1986 1,4 Millionen Quadratkilometer, ein Ge­biet also, das fast viermal so groß ist wie die Bun­desrepublik.
Diese Zahlen können gut dazu dienen, die in Brasilien wieder aufgekommene Dis­kussion um die Demarkierung der India­nergbiete zurechtzurücken. Konservative Kreise versuchen nämlich mit dem Hin­weis auf die große Ausdehnung der India­nergebiete, diese in Frage zu stellen und insbesondere die Demarkierung des Ge­biets der Yanomami wieder rückgängig zu machen. In die aktuelle, allerdings nur schleppend vorankommende Verfassungs­reform versuchen diese Kreise eine Ände­rung einzubringen, die die Demarkierung der Indianergbiete zur Sache der Bundes­staaten macht. Der Effekt wäre klar: In Staaten wie Roraima (in dem das Gebiet der Yanomami liegt), wo der lokale Groß­grundbesitz dominiert, wären einer Revi­sion der Demarkierung Tor und Tür ge­öffnet. Die Zahlen über den Zuwachs des Großgrundbesitzes belegen aber, daß nicht die Indianergebiete sondern die Explosion der unproduktiven Latifundien das Grundproblem der Landfrage in Amazo­nien ist.
Es zeigt sich auch, daß gesellschaftliche Veränderungen in Amazonien nicht an der Landfrage vorbeikommen. Dies betrifft auch den Umweltschutz. Was nützt die Einrichtung einiger Schutzgebiete, wenn die Latifundien sich so ungeniert und un­kontrolliert ausbreiten können. Gerade die Landfrage ist aber in Entwicklungspro­grammen wie dem berühmten Pilotpro­gramm der G-7 ausgespart. Was immer noch auf der Tagesordnung in Amazonien steht ist eine einschneidende Landreform, ohne die alles Gerede von “nachhaltiger Entwicklung” Makulatur bleibt.

Die Unfähigkeit wahrzunehmen

Ein italienischer Anthropologe reist zu Studienzwecken ins Amazonasgebiet. Zunächst landet er in Sao Paulo, um an der dortigen Universität an einer Tagung teilzunehmen. Während der Tagung wird der Vize-Rektor der philosophischen Fa­kultät (Prof. Rui Coelho) verhaftet und eine junge Soziologin der Universität (Yara Yavelberg) von der Polizei ver­schleppt und ermordet. Verantwortlich: Die polizeilich-militärische Organisation OBAN mit Sitz in der Rua Tutóia in Sao Paulo.
Der Italiener bricht sein Amazonas-Vor­haben ab. Er bleibt in Sao Paulo und be­ginnt, über Repressionen und Todes­schwadrone zu recherchieren. So gesche­hen 1971.
Das 350 Seiten starke Buch des Anthro­pologen Ettore Biocca über den Staatster­rorismus in Brasilien erschien 1974 unter dem Titel “Strategia del Terrore” bei dem angesehenen italienischen Verlag De Do­nato und beeindruckt noch heute durch die detaillierten Beschreibungen der Entste­hungsgeschichte von Todesschwadronen in Brasilien. Biocca verknüpft die Ge­schichte der staatlichen und halbstaatli­chen Repression mit einer Analyse des Systems der sozialen Ungerechtigkeit in Brasilien. Am 5.9.1972 berichtet amnesty international zum ersten Mal ausführlich über den systematischen Einsatz von Folter und Todesschwadronen in Brasi­lien. Das zweite Russel-Tribunal fand sich im Frühjahr 1974 in Rom zusammen, um die internationale Aufmerksamkeit auf den Staatsterrorismus in Lateinamerika zu lenken; auch über Brasilien wurde aus­führlich und dramatisch berichtet.
Die Anfang der 70er Jahre in Sao Paulo aufgebauten polizeilichen Killerkomman­dos bestehen noch heute. Zum Teil sind es dieselben Chefs, dieselben Namen, diesel­ben Waffen, die die staatliche Mordma­schine betreiben. Der einzige Unterschied: Ihre Anzahl hat sich ungefähr vervierfacht (von 250 auf über 1000 Mann), und ihre nach militärpolizeilicher Statistik jährlich begangenen Morde haben sich ebenfalls ungefähr vervierfacht. (1992 haben sie in der Stadt Sao Paulo 1470 Personen erschossen.)
Ein zweiter, allerdings gesellschaftspoliti­scher Unterschied springt ins Auge: Heut­zutage bricht kein Professor deswegen seine Forschungsreise ab. Kein internatio­nales Tribunal klagt an. Keine wissen­schaftlichen Bücher werden darüber ge­schrieben. Keine Schriften mit politisie­render Absicht dazu abgefaßt. Keine großen Kampagnen entfesselt.

Mörder machen Medien

Alle wissen, daß es in Brasilien Morde an Straßenkindern gibt und daß der brasilianischen Militärpolizei der Colt locker sitzt. Weltweit wird über Massaker berichtet – als Skandal. Es gibt sogar bra­silianische Radiosender und Tageszeitun­gen, die ausschließlich über Mord und Totschlag – auch von Todesschwadronen – berichten. Sie sind in der Hand der Hin­termänner der Todesschwadrone, die Re­pression organisiert die Information ge­wissermaßen selbst.
Aber über die Kontinuität des Apparats berichtet niemand. Liegt das daran, daß die Stadtguerilla, gegen die damals die Killerkommandos aufgebaut wurden, nicht mehr existiert? Daß die politische Opposition von heute nicht mehr von den Spezialeinheiten attackiert wird? Entsteht eine gesellschaftliche Unfähigkeit wahr­zunehmen, was an den Rändern der offi­ziellen Gesellschaft geschieht? Wächst die Welt der Ausgeschlossenen, der Armen, der Billiglohnverdienenden, der Woh­nungslosen – wird dieses soziale Univer­sum zu einer neuen terra incognita?

