Den deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen!

Zwischen 500.000 und einer Million Unterschriften wollen das brasilianische Anti-Atom-Netzwerk REDE und GREENPEACE noch vor Ende des Jahres dem brasilianischen Präsidenten Itamar Franco übergeben und damit den Weiterbau des nur 150 Kilometer von Rio de Janeiro gelegenen Atomkraftwerks Angra dos Reis 2 verhindern. Gleichzeitig wird der Präsident aufgefordert, den 1975 von der Alt-BRD mit der brasilianischen Militärdiktatur ausgehandelten deutsch-brasilianischen Atomvertrag endgültig aufzukündigen. Dieses Abkommen hatte ursprünglich den Bau von 8 (tatsächlich: acht!) Atomkraftwerken durch KWU/Siemens vorgesehen, inklusive Technologie zur Urananreicherung, finanziert durch deutsche Banken und gesichert durch Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung. Da der geschlossene Brennstoffkreislauf im Rahmen eines “zivilen” Atomprogramms nicht offen machbar war, hat die brasilianische Marine damals das sogenannte “Parallelprogramm” zum Bombenbau gestartet -und bis heute weiterbetrieben.

Ein Toter ohne Totenschein

Weniger erfolgreich hingegen waren die sogenannten “friedlichen” Atomiker: Angra 2 ist seit fast zehn Jahren stillgelegt, es fehlt(e) das Geld für den Weiterbau. Von Angra 3 zeugt nur ein großes Loch; Itamar Franco verordnete im Dezember 1992 die endgültige Einstellung aller weiteren Arbeiten. Lediglich das von Kanada gebaute erste und einzige brasilianische Atomkraftwerk Angra 1 (in Brasilien besser bekannt unter dem Namen “Glühwürmchen”) erzeugte bisher überhaupt Strom. Doch wegen technischer Probleme (erhöhte Radioaktivität im Primärkreislauf) und Wartungsarbeiten ist der Reaktor seit Anfang März fast durchgehend abgeschaltet. Im September des vorigen Jahres nun besuchte eine brasilianische Delegation unter Leitung des Energieministers Marcus Vinicius Pratini de Moraes die Bundesrepublik, um mit Siemens, dem Bundeswirtschaftsministerium und den deutschen Banken die Modalitäten für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Atomkraftwerk Angra 2 auszuhandeln. Immerhin sind fast alle Teile des Reaktors seit Jahren geliefert und lagern zu hohen Kosten in Brasilien. Das zu 65% fertiggestellte 1300-Megawatt-AKW sollte laut Siemens bis zum Jahr 1997 betriebsbereit sein. Allerdings ist seitdem so gut wie nichts geschehen und in Brasilien wird weiter um die Finanzierung gestritten. Folgerichtig erklärte GREENPEACE den deutsch-brasilianischen Atomvertrag zum “Toten ohne Totenschein”.

“Es gibt tausend gute Gründe …’

Größter Verbündeter der brasilianischen Anti-AKW-Gruppen ist in der Tat die mittlerweile chronische Finanzmisere des Staates; ein um’s andere Mal kürzte sie den Umfang des Atomprogramms und verzögerte die verbliebenen Bautermine bis heute erfolgreich (siehe Kasten).
Der Bau von Angra 1 hat 3,5 Milliarden Dollar gekostet. Für Angra 2 wurden bisher 4,5 Milliarden ausgegeben, weitere 1/37 Milliarden werden für dessen Fertigstellung veranschlagt -Tendenz steigend. Mit den noch ausstehenden Beträgen könnte mensch nicht nur 2000 Schulen oder 250.000 einfache Wohnhäuser bauen, sondern ein landesweites Alternativ-Energie-Programm initiieren, das sämtliche weiteren Atompläne überflüssig machen würde. Von unabhängigen Energie-Experten wurde bereits vorgeschlagen, das AKW Angra 2 in ein konventionelles Gas-Kraftwerk umzubauen, wie das in einem ähnlichen Fall bereits in den USA geschehen sei.
“17 Jahre nach seiner Unterzeichnung besteht der “Erfolg” des Atomvertrags in mehreren Milliarden unnütz ausgegebener Dollars, keinem Kilowatt produzierter Energie, mehreren Bauruinen und einer enormen Erhöhung der brasilianischen Auslandsschulden, die die aktuelle ökonomische und soziale Krise noch um einiges verschärfen”, faßt GREENPEACE Brasilien das finanzielle Debakel des Atomprogramms zusammen.
Doch die Umweltorganisation führt noch eine ganze Reihe weiterer Argumente für einen endgültigen Baustopp von Angra 2 und das Ende des deutsch-brasilianischen Atomvertrags ins Feld:
-Der Weiterbau von Angra 2 ist illegal, da die gesetzlich notwendige Zustimmung des Kongresses fehlt; außerdem existiert bis heute keine Umweltverträglichkeitsprüfung für das Atomkraftwerk.
-Atomkraftwerke stellen untragbare Risiken dar, zumal in Angra dos Reis nicht einmal ein richtiger Notfallplan existiert. Auch ist Angra 2 nicht gegen Flugzeugabstürze ausgelegt, “aufgrund der natürlich geschützten Lage von Angra 2 in einer engen Bucht” (!?!), wie Siemens schreibt (Standpunkt, September 1992).
-Fast jede andere Energie ist in Brasilien billiger als Atomstrom; Stillegung und Abbruch der Atomkraftwerke dabei noch nicht eingerechnet.
-Auf die Frage der Endlagerung der radioaktiven Stoffe gibt es nicht einmal provisorische Antworten.
-Die militärische Nutzung der Atomkraft ist zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen; das geheime militärische Parallelprogramm existiert von anfang an und wird weiterhin fortgeführt.
-Die Atomkraft stellt für Brasilien ein unpassendes technologisches Modell dar. Bei der Größe des Landes muß jegliche Energiepolitik dezentral ansetzen und sich auf die Charakteristiken und Potentiale der jeweiligen Region stützen.
Dies dürften mehr als genug gute Gründe sein, auch hierzulande für die Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags aktiv zu werden.

Weitere Anti-Atom-Aktivitäten

* Vom 18.-22. Oktober 1993 findet in Rio de Janeiro der VI. Brasilianische Energie- kongress statt. Auf diesem alle drei Jahre von der dortigen Bundesuniversität organisierten Treffen gibt es neben einer Reihe von Workshops zu Energie-Alter- nativen auch eine Arbeitsgruppe zur Atomenergie.
Nähere Informationen über: Emilio Lebre la Rovere, Instituto de Ecologia e Desenvolvimento, Tel.: +55-21-2709995, Fax: +55-21-2906626
* Vom 3.-10. April 1994 wird in Brasilia das IV.Lateinamerikanische Anti-Atom- Treffen (ELAN) stattfinden. War es auf dem ersten Treffen 1988 in Mar del Plata (Argentinien) noch darum gegangen, die verschiedenen Anti-Atom-Gruppen aus Lateinamerika zusammenzubringen, soll 1994 in Brasilien ein gemeinsames Handlungs-und Strategieprogramm erarbeitet werden. Auf dem das Treffen begleitenden Lateinamerikanischen Alternativenergie-Markt (FLEA) sollen neue Produkte und Technologien vorgestellt und für ihre Verbreitung in der Gesellschaft geworben werden.
Organisation und weitere Information über: Secretaria Executiva: ABRASCA DF; SCLN 714/715, Bloco H, Loja 27, CEP 70760-780
Tel: 061-3490353, Brasilia-DF, Brasilien

Das Morden geht weiter

LN: Im Zusammenhang mit dem Mord an den Kindern vor der Candelária sind neue Zahlen veröffentlicht worden. Wenn auch die Statistiken voneinander abweichen, so deutet doch alles auf ein Ansteigen der Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche im Staate Rio hin. Wie ist diese Tendenz zu erklären?
Barros: Schon seit einiger Zeit erscheint es uns, daß die Regierung die Kontrolle über die Todeskommandos verloren hat. Die Zunahme der Zahl der gewaltsamen Tode von Kindern und Jugendlichen ist offensichtlich, auch wenn die Regierung immer wieder unsere Angaben bezweifelt. Die Regierung hat systematisch andere Informationen verbreitet, um vorzutäuschen, die Situation sei unter Kontrolle. Ich spreche hier von der Regierung des Bundesstates Rio, die Bundesregierung hat noch viel weniger unternommen. Die politische Verantwortung liegt bei den Landesregierungen, sie sind für die Polizei verantwortlich. Mit großen Worten ist die Landesregierung von Rio schon seit einiger Zeit für den Kampf gegen die Morde an den Kindern eingetreten. Der Gouverneur, Leonel Brizola, erhebt in der Öffentlichkeit die gleichen Anklagen wie wir, die Nichtregierungsorganisationen (NROs). Statt tatsächlich effektiv etwas zu unternehmen, tritt er vor die Presse und beklagt die Situation. Wir glauben, daß auch internationale Anklagen nicht ausreichen, die Polizei müßte vielmehr die Mörder tatsächlich ergreifen. Uns scheint, daß die Regierung keine politische Kraft hat, um die Beschuldigten zu verhaften. Die entscheidende Erklärung dafür, warum die Regierung diese Kraft nicht hat, liegt wohl in der Verwicklung der Polizei selbst in die Morde. Es gibt offensichtlich eine hohe Beteiligung insbesondere der Miltärpolizei an den Morden. Und statt die Gesellschaft über diese Situation konkret zu informieren und Unterstützung zu erlangen, hat die Regierung Desinformation betrieben und vorgetäuscht, die Lage sei unter Kontrolle.
Eine Umfrage der Zeitung “O Globo” unter Miltärpolizisten ermittelte, daß 25 Prozent der befragten Polizisten zugeben, Kontakt mit Todesschwadronen gehabt zu haben. Das entspricht einer Zahl von 8.000, es gibt in Rio insgesamt etwa 30.000 Militärpolizisten. Auch die Zivilpolizei (policia civil) ist beteiligt, nach den bekanntgewordenen Fällen allerdings in geringerem Maße. Aber darüber hinaus gibt es ja noch die privaten Wachdienste, 70.000 sind in unserem Bundesstaat offiziell beschäftigt. Hier existiert noch weniger Kontrolle – ganz zu schweigen von den illegalen Wachdiensten. Wenn wir hier eine ähnliche Rate wie bei der Militärpolizei ansetzen, in Wirklichkeit wird sie eher höher sein, dann haben wir ein richtiges Heer, das völlig außer Kontrolle ist. Nach einer Studie, die wir gemacht haben, gehen wir davon aus, daß nicht weniger als 20.000 Personen zu Todesschwadronen gehören. Diese Todesschwadrone stehen nicht isoliert da, sie verbinden sich mit dem Drogenhandel, dem Waffenhandel, dem illegalen Glücksspiel. 40.000 Polizisten gibt es insgesamt im Bundesstaat. Da ist eine Kontrolle nicht mehr möglich, zumal wenn man bedenkt, daß die Drogenbosse viel besser bewaffnet sind als die Polizei. Dieser Krieg ist verloren. Aber die Regierung gibt das nicht zu, sie kann nicht öffentlich eingestehen, daß sie de facto die Macht verloren hat.
Auch die Justiz erweist sich als machtlos. Viele Prozesse werden durch die Polizei schlecht vorbereitet, und das geschieht mit Absicht. Verurteilungen hängen in der Regel von Identifizierungen durch Augenzeugen ab; dies ohne Schutz zu machen, bedeutet, sich den Todesschwadronen auszuliefern. Die ZeugInnen verschwinden also, und die Angeklagten werden freigesprochen. Die faktische Straffreiheit ist der Hintergund für das Massaker an den Straßenkindern. Die Mörder wollen zeigen, daß sie die Herren im Zentrum Rios sind.

In der veröffentlichten Meinung Brasiliens war natürlich die Verurteilung des Massakers einhellig. In der Bevölkerung lassen sich aber durchaus andere Reaktionen beobachten, viele halten die Todesschwadronen für eine effektive Antwort auf die Kriminalität. Das ist eine Frage, die die Gesellschaft spaltet. Darum gab es nach dem Massaker kaum Proteste, die Kundgebungen waren schwach besucht. Auch die Tatsache, daß die ermordeten Kinder Schwarze sind, scheinen die Schwarzen in Rio nicht als Angriff auf sich zu betrachten. Von Protesten á la Los Angeles ist hier nichts zu erkennen.
Ja, das ist eine schwierige Frage, wir denken darüber auch nach und wollen das noch besser untersuchen. Zunächst gilt es zu bedenken, daß tatsächlich ein Teil der Bevölkerung solche Morde unterstützt, und dieser Teil ist nicht klein. Wir haben zum Beispiel die Leserbriefe von Zeitungen untersucht, und da zeigt sich, daß ein Teil der Mittelschicht – denn nur die liest Zeitungen – ein taktisches Bündnis mit den Todesschwadronen geschlossen hat. Sie stehen ihnen die Verantwortung für die Sicherheit einer bestimmten Gegend zu. Aber auch die marginalisierte Bevölkerung sieht die Straßenkinder mit den Augen der herrschenden Klassen: als Bedrohung, als verloren, als zukünftige Banditen. Das geht soweit, daß die Eltern von ermordeten Kindern sagen: “Ich habe es ihm immer gesagt. Ein solches Leben führt zu nichts.” Sie akzeptieren die Morde, weil das Kind den “falschen Weg” gewählt hat. Die Dichotomie zwischen Gut und Böse ist in unserer Gesellschaft tief verankert, und viele rechnen die Kinder zur Seite des Bösen. Ich würde sagen, daß etwa 50 Prozent der Bevölkerung die Todesschwadronen unterstützt, von denen, die dagegen sind, haben viele lediglich karitative Gründe. Nur eine kleine Minderheit sieht die politische Dimension und tritt für die Rechte der Kinder ein. Zum anderen ist die Schwarzenbewegung in Brasilien schwach und zersplittert. In der Bevölkerung entsteht kein Bewußtsein, daß ein solches Massaker ein Anschlag auf die schwarze Bevölkerung ist. Hier müssen wir politisch noch viel weiterkommen.

Nach der ersten Empörungswelle gab es einen auffallenden Umschwung in der Presse. Plötzlich gerieten die NROs ins Schußfeld. Nicht mehr die Polizei wurde beschuldigt, sondern die Gruppen, die mit den Kindern arbeiten. Statt den Kindern zu helfen, hätten sie in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nicht die Verquickung der Polizei mit den Todesschwadronen stand im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Effizienz der Arbeit der NROs.
Diese Beschuldigungen gehen vor allem von dem Richter Liborni Siqueira aus. Dieser hat selbst eine Organisation, die Straßenkinder betreut. Er hält nun seine Linie für die einzig richtige: die Kinder frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber wir haben festgestellt, daß die schlechtbezahlte Kinderarbeit nur die Armut reproduziert und den Kindern keine Perspektive eröffnet. Dieser Richter beschuldigt nun alle Organisationen, die nicht seiner ideologischen Linie folgen, die Kinder nur auszunützen. So behauptet er, daß Organisationen, die mit den Kinder auf der Straße arbeiten, statt sie einzusammeln, das Verbleiben der Kinder auf der Straße wollen.
CEAP und andere Organisationen haben eine ganz andere Ausrichtung der Arbeit. Wir setzen uns für die Rechte der Kinder ein und fordern, daß der Staat diese Rechte akzeptiert. Wir wollen nicht die soziale Betreuung der Kinder garantieren, sondern wollen den Staat zwingen, seine Verantwortung gegenüber den Kindern zu übernehmen. Die NROs sind doch nicht verantwortlich für das Elend in Brasilien, für die sozialen Probleme. Unsere Aufgabe ist es in erster Linie, Druck auf den Staat auzuüben und seine Arbeit zu überwachen. Wir müssen den Staat dazu zwingen, seine Aufgabe zu erfüllen, das ist unseres Erachtens die primäre Funktion der NROs. Wir können uns nicht auf das Abenteuer einlassen zu versuchen, den Staat zu ersetzen. Eine NRO, die vielleicht 30 Kinder betreuen kann, mag eine gute Arbeit machen, sie beruhigt aber mehr ihre Seele, als daß sie einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Problems leistet.

Aber soll das heißen, daß Projektarbeit völlig sinnlos ist? Können denn konkrete Projekte nicht auch einen Pilotcharakter haben, neue Wege aufzeigen in der Arbeit mit Straßenkindern?
Genau. Das kann eine Funktion von konkreter Projektarbeit sein. So macht Projektarbeit Sinn: Beispiele entwickeln, die dann vom Staat in größerem Umfang umgesetzt werden können. Die Beschuldigungen gegen die NROs sind eine Strategie, um diese Organisationen zu schwächen. Wir haben uns auch gegen die willkürlichen Zugriffe der Justiz auf die Straßenkinder eingesetzt. Die Justiz konnte aufgrund eines einfachen Gutachtens Kinder einsammeln und zwangseinweisen. Wir haben die Funktion des “Anwaltes der Kinder” eingeführt, Einspruchsmöglichkeiten geschaffen. Es ist heute nicht mehr so leicht, Kinder von der Straße gegen ihren Willen in Anstalten einzuweisen. Das hat uns in der Justiz Feinde geschaffen. Der Staat hat auf diese neue Situation nicht reagiert. Er hat einen Teil der großen Anstalten stillgelegt, er hat aber nichts an deren Platz gesetzt. So bleiben die Kinder zunehmend auf der Straße sich selbst überlassen. Auch der internationale Druck hat sich bisher als unzureichend erwiesen, trotz aller Veröffentlichungen im Ausland hat die Regierung nichts getan. Jetzt nach dem Massaker wird sie ein paar Sachen machen…

Das Problem mit der internationalen Reaktion ist doch, daß sie sehr punktuell ist. Sie reagiert jetzt auf das Massaker, und wahrscheinlich wird es sogar einige Verurteilungen geben. Aber langfristig die Sozialpolitik in Brasilien zu beeinflussen, ist natürlich viel schwieriger. Auch sehe ich eine gewisse Verlogenheit. Es ist sehr leicht, Mitleid mit einem Straßenkind zu haben und sich über die Morde zu empören. Aber schließlich haben die Regierungen der Staaten des Nordens auch eine Mitverantwortung für die soziale Lage in Brasilien. Die Gruppen müßten also nicht nur die Massaker anklagen, sondern auch die Mitverantwortung der internationalen Politik thematisieren.
Genau. Die Auslandsverschuldung, die Politik des IWF tragen dazu bei, das Elend hier zu verstärken. Rechnerisch gesehen könnten die Zahlungen für die Auslandsschulden (über 10 Mrd. US-Dollar pro Jahr) für soziale Projekte verwendet werden. Aber natürlich hat auch unsere Elite eine große Verantwortung. Wenn mehr Geld da wäre, würde dies noch nicht automatisch den Mißbrauch dieser Gelder verhindern…
Die Straßenkinder akzeptieren nicht mehr passiv das Elend und den Hunger. In dieser Hinsicht sind sie revolutionär. Auch wenn sie nicht organisiert sind, nicht im Rahmen einer politischen Strategie agieren, so rebellieren sie doch. Die brasilianischen Streitkräfte sind sich dessen bewußt. Eine Studie der ESG (eine Ausbildungakademie der Militärelite, LN) hat die Straßenkinder zu einem der Hauptprobleme der inneren Sicherheit erklärt.

