Plebiszit – Alles bleibt beim Alten

Debakel der ReformerInnen

Auf den ersten Blick kann die Entscheidung für das Präsidialsystem überraschen, und tatsächlich hatten die BefürworterInnen des Parlamentarismus noch Ende letzten Jahres fest mit einem Sieg gerechnet. Die Korruptionsaffäre um den damaligen Präsidenten Collor, die Schwierigkeiten einen einmal gewählten Präsidenten wieder abzusetzen, das extrem negative Image der letzten Präsidenten – all das schien ein günstiges Klima für den Parlamentarismus zu schaffen. Die wichtigsten VerfechterInnen formierten im “modernen” Flügel des bürgerlichen Lagers unter der intellektuellen Führerschaft der PSDB, die gerne eine brasilianischen Sozialdemokratie werden möchte. Die PSDB war die einzige größere Partei, die geschlossen für den Parlamentarismus eintrat. Für die VordenkerInnen der Partei sollte der Wechsel zum Parlamentarismus der große Schritt zur Modernisierung der brasilianischen Politik werden.
Das parlamentarische System sollte in den Konzeptionen seiner BefürworterInnen somit auch die Vorausetzungen für die Politisierung der brasilianischen Parteien schaffen. Diese müßten sich auf ein Regierungsprogramm einigen und könnten der von ihnen gewählten Regierung nicht nach Belieben das Vertrauen entziehen. Das jetztige System würde ein System der ad hoc Entscheidungen und des Kuhhandels begünstigen: Der vom Volk gewählte Präsident ist stark und schwach zugleich. Er ist durch die direkten Wahlen stark legitimiert, ist aber abhängig von einem Parlament, das völlig unabhängig von seinem Programm agiert. Dieses System hat dazu geführt, daß ein Großteil der Abgeordneten sich die Unterstützung für den Präsidenten “abkaufen” läßt, beispielsweise für Vergünstigungen, die der Heimatstadt des Abgeordneten zukommen. Abgeordnete stehen nicht primär für ein Programm einer Partei, sondern für ein Bündel partikularer Interessen, das sie vertreten. In Brasilien wird diese Politikform als “fisiologismo” bezeichnet. So richtig die Analyse der Fehler des derzeitigen politischen Systems sein mag, die BefürworterInnen des Parlamentarismus konnten damit kaum Anhängerschaft gewinnen. Zwar hat sich ein großer Teil des intellektuellen Brasiliens für den Parlamentarismus ausgesprochen, aber im Volk hat das nicht gegriffen. Warum ?

Parolen und Sandkastenspiele

Zunächst hatte das erfolgreiche Impeachment-Verfahren gegen Collor in gewisser Weise ein Hauptargument gegen das präsidiale System dementiert: daß ein einmal gewählter Präsident nicht mehr weg zu bekommen sei. Zum anderen ist es der Kampagne für das präsidiale System gelungen, mit einer groben Vereinfachung Punkte zu sammeln: “Sie wollen dir deine Stimme nehmen” und “Direktwahlen – immer”, das waren die Hauptparolen, unterlegt mit Bildern aus der Kampagne gegen die Militärdiktatur und für Direktwahlen. Demgegenüber verlor sich die Kampagne für den Parlamentarismus in komplizierten Begründungen, die niemand mehr verstand. Aber ein anderes Argument war wohl ausschlaggebend: der allgemein verbreitete Haß (Mißtrauen wäre zu schwach) gegenüber PolitikerInnen, schafft keinen Boden für ein System, das die Rolle der Abgeordneten stärken will. “Die einzige Konsequenz wird doch sein, daß der Preis für einen Abgeordneten steigen wird”, ist ein vielgehörtes Argument. Tatsächlich hatte die Argumentation für den Parlamentarismus viel von intellektueller Sandkastenspielerei, die sich eher aus europäischer Politikwissenschaft denn aus brasilianischer Realität speiste. Aber gerade die politische Realität Europas zeigt, daß Parlamentarismus völlig kompatibel ist mit übelsten Formen von Korruption und “fisiologismo”. Ein Detail macht die Niederlage der ParlamentaristInnen noch bitterer: wahrscheinlich hat die Mehrheit derjenigen, die für Parlamentarismus gestimmt hat, gleichzeitig auch für die Monarchie gestimmt: deren Vorschlag war eben Monarchie mit Parlamentarismus. Für den “modernen” Vorschlag Parlamentarismus mit Republik hat sich damit nur eine verschwindende Minderheit erwärmen lassen.
Die PT (Arbeiterpartei) hatte ihre liebe Mühe mit einer innerparteilichen Positionsfindung: Die Mehrheit der “VordenkerInnen” der Partei war für den Parlamentarismus, nach einigem Zögern auch der Parteivorsitzende Lula, ein Plebiszit in der Partei, das für die Positionsfindung angesetzt war, ergab aber einen überwältigenden Sieg für die Präsidialdemokratie. Viele sahen darin einen Opportunismus der Parteibasis, die auf einen Sieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr hofft. Dieses Argument hat zwar sicherlich eine Rolle gespielt, insgesamt wird sich die PT-Basis aber von denselben Überzeugungen hat leiten lassen wie die Mehrheit des Volkes.