Altes Thema – Neue Verpackung

Gegen diese Annahme spricht, daß der in­vestigative Journalismus Brasiliens zu diesem Thema jüngst einen Bestseller landen konnte: Claudio (“Caco”) Barcel­los, ein Reporter des Medientrusts “Globo”, schrieb einen Kriminalroman unter dem Titel “ROTA 66. A história da polícia que mata”.(*) Der Titel spricht für sich: In Brasilien weiß jeder, daß die Ab­kürzung ROTA 66 für eine berüchtigte Killereinheit der Militärpolizei in Sao Paulo steht. Ihre Entstehungsgeschichte seit 1970, ihre Praktiken, statistische In­formationen über ihre Einsätze und Morde, ihre politischen Hintermänner, ihre Deckung und Einbindung in den ge­samten polizeilichen und militärischen Apparat finden sich – nicht in einer politi­schen Analyse, nicht in einer juristischen Anklageschrift, nicht in einer soziologi­schen Abhandlung über Repression und Armut – sondern in einem Kriminalroman. Dem Bestseller-Erfolg schloß sich keine Menschenrechtskampagne und keine staatsanwaltliche Ermittlung an. Für die sofortige Abschaffung dieser Spezialein­heit hat bisher keine Demonstration statt­gefunden.
Ein Kriminalroman: Zum einen bietet dem Autor dieses Genre Möglichkeiten, auch persönliche Geschichte aufzuarbeiten. Als Jugendlicher lebte Caco Barcellos Anfang der 70er Jahre in der Kultur der Gegen­bewegungen, die gerne nächtliche Auto­rennen in der Stadt veranstalteten, häufig kifften, die Rolling Stones hörten. ROTA 66 brachte den Tod auch in diese Gruppen mittelständischer Herkunft: So zieht sich das Band der Reportage von diesen frühen Erfahrungen bis zu dem Versuch einer journalistisch gefärbten Bestandsauf­nahme dessen, was aus dieser Killerein­heit heute geworden ist. Am gelungensten sind sicherlich die “politischen” Passagen: Dort verläßt Caco Barcellos die Krimi-Handlungsstränge und berichtet, resü­miert, klagt an. So festigt sich der Ein­druck, daß hier etwas erzählt wird, für das es im Grunde kein literarisches Genre mehr gibt. Ein Hintergrundaufsatz zum Thema würde keine Beachtung finden, eine große Aufmachung, eine Enthüllung wäre morgen vergessen. Also wird ver­packt in die Form des Krimis.
Und damit ist die andere Seite angedeutet: Ein Kriminalroman ist Lektüre aus einer anderen Welt, ähnlich wie Science Fic­tion. Ein Krimi entspricht der Schnelle­bigkeit unserer Zeit. Der Zugewinn an Er­kenntnis wird gesellschaftlich nicht umge­setzt. Der Bestseller, die kritisch-krimina­listische Aufarbeitung, gehört gleicherma­ßen zum Bestehenden wie “die Polizei, die tötet”.
Jeder weiß von den Todesschwadronen. Man weiß, welche Autos sie fahren. Man kennt die Namen der Veranwortlichen. Die Einsatzzentrale ist bekannt. Aber über die sozialpolitischen Gründe ihrer Konti­nuität, über die systemhaften Ziele ihrer Einsätze, über ihre gesellschaftliche Funktion wird nicht gesprochen, nicht ge­schrieben, dagegen wird nicht gehandelt.
Der Krimi von Claudio “Caco” Barcellos ist zu empfehlen. Dem Autor gebührt Re­spekt und Schutz – er hat Todesdrohungen erhalten. Der Zugewinn an kritischer Er­kenntnis ist beispielhaft.
Doch die Existenz dieses Buchs weist dar­auf hin, daß die herrschende Gesellschaft Grenzen im eigenen Lande aufzieht: Be­richtet wird über die andere Welt der Ausgeschlossenen, der bis aufs Blut Aus­gebeuteten, der Verhungernden, der von Killerkommandos Bedrohten nur noch in den Formen des schnellen Vergessens: Skandalblätter, Krimis und Massakermel­dungen werden zur Abschottung dieser neuen terra incognita beitragen.
Caco Barcellos berichtet, daß er sich oft als Reporter in lebensbedrohlichen Situa­tionen befunden hat: Er eilt zum Ort des Verbrechens in die Favelas und wird von einer aufgebrachten Menge empfangen. Er schreibt, die Favelabewohner würden die Reporter regelmäßig mit den Polizisten “verwechseln”, die dort als Killerkom­mandos gewütet haben, und es würde un­endliche Mühe kosten, sie zu überzeugen, auf welcher Seite die Reporter in Wirk­lichkeit stehen. Vielleicht ahnt Caco Bar­cellos aber auch, daß die Herumstehenden in der Regel richtig erkannt haben, aber in der Situation ohnmächtig sind, weil sie keine Stimme in der Medienwelt haben. Im Grunde arbeitet sich Barcellos an die­sem Widerspruch ab, und gerade das macht das Buch von ihm so lesenswert.

(*) Wörtlich: Sondereinsatzkommando (Rondas Ostensivas Tobias Aguiar) Nummer 66. Die Geschichte der Polizei, die tötet”. Sao Paulo 1992. Der deutsche Titel “Mord in Sao Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur”, Göttingen (Lamuv) 1994 erfaßt leider nicht die Brisanz des Originalstitels. An manchen Textstellen des Kriminalromans wäre eine freiere Übersetzung angebracht. Die assoziative Einbettung in das Großstadtleben Sao Paulos ist für das hiesige Lesepublikum ohne Erläuterungen teilweise schwer nachzuvollziehen.