Unser Leben ist kein Kinderspiel

Dieser Kommentar stammt von einem Kind auf dem 1. Straßenkinderkongreß Nicaraguas 1992 als Reaktion auf die relativ spärliche Resonanz bei JournalistInnen und PolitikerInnen.
Ähnlich wie in Nicaragua gibt es bereits in Peru, Mexico und Brasilien (vgl. LN 227) eigene Organisationen, in denen Kinder ihre Interessen und Ansprüche selbständig artikulieren. Dies wird deutlich im dritten Schwerpunkt einer Broschüre der Christlichen Initiative Romero e.V., die jetzt zum Thema Straßenkinder in Lateinamerika erschienen ist.
Zuvor werden in einigen Aufsätzen die Situation und die Problemlage der Kinder, vornehmlich aus Mittelamerika und Brasilien, ausführlich beschrieben. Es geht um Kinderarbeit, Kinderprostitution und um die Ausmaße des Elends der Straßenkinder. Mittlerweile lebt schon die dritte Generation Kinder auf der Straße. Kaum 14jährige Mädchen sind die Mütter dieser “Asphaltenkel”.
Dieses Leben auf der Straße ist geprägt von Arbeit, bzw. der Suche danach, unter Umständen der eigenen “Elternrolle” und, besonders wichtig, der gesellschaftlichen Diskriminierung. Von Kindheit im europäisch verstandenen Sinn sind die Kinder in Lateinamerika weit entfernt. Dazu kommt die alltägliche lebensbedrohliche Verfolgung durch die Polizei und private, durch Geschäftsleute angeheuerte Sicherheitsdienste, die die Straßenkinder zu Freiwild werden lassen.
Den Verfasserinnen dieser Broschüre ist es, trotz aller Differenz zur Lage in Europa, auch wichtig gewesen, auf die Situation von Kindern hier hinzuweisen. In den Texten wird deutlich, daß es die weltweiten Strukturen der Ungerechtigkeit sind, die die Kinder zwingen, auf der Straße zu leben. So haben die Erfüllung der strengen Auflagen des IWF, vor allem die Kürzungen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich, die Zahl der Straßenkinder in den 80er Jahren spürbar anwachsen lassen.
Im letzten Teil des Heftes werden Aktionsvorschläge, Lernspiele, Material- und Literaturhinweise sowie weiterführende Adressen für die Arbeit im Unterricht und in Gruppen bzw. für Aktionen zum Thema aufgeführt. Die Broschüre ist eine gelungene Zusammenstellung von Materialien und sowohl zur eigenen gebündelten Information als auch für MultiplikatorInnen geeignet. Das sehr gute Lay-out wird durch ansprechende Photos und durch einzelne Graphiken ergänzt.

Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in Lateinamerika. 1993 herausgegeben von und zu bestellen bei: Christliche Initiative Romero e.V., Kardinal-von-Galen-Ring 45, 48149 Münster.

Kampf gegen die Ausgegrenzten

Neoliberale Bevölkerungspolitik

Viele, die drastische Mittel zum Stopp des Bevölkerungswachstums fordern, starren auf Zahlen, Statistiken und Hochrechnungen, als ob dieses Thema nicht in den Bereich der internationalen Machtverteilung gehören würde. Wenn keine tiefergehenden Diskussionen geführt werden, entsteht leicht der Eindruck, daß Hunger, Abholzung und Energieverbrauch mit dem Bevölkerungswachstum zunehmen würden.
Es gibt Widerstände, diese Diskussion zu einer politischen zu machen, obwohl wir aus der Geschichte wissen, daß die Beziehung zwischen Bevölkerung und Ressourcen immer ein Streitpunkt intensiver politischer Auseinandersetzungen war.
Derzeit wird wieder viel davon gesprochen, daß der Planet den menschlichen Bedürfnissen nicht gerecht werden könne. Das weist in gefährliche Nähe zu den vereinfachenden Thesen von Malthus. Wieder heißt es, ein Mehr an Menschen bedeute weniger Lebensmittel pro EinwohnerIn. Zweifellos erlebt die Erde derzeit eine ökologische Krise: Hunger und Elend haben längst ein unakzeptables Ausmaß angenommen. Trotzdem kommt der Hunger nicht durch das Fehlen von Nahrungsmitteln, und die Umweltkrise ist vor allem eine Krise der Art und Weise, wie wir uns die Umwelt aneignen. Das aktuelle Problem besteht in der Verteilung der vorhandenen Ressourcen.
Der Fall Brasiliens ist hierfür exemplarisch. 1989 verfügten die zehn Prozent Reichsten in der Bevölkerung über 53 Prozent des Einkommens, während die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung mit 47 Prozent des Einkommens leben mußten. Die Landkonzentration ist ebenfalls alarmierend: der Kleinbesitz (bis zehn Hektar) macht 53 Prozent der Farmen aus, aber nur 2,7 Prozent des brasilianischen Territoriums. 43,9 Prozent des Landes gehören hingegen zu Latifundien (mehr als 1.000 Hektar), die nur 0,9 Prozent der Farmen ausmachen. Diese Einkommens- und Landverteilung drängt die LandarbeiterInnen vom Land in die Städte. Dort führen die Rezessionspolitik und die Fehler des herrschenden Entwicklungsmodells dazu, daß Tausende von ArbeiterInnen ohne Stelle sind und die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung in den großen Städten noch mehr zerstört werden.
Damit nicht genug; die BefürworterInnen der Bevölkerungspolitik bestehen darauf, daß die Enteigneten die Schuldigen für die Verschmutzung des Wassers, die Zerstörung der Wälder und anderer Ökosysteme seien. Obwohl bekannt ist, daß die Fruchtbarkeitsraten in Brasilien in den letzten zwanzig Jahren gefallen sind, die Naturzerstörung dagegen aber unproportional stark zugenommen hat, wird weiterhin darauf beharrt, die Enteigneten zu den Schuldigen zu machen.
Es hat sich ein neuer “Konsens von Washington” herausgebildet: Die Größe und das Wachstum der Bevölkerung in den armen Ländern der “Dritten Welt” ist eine der alarmierendsten Bedrohungen. Das World Watch Institut bestätigt, daß nach der Verringerung der Gefahr durch die Atombombe das Bevölkerungswachstum die Hauptbedrohung für die Zukunft des Planeten sei. Diesem “Konsens” zufolge werden die Lebensbedingungen auf dem Planeten zerstört, weil es Bevölkerungswachstum gibt. Auch die großen Völkerwanderungen vom Süden nach Norden werden damit erklärt – ein Grund mehr, um die hohen Fruchtbarkeitsraten der Armen zu drücken.
Bevölkerungspolitik der 90er Jahre wird in den verarmten und verschuldeten Ländern im Süden mit der Logik der Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank gekoppelt. Diese Programme fordern unter anderem Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben im Bereich der Erziehung und Gesundheit, um das öffentliche Haushaltsdefizit zu verringern. Sie vernichten öffentliche Gesundheitsprogramme und verschlimmern damit wesentlich die Bedingungen der Basisgesundheitsversorgung der Bevölkerung.
In Ländern wie Brasilien, das seit den 80er Jahren immer wieder von dieser Anpassungspolitik betroffen ist, wird eine nationale Gesundheitspolitik, die die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigt, immer schwieriger. Es fehlt an Schulen und Schulung, an medizinischer Versorgung, an Arbeit und Boden. Der neoliberale Rahmen, in dem die Bevölkerungspolitik stattfindet, impliziert ein unvollständiges und unrealisierbares Recht der Frauen bei der freien Auswahl des geeigneten Verhütungsmittels.

US-AID, Weltbank und andere – voll dabei

In Brasilien verläuft die Arbeit von US-AID zur Familienplanung nicht auf bilateraler Ebene. US-AID verteilt ihre Mittel durch die nordamerikanischen “Kooperationsagenturen”, die wiederum die Aktivitäten von in Brasilien ansässigen Organisationen finanzieren.
Zu den Beschlüssen für die 90er Dekade gehört, daß US-AID ihre aktuelle Liste von Verhütungsmitteln um die injizierbaren Mittel, Angebote für einen sicheren Schwangerschaftsabbruch und Aufklärungsprogramme für Jugendliche erweitert. “Ausdehnung und Perfektionierung des Angebots zur Familienplanung müssen Schwerpunkte des Bevölkerungsprogramms von US-AID sein. US-AID darf nicht schwach werden und sich plötzlich im Bereich einer umfassenden Reproduktionsgesundheitsfürsorge oder Mutter-Kind-Gesundheitsprogramme wiederfinden,” heißt es bei der US-AID.
Auch bei der Weltbank erscheint das Bevölkerungswachstum als zentrales Thema. In ihrem Bericht über Umwelt und Entwicklung versichert die Bank, daß Investitionen in die weibliche Bevölkerung auch das Beste für Umwelt und Entwicklung seien. “Mütter mit höherer Schulbildung haben gesündere Familien, haben weniger und besser ausgebildete Kinder und produzieren sowohl zu Hause als auch an ihrem Arbeitsplatz mehr”. Die bei der Weltbank veranschlagte Summe “für nichtbefriedigten Familienplanungsbedarf” beläuft sich auf ca. acht Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2000.

“Der verbesserte Status der Frauen”…

Ganz oben auf der Liste des “Konsenses” der Agenturen, die sich für Bevölkerungskontrolle in den verarmten Ländern des Südens einsetzen, steht die Einigkeit darüber, daß “der Status der Frauen verbessert” werden muß. Das zielt aber nur darauf ab, das Bevölkerungswachstum in den armen Ländern zu verringern. In den Diskursen, die die weibliche Arbeitsproduktivität erhöhen wollen, sind die Frauen weiterhin Objekte – niemals Subjekte und Bürgerinnen mit abgesicherten Rechten, die auch auf Entwicklungspolitik Einfluß nehmen können.
Die 90er Jahre versprechen weitere Investitionen in die Erforschung neuer Technologien, die an den gleichen armen Frauen des Südens getestet werden sollen, die auch Ziel der Geburtenkontrolle sind. Die Investitionen in Langzeitverhütungsmittel, deren Anwendung außerhalb der eigenverantwortlichen Benutzung von Frauen liegt – wie Norplant, empfängnisverhütende Spritzen und injizierbare Hormone – sind immer mehr das Lieblingskind der Bevölkerungspolitik.
Erfolg dieser Politik wird sein, daß es immer mehr Frauen gibt, die diese Methoden mit niedriger “Versagerquote” und “hoher Effizienz” benutzen. Eine verbesserte Gesundheitsversorgung ist für diese Politik kein Kriterium. Die einzigen Gewinner sind die großen Pharmakonzerne.
Diese Politik, die den Frauen keine reale Wahlmöglichkeit läßt, sie in Verarmung und in noch mehr Verunsicherung über ihre Zukunft treibt, erweitert nicht ihre Rechte als Bürgerinnen, sondern verringert sie.

Die internationale Migration

In den 90er Jahren verdrehen sich die Argumente: Statt von der “demografischen” Explosion wird jetzt von einer Migrationsexplosion gesprochen. In Wahrheit soll das angegriffen werden, was für das größte Hindernis von Entwicklung und gesunder Umwelt gehalten wird: die arme Bevölkerung. Mit einer kombinierten Politik der Geburtenreduzierung und der Schließung der Grenzen soll die Migration in Richtung Norden gestoppt werden. Diese Haltung wird durch die Argumente verstärkt, die in der “Überbevölkerung” im Süden das Hauptmotiv für Migration sehen.
Der Haß im Norden gegenüber den MigrantInnen wächst in beängstigendem Ausmaß und verbreitert die Reihe der Neonazis, des Neofaschismus und der extremen Rechten. Angrifffe auf Migrantenunterkünfte bis hin zu Morden sind in Deutschland immer häufiger. In Frankreich, bekannt durch die Revolution , die die Brüderlichkeit verkündete, macht die von Le Pen angeführte extreme Rechte gegen die Araber Front.
Das Szenarium, vor dem sich der wiedererstarkende Rassismus abspielt, sind die abgewirtschafteten Ökonomien des Südens und die Rezession im Norden. Als die Wirtschaft des Nordens billige und unqualifizierte Arbeitskräfte brauchte, waren die MigrantInnen gerne gesehen. In Zeiten der Krise und der Arbeitslosigkeit werden sie als Angriff gesehen, der abgewehrt werden muß.

Nicht nur die Frauen sind gefordert

Im Kontext der UNCED-Konferenz ’92 und vor der UNO-Weltbevölkerungskonferenz ’94 sind die demokratischen AkteurInnen gefordert, diesem Konsens des Neoliberalismus etwas entgegenzustellen. Diese Aufgabe kann nicht nur allein von den Frauen bewältigt werden. Es sollen sich alle diejenigen anschließen, die gegen die Ideale des Neoliberalismus ein neues Entwicklungsmodell setzen wollen, das sich auf die BürgerInnenrechte und auf die Suche nach der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse bezieht.
Im Fall Brasiliens basiert das Entwicklungsmodell auf einem gewaltigen Prozeß der Konzentration des Profits und des sozialen Ausschlusses. Es wird in ein technisches Modell investiert, das den Konsum einer Minderheit fördert. Die soziale Apartheid, an der wir heute teilhaben, ist offensichtliches Resultat dieser Ausschlußoption. Eines der drängendsten Probleme bei der “Bevölkerungsfrage” ist: Wie können die BürgerInnenrechte der Millionen von Menschen garantiert werden, denen es verweigert wird, auf dem Land zu arbeiten? In Brasilien muß die Debatte über Bevölkerung, Umwelt und Entwicklung in Zusammenhang mit einer Neudiskussion der Agrarpolitik gebracht werden.
Die Ziele, das Bevölkerungswachstum einzudämmen und den Migrationsfluß gegen Norden zu stoppen, sind im Kontext der neuen neoliberalen Weltordnung nicht zu erreichen. Gewalt und Zwang sind hierfür ebenfalls keine adäquaten Mittel. Unglücklicherweise scheint dies aber der Weg zu sein, den sich die Herrschenden ausgesucht haben. Dagegen müssen wir kämpfen.

Keine Wunder von Cardoso

Fernando Henrique Cardoso, der Mann dürfte vielen LN-LeserInnen kein Unbekannter sein. In den siebziger Jahren war er einer der bekanntesten Vertreter der Dependenztheorie, einem Versuch, die abhängige Unterentwicklung der Peripherie zu erklären. Von den Militärs als Professor zwangspensioniert, avancierte er während des Demokratisierungsprozesses zu einem wichtigen Politiker in der liberalen Oppositionspartei PMDB. 1987 gehörte er zu der Gruppe, die sich von der inzwischen Regierungspartei gewordenen PMDB abspaltetet, um die PSDB zu gründen, ein Versuch, eine “moderne” sozialdemokratische Partei in Brasilien zu etablieren. Die PSDB trat mit dem Amtsantritt von Itamar Franco in die Regierung ein und Fernando Henrique, wie er in Brasilien allgemein genannt wird, wurde Außenminister. Als der launische Itamar Franco in kaum acht Monaten Regierungszeit seinen dritten Wirtschaftsminister, Elizeu Resende, verschlissen hatte, war die Stunde der PSDB und von Fernando Henrique gekommen. Itamar beauftragte ihn im Mai mit dem Schlüsselressort seines Kabinetts. In bürgerlichen Kreisen wurde diese Ernennung allgemein positiv bewertet, weil Fernando Henrique als berechenbarer und verhandlungsgeschickter Politiker gilt. Von seiner politischen Geschichte her konnte auch die Linke gewisse Hoffnungen mit diesem Namen verknüpfen.

Konturen des Plans

In seiner Ankündigung führte Cardoso aus, daß er es vorziehen würde, von einem Prozeß statt von einem Plan zu sprechen. Aber in der Öffentlichkeit läuft alles dennoch unter dem Titel “Plano FHC” oder “Plano Verdade”, Wahrheitsplan. Folgende fünf Elemente bilden das Fundament der Wirtschaftsreform:
– Der laufende Haushalt (!) wird um sechs Milliarden Dollar gekürzt. Die Kürzungen sollen alle Ressorts betreffen. Ausgenommen wurde nur das Ministerium für Wissenschaft und Technologie – wegen seiner strategischen Bedeutung.
– Die Regierung startet eine große Aktion gegen die Steuerhinterziehung. Dadurch soll das Steueraufkommen in diesem Jahr erheblich steigen.
– Die Privatisierung wird beschleunigt.
– Die Zentralbank darf in Zahlungsschwierigkeiten gekommenen Banken der Bundesstaaten nicht mehr zu Hilfe kommen.
– Gemeinden und Bundesstaaten schulden der Union etwa 40 Mrd. Dollar. Diese Schulden sollen verstärkt eingetrieben werden, wird nicht bezahlt, drohen Finanzsperren.
Mit diesen Maßnahmen soll eine drohende Explosion des Haushaltsdefizites in diesem Jahr verhindert und das Problem der internen Verschuldung nachhaltig angegangen werden. Das Problem bei der internen Verschuldung, die insgesamt etwa die gleiche Höhe erreicht wie die Außenverschuldung, ist weniger ihre absolute Höhe, als daß sie über sehr kurzfristige Papiere zu hohen Realzinsen (Zinsen von 20 – 30 Prozent pro Jahr über der Inflationsrate) finanziert wird. Das ist der gesellschaftlich bezahlte Preis für eine hohe Inflation und politische Instabilität, der einigen (insbesondere den Privatbanken) traumhafte Profite beschert. Das Sinken der internen Verschuldung soll zu einer Zinssenkung führen, das wiederum bringt die Inflation nach unten. So also wird eine positive Spirale in Gang gesetzt, Staatsverschuldung, Haushaltsdefizit, Zinsen und Inflationsrate bewegen sich gemeinsam nach unten – wenn denn alles nach dem Willen der Macher läuft.

Hohe politische Risiken

Zwei Umstände lassen Zweifel an dem lehrbuchhaften Verlauf aufkommen. Zum einen ist es äußerst unsicher, ob die Inflation tatsächlich durch die Beseitigung ihrer objektiven Hauptursachen automatisch fällt. Die Mehrheit der Ökonomen geht davon aus, daß die Inflation in Brasilien ihre eigene Trägheit (inércia) entwickelt hat, also einfach weiterbesteht, weil alle Wirtschaftssubjekte davon ausgehen, daß sie weiterbesteht. Brasilien lebt seit Jahren mit einer Inflationsrate von etwa 20% im Monat, und ob solch einer “inertialen” Inflation mit einem orthodoxen und graduellen Programm beizukommen ist, bleibt zweifelhaft.
Zum anderen hängt der Erfolg von der politischen Konsequenz und Handlungsfähigkeit der Regierung Itamar ab. Die aber hat wenig Zeit und baut auf einer instabilen Allianz auf. Im Oktober 1994 wird es den ersten Wahlgang zu Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen geben, schon jetzt beginnt der Vorwahlkampf. Insbesondere das Verbot, die Schulden der Banken der Bundesstaaten durch die Zentralbank aufzufangen, dringt ins Herz regionaler Machtkonstellationen. Sie engt den finanziellen Spielraum der Bundesstaaten gerade in Wahlkampfzeiten ein, die traditionell durch die Expansion von Ausgaben gekennzeichnet sind. Zu Zeiten Collors waren eine Reihe von Banken der Bundesstaaten technisch bankrott, ein Deal mit der Zentralbank rettete sie – und sicherte Collor die politische Unterstützung der Gouverneure.
Die Regierung Itamar will also jetzt den entgegengesetzten Weg gehen. Dafür muß sie in Wahlkampfzeiten Interessen von Gouverneuren und Regionalpolitikern brechen. Und noch etwas: Gelingt der Plan FHC wenigstens in Ansätzen, wäre Fernando Henrique der Anwärter auf das Präsidentenamt und die PSDB gestärkt. Daran kann aber der PMDB, nach wie vor die stärkste Partei Brasiliens, kaum gelegen sein. Und der PMDB-Gouverneur von Sao Paulo, Fleury, strebt das Präsidentenamt an. Schon jetzt hat die PMDB große Unzufriedenheit über die letzte Regierungsumbildung geäußert, die eindeutig eine Gewichtsverschiebung zugunsten der PSDB bedeutete. Der ökonomische Plan Fernando Henriques bewegt sich politisch also in schwierigen Gewässern.

Stabilisierung ohne soziale Perspektive

Der von Cardoso vorgeschlagene Reformprozeß ist ein konservativer Stabilisierungsplan, bei dem Sparpolitik im Mittelpunkt steht. Von der sozialen Besorgnis, die in den ersten Erklärungen Präsident Itamars so hervorgehoben wurden, ist nichts mehr übrig geblieben. Bemerkenswert ist, daß ein solcher Plan nun von einem Minister exekutiert wird, der selbst und dessen Partei ein links-bürgerliches Image haben und pflegen. Eine solche “ideologische” Orientierung ist in dem Plan nicht wiederzufinden, er hätte auch von einem Politiker der Rechten stammen können. Die Rechtfertigung lautet, daß bei einer Inflationsrate von 30 Prozent im Monat die Stabilisierung der Wirtschaft einfach im Vordergrund stehen müsse, um so überhaupt wieder Handlungsspielräume für eine soziale Reformpolitik zu schaffen. Zunächst aber scheint sich wieder einmal zu beweisen, daß in Lateinamerika ein breiter ideologischer Konsens darüber herrscht, daß Stabilisierung nur auf konservativen wirtschaftspolitischen (oder, wenn man will, “neoliberalen”) Wegen zu haben sei. In Brasilien ist ein solcher abstrakter Konsens bisher stets im komplizierten Interessenskonflikt der realen Politik zerfleddert worden, so daß es als die große destabile Ausnahme auf dem Kontinent dasteht: In den wichtigsten lateinamerikanischen Ländern haben konservative Wirtschaftsreformen zu Stabilisierungen bei hohen sozialen Kosten geführt. Das Projekt des “modernen” bürgerlichen Lagers geht kaum darüber hinaus, eine solche Stabilisierung nun endlich auch für Brasilien durchzusetzen.
Der einseitig stabilitätsorientierte Grundzug des Planes FHC bringt das linke Lager in Brasilien, sprich die PT (Arbeiterpartei), in Bedrängnis. Weite Kreise in der PT glauben, daß Lula nur in einem Bündnis mit der PSDB Chancen habe, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Scheitert Fernando Henrique mit seinem konservativen Wirtschaftsprogramm, dann ist er selbst ein aussichtsreicher Kandidat für das Präsidentschaftsamt. Dadurch, daß die PSDB nun Regierungspartei Nr. 1 geworden ist, hat sich die Aussicht für eine PT-PSDB-Allianz eher verschlechtert.
Eins ist klar: Das Vorwahlkampfroulette beginnt, sich schneller zu drehen. Itamar Franco hat nicht mehr viel Zeit, und wahrscheinlich hat er sogar schon zuviel Zeit verloren, um in seiner Regierungszeit noch irgendetwas nachhaltig Positives zu erreichen. Keine guten Aussichten für ein Land in einer katastrophalen sozialen Lage, in dem absolutes Elend und der blanke Hunger immer mehr zum Problem werden.

Erundina aus der Regierung geworfen – Männer sind wieder unter sich
Der umstrittene Eintritt der ehemaligen PT-Bürgermeisterin von Sao Paulo, Luiza Erundina, in die Regierung Itamar fand ein schnelles Ende. Bei der Regierungsumbildung im Mai wurde auch sie entlassen, ihr Nachfolger (verantwortlich für den öffentlichen Dienst) ist ein Militär. Erundina verließ die Regierung mit starken Kritiken an Präsident Itamar Franco. Im Januar war ihre Ernennung eine große Sensation gewesen und hatte die PT, die ihren Eintritt in die Regierung verurteilte, in eine schwere Krise gestürzt (vgl. LN 226). Außer ihr büßte auch die zweite Frau im Kabinett, die Planungsministerin Yeda Crusius, ihren Posten ein. Wir können also wieder beruhigt von Ministern schreiben, ohne uns um große oder kleine Is zu kümmern. Und noch ein Detail: Weder der neue Planungsminister Stepanenko noch Fernando Henrique sind Ökonomen. Beide sind – wer hätte es gedacht – Soziologen. Ökonomen sind inzwischen in Brasilien eine der am schlechtesten angesehenen Berufsgruppen. Sollten die beiden nun auch den Ruf der Soziologen endgültig ruinieren, oder sind sie gerade deshalb in die beiden Wirtschaftsressorts aufgerückt, weil Soziologen eh nichts zu verlieren haben, am wenigsten einen guten Ruf?
Widerstand gegen “Sozialdemokratisierung”
Die PT diskutiert ihre politische Zukunft
“Schiiten überfahren Lula”, “Radikale dominieren” – so war etwa der Tenor der Berichterstattung der brasilianischen Presse über den Parteitag der PT (Arbeiterpartei), der vom 11.-13. Juni in Brasilia stattfand. Tatsächlich ereignete sich Interessantes in einer der wenigen linken Massenparteien, die es auf der Welt noch gibt. Die innerparteilichen Kräfte formierten sich neu, die linken Gruppen sind gestärkt – und das auf einem Treffen, das auch eine Wahlkampfstrategie bestimmen sollte.
Seit ihrer Gründung 1981 ist die PT ein Bündnis von unterschiedlichen linken Gruppierungen gewesen, die in der Partei Strömungen und Fraktionen gebildet haben. Dies war sowohl ein Ausdruck innerparteilicher Demokratie, wie der traditionellen Zerstrittenheit der Linken, aber auch interner Machtdispute. Dem diesjährigen Parteitag kam eine herausragende Bedeutung zu, weil hier ein neues Direktorium gewählt wurde und eine Wahlkampfstrategie für den in den Umfragen führenden Präsidenten der PT, Lula, diskutiert werden sollte. Im Vorfeld des Parteitages war es zu einer Neuformierung der Kräfte innerhalb der Partei gekommen. Die seit Jahren dominierende Strömung, “Articulaçao”, hatte sich in zwei Flügel gespalten: Zum einen in die Gruppen “Hora da verdade”(Stunde der Wahrheit), zum anderen in die Gruppe um José Dirceu, dem bisherigen Generalsekretär der PT. Verschiedenste Gruppen und Persönlichkeiten der radikalen Linken innerhalb der Partei hatten sich zu der Gruppe “Na Luta, PT” zusammengeschlossen. Die “Rechten” innerhalb der Partei hatten sich um den Ex-Guerillero Genoino formiert. So standen sich auf dem Parteitag vier relativ klar abgegrenzte Blöcke gegenüber. Jede dieser Gruppierungen hatte “Thesen” (Grundsatzpapiere) entwickelt, die zur Abstimmung gestellt wurden.
Die Abstimmung über die Thesen war das erste große Kräftemessen auf dem Parteitag. Es siegte die These “Uma opçao de esquerda”, die von Hora de Verdade und anderen linken Gruppierungen innerhalb der Partei unterstützt wurde, darunter der trotzkistischen “Democracia Socialista”. Auf dem zweiten Platz blieb die Gruppe um José Dirceu, dahinter das Thesenpapier von “Na Luta, PT”, die aber immerhin 22% der Stimmen auf sich vereinen konnte. Die beiden Gruppierungen der Linken erreichten somit zusammen 60% der Stimmen, eine doch deutliche Verschiebung der innerparteilichen Kräfteverhältnisse. Das von Genoino verteidigte Thesenpapier erreichte lediglich 10% der Stimmen.
Lula bleibt vorläufig Parteivorsitzender
Die Mehrheitsverhältnisse brachten Lula selbst und seine Pläne in Schwierigkeiten. Er hatte vorgehabt, als Parteivorsitzender zurückzutreten, um sich ganz dem Präsidentschaftswahlkampf zu widmen. Sein Nachfolger sollte José Dirceu werden. Das war unter den gegebenen Umständen nicht durchsetzbar. Nach langen Verhandlungen erklärte sich Lula bereit, bis Anfang 1994 Parteivorsitzender zu bleiben, um die PT vor einer zermürbenden Personaldebatte zu diesem Zeitpunkt zu bewahren. Bei allen innerparteilichen Streitigkeiten verweigert kaum jemand in der PT Lula die Unterstützung. Was aber unterscheidet nun inhaltlich die verschiedenen Lager in der PT? Lula sagte dazu in seiner Grundsatzrede:
“Liest man nur die Thesen der einzelnen Gruppen, dann stellen wir gar keine großen Unterschiede unter ihnen fest. Es ist wichtig zu diskutieren, besonders für eine junge Partei wie die PT. Aber die Diskussionen dürfen keine persönlichen Streitigkeiten werden.”
Tatsächlich sind die Trennungslinien zwischen Machtkämpfen und inhaltlichen Disputen nicht leicht zu ziehen, beide sind untrennbar miteinander verwoben. Dennoch dürfte die Stärkung der Linken in der Partei, wie es einer ihrer Sprecher formulierte, ein Protest gegen einen “Rechtskurs” in der Partei sein. Konkret umfaßt das drei Punkte: Eine deutlicher profilierte Opposition gegen die Regierung Itamar, Stärkung des Basisbezuges der Partei und eine klarere politische Konditionierung einer Allianz mit der PSDB. In seiner Grundsatzrede nahm Lula die Kritikpunkte der Linken durchaus positiv – und integrierend – auf:
“Es ist notwendig, daß wir wieder mehr die Basis organisieren. Das erfordert Geduld, Zeit und Bestimmtheit. Wir müssen wieder Vertrauen fassen in die Kraft der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Sonst können wir vielleicht viele WählerInnen gewinnen, aber haben keine Basis, um unsere Regierung zu halten… Ich schließe eine Allianz mit der PSDB nicht aus. Nur glaube ich, daß es sehr schwierig wird. Wenn Fernando Henrique Cardoso als Wirtschaftsminister Erfolg hat, will er Präsident werden. Wenn nicht, wer will dann noch eine Allianz mit ihnen (der PSDB)?”
Die Berichterstattung der Presse über den Parteitag war von dem Willen bestimmt, die PT zu diskreditieren, nach dem Motto: Schiiten fallen Lula in den Rücken, PT radikalisiert sich… Auch dies ist Teil des beginnenden Wahlkampfes. Die Erfahrungen lehren, daß die PT wohl einheitlicher in diesem Jahr auftreten wird, als die Presse es wahrhaben will. Und die ersten Umfragen führt Lula klar an, er hat gute Chancen, 1994 tatsächlich Präsident zu werden.

Der Garten Südamerikas bald ohne Bäume

Im Jahr 1945 waren in der Ostregion Paraguays (Gebiet zwischen dem Río Paraguay und dem Río Paraná) noch über 55% der Fläche mit dichten Wäldern bedeckt. Das waren immerhin über 8,8 Millionen Hektar (die Fläche Bayerns beträgt etwa 7 Millionen Hektar). 1991 gab es noch 2,4 Millionen Hektar Waldfläche oder gerade noch 15% der Gesamtfläche dieser Region. Die Entwicklung der letzten drei Jahre hat diesen Prozeß noch weiter beschleunigt. Lag die Abholzungsrate zwischen 1945 und 1985 bei etwa 130.000 Hektar pro Jahr, stieg sie danach auf etwa 500.000 Hektar und erreichte 1990 mit einer Million Hektar ihren traurigen Höhepunkt.
Der Prozeß der Abholzung in Paraguay ging einher mit der Erschließung des Landes. Mit jeder neuen Straße die gebaut wurde – befestigt oder unbefestigt – ging die Vernichtung der Wälder weiter voran, denn mit dem Straßenbau kamen Siedler und diese benötigten landwirtschaftliche Anbaufläche. In den 60er Jahren kamen in einem zweifelhaften Siedlungsprogramm des Stroessnerregimes zehntausende landlose Bauern in das Gebiet, die schon aus reiner Subsistenznot heraus zur Rodung der Wälder gezwungen waren. Der weitaus größte Teil der Wälder fiel jedoch den Holzexporteuren zum Opfer. Holzstämme und in Sägewerken grob bearbeitete Hölzer bildeten in den 50er und 60er Jahren eines der Hauptexportgüter Paraguays. Obwohl die Bedeutung des Holzexports in der Gesamtwirtschaft geringer wurde, ging der Holzeinschlag ungehemmt weiter. Vor allem Brasilien ist ein Hauptabnehmer paraguayischer Hölzer. Es wird geschätzt, daß der Forstsektor einen jährlichen Gewinn von etwa 170 Millionen Dollar abwirft. Nur ein geringer Teil geht offizielle Exportwege, der größte Teil wird als Schmuggelgut über die 400 km lange offene Grenze nach Brasilien gebracht. Der jährliche Verlust für den paraguayischen Staat durch diese illegalen Schiebergeschäfte beläuft sich auf etwa 65 Millionen Dollar pro Jahr, dies entspricht etwa 342.000 Kubikmetern Holz. Die staatliche Dienststelle zur Unterbindung dieser Holztransporte an der brasilianischen Grenze hat gerade 30 Angestellte und drei Dienstfahrzeuge und kann, so überhaupt der Wille vorhanden ist, kaum wirksam werden.
So paradox es auch klingen mag, vor allem politische Gründe sorgten in den letzten Jahren für eine verstärkte Abholzung der Wälder. Viele Großgrundbesitzer brannten seit 1989 große Waldflächen nieder, um Landbesetzungen zu verhindern. Waldflächen werden laut Gesetz als nicht genutztes Land betrachtet und dürfen von landlosen Bauern besetzt werden. Das Perverse an der Situation ist, daß auch die wenigen großen Landbesitzer, die eine gezielte Erhaltung ihrer Wälder oder gar Aufforstung betrieben haben, zur teilweisen Vernichtung ihrer Forstflächen gezwungen waren. So erklärt sich auch die Abholzungsfläche von über einer Million Hektar im Jahr 1990. Eine Agrarreform , die für eine gerechte Landvergabe sorgt und gleichzeitig auch die vorhandenen Waldflächen schützt, ist in Paraguay nicht in Sicht und auch nur schwer zu erreichen. Damit werden die landlosen Bauern in ihrer Not gezwungen, neue Probleme – diesmal ökologischer Art – zu schaffen. Verständnis für Umweltprobleme bei Menschen, die um ihre nackte Existenz ringen, ist kaum zu erwarten und auch nur schwer möglich, wenn die politischen Entscheidungsträger des Landes nicht die nötigen gesetzlichen Voraussetzungen schaffen und auch konsequent durchsetzen.
Schon heute ist absehbar, daß Paraguay in etwa zehn Jahren selbst Holz importieren muß, um den Eigenbedarf zu decken. Von den anfangs erwähnten 2,4 Millionen Hektar noch vorhandener Waldfläche besitzen nur noch ca. 45% einen industriell nutzbaren Baumbestand. Der Rest der Wälder kann kaum noch diese Baumarten produzieren. Ab dem Jahr 2000 hat Paraguay für noch ca. 55 Jahre ein Holzdefizit, das auch nur dann beseitigt werden kann, wenn sofort mit der Aufforstung begonnen wird. So lange würde der Baumbestand benötigen, um sich wieder zu erholen und auf die entsprechende Größe anzuwachsen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die Aufforstung ist ausgesprochen gering, auch wenn in letzter Zeit staatliche Kredite dafür bereit gestellt werden. Doch nur durch Aufforstung und gleichzeitige Verhinderung weiterer Abholzung könnte die Katastrophe in ihrer Gesamtheit noch knapp verhindert werden. Schon jetzt zeigen sich die allgemeinen Erscheinungen nach der Vernichtung von Wäldern, Bodenerosion durch Wind und Regen. Die Fruchtbarkeit der Region geht zurück, Ernteausfälle treten ein, das Klima wird heißer, andererseits versumpfen riesige abgeholzte Waldgebiete. Noch ist der letzte paraguayische Baum nicht gefällt, aber seine letzte Stunde könnte schon geschlagen haben.

“Das hat mit unserer Lage nichts zu tun”

“Zu den herkömmlichen Schwerpunkten Krankheitsentstehung, Entwicklung von Impfstoffen, Behandlungsmöglichkeiten und gesellschaftliche bzw. finanzielle Unterstützung der Kranken kam ein fünfter Bereich hinzu: Die Entwicklung von AIDS in der Dritten Welt,” erklärt der Kongreßvorsitzende Karl-Otto Habermehl von der Freien Universität. “Wir sind uns bereits des Ausmaßes des Problems in Afrika bewußt. Nun geraten aber Asien und Südamerika in den Blickpunkt, und das in viel explosiverer Form als erwartet. Darum müssen wir die Länder der Dritten Welt und Osteuropas stärker einbinden.” Für mehr als 2000 TeilnehmerInnen aus den armen Regionen dieser Welt wurden daher die Reisekosten übernommen, um ihre Teilnahme zu ermöglichen, darunter auch viele LateinamerikanerInnen.
In einer Reihe von Vorträgen und Symposien wurden die sozialen, kulturellen, ökonomischen Faktoren der Ausbreitung von AIDS beleuchtet und die unterschiedlichen gesundheitspolitischen und pädagogischen Ansätze miteinander verglichen. Ziel der OrganisatorInnen war es, einen Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Ländern zu ermöglichen. So soll die Ressourcenvergeudung eingedämmt werden, die dadurch entsteht, daß jedes Land für sich Untersuchungen durchführt, die an anderen Stellen dieser Welt bereits gelaufen sind.
Auch bei der überall verbreiteten Immunschwächekrankheit zeigt sich die Zweiteilung der Welt. 75% der mit dem AIDS-Erreger HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) infizierten Menschen leben in den Entwicklungsländern, ihr Anteil wird in den kommenden Jahren auf 90% anwachsen. Betroffen ist v.a. in Afrika in erster Linie der aktive Bevölkerungsanteil, die meisten AIDS-PatientInnen sind zwischen 20 und 45 Jahre alt und bilden das entscheidende ökonomische Potential in den verschiedenen Ländern.
Dadurch bekommt die AIDS-Epidemie ihre besondere Bedeutung, obwohl weltweit immer noch weitaus mehr Menschen an prinzipiell behandelbaren Infektionskrankheiten und besonders an Tuberkulose sterben. Diese Krankheiten betreffen allerdings in stärkerem Maße Kinder und alte Menschen, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen sind daher geringer. Das ist zwar nicht weniger schlimm, aber übt nicht den gleichen ökonomischen Druck auf die Regierungen aus.
Schwerpunkt des Kongresses waren naturgemäß die wissenschaftlichen Vorträge und Workshops, die durch Hunderte von Postern über Einzelstudien ergänzt wurden. Die medizinische AIDS-Forschung verfolgt im Moment drei Hauptstränge: Entwicklung eines geeigneten Impfstoffes, Behandlung des Immunschwächesyndroms durch antivirale Substanzen einerseits und der begleitenden opportunistischen Infektionen andererseits und die gentechnische präventive und kurative Manipulation der betroffenen Abwehrzellen.
Am erfolgversprechendsten stellt sich derzeit die Möglichkeit dar, in absehbarer Zeit einen allgemein einsetzbaren, verträglichen und wirksamen Impfstoff anbieten zu können. Einen von der beobachtenden Presse bei der ansonsten sensationsarmen Konferenz dankbar aufgenommenen Höhepunkt stellte die Ankündigung des US-Amerikaners Daniel Bolognesi dar, einen solchen Impfsubstanz in den nächsten zwei Jahren anbieten zu können. Doch selbst wenn dies gelänge, würde das die Ausbreitung der Epidemie zunächst nicht bremsen können.
Dazu bedarf es eines Medikaments, das die Krankheit heilen kann, also das Immunschwäche-Virus direkt tötet oder lahmlegt. Die bekannteste dieser antiviralen Substanzen ist das sogenannte AZT (Azidothymidin), das die Vermehrung des HIV hemmt. Die zunehmend beobachtete Resistenz kann durch die Kombination mit ähnlichen Stoffen hinausgezögert werden. Erwähnenswert erscheint die Tatsache, daß kurz vor Beginn der AIDS-Konferenz die Ergebnisse einer großen Studie mit mehr als 1700 PatientInnen aus Großbritannien, Frankreich und Irland vorgestellt wurden, die bisherige Behandlungsvorstellungen in Frage stellt. Danach beeinflußt AZT (Handelsname Zidovudin) bei HIV-positiven Personen nicht den Beginn oder Verlauf der AIDS-Erkrankung und verlängert nicht die Überlebenszeit.
Trotz dieser Erkenntnis hatte einer der Hauptsponsoren des Kongresses, das Pharma-Unternehmen Wellcome, in einer Parallelveranstaltung Gelegenheit, die Vorzüge einer frühzeitigen AZT-Behandlung darzulegen. Schließlich gehört Wellcome zu den wichtigsten AZT-Produzenten in der Welt. Wenn aufgrund der genannten Untersuchung die zum Beispiel von der US-Gesundheitsbehörde erfolgte Zulassung von AZT zur Prophylaxe der AIDS-Erkrankung bei HIV-Infizierten zurückgenommen wird, bedeutet das für die Pharma-Industrie herbe Einbußen.