Anti – Lula verzweifelt gesucht

Die Nummer 1 der Bürgerlichen, Fer­nando Henrique Cardoso, allgemein als FHC ab­gekürzt, war bisher Wirt­schaftsminister und hat jetzt seine Kandi­datur offen ver­kündet. In einem anderen, längst vergan­genen Leben war FHC ein leibhaftiger Vordenker der Dependenz­theorie und scharfer Kriti­ker des brasilia­nischen Kapitalismus. Heute jedenfalls ist er die erste Wahl bei der Besetzung der Rolle des “Anti-Lulas”. Er kandidiert für die PSDB, die Partei in Brasilien, die sich am inten­sivsten um ein “modernes” und “sozialdemokratisches” Image bemüht und die für viele in der PT als der wichtigste potentielle Bündnispartner angesehen wird. Im Augenblick bahnt sich allerdings ein ganz anderes Bünd­nis an. Die PFL (“Partei der liberalen Front”) biedert sich recht unverblümt an. Ein problematischer Bündnispart­ner für das moderne Image der PSDB, denn das inhaltliche Profil der PFL ist schwer auszumachen. Als Ab­spaltung der Partei der Militärs wurde sie erst 1985 gegründet, so daß sie rechtzeitig den Absprung schaffte, um mit der dama­ligen Opposition 1985 die erste zivile Re­gierung zu übernehmen. Architekt des un­erwarteten Bündnisses ist der Gouverneur von Bahia, Antonio Carlos Magalhaes, ein wahrer Überlebenskünstler der brasiliani­schen Politik. Noch 1992 ge­hörte er zu den letzten, die den korrupten Collor im Amt halten wollten.
Die Avancen der PFL werfen ein Schlag­licht auf die politische Situation Brasi­liens. Sie sind Ausdruck dafür, wie schwierig es für das rechte Lager ist, einen populären Kandidaten ins Rennen zu schicken. Alle Umfragen deuten darauf hin, daß kein Kandidat, der klar dem kon­servativen Lager zuzuordnen ist, in einem wahr­scheinlich notwendi­gen zweiten Wahl­gang eine Chance gegen Lula hätte. Die PFL will an­scheinend auch eine Lehre aus dem Desaster von 1989 ziehen. Da­mals hatte die Zer­strittenheit des bürgerli­chen Lagers dazu geführt, daß sich nur noch der linke Lula und der “newcomer” Collor als Alternative stellten. Lula ist also nur mit ei­nem Kandi­daten zu schla­gen, der in den zweifelhaf­ten politischen Zuord­nungen zumindest imagemäßig das Mitte-Links Spektrum repräsentiert.
Dafür ist FHC ideal. Ein jovialer Intel­lektueller mit linker Vergan­genheit, ein erfahrener Politiker und be­sonnener Ver­mittler, eben ein “concilador” (“Ver­söh­ner”); beliebt bei der Presse, den Unter­nehmerInnen und weiten Teilen der Mit­telschicht. Das große Pro­blem FHCs ist, daß sich mit diesem Image zwar Sympa­thie, aber kein Wahl­kampf gewinnen läßt. Das war die deutliche Lehre von 1989 für die PSDB. Über die Aussichten FHCs wird letzlich nur eins entscheiden: der Er­folg des Wirtschaftsplanes (vgl. LN 237), der seinen Namen trägt. Gelingt es dem Nachfolger FHCs im Amt des Wirt­schaftsministers, mit Hilfe des Plans die Inflation zu senken, ohne das Land in eine schwere Wirtschaftskrise zu stür­zen und ohne allzu drastische Einkommensver-luste, dann hat FHC sehr gute Chancen, Lula zu schlagen. Doch sollte der Plan ins Schlingern geraten, ist der hoffnungs-vollste “Anti-Lula” erledigt und damit wohl auch die Chancen des bürgerlichen Lagers, den Wahlsieg Lulas zu ver­hindern.
Die entscheidende Phase des Wirt­schaftsplans beginnt im Mai, wenn aus der an den Dollar gebundenen Rech­nungseinheit URV die neue Währung Brasiliens werden soll. Im Grunde läuft der Plan auf eine abgefederte Dollari­sierung hinaus. Er wird, und das unter­scheidet ihn von der Situation in Argenti­nien, von einer Regierung durchgeführt, die sich in den letzten Monaten ihrer Amtszeit befindet, der ein schwacher und unentschlossener Präsident vorsteht, und deren wichtigste personelle Stütze nun in den Wahl­kampf zieht. Die Gefahren für den Plan sind also insbesondere politi­scher Natur. Gegenwind im Parlament würde der Plan nicht überleben. Die of­fene Unterstützung von Präsident Itamar Franco für Cardoso macht die Sache nicht einfacher: Die Regierung steht im Wahl­kampf und braucht gleichzeitig politische Unterstützung. Nun wird auch klar, warum die PSDB das Angebot der PFL kaum ablehnen kann: Ohne schlag­kräftige Unter­stützung aus dem rechten Lager hat der Wirtschaftsplan (und damit die Kandi­datur von Fernando Henrique Cardoso) wenig Chancen. Problema­tisch ist aller­dings für die PSDB, daß damit ihr “mo­dernes” Image erheblich angekratzt wird und ein Teil der Partei wohl diese Kehrt­wende nicht mit­macht. Immerhin, alle an­deren Kandi­daten haben große Chancen, über­haupt kein Risiko für Lula zu werden.

Nr. 2 und 3: Die Problemkinder

Die PMDB, hervorgegangen aus der MDB, der legalen und offiziösen Opposi­tionspartei zu Zeiten der Mili­tärdiktatur, ist nach wie vor die größte politische Par­tei Brasiliens. Aber aus einer Bewegung, die einst auch große Teile der linken Op­position vereinte, ist inzwischen ein kon­turloser Wahl­verein geworden, der aber noch in vielen Teilen des Landes die lo­kalen Eliten organisiert. Es ist nur na­türlich, daß die größte Partei Brasiliens einen eigenen Kandidaten präsentiert. Und sie hat einen Politiker, der mit aller Macht Kandidat der Partei sein will: Orestes Quercia, Ex-Gouverneur von Sao Paulo. Und Quercia ist das große Problem der PMDB. Er ist vielleicht der geschickteste Politiker Brasiliens, sicherlich aber einer der skrupellose­sten und korruptesten. Galt er nach seiner recht populären Amtszeit in Sao Paulo als absolutes Schwergewicht in der brasilianischen Politik, so machen ihm seit zwei Jahren nachträgliche Enthüllun­gen der Presse das Leben schwer. Insbe­sondere hängt ihm ein Waffengeschäft mit Israel nach, bei dem für hunderte von Millionen US-Dollar überteuerte Waffen für die Polizei von Sao Paulo gekauft wurden.
Aber Quercia ist zäh und beherrscht große Teile des Apparates der PMDB. Nur ist seine Kandidatur in Zeiten, in denen nach den traumatischen Erfah­rungen mit Collor Politiker gefragt sind, die nicht korrupt sind, äußerst verwundbar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die PMDB sich wieder einmal selbst im Wege steht: Der Machiavellist Quercia hat große Chancen, sich in der Partei durchzusetzen, aber nicht beim Wahl­volk. Außer­dem ist klar, daß eine Kandidatur Quercias die Partei spalten würde, da der “progressive” Flügel wohl eher FHC als Quercia unterstützen würde.
Dabei könnte gerade dieser Flügel der Partei den idealen “Anti-Lula” auf­bieten: Antonio Britto, der als Arbeitsminister der jetzigen Regierung einen ausgezeichneten Eindruck machte, liegt bei den meisten Umfra­gen schon auf Platz zwei hinter Lula. Viele halten eine Liste FHC/Britto für unschlagbar. Und Britto hätte den Vorteil, ungefähr das gleiche Image zu verkörpern wie FHC, ohne aber so stark von dem Erfolg des Planes ab­hängig zu sein. Einziger Haken: Er ist nicht Kandi­dat und hätte es wohl auch schwer, sich in der PMDB gegen Quercia durchzusetzen. Der schießt auch schon mit hartem Kali­ber ge­gen Britto, bezeichnet ihn als Gau­ner und ließ ermitteln, Britto sei als fünfzehnjähri­ger(!) wegen eines angebli­chen Dieb­stahls von der Schule geflogen. Britto selbst will anscheinend lieber Gouver­neur in einem Bundesstaat werden, als sich auf das Abenteuer Präsident­schaftswahlkampf einzulassen. Geriete aber FHC frühzeitig ins Schlingern, könnte er doch noch als Joker des “Mitte-Links Lagers” ins Ren­nen ge­schickt wer­den.
Ein anderer hingegen zweifelt nicht und ist Kandidat. Paulo Maluf, Bür­germeister von Sao Paulo und starker Mann der PPR, die aus der Partei der Militärs hervorge­gangen ist. Er reprä­sentiert den rechten Flügel des bürger­lichen Lagers und profi­liert sich durch einen lautstarken “law and order”-Dis­kurs. Er ist sicherlich die unerfreulich­ste Erscheinung im Wahl­kampf, und glücklicherweise reicht seine Populari­tät kaum über Sao Paulo hinaus. Aber wenn es ihm gelingt, die Wahlen mit Hilfe des Themas “Innere Sicherheit” zu polarisieren, könnten seine Wahlchancen doch noch steigen. Die Strategen im bür­gerlichen Lager befürchten allerdings, daß Maluf im zweiten Wahlgang die allerwe­nigsten Chancen gegen Lula hätte.

Die PT: Streits und Hetze

Es kann nicht verwundern, daß das bür­gerliche Lager mit schweren Ge­schützen auf Lula schießt. Ein Gewerkschafter, Ar­beiterführer und Chef einer Partei, die sich zum Sozia­lismus bekennt, als künfti­ger Präsident Brasiliens?! Nachdem eine Schmutz­kampagne gegen den der PT naheste­henden Gewerkschaftsverband CUT – ein Mord wegen persönlicher Aus­einandersetzungen sollte der PT in die Schuhe geschoben werden – nicht recht greifen wollte, schwenkt die Presse auf eine andere Linie ein. Lula, der als Super­star dargestellt wird (Luis Ignacio “Sinatra” da Silva), ist zwar po­litisch un­erfahren (kein administratives Amt bis­her), aber eigentlich ein guter Kerl. Böse hingegen sind die Radika­len in der PT, die “Schiiten”, welche die Partei beherrschen und Lula dominie­ren wollen. Die inner­parteilichen Aus­einandersetzungen, die es in der PT zweifelsohne gibt, werden von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet.
Dem hat die PT auch durch nutzlose Streitigkeiten Vorschub gelei­stet. Zuerst ging es um die Frage der Bündnisse, vor allem mit der PSDB. Der “rechte” Flügel der Partei wollte unbedingt schon im er­sten Wahlgang eine Allianz mit dem bür­gerlichen La­ger eingehen, die aber schon aus man­gelndem Interesse der anderen Seite gar nicht zur Debatte stand. Zum an­deren wollte die Parlamentsfraktion der PT unbedingt an der Verfassungsre­form mitwirken, die die Partei boykot­tiert. Re­sultat: ein endloses Gezerre zwischen Fraktion und Parteivorstand, ein gefun­denes Fressen für die Presse.
Die Hauptlinie aber zeichnet sich schon ab: Die PT soll als Partei eines archai­schen und gescheiterten Sozia­lismus er­scheinen, deren Machtergrei­fung ein Abenteuer wäre, das Brasilien auf jeden Fall erspart werden müßte. Und die PT reagiert da bisher eher negativ: Insbeson­dere Lula (“Lula 94”) versucht sich als se­riös und moderat zu verkaufen: Die Suche nach der Mehr­hit bestimmt die Politik.