Rückkehr der Tuberkulose

Das könnte aber den Nebeneffekt haben, daß wieder mehr Augenmerk auf die Entwicklung neuer Antibiotika gelegt wird. Dies zeigt sich in besonders bedrohlicher Form am Beispiel der Tuberkulose (Tbc), die immer schon als klassische soziale Krankheit galt und in den vergangenen Jahrzehnten zumindest in den entwickelten Ländern eine immer geringere Rolle spielte. Nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung der Immunschwächekrankheit AIDS, in erster Linie aber wegen der zunehmenden Verelendung bestimmter Bevölkerungsgruppen tritt die Tbc in den Industrienationen nun immer häufiger auf.
Dabei zeigt sich ein besonderes Problem: Es gibt zur Zeit sechs Standardmedikamente, die in Kombination in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gegen diese Krankheit eingesetzt wurden, sofern die Mittel dafür zur Verfügung standen. In jüngerer Zeit wurde jedoch eine vermehrte Unempfindlichkeit der Erreger gegenüber diesen Substanzen beobachtet, die Gefährlichkeit der Erkrankung wächst daher. Die Wirksamkeit der bisher entwickelten Antibiotika gegen die vielen Schmarotzerkrankheiten, die im Zusammenhang mit AIDS auftreten, ist in vielen Fällen unzureichend. Gut zu behandeln ist derzeit nur die AIDS-typische Lungenentzündung, doch die meisten anderen AIDS-Erscheinungen sind nicht oder nur teilweise therapierbar. Die Mehrzahl der auslösenden Erreger kommt zwar überall vor, kann jedoch einem Menschen mit funktionierendem Abwehrsystem nichts anhaben, so daß bis zum Auftreten der Immunschwächekrankheit entsprechende Medikamente nicht erforderlich waren.
Der dritte Ansatzpunkt in der aktuellen AIDS-Forschung ist die genetische Veränderung der menschlichen Zellen, um sie gegen das HIV unempfindlich zu machen. Das Virus greift eine bestimmte Art von Abwehrzellen an, dringt in sie ein und ändert die darin gespeicherte Erbinformation, so daß die Zelle ihre eigentliche Funktion nicht mehr erfüllt. Dadurch bricht letztlich das gesamte Abwehrsystem in sich zusammen. Das Virus bedient sich bestimmter zelleigener Bausteine, deren Herstellung durch gentechnische Manipulationen gehemmt wird, so daß sich das Virus nicht mehr vermehren und in die Zellfunktion einmischen kann. Im Reagenzglas gelingt dies in recht überzeugender Form, im lebenden Organismus sind die Abläufe jedoch komplexer und komplizierter.
Dennoch ist davon auszugehen, daß in den nächsten Jahren entsprechende Versuche, die z.Zt. im Tierexperiment getestet werden, auch beim Menschen Anwendung finden. Sollte es den GenetikerInnen gelingen, auf diesem Wege als erste eine effektive Behandlungsmöglichkeit anbieten zu können, müßte die Gentechnologie-Diskussion völlig neu geführt werden. Unbestreitbar birgt die genetische Veränderung prinzipiell unübersehbare Folgen in sich, doch welchem/r AIDS-Kranken kann eine solche Chance in Anbetracht der schrecklichen Prognose vorenthalten werden?

AIDS-Forschung – Für wen?

Die medizinisch-naturwissenschaftliche Forschung ist auf der nördlichen Halbkugel konzentriert, die allermeisten AIDS-Kranken leben in der südlichen Hemisphäre. Daß weltweit so heftig an dieser Krankheit geforscht wird, haben diese Menschen mehr als ihrer eigenen dramatischen Situation der Tatsache zu verdanken, daß es in den reichen Ländern eine nicht kleine und vor allem einflußreiche Gruppe von LeidensgenossInnen gibt. Und für die wird im wesentlichen Forschung betrieben. Die Ärztin Mary Basset aus Simbabwe bringt das Problem auf den Punkt. Zwischen dem britischen Infektiologen Ian Weller und dem Entdecker des HIV, Luc Montagnier, an die sich die allermeisten Fragen der JournalistInnen richten, erklärt sie auf einer Pressekonferenz: “Worüber hier gesprochen wird, hat mit der Lage in meinem Land überhaupt nichts zu tun. Wir haben kein AZT, um AIDS zu behandeln. Wir haben noch nicht einmal Rifampicin, um die Tuberkulose zu behandeln. Dafür gibt es gar kein Geld.”
Welches Entwicklungsland soll in der Lage sein, die in absehbarer Zeit entwickelten Arzneimittel zu kaufen, die ja die hohen Forschungskosten wieder hereinbringen müssen? Und ob die reichen Industrienationen bereit sind, durch Finanzierung der AIDS-Therapie ihre Ausgaben für Entwicklungshilfe effektiv zu erhöhen, bleibt abzuwarten. 300.000 US-Dollar wollte die Europäische Gemeinschaft Venezuela Anfang des Jahres zur AIDS-Bekämpfung zur Verfügung stellen. Diese eher symbolische Summe wurde letztlich auf ganz Lateinamerika verteilt und geriet damit zu einer Karikatur der Entwicklungspolitik. Die LateinamerikanerInnen auf der AIDS-Konferenz fühlten sich denn auch gänzlich hintangestellt und gegenüber den anderen Kontinenten benachteiligt. Vertreter aus Chile und Argentinien schlugen einen kollektiven Boykott der nächsten Konferenz in Tokio vor, fanden damit aber nicht die ungeteilte Zustimmung der übrigen RepräsentantInnen. Das Interesse von Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen der reichen Länder ist nach wie vor stärker auf Afrika und Südasien, hier in erster Linie Indien, gerichtet, allenfalls Brasilien wird gemeinhin als Land mit nennenswerter AIDS-Problematik anerkannt.

Weltweite Konzentration aller Kräfte

Doch Enttäuschung über den Ablauf und vor allem über die Ergebnisse der IX. AIDS-Konferenz zeigte sich nicht nur unter den LateinamerikanerInnen. Viele Selbsthilfe- und Betroffenenorganisationen äußerten Kritik an der Organisation und der offiziellen AIDS-Politik. Sie fordern eine weltweite Konzentration aller Kräfte im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit. Ziel von konkreten Protestaktionen wurden in erster Linie die Pharma-Konzerne Hoffmann-LaRoche und Astra, die von den Act-Up-Gruppen wegen ihrer Verkaufspolitik angegriffen wurden. Aufgrund überhöhter Preise bleibt vielen Kranken in den USA der Zugang zu bestimmten Medikamenten versperrt, die für die Behandlung bestimmter Erscheinungsformen der Immunschwäche-Krankheit unerläßlich sind.
Die AIDS-Konferenz stand im Spannungsverhältnis zwischen dem vergleichsweise langsamen Fortschritt in der medizinischen Forschung und der hohen Erwartungshaltung der Betroffenen, die zwangsläufig enttäuscht werden mußte und oft zu einer sehr vorwurfsvollen Haltung gegenüber den anwesenden WissenschaftlerInnen führte. Von Seiten der Selbsthilfegruppen wurde kritisiert, ihnen sei nicht genügend Platz eingeräumt worden, was eine völlige Verkennung des Charakters einer solchen Konferenz zum Ausdruck bringt.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses wissenschaftlichen Kongresses wurden in großem Umfang gesellschaftliche Gruppen und Organisationen einbezogen, um einen Austausch zwischen Forschung und alltäglicher Erfahrung mit der Immunschwächekrankheit zu ermöglichen. Hätte es diese Form der Zusammenarbeit zu einem früheren Zeitpunkt gegeben, wäre mensch vielleicht schon eher auf die Idee gekommen, sich in der AIDS-Wissenschaft stärker um die sog. Langzeitüberlebenden zu kümmern. Es bestehen gute Aussichten, daß die Beobachtung der Reaktionen bei jenen Menschen wichtige Erkenntnisse zu Tage fördern, die teilweise bereits 10, 12 oder 15 Jahre mit dem HI-Virus leben und noch nicht an AIDS erkrankt sind. Vielleicht liegt hier ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Krankheit.

Eine Erfolgsgeschichte der besonderen Art

1979 als Karnevalsvereinigung gegründet hat Olodum einen entscheidenden Anteil an der kulturellen Rückbesinnung der Schwarzen auf ihre eigenen Wurzeln und der Entstehung einer politisch starken Schwarzenbewegung in Bahia und in ganz Brasilien. Der Name Olodum leitet sich von “Olodumare” ab, dem “Gott des Himmels und des Lebens” der westafrikanischen Yoruba.
Heimisch ist die Gruppe im Pelourinho, einem Altstadtviertel von Salvador und ehemaliges Zentrum des brasilianischen Sklavenhandels. 80 Prozent der Bevölkerung von Salvador de Bahia sind Schwarze; die Kultur und die Religion der Stadt sind geprägt von den afro-brasilianischen Wurzeln ihrer BewohnerInnen. Olodum wandelte sich dort nach den Worten einer Zeitschrift der Fundaçao Getúlio Vargas “von einer Afrogruppe, die anfänglich von vielen als ein Haufen von Prostituierten, Drogensüchtigen, Schwulen und Straßenhändlern gesehen wurde” zu einem “Wirtschaftsunternehmen und gleichzeitig einer starken Kulturbewegung, die für die Renovierung und die Aufwertung des Pelourinho kämpft”.
Mit über 1000 festen Mitgliedern macht Olodum im historischen Zentrum der Zwei-Millionen-Metropole Salvador, der Hauptstadt der Schwarzen Brasiliens ) sozio-kulturelle Arbeit in allumfassendem Sinne. Olodum betreibt eigene soziale und pädagogische Einrichtungen, wie Theater- und Tanzgruppen, ein Büro- und Versammlungshaus, ein Lokal, eine Boutique, Werkstätten, eine Schule und eine Zeitung. Nach eigenen Angaben der Gruppe beziehen über vierzig Prozent der BewohnerInnen des Pelourinho und des angrenzenden Maciel siebzig Prozent ihres Einkommens im Zusammenhang mit den regelmäßigen öffentlichen Auftritten Olodums.
Die Mitglieder von Olodum suchen auf allen Ebenen Erfolg zu erringen, auf denen die schwarze Bevölkerung diskriminiert wird: in der Artikulierung ihrer eigenen Kultur und eines eigenen Selbstbewußtseins, in der aktiven Teilhabe am ökonomischen Prozeß und in der politischen Vertretung ihrer Interessen. Gerade diese Vielschichtigkeit macht die Arbeit der “Grupo Cultural Olodum” nicht nur in Brasilien zu einer Ausnahmeerscheinung.
“Die einzige NGO, die auch Musik macht”, so der Leiter von Olodum, Joao Jorge, kann im Juni/Juli in verschiedenen deutschen Städten “ao vivo” erlebt werden. Ihrem Anspruch entsprechend werden sie auch über ihre soziale und politische Arbeit im Pelourinho und darüber hinaus informieren. Das Berliner Konzert findet am 4. Juli im Tempodrom statt. Am 5. und 6. Juli gibt es einen Workshop in der Ufa-Fabrik und eine politische Informationsveranstaltung (Ort bitte der Tagespresse entnehmen).

Hier der Tourneeplan von Olodum (Stand 16.6.93; Änderungen möglich):
1.7. Hamburg, Fabrik; 3.7. München, Muffathalle; 4.7. Berlin, Tempodrom sowie 5. und 6.7. Workshop, Ufa-Fabrik; 7.7. Kiel, MAX Music Hall; 9.7. Den Haag, North Sea Festival; 15.7. Amsterdam; 16.7. Köln, Live-Music-Hall; 17.7. Kassel, Kulturzelt Kassel; 18.7. Mainz, KUZ; 19.7. Oldenburg, Schloßplatz; 20.7. Nijmegen; 21. und 22.7. Nürnberg; 23.7. Zürich; 24.7. Nyon, Paleo-Festival; 25.7. Freiburg, Jazz-Haus; 27.7. Dresden; 29.7. Jena, Kulturarena.

Divide et Impera: Die neue Welt ist zweigeteilt

Als ob die Gegenwart nicht schon düster genug wäre, prognostiziert J.-L. Rufin weitere 500 elende Jahre für den Süden. Schon die Rede von der “Neuen Weltordnung” muß in den Ohren von zwei Dritteln der Weltbevölkerung zynisch klingen.
Was ist denn aus den Versprechungen des Nordens geworden? Was haben die unzähligen internationalen Institutionen UNCTAD, UNDP, IDA, WIDER und ECOSOC, oder hinter welchen Abkürzungen sie sich sonst verbergen mögen, in gut 30 Jahren Entwicklungspolitik geschaffen? Zahlreiche Regierungen des Südens haben zum Teil unter heftigem Druck des internationalen Währungsfonds und der Weltbank ihre nationalen Märkte liberalisiert und staatliche Interventionen zurückgeführt. Kaum eines der reichen Länder, das sich nicht ein eigenes Ministerium leistet, dessen ausschließliche Aufgabe in der Bekämpfung der Unterentwicklung besteht. Dennoch wird sich auch nach der eher euphemistisch formulierten Prognose des Entwicklungsberichts der Vereinten Nationen von 1992 die heute bei nahezu einer Milliarde liegende Zahl der unter der absoluten Armutsgrenze Lebenden weiter im Takt “Bevölkerungsexplosion” erhöhen. Dabei wird das wahre Bild des Elends am Ende des 20. Jahrhunderts von makroökonomischen Index-Zahlen eher geschönt.
Das jetzt in deutscher Sprache erschienene Buch Rufins stellt sich konsequent quer zu allen Verlautbarungen der offiziellen Entwicklungspolitik. Es bringt die Kartenhäuser aus volkswirtschaftlichen Daten zum Einsturz, welche angestrengt den Fortschritt in Zehntel-Prozent-Punkten des Brutto-Inlandsprodukts pro Kopf nachzuweisen suchen. Es durchkreuzt sophistische Milchmännchenrechnungen, die mit statistischen Mittelwerten in Ländern hantieren, deren schmale Oligarchien meist über 90 Prozent der wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, und hinter denen sich nur der Quantifizierungswahn westlichen Denkens verbirgt. Der Autor weiß wovon er spricht. Lange Jahre hat er als Kulturattaché in Afrika und Lateinamerika gelebt und war in der Folge als Vizepräsident des Hilfswerks “Médecins sans frontières” tätig. Rufins Kenntnis der Lebenswirklichkeiten vor Ort vertreibt rasch den Spuk der abstrakten Zahlenwerke, wie sie alljährlich von Weltbank, Währungsfond, Vereinten Nationen und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit vorgelegt werden.
Die extremen Unterschiede zwischen Stadt und Land, die völlig andere Strukturierung der Wirtschaft machen rein quantifizierende Vergleiche mit dem Norden sinnlos. Am Beispiel des einstmals als Schwellenland angesehenen Brasilien zeigt Rufin, daß es Wachstum ohne jede Entwicklung gibt. Die Militärjunta, die das Land seit den 60er Jahren beherrschte, huldigte einem doppelten Fetischismus von Produktionismus und Protektionsimus. Ohne Rücksicht auf Marktgegebenheiten und Finanzierung wurde eine exportorientierte Produktion vorangetrieben, wurden zweistellige Zuwachsraten erreicht. Die Lage der Bevölkerung aber verschlechterte sich ständig. Als dann in den 80er Jahren die Last der aufgelaufenen Schulden Brasilien in eine noch immer andauernde Krise stürzte, stellten die BrasilianerInnen fest, daß ihr Land mit dem Cadillac in das gelobte Land der sogenannten “Ersten Welt” unterwegs gewesen war, nur hatte man vergessen, die Bevölkerung wenigstens im Kofferraum mitzunehmen.
Wie reagiert nun der postindustrielle Norden auf dieses augenfällige Scheitern seiner Entwicklungspolitik? Rufin legt eine grausame Logik offen: In Anlehnung an das Beispiel des Römischen Imperiums, das sich mit einem Limes umgab und auf diese Weise von der “Welt der Barbaren” abschottete, sieht er eine weltweite “Apartheit”, eine streng in eine nördliche und eine südliche Hälfte geteilte Welt heraufkommen. Der neue “Limes” ist dabei keine strategische Front zwischen mehr oder weniger gleichgewichtigen Gegnern mehr, wie in den Tagen der West-Ost-Polarität.
Hinter ihm verwandelt sich der “tiefe Süden” in einen geschichtslosen Raum, in neue “Terrae Incognitae”. Die uralten Wahrnehmungsstereotypen der antiken Unterscheidung zwischen “Barbaren” und “Reich der Zivilisation” filtern jeden Fernsehbericht, so sehr er auch Authentizität beansprucht und machen die Wahrnehmung der anderen abstrakt. Der Norden wendet sich ab vom universalistischen Bild der Menschheit in der Tradition europäischer Aufklärung und kehrt zurück zum Kriterium der räumlichen Nähe.
Ethik erfährt eine geographische Teilung. Individuen finden sich nur noch im Norden. Die Gestalten, die man zwischen den Ruinen der zerstörten Länder umherirren sieht, erscheinen ohnehin nicht mehr als Menschen, sondern nur noch als Bilder. Zwar bleibt dem Norden das Schauspiel ihres Unglücks erhalten, denn er konsumiert Mengen Bilder, und die Wirbelstürme, Hungersnöte, Bürgerkriege haben ihren festen Platz unter den Schauspielen. Rufin demonstriert aber, daß auch groß angelegte staatliche Rettungsaktionen, wie in jüngster Zeit das militärische Einschreiten in Somalia, die altbekannte Funktion der milden Gabe besitzen, die man dem Bettler an der Kirchentür zu überreichen pflegte. Immer retten die Hilfsaktionen eher die “Seelen des Nordens” denn die “Körper des Südens”.
Das Buch läßt erkennen, wie der Norden den Süden nicht allein als Ressourcenlieferant, sondern genauso als psychologischen Widerpart braucht. Da in den letzten Jahren im Norden selbst Züge des Südens auftauchten, etwa durch die sich ausbreitende strukturelle Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Verelendung von Teilen der Bevölkerung in den industrialisierten Staaten, verstärken sich die Tendenzen, die Spannungen nach draußen zu verlagern. So dienen das Bild des “barbarischen Südens” und die Zweiteilung der Welt auch als Projektionsfläche der unvermindert fortdauernden Bedrohung des vermeintlich beherrschten, zivilisierten Lebens. Wenn es kein “Draußen” mehr gibt, wird es “Drinnen” vollends unerträglich.

Jean-Christophe Rufin: “Das Reich und die neuen Barbaren”, Verlag Volk & Welt, Berlin 1993, Übersetzung: Joachim Meinert.

Wo sie sind, bleibt ungeklärt

Das Konzept dieser transición hatte die chilenische katholische Kirche noch zu den schlimmsten Zeiten der Repression entworfen. Sie war die einzige Institution, die sich frei äußern konnte, und sie nutzte dieses Privileg, indem sie auf die Menschenrechtsverletzungen hinwies und zugleich einen einvernehmlichen Weg zurück zum Rechtsstaat vorschlug. Als Tausende von DemonstrantInnen während der monatlichen Protesttage ab 1982 “Brot, Arbeit und Gerechtigkeit” forderten, verbreitete die in ihrer Mehrheit christdemokratisch orientierte Kirche “Dialog” und “Versöhnung”. Die Diktatur hatte sich auf einen “repressiven Konsens” in der Bevölkerung stützen können, der aus einem Sich-Fügen in die herrschenden Verhältnisse und der Teilhabe am Konsumangebot der neoliberalen Wirtschaftspolitik bestand. Dieser repressive Konsens wurde durch das Kräftespiel innerhalb der Streitkräfte und Verhandlungen mit zivilen politischen Gruppierungen in einen politischen Konsens der Mehrheit der Bevölkerung transformiert. Auch der ausländische Druck und zwischen Regierung und Kirche ausgehandelte Ereignisse wie der Papstbesuch 1987 spielten dabei eine wichtige Rolle.
Unter Beibehaltung der Wirtschaftspolitik der Militärs sollte deren Macht eingeschränkt und zugleich institutionell abgesichert werden. Die Militärs sollten neun Senatoren des zu wählenden Kongresses benennen können und Pinochet bis 1997 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, deren Haushaltsmittel nicht gekürzt werden durften, bleiben. Den Obersten Gerichtshof brachte der General durch Personalentscheidungen auf seinen Kurs.

Viele Opfer, aber keine Täter

So sorgsam die transición angebahnt war, blieb doch eine alte Wunde. Mord und Folter waren nicht konsensfähig. Deshalb machten sich die Protagonisten des Dialogs daran, die Fakten umzudeuten. Die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur wurden zu Verbrechen ohne Urheber, sie erschienen als Ereignisse ohne kausalen Zusammenhang, als das, was Pinochets Geheimdienst DINA mit dem Wort “das Verschwinden” politischer Gefangener hatte suggerieren wollen. Diese Neutralisierung auch noch des härtesten Bruches der geltenden Gesetze und Moralvorstellungen gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Mehrheit der ChilenInnen die Fakten nie hatte wahrhaben wollen und viele der Opfer einfach alles vergessen wollten, was sie durchlitten hatten. Eine pauschale Selbstamnestie der Militärs für alle Menschenrechtsverletzungen vor 1978 fügte dem Konstrukt der Taten ohne Täter den juristischen Unterbau hinzu. Damit waren die Menschenrechte verhandlungsfähig und wurden zum ideologischen Schmiermittel der transición.

Eine Menschenrechtskommission ohne Vollmachten…

Kurz nach seiner Amtsübernahme im März 1990 kündigte Aylwin die Bildung einer “Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung” an, die die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur aufarbeiten sollte. Das Wort “Gerechtigkeit” war entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht in den Titel der Kommission aufgenommen worden. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten. Im März 1991 stellte Aylwin den Bericht der Kommission (nach dem Vorsitzenden auch als Rettig-Bericht bekannt) der Öffentlichkeit vor. Insgesamt 2.115 Menschen seien während der Dikatur “Opfer von Menschenrechtsverletzungen” geworden, so Aylwin bei seiner Fernsehansprache. Gemeint sind die als “Menschenrechtsverletzungen mit tödlichem Ausgang” beschönigten Morde, soweit die Kommission sie aus der Vielzahl der ihr vorgetragenen Fälle ausgewählt und als bewiesen angesehen hatte. Die mehr als 100.000 Fälle von Folter hatte die Kommission gar nicht erst untersucht. Mit Tränen in den Augen schloß Aylwin damals seine Fernsehansprache: “Laßt uns mit Verständnis und Großherzigkeit das Notwendige tun, damit die Wunden der Vergangenheit geheilt werden und für Chile eine Zukunft in Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden aufgebaut werde.” Mit Sätzen wie diesem kam Aylwin gut an, außer bei den unverbesserlichen PinochetistInnen und bei denjenigen Opfern der Diktatur, die erst einmal die Namen der Täter wissen wollten, bevor sie ihnen überhaupt würden verzeihen können.

… erstellt einen Bericht, ohne die Verantwortlichen zu nennen

Der Bericht war zumindest die erste offizielle Anerkennung seitens einer chilenischen Institution, daß die Pinochetdiktatur gemordet und gefoltert hatte. Aber so gut die Kommission gearbeitet hatte, so kompromißlerisch war das Ergebnis formuliert. Die RedakteurInnen des Berichtes fochten um Worte. Wie etwa sollte der Putsch vom 11. September 1973 genannt werden? Vorgeschlagen wurden “pronunciamento” (das beschönigende Wort der Militärs, dt.”Auflehnung”), “Staatsstreich” und “Regierungssturz”, und schließlich einigte man sich auf das scheinbar unverfängliche “11.September”. Der Bericht enthält keine Namen der Schuldigen, obwohl die Kommission viele davon kannte, er klärt das Schicksal der mehr als tausend in ihm dokumentierten Fälle “verschwundener” politischer Gefangener nicht auf und er nennt die Opfer des Staatsterrors im selben Atemzug mit den paar Dutzend Opfern unter den Sicherheitskräften. Der Regierungskoalition aus ChristdemokratInnen und SozialistInnen kam diese Art der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gelegen. Der als “nationaler Konsens” bezeichnete wachsweiche Kompromiß der Regierung war einmal mehr legitimiert. Einer Seite war Genugtuung widerfahren, indem die Fakten benannt worden waren, zugleich aber war der Konflikt mit den Streitkräften vermieden worden. Der Bericht enthüllte die Wahrheit, damit sie vergessen werde.

Erst Gerichtsprozesse nennen endlich Namen

Das Kalkül ging allerdings nur teilweise auf. Es gab längst inoffizielle Informationen über die Menschenrechtsverletzungen und ihre Urheber. Die Presse lieferte die vom Kommissionsbericht vorenthaltene Wahrheit scheibchenweise nach. Die Sozialistin Luz Arce, die unter der Folter zerbrochen war und lange als Agentin von DINA und CNI gearbeitet hatte, hatte viele Stunden lang vor der Kommission ausgesagt. Ihre Aussage erschien in der Presse. Obwohl die veröffentlichte Version des Kommissionsberichts keine Namen von Schuldigen nannte, gingen die Kommissionsakten unzensiert an die jeweils zuständigen Gerichte und trugen dazu bei, daß 30 Menschenrechtsprozesse, die die Diktatur nicht endgültig eingestellt hatte, wiedereröffnet wurden. Hinzu kommen 170 weitere Prozesse, die ebenfalls nicht endgültig eingestellt worden waren und in denen neu verhandelt werden kann, wenn neue Beweismittel auftauchen.
Die chilenische Justiz ist dem Pinochetregime bis auf die Knochen hörig gewesen und hat sich seitdem nicht geändert. Aber sie konnte die in den Akten protokollierten Ungeheuerlichkeiten nicht gänzlich ignorieren. Das große Offenlegen war verhindert worden. Aber die Menschenrechtsprozesse, die nach der Diktatur neu verhandelt wurden (siehe die Aufzählung in LN 226), fügten der halben Wahrheit des Kommissionsberichts immer neue Beweisstücke hinzu. Für die Angehörigen der “Verschwundenen” waren diese Prozesse ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung. Zum ersten Mal wurden in verbindlichen Zusammenhängen Namen genannt. Täter wurden greifbar. Der berüchtigste Folterer der DINA, Osvaldo Romo, wurde 1992 in Brasilien, wo die DINA ihn versteckt hatte, verhaftet. Macia Alejandra Merino, die unter der Folter zerbrochen war und jahrelang mit DINA und der Nachfolgeorganisation CNI gearbeitet hatte, legte Anfang 1993 ihre Lebensbeichte ab.

Die Entlarvung der Folterer

Hatte der Rettig-Bericht einen für fast alle Parteien und die Militärs akzeptablen Kompromiß gefunden, so prallten jetzt die Kräfte des Pinochetismus und das uneingelöste Wahrheitsversprechen der Demokratie aufeinander. Schauplatz waren diesmal nicht Fernsehstudios und Pressekonferenzen, vielmehr standen sich nun als Zeugen geladene ehemalige politische Gefangene und ihre Folterer vor Gericht gegenüber. Die ehemaligen DINA-Agenten, mittlerweile in den Rang von Generalmajoren aufgerückt, machten sich mit Leibwachen und Militärrechtsanwälten in irgendeinem Büro des Gerichts breit, als seien sie in einer Kaserne. Es gab teilweise 15-stündige Verhandlungen. Zeugen und Beschuldigte, das Gerichtspersonal und die stets präsente Schar von JournalistInnen richteten sich in den Korridoren häuslich ein.
Während der Pinochetdiktatur war die Justiz heruntergewirtschaftet worden und stellte nun die schäbige Bühne für Prozesse von historischer Dimension dar. Es fehlte an allem: Zum Kopieren mußten Originalakten zu irgendeinem nahegelegenen Copy Shop gebracht werden. Wichtige Protokolle wurden von studentischen Hilfskräften aufgenommen. Die Dürftigkeit der Utensilien schmälerte jedoch nicht die Bedeutung des Verhandelten. Worüber hier verhandelt wurde, war real, nicht symbolisch, nicht medial geglättet und durch nichts zu beschönigen. Den Überlebenden ging es um die Genugtuung, die Täter vor Gericht zu sehen, ob als Zeugen oder als Angeklagte, wog weniger stark. Den Angehörigen der “Verschwundenen” ging es um die Wahrheit. Eine gerechte Strafe für hundertfache Folter und hundertfachen Mord gibt es im Rechtsstaat ohnehin nicht. Aber solange Gericht gehalten wurde und schlechtbezahlte GerichtsreporterInnen Tag und Nacht in den Fluren hockten und nach jedem Detail schnappten, solange wurde das Leiden der Opfer nicht verschwiegen. Den Folterern zerbrach ihre Lebenslüge, derzufolge nach einer Zeit des Ausnahmezustandes Normalität eingekehrt sei. Ihre Bilder waren in der Zeitung zu sehen, und sie wurden vor der Öffentlichkeit als Folterer entlarvt, eine Situation, die sie bis dahin sorgsam vermieden hatten.

Gegen die Hauptverantwortlichen wird zuletzt verhandelt

In der chilenischen Öffentlichkeit wirkten die Menschenrechtsprozesse dem schalen Gefühl entgegen, der Rettig-Bericht sei das letzte Wort zum pinochetistischen Staatsterror gewesen. Die meisten Prozesse fanden allerdings nur im engen Kreis des interessierten Publikums Widerhall. Der Prozeß um den in der Colonia Dignidad “verschwundenen” Alfonso Chanfreau aber eskalierte bis zu einem Spruch des Obersten Gerichtshofs und der darauf folgenden Absetzung eines obersten Richters und fand Eingang in die besten Sendezeiten des Fernsehens.
Es liegt in der Logik gerichtlicher Prozeduren, daß die großen Brocken zuletzt abgehandelt werden. Gegen die Chefs der DINA wird erst jetzt verhandelt. Aufhänger ist der Prozeß wegen der Ermordung des früheren chilenischen Außenministers Orlando Letelier im Washingtoner Exil 1976. Auch diesem Prozeß kommt ein politisches Gewicht zu, das über den verhandelten Tatbestand hinausgeht. Die Vorermittlungen waren so komplex, daß von DINA-Chef Manuel Contreras abwärts ein repräsentativer, bisher von Vorladungen verschonter Täterkreis auf der Anklagebank oder im Zeugenstand steht.
Das Säbelrasseln in Santiago am 28. Mai 1993 (siehe den Artikel von Jaime Gré in diesem Heft) war die symbolische Erinnerung daran, was die Militärs in Chile ausrichten können. Der oberste Herreskommandierende nach Pinochet, Santiago Sinclair, verlas das Programm zum wohlinszenierten Truppenaufmarsch in Kampfanzügen mitten in Santiago. Die Machtdemonstration richtete sich gegen die weitere Untersuchung von Scheckbetrügereien durch Pinochets Sohn, gegen das Recht der Zivilregierung, Offiziere in den Ruhestand zu versetzen, gegen die mögliche Freilassung der sechs Pinochetattentäter von 1988 und gegen die aktuellen Menschenrechtsprozesse, in denen sich Militärs verantworten müssen.

Die Angehörigen der Verschwundenen kämpfen weiter für die Wahrheit

Die “verschwundenen” politischen Gefangenen Chiles wurden, wie man heute weiß, ermordet. Wie, wann und durch wen sie ermordet wurden, ist nur in wenigen Fällen geklärt. Solange das so ist, ist die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht abgeschlossen. Im Alltagsbewußtsein wird dieser Prozeß gerne als abgeschlossen betrachtet. Das Schicksal der “Verschwundenen” bricht mit diesem Verständnis. Deshalb verstummt das “Wo sind sie” der Angehörigen nicht und löst immer neue Prozesse und Proteste aus. Selbst wenn die Angehörigen vergessen wollten, könnten sie es nicht, denn Vergessen setzt Trauer voraus, und um zu trauern bedarf es der Gewißheit des Todes. Die Opfer des staatlichen Terrors in Lateinamerika widersprechen aufgrund der Unaufgeklärtheit ihres Schicksals allen Appellen zur Versöhnung. Sie weisen kompromißlos auf die Halbwahrheiten staatlicher Kommissionsberichte hin und erweisen eingestellte Prozesse als faule Kompromisse mit den Tätern, die oftmals heute noch in einflußreichen Positionen sitzen.

Der Condor kreist noch über dem Cono Sur

Ein Artikel, ein chilenischer Agent und peinlich berührte Militärs

Am 12. Mai dieses Jahres erschien in Mate Amargo ein Artikel von E.F. Huidobro mit dem Titel “Ya la Vimos” (Das kennen wir doch). Darin wird die Existenz von Todesschwadronen öffentlich gemacht, die in Uruguay zum ersten Mal im Juli 1971 in Erscheinung traten. Huidobro spricht von diesen Todesschwadronen als Gruppen, die teilweise zum “legalen” Repressionsapparat (Polizei, Militär), gehören, an denen aber auch Zivilpersonen beteiligt sind und Leitungsfunktionen innehaben. Im Artikel beschreibt Huidobro die Verbrechen der Todesschwadronen von ihren ersten Aktionen in den 70er Jahren bis zum heutigen Tage.
Er verweist auf die Verantwortung des derzeit amtierenden Präsidenten, Luis Alberto Lacalle, der sich als unfähig erwiesen habe, den Provokationen der Militärs zu begegnen und somit zu ihrem Spielball geworden sei.
“Schlimmer noch”, schreibt Huidobro, “die Regierung versucht die Streitkräfte von dem abzulenken, was aktuell mit ihnen passiert”, nämlich vom Verfall des Soldes und der immer angespannteren sozialen Situation der Soldaten. Dazu greife die Regierung in die Trickkiste: Es werden Truppen nach Kambodscha und Mosambique geschickt und der neueste Knüller ist ein Gesetzentwurf, in dem die Streitkräfte völlig legal zu Wächtern der inneren Ordnung des Landes gemacht werden.
Die Militärs lehnen diese Maßnahmen größtenteils ab. In einer Morgenzeitung ließen sie erklären, daß sich der Präsident mit seinem Gesetzentwurf außerhalb der Verfassung bewege und daß sie wenig Lust verspürten, bei seinen Spielchen mitzumachen.
Huidobro ruft zur Wachsamkeit auf, nicht nur wegen der Existenz von Todesschwadronen, sondern auch wegen der Stümperhaftigkeit, mit der die Regierung versucht, die Situation zu beruhigen. Die Maßnahmen verstärken den Druck innerhalb der Militärs eher noch, stellen das Land international vor große Probleme, und die Bevölkerung wird erneut dem Terror der Rechtsradikalen ausgesetzt.
Die Antwort der Regierung auf diesen Artikel kam postwendend.
Die Staatsanwaltschaft leitete gegen den Autor ein Verfahren mit dem Vorwurf ein, er habe den Präsidenten beleidigt, indem er ihn einen “Esel” und einen “Betrunkenen” genannt habe.
Am Sonntag, den 8. Juni, zwei Tage vor der Verkündung des Urteils einer Haftstrafe von sechs Monaten gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza, macht die Regierung überraschenderweise die Entführung des chilenischen Biologen Eugenio Berrios öffentlich, der hochkarätiger Agent des Geheimdienstes DINA ist. Er soll, nach Informationen der chilenischen Justiz und der dortigen Menschenrechtsorganisationen, unzählige Verbrechen zu verantworten haben. Der Agent der Pinochet-Diktatur war im Mai 1992 mit falschen Papieren und Unterstützung chilenischer, argentinischer und uruguayischer Militärs aus Chile geflohen und hatte sich seitdem in Uruguay versteckt gehalten.

Agent Berrios: Ein Beweis für die Zusammenarbeit der Folterer

Berrios verfügte über viele Informationen, die für Pinochet und seinen engsten Mitarbeiter sehr kompromittierend werden könnten. Er war aktives Mitglied der “Red Condor”, der Koordination der Militärs aus Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Brasilien, wo seit 1976 Repressionsmaßnahmen untereinander abgestimmt wurden. Anscheinend wurde Berrios zwar zunächst von eben jenen Militärs geschützt, dann jedoch von ihnen entführt, da es zu gefährlich schien, ihn auf freiem Fuß zu lassen. Im November 1992 gelang es ihm, der Überwachung der Militärs zu entkommen und in einem Polizeirevier der Provinz Canelones, 48 Kilometer vor Montevideo, auf seine Entführung hinzuweisen. Verschiedene an Presse und Parlamentsabgeordnete gerichtete anonyme Briefe berichten, daß zahlreiche Militärs Berrios gewaltsam aus dieser Polizeistation weggeholt und die dortigen Beamten gezwungen hatten, die Anzeige, die er wegen seiner Entführung gemacht hatte, aus ihren Akten zu tilgen.
Es ist sicher kein Zufall, daß all diese Informationen erst am 8. Juni öffentlich gemacht wurden. Möglicherweise befürchtete die Regierung, die MLN-Tupamaros seien im Besitz dieser Informationen und würden sie in ihrer Zeitung Mate Amargo oder am zweiten Verhandlungstag des Gerichtsverfahrens gegen Huidobro und Zabalza veröffentlichen.
Der Fall Berrios hat das Land bereits in eine institutionelle Krise gestürzt, die sich im Zwist zwischen bürgerlicher Regierung und Armee manifestiert: Präsident Lacalle versprach zunächst, den Fall bis zur letzten Konsequenz zu untersuchen. Die militärischen Befehlshaber jedoch gaben den Entführern des Chilenen ihre volle Unterstützung und entzogen dem Verteidigungsminister der Regierung das Vertrauen. Lacalle gab schließlich am 11. Juni dem Druck der Oberbefehlshaber der Streitkräfte nach. Anstatt den Fall Berrios gründlich zu durchleuchten, akzeptierte er, daß die darin verwickelten Militärs der Militärjustiz übergeben wurden, was eine Aufklärung unmöglich macht. Als einziges Bauernopfer wurde der Chef des militärischen Geheimdienstes an einen anderen Posten versetzt – ein kleiner Fisch inmitten von so vielen Haien. Die uruguayische Bevölkerung, die Massenorganisationen und politischen Parteien bereiten sich darauf vor, die aktuelle “Demokratie” gegen einen möglichen Staatsstreich zu verteidigen, und selbst die USA schickten eine geheimdienstliche Verstärkung zur US-Botschaft in Uruguay.