Auf der Suche nach den verlorenen Inhalten

Bisher war mehr von Image- und Design­fragen die Rede als von Inhal­ten. Nicht ohne Grund. Tatsächlich sind inhaltliche Differenzen im bürger­lichen Lager in den großen Fragen kaum noch auszumachen. Der Präsi­dent der PFL, Jorge Bornhausen (Ex-Minister unter den Militärs und Col­lor) beschreibt die programmatischen Grundlagen seiner Partei folgender­maßen: “Wir wollen die Verkleinerung des Staa­tes. Wir wollen die Privatisie­rung. Wir wollen einen modernen Staat, in dem der Bürger respektiert wird, und der sich um Erziehung, Ge­sundheit und Sicherheit kümmert.” Hinter diesem Mainstream­motto steht wohl das gesamte bür­gerliche Lager. Die relativ beliebi­gen Bündnisse zeigen schon die fehlenden inhaltlichen Konturen. Zerstritten bleibt das bürgerli­che Lager, aber dabei geht es eben darum, Macht und Einfluß zu sichern, und nicht um gesellschaftliche Grundkon­zepte.
Aus diesem Schema bricht – trotz al­lem – die PT deutlich heraus. Sie be­müht sich um eine breite programma­tische Diskus­sion innerhalb der Partei und sucht ernst­haft nach ein Konzept für linke Politik heute in Brasilien. Sie hat deshalb mehr verdient als süffisante Randbemerkungen. Zum 1. Mai wird auf einem Parteitag der PT das Regie­rungsprogramm des Kandi­daten Lula diskutiert und verabschiedet werden.

Sleeping with the enemy?

Im November 1993 lud die PT zu ei­nem “Nationalen Seminar” ein, um das Pro­gramm einer Regierung Lula zu diskutie­ren. Ein Thema lautete “Die Streitkräfte in den neunziger Jahren”. Am Tisch saßen zwei Militärs von der ESG (Escola Su­perior de Guerra), dem “think-tank” der Streitkräfte, ein Ex-Militär, der nun an der angesehenen Universität von Campinas Vordenker für strategische Fragen ist (Geraldo Cavagnari) und Marco Aurelio Garcia, verantwortlich in der PT für Interna­tionales.

Nationalismus = Antiimperialismus?

Die Thesen der Militärs, dem staunenden PT-Publikum vorgetragen, lassen sich stichwortartig folgender­maßen zusam­menfassen:
* Der konstituierende Grund für die Exi­stenz von Streitkräften ist die Bedro­hung durch einen äußeren Feind.
* Die Gewährleistung “Innerer Sicher­heit” ist Aufgabe anderer (bewaffneter) Seg­mente des Staatsapparates, vor al­lem der Polizei. Die Streitkräfte kön­nen diese höchstens unterstützen. Gäbe es keinen äußeren Feind, wären die Streit­kräfte letztendlich überflüssig.
* Ist Brasilien aber durch einen äußeren Feind bedroht? Die klare Ant­wort lau­tet: Ja. Und wer ist es? Die An­maßung der reichen Länder, überall zu inter­venieren, stellt eine Bedrohung für Bra­silien dar. Der “pax boreal”, der nörd­liche Friede, ist eine Gefahr für die Ent­wicklung im Süden.
* Ist diese Gefahr aber für Brasilien real? Auch hier lautet die Antwort “ja” und die angeblich bedrohte Souverä­nität Amazo­niens muß als Illustration her­halten.
* Um ein nationales Projekt gegen den “borealen Frieden” entwickeln zu kön­nen, brauchen die Streitkräfte natürlich zum Beispiel atomgetrie­bene U-Boote und vor allem Geld…
Cavagnari setzte noch einen drauf: “Das Projekt ‘Brasilien – große Na­tion’ der Miltärs war ein Schwindel. Eine große Nation erbaut man nicht über Deklaratio­nen und nationalisti­sche Propaganda, son­dern über eine Vereinigung des Volkes, die auf Gleichheit und sozialer Gerechtig­keit beruht.” Lula als Führer von “Brasil- grande nacao” mit antiimperalistischer Ausrichtung – ist das kein Lockange­bot? Die anwesenden PTlerInnen je­denfalls waren sichtlich beeindruckt.