“Du bist als nächstes dran” – Pressefreiheit in Uruguay

Inmitten dieser Ungewißheit häufen sich neue Drohanrufe, neuerdings gegen die Parlamentsabgeordneten Matilde Rodriguez und Leon Lev, gegen den Polizeiunterkommissar Hernandez, der Zeuge der Entführung des Chilenen Berrios aus dem Polizeirevier geworden war, und schließlich auch gegen die Schwester von Fernandez Huidobro. In allen diesen Fällen war die Botschaft dieselbe: “Wenn Du weiter mit Deinen Anklagen Staub aufwirbelst, bist Du als nächstes dran”.
Vor dem Hintergrund all dieser Ereignisse verdient ein Thema besondere Aufmerksamkeit: die mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit in Uruguay sowie in all den Ländern, die derzeit unter vegleichbaren “Demokraturen” leben. Innerhalb weniger Monate sind mehrere Journalisten wegen Verleumdung oder Beleidigung verurteilt worden, oder wurden entlassen, weil sie zensierte Informationen weitergeleitet hatten. Drei Journalisten der Wochenzeitung “Brecha” der Nachrichtenrdakteur eines privaten Fernsehkanals, und schließlich Fernandez Huidobro und Zabalza sind die jüngsten Fälle, jedoch nicht die einzigen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Einschüchterung aller JournalistInnen, damit sie sich selbst zensieren, ohne daß Justiz und Regierung dabei in der Öffentlichkeit als Zensoren und Repressoren wahrgenommen werden. Das alte und längst hinfällige uruguayische Pressegesetz erlaubt solche Schachzüge.

Aufruf zu Protestbriefen

Alle Einzelpersonen, Menschenrechtsorganisationen, internationalen Presseverbände, alternativen Medien, sowie alle politischen und sozialen Gruppierungen sind aufgefordert, sich per Brief oder Fax an den Obersten Gerichtshof in Uruguay zu wenden und die Rücknahme des Gerichtsurteils sowie die Einstellung des Verfahrens gegen Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza zu fordern.

Musterbrief an den Obersten Gerichtshof:

Señores Ministros de la Suprema Corte de Justicia,
por la presente deseamos manifestar nuestra preocupación por las denuncias de la actuación de un Escuadrón de la Muerte en la Republica Oriental del Uruguay. Por la información que se maneja a nivel internacional, el mismo ha sido responsable del asesinato de varias personas con trayectoria militante u opiniones progresistas, ha colocado bombas, ha atentado contra locales y autos, ha amenazado de muerte indiscriminadamente a menores, familiares de denunciantes de su existencia, sindicalistas y legisladores y hasta la fecha sus integrantes siguen sin ser identificados.
A su vez le solicitamos la anulación del juicio que la Fiscalía de la Nacion ha entablado contra Eleuterio Fernandez Huidobro y Jorge Zabalza por el artículo de prensa que denuncia la existencia de dicho Escuadrón, juicio sentenciado por la justicia de vuestro pais a 6 meses de prision por el delito de desacato. Entendemos que el no procesamiento de los dos condenados es de suma importancia, para preservar el derecho de informar de todos los trabajadores de la comunicación, en el marco de garantías para su persona.
Pensamos que la aplicación de la sentencia a estos dos periodistas es un ataque a la libertad de prensa.
Sin más, los saludamos muy atentamente.

Sehr geehrte Herren Richter vom Obersten Gerichtshof,
durch den vorliegenden Brief wollen wir unsere Besorgnis zum Ausdruck bringen über die Hinweise auf die Aktivitäten einer Todesschwadron in der Republik Uruguay. Der internationalen Informationslage zufolge hat diese Todesschwadron die Ermordung mehrerer Personen zu verantworten, die politisch aktiv waren oder fortschrittliche Meinungen vertraten. Sie hat ferner Bomben gelegt, Attentate gegen Häuser und Autos verübt, sowohl Minderjährige, Familienangehörige derjenigen, die auf ihre Existenz hinweisen, als auch GewerkschafterInnen und Abgeordnete mit dem Tode bedroht. Bis zum heutigen Tage sollen ihre Mitglieder unbekannt sein.
Gleichzeitig fordern wir Sie auf, das Gerichtsverfahren einzustellen, das die Generalstaatsanwaltschaft gegen Eleuterio Fernandez Huidobro und Jorge Zabalza eingeleitet hat wegen des Zeitungsartikels, der die Existenz der oben genannten Todesschwadron zum Thema hat. Wir fordern Sie auf, das von der Justiz ihres Landes in diesem Verfahren gefällte Urteil über eine sechsmonatige Haftstrafe wegen Unehrerbietigkeit gegenüber dem Staat zurückzunehmen. Wir sind der Ansicht, daß die Annulierung dieses Urteils von höchster Wichtigkeit ist, um das persönliche Recht, frei informieren zu können, für alle im Medienbereich Tätigen zu erhalten.
Wir denken, daß die Vollstreckung des Urteils gegenüber diesen beiden Journalisten einen Angriff auf die Pressefreiheit darstellt.

Die Adresse des Obersten Gerichtshofs lautet:
Corte Suprema de Justicia
Hector Gutierrez Ruiz 1310
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 90 10 41/42/43, 90 25 22 oder 91 91 04
Fax: 00 59 82 – 98 33 26
Eine Kopie der Protestschreiben sollte in jedem Fall an die Redaktion der Zeitschrift Mate Amargo gesandt werden. Die Adresse lautet:
Mate Amargo
Tristan Narvaja 1578
Montevideo – Uruguay
Tel.: 00 59 82 – 49 99 56 oder 49 99 57
Fax: 00 59 82 – 49 99 57

Kasten:

Chronologie der Drohungen und Attentate

1992: Eine Bombe mit Plastiksprengstoff zerstört das Auto des linken Abgeordneten (MPP/Frente Amplio) Hugo Cores. Zwei Bombenanschläge auf die Anwaltspraxis von J.P. Sanguinetti, Expräsident des Landes, Angriffe auf eine Bäckerei der Artilleriekaserne in Montevideo. Anschläge gegen die Botschaft der USA, Anschlag auf ein Auto in unmittelbarer Nähe des Hauses des Chefs der Streitkräfte und des US Botschafters. Bombenanschlag auf Gleisanlagen der Bahn im Landesinneren. Eine Bombe explodiert am Marinedenkmal. Für mehrere Anschläge übernimmt eine Gruppe mit dem Namen “Guardia de Artigas” die Verantwortung.
1993: Am 23. April wird der Aktivist der MLN-Tupamaros Ronald Scarzella ermordet aufgefunden. Francisco Martinez de Cuadra, ehemaliger MLN-Tupamaro, wird bewußtlos und mit elf Messerstichen verletzt gefunden. Eine Polizeistreife bringt ins Krankenhaus. Dort wird er später verhaftet. Vorwurf: Beteiligung an mehreren Raubüberfällen.
Ein weiterer Ermordeter wird in Salinas gefunden. Er ist der Bruder eines bekannten Ex-Tupamaros, der heute in Venezuela lebt.
Ein Mitglied der MLN-Tupamaros, er ist Gewerkschafter im Gesundheitsbereich, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Medikamente mitgenommen hatte.
Das Haus der Witwe von Raul Sendic, Xenia Itté, sie ist Präsidentin des “Movimiento por la tierra”, einer von Raul Sendic mitbegründeten Landbewegung, wird mit Hakenkreuzen, Beleidigungen und Morddrohungen beschmiert.
Das Büro des Movimientos und eine kleine Farm werden angegriffen, außerdem wird versucht, den Jeep der Organisation von der Straße abzudrängen. Eine der Töchter Ronald Scarzellas erhält einen Tag nach dem Tod ihres Vaters Morddrohungen. Ein Gewerkschaftskollege von Scarzella, wird ebenfalls mit dem Tod bedroht.

Neuer Präsident aus den Reihen der alten Stroessner-Partei

Stroessner ging – der Beginn eines steinigen Wegs zur Demokratie

Die Zerstrittenheit der Opposition hat den “Colorados” bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg beschert und somit zunächst die Perspektive auf eine demokratische Öffnung Paraguays blockiert. Juan Carlos Wasmosy reichte eine relative Mehrheit von 40 Prozent, um den Einfluß der Partei des Ex-Diktators Alfredo Stroessner auch für die kommenden fünf Jahre zu sichern. Nach fast 35 Jahren Militärdiktatur wurde Stroessner im Februar 1989 in einem blutigen Militärputsch gestürzt. Der Führer des Staatsstreiches, General Andres Rodríguez, kündigte noch in derselben Nacht die Demokratisierung Paraguays an. Dieses Versprechen machte ein Mann, der in der Militärhierarchie unmittelbar hinter Stroessner stand und der seinen gewaltigen Reichtum während der Diktatur zusammengerafft hatte. So groß die Hoffnungen nach der Vertreibung Stroessners ins brasilianische Exil waren, so gering erschienen die Chancen auf Veränderung. Rodríguez nutzte die Gunst der Stunde und wurde kurz nach dem Putsch im Mai 1989 als Kandidat der offiziellen “Colorado”-Partei, die auch schon Stroessner als politische Basis gedient hatte, mit offiziell über 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.
Die nach dem Abgang Stroessners immer stärker werdende Opposition zwang Rodríguez und die “Colorado”-Partei zu schrittweisen Zugeständnissen. Dabei nutzten die GegnerInnen Rodríguez’ die Freiräume aus den nach dem Putsch wiedereingeführten Grundrechten der Presse- und Versammlungsfreiheit. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Kommunalwahlen von 1991. Der Bürgermeisterposten in Asunción, eines der wichtigsten Ämter in Paraguay, ging an den unabhängigen und als links geltenden Kandidaten Carlos Filizzola der Bewegung “Asunción für alle”. Doch der über 35 Jahre gut funktionierende Apparat der “Colorados”, offiziell auch unter dem Namen “Nationale Republikanische Vereinigung” (ANR) agierend, hatte nur wenig von seiner Wirksamkeit eingebüßt. Trotz der Fraktionierung der Partei nach dem Sturz Stroessners wahrte sie in entscheidenden Momenten nach außen stets eine gewisse Einheit. Die kommunalen Parteisektionen sind nach wie vor relativ leicht zu mobilisieren. Dies zeigte sich Ende 1991 anläßlich der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Die “Colorados” erzielten wie zu Zeiten der Diktatur eine absolute Mehrheit. Die 1992 von diesem Gremium verabschiedete Verfassung wurde als die Grundlage des neuen demokratischen Paraguays dargestellt. Obwohl die “Colorados” über die absolute Mehrheit verfügten, entsprach die Verfassung in vielen Punkten den Forderungen der Opposition. Abgeordnete aus den eigenen Reihen stimmten oft aus machtpolitischem Kalkül gegen die offizielle Linie der Partei. In einem Punkt waren sich die “Colorados” jedoch einig: Wahlen werden bereits im ersten Wahlgang mit relativer Stimmenmehrheit entschieden. Das Kalkül, mit dieser Wahlrechtsreform die in sich gespaltene Opposition zu überflügeln, ging schließlich auf.

Kandidatenkür als Farce: Pressemanipulationen und interner Wahlbetrug

Der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann schon sehr zeitig. Bereits unmittelbar nach dem unerwarteten Sieg des unabhängigen Kandidaten Filizzola bei den Kommunalwahlen erklärte der reiche Unternehmer Guillermo Caballero Vargas seine Kandidatur. Anfangs war er um ein ausgesprochen sozialdemokratisches Image bemüht. Da die Sozialdemokratie in Paraguay aber kaum eine Basis hat – nur die eher unbedeutende “Febrerista”-Partei baut auf sozialdemokratischen Grundsätzen auf – wurde mehr auf den Aspekt des Neuen, Unverbrauchten und Erfolgreichen gesetzt. Caballero Vargas stützte sich auf das Bündnis “Nationales Zusammentreffen” (“Encuentro Nacional”), einen Zusammenschluß verschiedener kleiner Organisationen, Parteien und Parteiflügel. Vargas investierte Millionen in den Wahlkampf. Vor allem Presse und Rundfunk wurden von ihm beherrscht, ausgesprochen tendenziöse und wahrscheinlich gekaufte Artikel und Wahlprognosen unterstützten seine Kandidatur.
Der zweite Oppositionskandidat, Domingo Laino, wurde von der “Authentisch Liberal Radikalen Partei” (PLRA) nominiert. Er zehrte vor allem von seinem Ruf als unerschrockener Kämpfer gegen die Stroessner-Diktatur. Allein 1988 wurde er zehnmal verhaftet. Die PLRA besteht bereits seit über einhundert Jahren und verfügt vor allem in den ländlichen Gegenden traditionell über eine große AnhängerInnenschaft, die sie auch in den Jahren der Diktatur bewahrte.
Der dritte aussichtsreiche und letztlich siegreiche Kandidat war Juan Carlos Wasmosy, nominiert von der herrschenden “Colorado”-Partei. Er ist ebenfalls reicher Unternehmer und vorrangig in der Baubranche tätig, die seit dem Bau des Itaipú-Staudamms an der Grenze zu Brasilien ständig wächst.
Bereits seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat hing der Ruch von Betrug und Manipulation an. Wasmosy, erklärter Favorit des derzeitigen Präsidenten Rodríguez sowie der nach wie vor sehr mächtigen Militärs, hatte die parteiinternen Wahlen gegen den erzkonservativen und stroessnerfreundlichen Luis María Argana verloren. Eine von der Parteiführung eingesetzte Untersuchungskommission erklärte diese interne Wahl mit dem zweifelsohne berechtigten Hinweis auf Manipulationen für ungültig und ernannte prompt den als gemäßigt geltenden Wasmosy zum Sieger. Argana rief daraufhin offen dazu auf, nicht für Wasmosy zu stimmen. Seine zahlreiche AnhängerInnenschaft stand daher vor dem offensichtlichen Dilemma, mit der Erststimme (Präsidentenstimme) entweder einen Oppositionskandidaten zu wählen oder einen ungültigen Wahlschein abzugeben. Die meisten AnhängerInnen Arganas stimmten für Caballero Vargas, denn die Stimme dem liberalen Erzfeind Domingo Laino zu geben, kam für diesen konservativsten Teil der “Colorados” nicht in Frage.

Wahlkampf mit Mauscheleien

Caballero Vargas hatte zwar Presseberichten zufolge leichte Vorteile in Asunción, verfügte aber in den ländlichen Regionen über keine nennenswerte politische Basis. Die “Colorado”-Partei mobilisierte ihre AnhängerInnen mit populistischen Losungen und vor allem mit dem Schüren von Angstpsychosen: Falls die Opposition siegen würde, bekämen alle “Colorados” die Rache für die langjährige Unterdrückung während der Diktatur zu spüren, zum Beispiel durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst.
Am 9. Mai, dem Wahlsonntag, standen nicht nur das Präsidenten- und das neu geschaffene Vizepräsidentenamt, sondern auch 45 Senatoren- und 80 Deputiertensitze sowie 17 Gouverneursposten und 167 Gouverneursräte zur Abstimmung. Das Wahlverfahren selbst war ausgesprochen umständlich. In Asunción galt es drei, im übrigen Land fünf Stimmzettel auszufüllen. Um unmittelbarem Wahlbetrug vorzubeugen, waren zahlreiche Kontrollmechanismen eingeführt worden. Die Stimmabgabe selbst verlief recht ruhig, die Beteiligung war mit über 70 Prozent ausgesprochen hoch. In der Provinz Alto Paraguay kam es zu Übergriffen und Manipulationsversuchen durch “Colorados”, die vor allem der Einschüchterung der Opposition und der indigenen Bevölkerung dienen sollten. Gerüchte, daß Personalausweise, die zur Identifizierung als Wahlberechtigte notwendig sind, aufgekauft wurden, konnten allerdings nicht bewiesen werden.
Der eigentliche Eklat begann mit Schließung der Wahllokale um 17 Uhr. Bereits Minuten später gab Humberto Rubin vom bekannten Radiosender Nanduti Hochrechnungen bekannt, die die “Colorado”-Partei zur Siegerin erklärten. Diese Prognose beruhte auf willkürlichen Befragungen von WählerInnen beim Verlassen der Wahllokale. Offensichtlich wurden diese Aussagen gekauft. Pikanterweise unterlag gerade Radio Nanduti während der Stroessner-Diktatur harten Verfolgungen und direkten Repressalien durch die “Colorados”. Mit Bekanntgabe dieses “Ergebnisses” begannen sofort im ganzen Lande Siegesfeiern der AnhängerInnen der “Colorados”, deren Schar erstaunlich schnell um zahlreiche “ÜberläuferInnen” anwuchs.
Offensichtlich sollten so schnell wie möglich vollendete Tatsachen geschaffen werden. Offizielle Angaben zu einem Teil der Wahlbezirke lagen dagegen erst 24 Stunden nach der Wahl vor. Gleichzeitig wurde die Auswertung der unabhängigen Initiative SAKA (Guaraní-Wort für Transparenz) von offizieller Seite lahmgelegt. Die staatliche Telefongesellschaft ANTELCO unterbrach unter dem Vorwand technischer Probleme, die eigenartigerweise nur bei SAKA auftraten, alle entscheidenden Telefonleitungen. Erst durch massive Einflußnahme des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, der eine BeobachterInnengruppe leitete, intervenierte Präsident Rodríguez bei der Telefongesellschaft. Schließlich konnten die MitarbeiterInnen von SAKA doch noch ihre Ergebnisse zur Auswertung nach Asunción weiterleiten.
Die Parallelauswertung dieser Initiative bestätigte am Ende allerdings bis auf geringe Differenzen die offiziellen Wahlergebnisse. Die befürchtete Manipulation der Wahlergebnisse blieb anscheinend aus. Alles spricht indessen dafür, daß die “Colorado”-Partei darauf vorbereitet war, Wahlfälschungen vorzunehmen. Eine “interne” Stimmenauszählung, die den Sieg Wasmosys ergab, machte Manipulationen jedoch überflüssig.
Zweifel an der Sauberkeit der Wahlen wurden auch durch die Tatsache genährt, daß am Wahltag völlig überraschend die Landesgrenzen geschlossen wurden. Eine Million ParaguayerInnen, die beispielsweise in Argentinien wohnen, wurden daran gehindert, ihre Stimme abzugeben. Die im Ausland lebenden ParaguayerInnen gelten fast ausschließlich als AnhängerInnen der Opposition.