Editorial Ausgabe 238 – April 1994

Auf dem Redaktionstisch liegen sie re­gelmäßig: die Aufrufe und “Urgent Acti­ons” in Sachen Menschenrechtsverletzun­gen von politischen Aktionsgruppen aller Art. “A wurde verhaftet, B ist verschwun­den, bitte richten Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von …” – eine Fülle von Einzelschicksalen verlangt nach Öffentlichkeit. Sofort veröffentlichen? Der Zuspruch in der Redaktion hält sich in Grenzen, verdichten sich die vielen Ein­zelfälle doch immer wieder zur Kernaus­sage “es ist alles weiterhin so schlimm wie schon seit Jahren”. Und mit der Schlag­zeile “Nichts Neues” ist nun einmal keine Leserin zum Weiterlesen zu bewegen.
Ob­wohl die Fälle mit Namensnennung, Schilderung der persönlichen Geschichte des Betroffenen und mit konkreter Hand­lungsanweisung geliefert werden, bleiben sie merkwürdig anonym. Die Texte wirken oft, als seien gegenüber früheren Aufrufen nur das Land und der Name des Betroffe­nen geändert worden. Der Telegrammstil der Schilderungen läßt die Schicksale austauschbar erscheinen.
Nur wenige Fälle von Menschenrechts­verletzungen werden zum nachrichtenre­levanten Thema. So zum Beispiel in Fällen spektakulärer Grausamkeit: Ein Massaker mit 50 Toten in zehn Minuten ist eine Nachricht, 50 tote Straßenkinder im Ver­lauf mehrerer Monate bleiben im Hinter­grund. Oder ein Menschenrechtsfall führt zu politischen Konsequenzen wie jüngst in Peru. Die verkohlten Leichen eines Pro­fessors und von neun StudentInnen der Universität “La Cantuta” werden gefun­den; die Morde wurden offensichtlich 1992 von Militärs begangen. Spektakulär daran war nicht die Tatsache der Morde, sondern die Art und Weise, wie Präsident Fujimori den Fall der Militärgerichtsbar­keit zuschob und damit den Rücktritt sei­nes Premierministers provozierte.
Aufschlußreicher wird es, wenn Men­schenrechtsverletzungen zu gesellschaftli­chen Entwicklungen in Bezug gesetzt wer­den können. In Lateinamerika haben sich Art, Häufigkeit und Zielgruppe von Men­schenrechtsverletzungen verändert. Wa­ren es in den achtziger Jahren noch die politischen GegnerInnen der Diktaturen, die zu Opfern wurden, nimmt beispiels­weise Brasilien heute eine traurige Spitzenposi­tion bei Menschenrechtsverlet­zungen neuen Typs ein: “soziale Säube­rungen”, das Ausmerzen derer, deren Exi­stenz die Wohlhabenden stört: Straßen­kinder, Ob­dachlose etc..
Amnesty International hat am 15. März eine weltweite Kampagne gegen Men­schenrechtsverletzungen in Kolumbien eingeleitet. Eine Mappe mit Einzelfallbe­schreibungen gehört zu den Unterlagen, vor allem aber umfangreiches Material über die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Sollte Amnesty es im Rahmen einer solchen Kampagne schaffen, gesellschaftliche Zusammen­hänge in bezug auf Menschenrechtsverlet­zungen auch in der täglichen Kleinarbeit zum Thema zu machen? Die Kampagne könnte zu einem Beispiel werden, wie mit dem Thema der individuellen Menschen­rechte jenseits von endlosen Einzelfall­Listen und von Sensationssuche umgegan­gen werden kann.
Vielleicht bliebe dann auch noch die Zeit, ein paar Briefe zum einen oder anderen Einzelfall abzuschicken. Auch wenn nicht gleich die ganze Welt rettet, wer einen Menschen rettet, wie Oskar Schindler (der mit der Liste) mit auf den Weg gegeben wird, bleibt doch der eine Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.

Editorial Ausgabe 237 – März 1994

Kaum will der Regierende Bürgermeister einmal seine rhetorischen Fähigkeiten und seinen politischen Überblick unter Beweis stellen, geht es auch schon in die Hose. Neben einem besoffenen Innenminister schwang sich Eberhard Diepgen anläßlich der Eröffnung der 44. Berliner Filmfestspiele dazu auf, dem erstaunten Publikum zu verkünden: “Der Film ist keine Banane!” Vordergründig betrachtet eine triviale Aussage. Eigentlich wäre daran nichts als pure Unsinnigkeit auszusetzen, hätte der Regierende sie nicht gezielt auf die soeben abgeschlossenen GATT-Verhandlungen über den internationalen Handel bezogen. Ein Irrtum, wie auf der diesjährigen Berlinale deutlich wurde.
Die Filmfestspiele bieten Jahr für Jahr dem interessierten Publikum eine einzigartige Gelegenheit, Filme aus allen Teilen dieser Welt zu sehen. Die internationale Journaille scheint allerdings weniger an den dramaturgischen oder ästhetischen Vorstellungen der RegisseurInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika interessiert zu sein, ihre Fragen zielen teilweise penetrant auf die ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Während Hollywood für jeden Streifen etliche Millionen Dollar ausgeben kann, sind die Filmproduktionen aus den armen Ländern durch ständige Geldknappheit gekennzeichnet. Umso beachtlicher das Niveau beispielsweise der Filmemacher aus Kuba, die aufgrund der Wirtschaftskrise jährlich nur drei oder vier Filme drehen können und für ihr hervorragendes Werk “Erdbeer und Schokolade” einen Silbernen Bären bekamen. Gerade dieser Film zeigt jedoch gleichzeitig die Abhängigkeit des lateinamerikanischen Films von GeldgeberInnen in den reichen Ländern dieser Welt. Erst ein Preis im Umfang von 100.000 $, vergeben vom spanischen Fernsehen, machte die Dreharbeiten möglich. Da im vergangenen Jahr auf der Karibikinsel wegen des Ersatzteilmangels kein Filmlabor funktionierte, mußte die technische Fertigstellung in Mexiko erfolgen, wofür die Mexikaner nun mitkassieren wollen.
Ähnlich erging es dem brasilianischen Regisseur Nelson Pereira dos Santos mit seinem Wettbewerbsbeitrag “A terceira margem do rio” (Das dritte Ufer des Flusses). Der Film konnte nur mit finanzieller Unterstützung des französischen Fernsehens realisiert werden. Die Kosten für den kolumbianischen Film “La Estrategia del Caracol” (Die Strategie der Schnecke) brachten im wesentlichen in- und ausländische Nicht-Regierungsorganisationen auf. Ohne diese Art von “Ent-wicklungshilfe” sähe es ganz anders aus.
Auf der anderen Seite überbieten sich die sog. Dritte-Welt-Länder mit günstigen Bedingungen für ausländische Filmproduktionen. So wurde der Film “Tirano Banderas” (Tyrann Banderas) des spanischen Regisseurs José Luis García Sánchez überwiegend in Kuba gedreht. Als Bühnenbild dient die malerische Altstadt von Havanna, produziert wurde der Film überwiegend mit kubanischem Personal – was die Kosten erheblich senken dürfte. Doch der Preis für derartige Deviseneinnahmen ist nicht ohne: Tagelang zogen hunderte von Komparsen durch Alt-Havanna und skandierten “¡Abajo el tirano!” (Nieder mit dem Tyrannen!). Die Obrigkeit ließ sie ohne Probleme gewähren.
Der brasilianische Regisseur Pereira dos Santos nutzte die Pressekonferenz im Anschluß an die Vorführung seines Wettbewerbsfilms, die Standortvorteile seines Heimatlandes hervorzuheben: In Brasilien, das seine eigenen cineastischen Kapazitäten derzeit gar nicht ausnutzt, könnten Filme etwa um ein Drittel billiger produziert werden als anderswo. Und spätestens da wurde klar, daß die Banane und der Film doch wesentlich mehr miteinander zu tun haben, als uns Herr Diepgen glauben machen wollte.