Favorit der Militärs neuer Präsident

Eine Woche nach der Wahl lagen noch immer keine offiziell bestätigten Wahlergebnisse vor. Den bisher veröffentlichten Angaben zufolge, die aber kaum noch größeren Veränderungen unterliegen werden, wird Juan Carlos Wasmosy von der “Colorado”-Partei der neue Präsident Paraguays und Angel Roberto Seifert neuer Vizepräsident. Wasmosy erhielt 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, Laino 32 Prozent und Caballero Vargas 23,4 Prozent. Die “Colorados” verfügen über insgesamt 60 Senatoren und Deputierte, die Liberalen über 49 und die “Nationale Zusammenkunft” entsendet 16 Abgeordnete ins neue Parlament. Die “Colorado”-Partei wird zukünftig in 13 Provinzen und die Liberalen in vier Provinzen den Gouverneur stellen.
In Paraguay wird es von 1993 bis 1998 eine Regierung geben, die fast zwei Drittel der WählerInnen gegen sich hat. Die “Colorado”-Partei profitierte davon, daß zwei fast gleich starke Oppositionskandidaten gegeneinander antraten und sich die Stimmen streitig machten. Damit sind die Oppositionsführer mitverantwortlich für den Erfolg der “Colorado”-Partei, denn ein gemeinsamer Kandidat hätte gewiß die Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht.
Wie schon zu Zeiten der Stroessner-Diktatur macht sich der Mangel an politischer Zusammenarbeit zwischen den Oppositionskräften schmerzhaft bemerkbar. Die Chance für einen politischen Wechsel und die Fortführung der Demokratisierung wurde für weitere fünf Jahre vertan. Allerdings ist die Opposition mit einer Mehrheit im Parlament jetzt seit Jahrzehnten erstmals in der Lage, in Paraguay Politik und gesellschaftliche Veränderung mitzubestimmen oder gar zu erzwingen, denn mit der neuen Verfassung sind auch die Rechte des Parlaments gewachsen. Es bleibt zu hoffen, daß sowohl die “Authentisch Liberal Radikale Partei” als auch die “Nationale Zusammenkunft” aus den Wahlen entsprechende Lehren gezogen haben und eine gemeinsame parlamentarische Arbeit anstreben. Die parlamentarische Zusammenarbeit könnte für die Wahlen von 1998 zu einer Listenverbindung der Oppositionsparteien führen, deren Erfolg dann den endgültigen Schlußstrich unter die Stroessner-Diktatur bedeuten könnte.

Ein Virus kennt keine Grenzen

In Brasilien stieg die Zahl der AIDS-Erkrankten von 1000 im Jahre 1986 auf 31.949 Ende 1992. Die Zahl der Neuinfizierten wird von der WHO, ebenso wie von der interdisziplinären brasilianischen Vereinigung gegen AIDS, ABIA (Associacâo brasileira interdisciplinar de AIDS) auf 500.000 – 700.000 Menschen geschätzt.
Lange Zeit hat der brasilianische Staat das Problem ignoriert und zum Problem von Randgruppen degradiert; der öffentliche Gesundheitssektor verweigerte sich. Als Reaktion gründeten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen, wie das Betreuungsprojekt “Fazenda da Esperança” (Hof der Hoffnung), der “Grupo PELA VIDDA” (Gruppe Kampf für das Leben) und im Juni 1991 der “Coalizao Global de Políticas contra AIDS” (Globale Koalition der Politiker gegen AIDS).

Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden

Seit 1981 wurden 5,6 Milliarden US-$ für die Bekämpfung des Virus ausgegeben. Davon entfiel ein Anteil von 97 Prozent auf die Industrienationen. Pro Person wurden 1991 in den USA 2,7 US-$, in Europa noch 1,18 US-$ verwendet, während in Afrika 0.07 US-$ und in Lateinamerika ganze 0.03 US-$ zur Verfügung standen.
Eine AZT-Behandlung (Azidothymidin – gegenwärtig die einzige medizinische Behandlungsmethode, die den Krankheitsverlauf verlängert) wird mit ca. 2.500 US-$ pro Jahr veranschlagt. Unbezahlbar für die meisten Menschen im Süden, wo das Bruttonationalprodukt pro Person durchschnittlich bei 700 US-$ liegt. AIDS ist nur ein Problem unter vielen, nebensächlich selbst im Gesundheitssektor. Dabei verdoppelt sich die Zahl der Infizierten alle 3-4 Jahre, in Deutschland hingegen alle 6-8 Jahre. Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden.

….zwischen arm und reich

Solange AIDS in Brasilien als Krankheit der homosexuellen Elite galt, konnten Randgruppen stigmatisiert werden. Mittlerweile ist AIDS eine Gefahr für die Ärmsten des Landes geworden. Die Ober- und Mittelklasse Brasiliens besteht überwiegend aus Weißen. Mischlinge, Schwarze und Indios bilden die große Mehrheit der benachteiligten Schichten; Klassenschranken erweisen sich als Rassenschranken. Dies spiegelt sich auch im Erziehungs- und im Gesundheitssektor wider. Während die Oberschicht und die wohlhabenden Teile der Mittelschicht dank ihrer besseren Ausbildung empfänglicher für die Aufklärungsarbeit gegen AIDS sind, herrscht in den weniger gebildeten, oftmals des Lesens und Schreibens unkundigen unteren Schichten ein mit groben Fehlinformationen durchsetztes Halbwissen vor. Die Ansicht, daß derjenige, der ein Kondom benutzt, infiziert sei, ist gerade in den Favelas fest verwurzelt, eine Präventionsarbeit somit erschwert.
Personen, die in einer teueren privaten Krankenversicherung Mitglied sind, können im privatwirtschaftlichen medizinischen Sektor nach westlichem Standard behandelt werden, während die Versorgung im öffentlichen Sektor auf Notfälle beschränkt bleibt. Konsequenz: Für Angehörige der Unterschicht beträgt die Überlebenszeit nach einer AIDS-Diagnose 1-2 Monate, für jene der Mittelklasse hingegen 1 1/2 – 2 Jahre . Das Virus unterscheidet zwischen arm und reich.

Doch eine Intelligenz besitzt es nicht !

Diese strukturellen politischen und sozialen Mißstände veranlaßte die “Coalizâo Global de Políticas contra AIDS” eine neue Strategie für die neunziger Jahre zu formulieren: effektivere Prävention, angepasst an die örtlichen Verhältnisse. Eine Betreuung und Behandlung aller HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten, da oftmals AIDS-Erkrankte in öffentlichen Hospitälern abgewiesen werden. Verlangt wird der Abbau von sozialen Schranken im Erziehungs- und Gesundheitsbereich.
Wirksame Präventionsarbeit wird von der Qualität des sozialen System bestimmt: Nur wenn offen und ohne Vorurteile gegenüber anderen Lebensmodellen diskutiert werden kann, kann sie erfolgreich sein. Das soziale Klima Brasiliens steht dem jedoch im Wege – so dokumentierte die brasilianische Schwulengruppe “Grupo Gay de Bahia” 1.200 Morde in den achtziger Jahre an Schwulen und Lesben.
Im März 1989 gründete sich die “Grupo PELA VIDDA”, die gegen diesen “morte social” kämpft und die offizielle AIDS-Politik kritisch begleitet. Ihr Hauptziel ist es, das Leben der Infizierten und Erkrankten zu garantieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Zudem versucht sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit die politische und soziale Dimension von HIV/AIDS zu thematisieren und die Betroffenen von ihrem Stigma zu befreien. Neben Frauentreffen, Gymnastik- und Kunstunterricht bieten sie psychologische Erstberatung und juristische Hilfe an. Ein monatlich erscheinendes Bulletin soll zur Diskussion anregen: Mittlerweile existieren in fünf weiteren brasilianischen Städten ähnliche Gruppen – in Sâo Paulo, Caritiba, Vitória, Goiânia und Niterói.

Land der Hoffnung

Vornehmlich drogengebrauchende Straßenkinder finden seit 1983 auf der “Fazenda da Esperança” die Möglichkeit zum Entzug sowie medizinische Betreuung bei AIDS-Erkrankung.
Der Franziskanerpater Frei Hans Stapel und der damals neunzehnjährige Nelson Giovanelli begannen zunächst im Umfeld des Pfarrhauses Stapels in Guaratiguetá mit der Betreuung von Straßenkindern. Seit Beginn des Projekts wird auf überwiegende Eigenfinanzierung gesetzt. Anfangs schnitten die Jungs und Mädchen die Hecken der Reichen der Stadt, pflegten deren Gärten und hüteten deren Kinder. Dank einiger Landschenkungen in der näheren Umgebung Guaratinguetás, darunter ein riesiges Bergbauareal in der Serra de Mantiquiera, gewann das Projekt rasch an Eigendynamik. Heute, neun Jahre nach Beginn, leben ca. 270 Personen in den verschiedenen Häusern des Sozialwerkes, darunter ca. 90 HIV-Infizierte und AIDS-Erkrankte, von denen sich 21 Personen im Endstadium befinden.
Sie verwalten sich selbst und wählen bei regelmäßigen Versammlungen die zweiköpfige Leitung eines ihrer jeweiligen, nach Geschlechtern getrennten Gemeinschaftshäusern.
Verschiedene Produktionszweige, wie Möbelschreinerei, Schweine- und Geflügelzucht, eine Brauchwasser-Produktion, eine Müllverarbeitung finanzieren nicht nur das Projekt, sondern erhöhen und festigen das Selbstwertgefühl der ehemaligen Straßenkinder.
Mit einem eigenen LKW holen die Arbeiter der Obra den sortierten Müll von 30.000 Haushalten Guaratinguetás ab, der zuvor von rund 60 Familien aus einem Elendsviertel der Stadt eingesammelt wurde. Glas wird zerkleinert, Papier und Dosenblech werden zu tonnenschweren Frachtquadern gepreßt, Kunststoff sortiert, “gebacken” und zu Granulat verarbeitet. Die erzielten Gewinne fließen immer dorthin, wo Mangel herrscht. Das Fazenda-Projekt ist, sich für den täglichen Bedarf nicht auf Spenden zu verlassen, sondern ihn selbst zu erarbeiten und zu erwirtschaften. Das “Prinzip Hoffnung” mag für die Errichtung der Infrastruktur gereicht haben und noch reichen, für die tägliche Versorgung wäre ein Verlaß darauf sträflich.
HIV-Infizierte sind in die Arbeitsprozesse integriert, selbst die Erkrankten entscheiden sich bei zwischenzeitlicher Genesung in der Regel zur Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit, ggf. wird ihnen eine leichtere Arbeit, z.B. die Pflege der Gemeinschaftshäuser übertragen. Arbeit, Mitarbeit schafft Kommunikation, Herumsitzen bedeutet Isolation.

Anläßlich des Welt-AIDS-Tages 1991 der WHO unter dem Motto “Sharing the challenge” (Die Herausforderung gemeinsam annehmen – weltweit) ging die Berliner AIDS-Hilfe mit der “Fazenda da Esperança ein Partnerschaftsprojekt ein.

Spendenkonto:
Berliner AIDS-Hilfe
Sonderkonto Brasilien
Bank für Sozialwirtschaft
BLZ 100 205 00
Konto-Nr. 3 132 203)

Brasilien macht mobil gegen Hunger

Die Zahlen und Berichte zeichnen ein düsteres Bild von der sozialen Lage in Brasilien. Hunger ist nicht länger nur ein Phänomen Afrikas, sondern findet sich auch in der achtgrößten kapitalistischen Wirtschaft der Welt. 31 Millionen Menschen leben in Brasilien in absolutem Elend, unterhalb der Armutsgrenze. Das heißt nach den gängigsten Indikatoren, daß das pro Kopf Einkommen in einer Familie maximal 25 Prozent des Mindestlohnes (der etwa bei 120 DM liegt) erreicht. Die extreme Armut ist sowohl ein Phänomen der Städte wie des Landes, aber die größte Konzentration von Armut und absolutem Elend findet sich auf dem Land: Nur 20 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben auf dem Land, aber jedeR zweite Arme kommt von dort. Im Nordosten des Landes, dem “Armenhaus Brasiliens” lebt über die Hälfte der Armen. Mehr vielleicht noch als solche Zahlen haben Bilder von der Dürre im Nordosten die Nation wachgerüttelt: Menschen ziehen in die Städte auf der Suche nach Wasser und Nahrung, viele treibt der nackte Hunger.

Hunger und Dürre im Nordosten

Der Vorsitzende der Arbeiterpartei (PT) Lula, ist jüngst in einer großen Karawane vom Pernambuco im Nordosten Brasiliens nach Sao Paulo gezogen, den selben Weg, der ihn als jungen Mann auf der Suche nach Arbeit in die Küstenmetropole führte, direkt in die Fabriken multinationaler Konzerne. Viele haben die Karawane als Wahlkampfmanöver verurteilt: 1994 wird ein neuer Präsident gewählt, und Lula führt die ersten Umfragen an. Aber wenigstens hat die Karawane das Augenmerk der Öffentlichkeit auf das blanke Elend im Nordosten gelenkt. Und die PT (bzw. die von ihr geführte “Parallelregierung”) hat bereits vor einem halben Jahr einen Aktionsplan zum Kampf gegen den Hunger veröffentlicht, der in seinen Grundzügen von Präsident Itamar akzeptiert worden ist. Nun sind Hunger, Elend und Dürre nichts Neues, aber in Brasilien gibt es seit jeher eine Doppelstrategie, darauf zu reagieren. Zum einen gilt Armut als traditionelles und quasi natürliches Phänomen, das es immer gegeben hat und auch weiter geben wird. Zum anderen haben verschiedene Regierungen und internationale Organisationen ein ganzes Arsenal von Unterstützungs – und Entwicklungsprogrammen gestartet, die vor allem eins eint: ihre sekundäre Erfolgslosigkeit – im Kampf gegen die Armut. Aber das heißt nicht, daß sie effektlos blieben. In den meisten Fällen haben diese Programme lokalen Eliten und politischen Zwecken gedient und genützt. Im Nordosten spricht man inzwischen von einer “Industrie der Dürre”, die das Netz der Oligarchie meint, die sich der Hilfsprogramme bemächtigt. So wird der mit öffentlichen Geldern bezahlte Brunnenbau in der Regel auf dem Land von Großgrundbesitzern vorgenommen. Ein jüngster Fall hat diese Praxis wieder in das Bewußtsein gebracht: Inocêncio, seines Zeichens Parlamentspräsident (d.h. die Nr. 2 in der aktuellen Ämterhierarchie) und Großgrundbesitzer, hat mehrere Brunnen auf Staatskosten auf seinen Fazendas anlegen lassen.
Erstes Ziel der Kampagne ist es, eine weitgehend hingenommene Tatsache, die immense Armut im Land, wieder zu “skandalisieren”, zu einem Stein des Anstoßes zu machen. Und zu Recht verweisen die InitiatorInnen darauf, daß Brasilien zu den Ländern mit der höchsten Einkommenskonzentration der Welt gehört: die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung vereinigen gerade einmal 2,3 Prozent des Nationaleinkommens auf sich (in der BRD sind es 6.8 Prozent, in Indien 8.1 Prozent). Soweit ist die Stoßrichtung und das Ziel der Kampagne sicherlich nachzuvollziehen. Aber was soll nun konkret gemacht werden? Die SprecherInnen der Kampagne betonen stark die Notwendigkeit von Sofortmaßnahmen. Gerade da erheben sich auch kritische Stimmen , die befürchten , die Kampagne könne in die alten Fallen einer reinen Nahrungsverteilungspolitik geraten. Wie dem auch sei: die Kampagne hat es geschafft, ein aus der Öffentlichkeit weitgehend verdrängtes Thema in die Diskussion zu bringen – und zwar nicht in eine allgemeine Diskussion über Armut, sondern darüber, was jetzt getan werden kann und muß.

Die doppelte Dimension beim Kampf gegen das Elend

Ein Erfolg ist auch, daß der Gewerkschaftsdachverband CUT die Kampagne aktiv unterstützen will. Wir dokumentieren Auszüge eines Textes von Herbert de Souza, der die Position der Gewerkschaften zu der Aktion zusammenzufassen versucht:
“Der Kampf gegen das Elend hat eine doppelte Dimension, er beinhaltet Sofortmaßnahmen und struktuelle Änderungen. Die Verbindung zwischen diesen beiden Dimensionen ist komplex und fordert List. Nur auf der Ebene der Sofortmaßnahmen zu agieren, ohne die Struktur zu berücksichtigen, bedeutet, die Armut zu perpetuieren. Aber nur struktuelle Änderungen ins Auge zu fassen, ohne auch hier und jetzt etwas zu tun, ist aktueller Zynismus im Namen einer langfristigen Menschenliebe. Wenn ein Land in die Situation Brasiliens geraten ist, daß ein Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut lebt, dann wird diese Frage noch dramatischer. Tatsächlich müssen wir den Sofortmaßnahmen ein großes Gewicht geben (Essen hier und jetzt für alle, die Hunger haben) und gleichzeitig müssen wir die struktuellen Fragen angehen: Wiederaufnahme des Wirtschaftswachstums, Kampf gegen die Inflation, Schaffung von Arbeitsplätzen, Bodenreform … und insbesondere Reform und Demokratisierung des Staates. Der Kampf gegen das Elend ist auch und wesentlich ein Kampf um die Ethik in der Politik. Ethik, weil das Elend nicht vom Himmel gefallen ist wie ein Naturereignis, als sei es ein Virus, der die Länder der Dritten Welt befällt. Es ist produziert von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt und von führenden Gruppen, die Namen haben und die – bis zum Beweis des Gegenteils – wissen, was sie tun. Die Armut in Brasilien hat eine lange Geschichte, sie kam mit den Kolonisatoren, sie entwikkelte sich mit den lokalen Oligarchien, und sie verschärfte sich mit den heutigen Eliten: den Großgrundbesitzern, den nationalen und internationalen Oligopolen in der Industrie, im Handel und Finanzsektor. Sie entwickelte sich auch unter der Komplizenschaft der Mittelschichten, die bei der Entscheidung zwischen Herren und Sklaven nicht zögerten, sich für oben zu entscheiden. Und sie entwickelten sich mit der Resignation eines großen Teils der Unterdrückten, die sich an den gesellschaftlichen Ausschluß anpaßten, die Folgen der Revolte fürchtend. So kam es dazu, daß Brasilien sich in die achtgrößte Wirtschaftsmacht der kapitalistischen Welt verwandelte und in das Land mit der größten Konzentration an Reichtum in der Welt. In ein Land also, das Maximum für eine Minderheit bietet und das absolute Minimum für seine große Mehrheit. Jetzt, wo das Elend die Mittelschichten und ihre Kinder angreift, Supermärkte plündert, Millionäre und Geschäftsleute entführt, die Leute auf der Straße überfällt, erschreckt, die Strände bedroht, jetzt wo sein ganzes Ausmaß die Häuser von Millionen betrifft, da beginnt das Land zu fragen, was machen wir mit unseren Armen? Einige schlagen die Todesstrafe vor, andere die Geburtenkontrolle und die massenweise Sterilisierung (die es im übrigen ja schon gibt); andere hingegen die Organisierung der Polizeigewalt gegen das Elend oder soziale Apartheid, die unser Wirtschaftssystem verfestigt.”
Um dieser Barbarei etwas entgegenzusetzen, entstand der Vorschlag der PT, einen “Nationalen Rat für Ernährungssicherheitet” einzurichten, ein Vorschlag der von der Regierung Itamar akzeptiert wurde. Zur selben Zeit entstand die “Bürgeraktion gegen das Elend und für das Leben” , die nun Komitees in allen Städten Brasiliens schaffen wird.

Versteckte Erfolge gescheiterter Wirtschaftspolitik

Lateinamerika ist der Schauplatz gescheiterter Wirtschaftspolitiken – so scheint es zumindest. Von staatlich kontrollierten Entwicklungsprogrammen über autoritäre Marktstrategien bis hin zu heterodoxen Ansätzen zur Bekämpfung von Hyperinflation bei gleichzeitigem Verzicht auf neoliberale Privatisierungsprogramme ist jede Form der Wirtschaftspolitik innerhalb der letzten zwanzig Jahre einmal ausprobiert und für gescheitert erklärt worden.
Alle Mißerfolge haben bisher nicht dazu geführt, die gängigen Wirtschaftspolitiken oder die ihnen zugrunde liegenden Theorien zu verwerfen. Stattdessen bewegt sich die aktuelle Debatte um Stabilisierung und Anpassung noch immer im engen Rahmen traditioneller, neoliberaler und strukturalistischer Ansätze. Dabei leiden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften unvermindert an Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten.
Woher kommt dieses ungebrochene Vertrauen zu gescheiterten Theorien und Strategien in Lateinamerika? Für gewöhnlich wird das mit dem Hinweis erklärt, diese Theorien und Strategien seien andernorts erfolgreich gewesen, und in Lateinamerika sei nur die richtige Umsetzung versäumt worden. Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, daß ein nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzungleichgewichten gemessener Mißerfolg gleichwohl als Erfolg gewertet werden kann, sofern einmal aus einer anderen Perspektiven geschaut wird. Obwohl neoklassische und strukturalistische Ansätze nicht zu makroökonomischen Gleichgewichten führten, haben sie doch auf ihre Art gesteigerte Ausbeutung sowie die Stärkung der dafür notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen mit sich gebracht. Die klassischen Ansätze waren also genau in jener Dimension erfolgreich, die bislang keine Beachtung in der Standard-Debatte fand: dem Verhältnis der Klassen.

Die Herausforderung für die Linke

Die von der augenblicklichen theoretischen und politischen Debatte vorgegebenen Maßstäbe zu akzeptieren, wäre gleichbedeutend damit, die Kriterien von Erfolg und Scheitern gleich mit zu übernehmen. Die Herausforderung, der sich die Linke gegenübersieht, besteht darin, über die traditionelle Kritik an marktfixierter neoliberaler Politik hinauszugehen, sich deutlich vom strukturalistischen Pol der Debatte abzusetzen, um die Beschränkungen beider Seiten zu offenbaren. Den Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Klassen in den Vordergrund zu rücken, stellt eine Möglichkeit dar, die Begrenztheit der augenblicklich stattfindenden Diskussion zu überwinden.
Die Mehrheit der mainstream-ÖkonomInnen denkt, makroökonomische Stabilisierungs- und Anpassungspolitik habe nichts mit der Klassenfrage zu tun. Sie übersehen dabei die Wechselwirkung zwischen Formen kapitalistischer (und anderer) Ausbeutung auf der einen Seite sowie Stabilisierung und Anpassung auf der anderen Seite. Stattdessen gehen sie davon aus, daß die Probleme von Stabilisierungs- und Anpassungspolitiken “naturgegeben” seien, weil es innerhalb der Wirtschaft einen steuernden Mechanismus gebe, der nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Klassen in Verbindung gebracht werden könne. Auch über die Maßstäbe für erfolgreiche Wirtschaftspolitik besteht Einigkeit: Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.
Worin sich neoklassische und strukturalistische ÖkonomInnen unterscheiden – und was die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt -, sind die angebotenen Rezepte für wirtschaftlichen Erfolg und selbstverständlich die Begründungen für fehlgeschlagene Strategien. Die Neoklassik wird meist mit den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen kreditgebenden Institutionen in Verbindung gebracht: strikte Geldpolitik, Abbau staatlicher Defizite, Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels sowie des Kapitalmarkts. Der Strukturalismus kritisiert diese orthodoxen Politikempfehlungen und setzt sich im Gegenzug für eine heterodoxe Politik ein, die Lohn- und Preiskontrollen ebenso einschließt wie andere Interventionen des Staates in das Marktgeschehen.
Dieser Gegensatz läßt sich größtenteils aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herleiten. In der neoklassischen Theorie ist es das menschliche Individuum, das in letzter Konsequenz wirtschaftliche Prozesse steuert. Stabilisierung und Anpassung werden als die natürliche Folge einer Politik angesehen, die es den Individuen gestattet, rationale Entscheidungen auf freien Märkten durchzusetzen. Der Staat braucht nur einzugreifen, um Marktverzerrungen zu beseitigen, die die Wahlfreiheit der MarktteilnehmerInnen einschränken.

Heilt der Markt sich selbst?

Nach neoklassischen Vorstellungen kann es zu zeitweisen Ungleichgewichten kommen, wenn ein unerwartetes Ereignis wie das plötzliche Steigen der Ölpreise eintritt, ohne daß die Individuen genug Zeit hatten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Ungleichgewicht kann fortbestehen, wenn Marktverzerrungen wie starre Löhne oder staatliche Kontrollen der Devisenmärkte die MarktteilnehmerInnen davon abhalten, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Sobald diese Hindernisse jedoch überwunden und den Individuen gestattet wird, ungehindert ihre Entscheidungen auf freien Märkten zu treffen, wird die Wirtschaft wieder einen Gleichgewichtszustand erreichen. Nach der neoklassischen Lehre stehen PolitikerInnen vor der Alternative, entweder nichts zu tun und auf die individuelle Entscheidungskompetenz der MarktteilnehmerInnen zu vertrauen, oder aber im Falle von Marktverzerrungen beziehungsweise staatlichem Mißmanagement Marktbeschränkungen aufzuheben und den Staat auf seine eigentliche Funktion zu verweisen: die Sicherung freier Märkte und privaten Eigentums.
StrukturalistInnen haben immer wieder die neoklassische Sichtweise eines möglichst passiven Staates kritisiert. Sie argumentieren, daß Märkte nicht aus eigener Kraft zu Gleichgewichtszuständen zurückfinden, sondern staatlicher Leitung bedürfen. Auch die Annahme, Makroökonomie ließe sich durch individuelles Verhalten erklären, wird zurückgewiesen. Die Probleme um Stabilisierung und Anpassung ergeben sich vielmehr aus Machtbeziehungen und anderen wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen. Preise etwa seien nicht durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern würden in gewissen Grenzen von mächtigen Großunternehmen vorgegeben. Der Strukturalismus geht weiterhin von Voraussetzungen aus, die von der Neoklassik geleugnet werden: begrenzte Kapitalmärkte, Unsicherheit wichtiger MarktteilnehmerInnen, geringe Risikoinvestitionen, Engpässe bei der Produktion von Nahrungsmitteln. Nicht Einzelentscheidungen spielen die zentrale Rolle; es sind eben diese unausweichlichen Defizite von Märkten, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Darum sprechen sich StrukturalistInnen auch im Gegensatz zu NeoklassikerInnen für gesteigerte Marktkontrollen aus. Die Regulierung von Löhnen und Preisen, Industriepolitik, staatlich kontrollierter Devisenhandel und eine aktive Ausgabenpolitik des Staates bilden die Bestandteile strukturalistischer heterodoxer Politik.

Existenz von Klassen und Ausbeutungsverhältnissen

Das grundlegende Problem innerhalb dieser Debatte besteht darin, daß das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft ausgeblendet wird. Sowohl die Neoklassik als auch der Strukturalismus richten ihre Aufmerksamkeit auf nahezu “naturgegebene” Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens, die weder etwas mit der Existenz von Klassen noch mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen und anderen Linken, den Zusammenhang zwischen Anpassungspolitik und Klassenauseinandersetzung aufzuzeigen. In der marxistischen Theorie wird davon ausgegangen, daß die Aneignung der Mehrarbeit der direkten ProduzentInnen, also der ArbeiterInnen, in der kapitalistischen Form des Mehrwerts oder in anderen nichtkapitalistischen Formen erfolgt. Erst einmal angeeignet, wird die Mehrarbeit an Handelshäuser, Banken oder den Staat verteilt – in und außerhalb Lateinamerikas.
Sollte “Klasse” als Begriff in der herkömmlichen Betrachtungsweise – etwa im Strukturalismus – doch einmal eine Rolle spielen, werden darunter dann nur Gruppen von MarktteilnehmerInnen verstanden, die Einkommensströme für sich in Anspruch nehmen und unterschiedliche Konsum-, Spar- und Investitionsneigungen haben. In diesem Sinn beziehen sich StrukturalistInnen anders als ihre neoklassischen KontrahentInnen häufig auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, übersehen aber dennoch die Existenz von Ausbeutungsverhältnissen samt ihrer wichtigen sozialen Effekte.

Argentinien, Brasilien, Peru: Versuchsfelder für mainstream-ÖkonomInnen

Die Auswirkungen der neoklassisch-strukturalistischen Debatte lassen sich anhand der jüngsten Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Peru aufzeigen. Diese Länder haben in den vergangenen 20 Jahren als eine Art Versuchsfelder für WissenschaftlerInnen beider Richtungen gedient. Orthodoxe und heterodoxe ebenso wie kombinierte Politiken sind angewendet worden, um gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, die auf hausgemachte Fehler und weltwirtschaftliche Turbulenzen zurückgeführt wurden. In allen drei Beispielen wurden die Strategien von NeoklassikerInnen und StrukturalistInnen in die Tat umgesetzt und letztendlich als gescheitert erklärt. Die Reihenfolge der angewandten Strategien variierte von Land zu Land. Argentinien startete Mitte der siebziger Jahre mit einem überaus orthodoxen Programm. Unter der Herrschaft der diversen Militärregierungen schloß es sich dem Trend in Chile und Uruguay an und galt als eines der Beispiele für die Auswirkungen neokonservativer Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Unter der zivilen Regierung Alfonsín wurde in Argentinien anschließend eine Mischform praktiziert, ehe mit dem heterodoxen plan austral eine Strategie gewählt wurde, die eindeutig der strukturalistischen Position zuzuordnen war. Auf der anderen Seite wurde in Brasilien mit einem Mittelweg begonnen, der erst später in ein orthodoxes Programm mündete. Nachdem das Scheitern beider Wege offenbar geworden war, experimentierte die brasilianische Regierung unter Sarney zwischen den Jahren 1986 und 1987 mit dem heterodoxen Cruzado-Plan. Die folgenden Wahlen brachten die “modernistische” Collor-Regierung an die Macht, die jene orthodoxe Wirtschaftspolitik verfolgte, für die sich die Neoklassik einsetzt. Ebenso wie Argentinien begann Peru Mitte der siebziger Jahre mit orthodoxer Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des Militärs. Der Übergang zu einer zivilen Regierungsform fand hingegen unter Beibehaltung neoklassisch inspirierter Wirtschaftspolitik statt. Erst als der Populist Alan García 1985 gewählt wurde, war mit dem heterodoxen Inti-Plan ein Wandel zu beobachten. Auch dieses Programm versagte jedoch, so daß sich seit 1990 wieder marktorthodoxe Rezepte durchgesetzt haben.

Erfolge der StrukturalistInnen nur von kurzer Dauer

Der Ausgangspunkt aller drei heterodoxen Strategien – Austral, Cruzado und Inti – bestand in der Auffassung, daß die früheren Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme an den strukturellen Problemen lateinamerikanischer Volkswirtschaften vorbeigegangen seien. Staatliche Kontrollen wurden als notwendig angesehen, um zur Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu gelangen. Diese strukturalistischen Strategien, die nach den neueingeführten Währungen in den jeweiligen Staaten benannt wurden, wiesen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, die einer neoklassischen Liberalisierungspolitik von Grund auf widersprachen: Renten und Spareinlagen wurden nicht länger an die Inflation angepaßt, Löhne und Preise staatlicher Kontrolle unterworfen und gezielt Subventionen und Kredite vergeben. In allen drei Fällen traten sehr schnell dramatische Veränderungen ein: Produktion und Beschäftigung stiegen, die Inflation wurde eingedämmt, und die externe Zahlungssituation verbesserte sich. Diese Erfolge heterodoxer Politik waren jedoch nicht mehr als ein Strohfeuer. Obwohl in allen drei Staaten immer neue Pläne und Programme aufgelegt wurden, kehrten Rezession und Hyperinflation zurück, mußten Schuldenzahlungen an ausländische GläubigerInnen eingestellt werden. Die heterodoxe Wirtschaftspolitik wurde überall als die Ursache für die Krise angesehen. Mit der Wahl neuer Regierungen – Menem in Argentinien, Collor in Brasilien und Fujimori in Peru – schlug das Pendel nun wieder zugunsten orthodoxer neoliberaler Politik aus.

Kritik nach der neoliberalen Wende

Heute sieht sich die Freihandelspolitik wieder wachsender Kritik gegenüber. Selbst in Argentinien, das von NeoklassikerInnen so hoch gelobt wird, kann über das Versagen des Austeritätsprogramms unter Wirtschaftsminister Domingo Cavallo nicht hinweggesehen werden: Das Außenhandelsdefizit wächst, und als Konsequenz aus den Massenentlassungen von Staatsbediensteten und steigender Erwerbslosigkeit sinken die Reallöhne. Um das Haushaltsdefizit des Staates unter Kontrolle zu bekommen, sind auch die Altersrenten dramatisch gesunken. Früher oder später wird in Argentinien, Brasilien, Peru und in ganz Lateinamerika die neoklassische Orthodoxie wieder an Boden verlieren.
Selbstverständlich unterscheiden sich Neoklassik und Strukturalismus in der Bewertung der Ursachen für diese Fehlentwicklungen. NeoklassikerInnen machen vor allem fortgesetzte staatliche Interventionen für das Scheitern ihrer Strategie verantwortlich – noch immer wird den Regierungen vorgeworfen, sie würden protektionistische Maßnahmen und andere irrationale Marktkontrollen aufrechterhalten. StrukturalistInnen verteidigen sich mit dem Hinweis, ihre Programme seien mit orthodoxen Maßnahmen gekoppelt worden, so daß sich die Turbulenzen übertrieben freier Märkte ausgewirkt hätten.
Wenn wir jedoch die Klassenfrage in die Diskussion um Stabilisierung und Anpassung integrieren, wird deutlich, wie irreführend die Erklärungsansätze beider Richtungen sind. Ein Anstieg der Erwerbslosigkeit wird für gewöhnlich als Versagen orthodoxer Stabilisierungs- und Anpassungspolitik angesehen. Versuche, den Kräften des “freien” Marktes zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Staatsausgaben eingedämmt, Realzinsen zur Anregung der Spartätigkeit erhöht sowie Außenhandelszölle gesenkt werden, führen häufig zu Erwerbslosigkeit und unterbeschäftigten LohnempfängerInnen. Steigende Erwerbslosigkeit ist im allgemeinen mit sinkenden Reallöhnen verbunden – eine Tendenz, die wiederum die Klassendimension von Kapitalismus deutlicher werden läßt. Zum einen sind die ArbeitgeberInnen nun in der Lage, Arbeitskräfte zu einem Lohn anzustellen, der unterhalb der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnen liegt. Mit den Worten marxistischer Wert-Theorie ausgedrückt, ist der Marktpreis für Arbeit unter ihren Wert gefallen. So erhalten die KapitalistInnen ein Einkommen, das über den der Arbeit entzogenen Mehrwert hinausgeht. Dieser Vorteil steigert die Profitrate des Kapitals – ein unmittelbarer Klassenerfolg als Konsequenz aus dem Sinken der Reallöhne.
Sollte diese Situation über einen gewissen Zeitraum Bestand haben, dann wird das durchschnittliche Lebensniveau der LohnempfängerInnen voraussichtlich sinken. Mit anderen Worten wird der Wert der Arbeitskraft auf ihren niedrigeren Marktpreis fallen. Die Summe des Mehrwerts innerhalb kapitalistisch wirtschaftender Unternehmen und damit der Grad an Ausbeutung werden steigen – beides ein Beleg für kapitalistischen Erfolg.

Staatsausgaben zum Vorteil des Kapitals

Ein zweiter grundlegender Mangel, der insbesondere heterodoxen Programmen vorgehalten wird, besteht in wachsenden Haushaltsdefiziten des Staates. Wiederum führt die Klassenanalyse staatlicher Defizite zu ganz anderen Erkenntnissen. Es ist sehr hilfreich, die beiden unterschiedlichen Dimensionen typischer Staatsaktivitäten zu unterscheiden, die für gewöhnlich mit Haushaltsdefiziten in Verbindung gebracht werden: staatseigene Betriebe und laufende Staatsausgaben. Aus der Perspektive von Klassengegensätzen heraus sind öffentliche Betriebe, die über Märkte gehandelte Waren in klassischen Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen produzieren, kapitalistische Unternehmen. Die Einkünfte dieser Betriebe auf einem bestimmten Niveau zu halten oder aber auszudehnen, heißt nichts anderes, als immer größere Teile der Bevölkerung in kapitalistisch bestimmte soziale Verhältnisse zu drängen und den Mehrwert aus der Beschäftigung von StaatsarbeiterInnen zu erhöhen. Die kapitalistische Tendenz der Mehrwertaneignung findet demnach also auch innerhalb des Staates statt.
Staatsausgaben können zudem dazu beitragen, den Kapitalismus auch außerhalb des Staatsapparates zu stärken. Mit Hilfe steigender Ausgaben für Programme in verschiedenen Bereichen können viele der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen hergestellt werden, die es privaten KapitaleignerInnen ermöglichen, die Mehrwertaneignung fortzusetzen. Lateinamerikanische Staaten haben häufig direkt zugunsten kapitalistischer Interessen in- und außerhalb des Staatsapparates gehandelt. Die Klassenerfolge während der Nachkriegsperiode sind eine Erklärung dafür, warum die EntwicklungsökonomInnen und PolitikerInnen noch immer nicht die Begrenzungen der herrschenden Debatte überwunden haben. Indem der Aspekt der Klassenauseinandersetzung systematisch ausgeblendet wird, gelingt es sowohl NeoklassikerInnen als auch StrukturalistInnen, die klassenbezogenen Konsequenzen ihrer Politik zu verdrängen.

Die Zukunft des Sozialismus überdenken

Um es deutlich zu machen: Ich behaupte nicht, daß eine bestimmte Gruppe – etwa “die herrschende Klasse” – in ihrem Handeln von einem festen Klassenbegriff geleitet wird. Ebensowenig unterstelle ich die Existenz einer versteckten Logik, die zwangsläufig dazu führt, daß klassenunabhängige Politikfehler in Erfolge innerhalb der Klassenauseinandersetzung umgemünzt werden. Keine dieser beiden traditionellen Erklärungsversuche ist hilfreich, sondern irreführend und politisch schädlich. Der erste Erklärungsversuch würde eine Verschwörung unterstellen, der zweite stützt sich auf den Begriff eines geheimen telos oder eines inneren Gesetzes, das die Gesellschaft steuert. Vielmehr sind die kapitalistischen Erfolge in den Klassenauseinandersetzungen, die in Argentinien, Brasilien, Peru und überall in Lateinamerika zu beobachten waren, das Ergebnis einer sich ständig wandelnden Kombination von Umständen. Wirtschaftliche und politische Kämpfe schlagen sich genauso nieder wie staatliche Stabilisierungs- und Anpassungsstrategien.
Es ist vor allem die Klassenanalyse, die die widersprüchlichen Folgen der Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme deutlich macht. Diese Sichtweise eröffnet einen Ausweg aus dem Hin und Her zwischen bereits gescheiterten Strategien und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung von Entwicklungszielen und Wegen, diese umzusetzen. Außerdem ist es aus dieser Perspektive leichter, die Zukunft des Sozialismus zu überdenken. Sie ermöglicht es, sich die Abschaffung jedweder Form der Ausbeutung und somit den Übergang zu kollektiven Organisationsformen von Gesellschaft vorzustellen.

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