Brasilien 1994 oder die alte Unübersichtlichkeit

1993: Die Katastrophe

Je nach politischem Standort oder Temperament kann eine völlig unterschiedliche Bilanz des Jahres gezogen werden. Die Regierung Itamar Franco hat jedenfalls bei dem Ziel Inflationsbekämfung – und das heißt eben auch gesamtwirtschaftliche Stabilisierung – völlig versagt. 2567,46% betrug die Inflation im letzten Jahr nach dem meist verbreiteten Index, dem IGP-M der Stiftung Getulio Vargas. Es ist damit die höchste Inflationsrate seit deren statistischer Erfassung, das heißt seit 1829. Es ist auch eine der höchsten der Welt im Jahre 1993, weit über der Rate in lateinamerikanischen Ländern, ebenso wie etwa in Rußland (590%) oder Kroatien (1027%). Lediglich Restjugoslawien steht mit 30.000% erheblich schlechter da.
Die hohe Inflation ist seit etwa 1985 das makroökonomische Problem Brasiliens, und eine ganze Serie von gescheiterten Plänen hat es nicht gelöst. Nach einer Welle heterodoxer Schocks war nun seit 1992 Orthodoxie angesagt. Die wechselnden Regierungen (von Collor zu Itamar) und Wirtschaftsminister verkündeten unisono, daß nur über eine Eliminierung des Haushaltsdefizits die Voraussetzungen für eine nachhaltige Inflationsbekämpfung geschaffen werden könnten. Die Grundformel lautet also: Solide Haushalts-(sprich: Spar-)politik und Vertrauen in die Berechenbarkeit der Regierung (also keine über Nacht verhängten Preisstopps) schaffen ein Klima für eine graduelle Senkung der Inflationsrate. Der jetzige Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso – FHC, in den siebziger Jahren bekannt als linker Theoretiker und Verfechter der Dependenztheorie – verfolgt nun konsequent den orthodoxen Gradualismus. Ergebnis: die höchste Inflationsrate der Geschichte trotz praktischer Eliminierung des Haushaltsdefizits. Die brasilianische Inflation ist jedenfalls eine harte Nuß für alle traditionellen Wirtschaftstheorien. Die klassischen Inflationstheorien hatten eins nicht vorhergesehen: daß nicht zuletzt dank modernster Computertechnik die Wirtschaft auch eine Inflation von 40% ganz gut managen kann, und daß es wichtige Inflationsgewinner gibt (den Finanzsektor), daß es also trotz eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der eine solche Inflation für untragbar hält, wirksame Widerstände gegen die Erbringung von “Opfern” zu ihrer Überwindung gibt. Dazu gehört jetzt sogar die untere Mittelschicht, die plötzlich mit einem simplen Sparbuch unglaubliche Gewinne erzielen kann. Das heißt, Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft haben sehr gut gelernt, mit der Inflation zu leben oder gar von ihr zu profitieren.

Auf dem Weg zur Dollarisierung?

Was will nun Fernando Henrique Cardoso (FHC) angesichts dieser dramatischen Situation tun? Ohne unmittelbaren Erfolg hat der Wirtschaftsminister Ende letzten Jahres seinen “Plan FHC” lanciert. Der sieht eben an erster Stelle die Eliminierung des Haushaltsdefizits vor. Der neue Haushalt enthält folglich wichtige Kürzungen (vor allem im sozialen Bereich). Dennoch wird er gegenüber 1993 an Umfang zunehmen, in erster Linie wegen der Kosten der internen und externen Verschuldung. Also tritt nun die im letzten Jahr von der Justiz kassierte Steuer auf finanzielle Transaktionen (auf jede Überweisung oder Abhebung vom Bankkonto wird eine Steuer von 0,25% des Betrages erhoben) in Kraft und einige wichtige Steuern werden um 5% erhöht – eine Maßnahme, die zu erbittertem Widerstand von Seiten der Industrie geführt hat. Die Steuererhöhungen müssen noch vom Parlament bewilligt werden, danach kommt die zweite und entscheidende Phase des “Plan FHC”. Wenn die Regierung ihren Zeitplan durchhalten kann (bei Redaktionsschluß fehlte noch die Zustimmung des Senates), wird am 1.März ein neuer einheitlicher Index (URV) geschaffen, der sich nach der Entwicklung des Wechselkurses des Dollars richtet. Dieser Index soll alle anderen Anpassungsmechanismen ersetzen und nach und nach freiwillig von der Wirtschaft angewendet werden, etwa auch für die Festsetzung der Löhne. Praktisch soll dies folgendermaßen funktionieren: Zur Einführung des URV ist dieser zum Beispiel 500 Cruzeiros wert, der Preis für ein Bier. Einen Monat später würde (bei einer Inflation von 40%) das Bier zwar 700 Cruzeiros kosten, aber immer noch etwa 1 URV. So sollen die BrasilianerInnen wieder an stabile Preise gewöhnt werden. Der Cruzeiro wäre bald nur noch eine Kleingeldwährung, während alle größeren Transaktionen und die Festsetzung von Mieten und Preisen in URV liefe.
Der Markt hat auf die Ankündigung des Planes mit Unsicherheit reagiert, wie das Ansteigen der Inflationsrate im Januar zeigt. Niemand weiß genau, wie die Anwendung des URV im einzelnen funktionieren wird und ob die Regierung nicht versucht sein wird, den URV zu weitgehenden Preiseinfrierungen zu nutzen und die Variation des Wechselkurses unter der Inflationsrate festzusetzen, um so die Inflation nach unten zu indexieren – mit entsprechenden Auswirkungen für die Exportwirtschaft. Die Zweifel am “Plan FHC” sind aber auch politisch motiviert. Itamar Franco hat sich bisher als eher schwacher und unberechenbarer Präsident erwiesen und FHC verheimlicht seit dem 12. Januar nicht mehr seine Ambitionen auf das Präsidentenamt. Wenn er wirklich kandidieren will, müßte er bald die Regierung verlassen. Zweifel werden auch angemeldet, ob der URV nicht im juristischen Gestrüpp verenden wird.

1993: der Boom

Auf der Seite der Inflationsbekämpfung bleiben also bisher eine negative Bilanz und ungewisse Aussichten. Dennoch kann Brasilien Erfolge vorweisen. Nach drei Jahren Rezession (1990 und 1991) und Stagnation (1992) ist das Bruttoinlandsprodukt 1993 wieder kräftig gewachsen: 4,5%. Und angesichts des Wachstums der Industrie um 8,5% sieht mancheR Brasilien schon in die Reihe der ostasiatischen Tiger vorrücken (Die Zahlen sind noch nicht endgültig, sondern Projektionen des Regierungsinstituts IPEA aufgrund der Daten bis November 1993). Beispielhaft für die Erfolge ist die Autoindustrie: Sie wuchs 1993 um 29,5% und erreichte mit der Produktion von 1.390.000 Fahrzeugen einen neuen Rekord. Diese Zahlen sind besonders beeindruckend, da sie in einer Phase des weltweiten Einbruchs der Automobilindustrie und trotz Rückgangs der Exporte (- 3,3%) und Steigerung der Importe (+ 125%, was aber nur etwas über 100000 Fahrzeugen entspricht) erzielt wurden. Die Entwicklung dieses Sektors wird nun von vielen als ein Beispiel für eine gelungene Alternative zu neoliberalen Strategien gesehen. Brasilien hatte einen gegen Importe abgeschotteten Binnenmarkt. Statt brutaler Marktöffnung werden die Steuern auf Importe allmählich gesenkt, was den Konkurrenz- und Modernisierungsdruck auf die Industrie erhöht, ihr aber Zeit gibt für Anpassungen. Gleichzeitig kam es 1992 zu einem Sektorabkommen zwischen Industrie und Gewerkschaften, bei dem Beschäftigung und Lohnsteigerungen garantiert sowie von der Regierung Steuererleichterungen gewährt wurden. Die brasilianische Autoindustrie (das heißt natürlich: die Multis, die in Brasilien produzieren) versprühen jedenfalls Optimismus und sehen ein weiteres Wachstum um 10% für dieses Jahr vor.
Durchweg Positives auch bei der Handelsbilanz. 1993 hatte Brasilien für 38,8 Milliarden US$ exportiert, was einen Außenhandelsüberschuß von etwa 13 Milliarden Dollar bedeutet. Das Ergebnis ist um so bemerkenswerter, als die Importe (wenn auch langsam) ansteigen. 75% der Exporterlöse werden durch Verkauf von Industrieprodukten erzielt (Zahlen nach Jornal do Brasil, 21.12.93).
Die Situation Brasiliens ist also überaus widersprüchlich. Insbesondere das Wachstum der Industrie und der Exporte industrieller Produkte lassen Brasilien zumindest für 1993 im Vergleich zu neoliberalen “Erfolgen” wie Argentinien und Mexico überaus gut dastehen. Und diese Erfolge wurden eben gerade ohne drastische makroökonomische Strukturanpassung erzielt. Dennoch kann auch in Brasilien der Preis dieser Erfolge nicht übersehen werden. Das Wachstum in der Industrie vollzog sich ohne nennenswerte Effekte für die Beschäftigung. Trotz Wachstum ging die Arbeitslosenquote nur gering zurück und in der Industrie sank die Zahl der Beschäftigten 1993 gar um 5% gegenüber 1992 (Nach Jornal do Brasil vom 1.2.1994; Zahlen bis September 1993). Das heißt auch, Brasilien lernt nun das Symptom Wachstum ohne Beschäftigung kennen, zumindest in den fortgeschrittensten Bereichen der Produktion. Wichtige Sektoren haben die Krise 1990 bis 1992 dazu genutzt, ihre Belegschaften zu reduzieren. Die Erfolge in der Automobilindustrie wurden ohne Neueinstellungen realsiert, lediglich mit Produktivitätssteigerungen und Überstunden. Die positiven Beschäftigungsentwicklungen vollzogen sich praktisch ausschließlich im informellen Sektor oder im Handel und in den Randbereichen der Industrie, also dort, wo Löhne und Sozialleistungen geringer sind.
Auch ist die Regierung offensichtlich bereit, viele Grundforderungen einer neoliberalen Strukturanpassung zu erfüllen: Haushaltsdisziplin steht im Vordergund, auch auf Kosten der Sozialausgaben. Die Politik der Privatisierung wird fortgesetzt, auch wenn ihre Ausdehnug auf die Ölgesellschaft Petrobras und die Telekommunikation nach wie vor umstritten ist und wohl von dieser Regierung nicht mehr in Angriff genommen werden kann. Und die hohe Inflation trifft am härtesten die, die sich am wenigsten dagegen schützen können: 2/3 der Bevölkerung, die kein Bankkonto haben und ausschließlich von ihren Löhnen und Einkommen leben. Die Inflation ist eine tägliche Umverteilung von unten nach oben. So kann es auch nicht verwundern, daß die fabelhaften Wachstumsraten von der Mehrheit der Bevölkerung kaum wahrgenommen werden: Nach Umfragen zu Jahresbeginn schätzen 84 % der Bevölkerung die Lage des Landes als schlecht oder sehr schlecht ein, während nur 2% sie für gut erachten. Und die Aussichten für 1994 sind kaum besser.

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