Überdruß und Desinteresse

Wochenlang wurde vor dem Plebiszit das Fernsehvolk mit Propaganda zur besten Sendezeit (kostenlos eingeräumt) überschüttet. Der “Wahlkampf” reduzierte sich – abgesehen von einigen Diskussionsveranstaltungen – auf eine Fernsehschlacht auf niedrigstem Niveau. Nachdem die ParlamentaristInnen einsahen, daß ihre komplizierten Argumentationen niemand verstand, beantworteten sie die Kampagne der PräsidialbefürworterInnen auf gleicher Ebene: Sie zeigten Schockbilder vom heutigen Brasilien, Dürre im Nordosten, hungernde Kinder, Elend in den Städten etc. – unterlegt mit pathetischer Musik und einer donnernden Stimme: Elend und Hunger – das ist Präsidialsystem. Alles das half nur eine politische Debatte auf traurigstes Niveau einer Publicitykampagne herunterzuholen.
Die Mehrheit der Bevölkerung reagierte darauf mit Überdruß und konnte einfach nicht einsehen, warum sie den Hauptverantwortlichen nicht selbst wählen soll – auch wenn’s mit Collor beim letzten Mal einen kapitalen Fehlgriff gab. Bald zeigte sich auch ein allgemeines Desinteresse: angesichts von Wirtschaftskrise und einer Inflation von annähernd 30% im Monat sahen viele in dem ganzen Spektakel nur ein Ablenkungsmanöver der Herrschenden. Entsprechend hoch war der Anteil derjenigen, die nicht zu den Urnen gegangen sind.
Und die Konsequenz von all dem? Da die Meinungsverschiedenheiten quer durch fast alle Parteien gingen, kann kaum davon gesprochen werden, daß ein bestimmtes Lager gestärkt worden wäre. Lediglich das bürgerliche Reformlager ist um ein Kernstück seiner Änderungsvorschläge gebracht. Nur eins ist klar: jetzt wird der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 1994 noch intensiver geführt werden. Und in den ersten Meinungsumfragen führt Lula klar.

NGO-Forum macht weiter

Das Treffen in Sao Paulo zeigte, daß die UNCED nicht ohne Konsequenzen geblieben ist. Die Mobilisierung der NGOs auf dieses Ereignis hin scheint zumindest in Brasilien zu einer “nachhaltigen” Koalition von Gruppen zu führen. Die Basis für das Weiterbestehen des Forums sind die verschiedenen thematischen Netzwerke, die sich im Umfeld des Forums gebildet haben. Um nur die wichtigsten zu nennen: Umwelterziehung, Atlantikregenwald (Mata Atlântica), Wasser, Cerrado (Buschsteppe), Klima, Atomenergie. Diese Netzwerke vereinigen Gruppen, die zu bestimmten Themen oder in abgegrenzten Ökosystemen zusammenarbeiten. Fast ein Tag des Treffens war für die Netzwerke reserviert und hier zeigte sich, daß es wesentlichen die Gruppen, die in einem dieser “redes” organisiert sind, auch die Fortführung des Forums betreiben.
Drei Hauptaufgaben des Forums wurden in Sao Paulo definiert:
– Begleitung des UNCED “follow up” auf nationaler und internationaler Ebene. Hier geht es zum einen um die Einrichtung der neuen UNO-Instanz “Kommission für nachhaltige Entwicklung” und das neue Finanzierungsinstrument GEF (Global Enviromental Facilities), die beide eine Beteiligung der NGOs vorsehen. Auf nationaler Ebene soll überprüft werden, inwieweit die auf der UNCED verabschiedeten Resolutionen in nationale Gesetze Eingang finden.
– Die Unterstützung der Arbeit der Netzwerke und die Schaffung einer Verbindung der verschiedenen Themen.
– Das Aufgreifen von Themen, die nicht in den Netzwerken vertreten sind. Zu wichtigen Themen (z.B. Rolle von Weltbank; Interamerikanischer Entwicklungsbank) sollen Arbeitsgruppen geschaffen werden.
Bindeglied für all dies ist die Weiterentwicklung des Konzeptes der “nachhaltigen Entwicklung”, die Suche nach einem neuen Entwicklungsmodell, das die Ökolgie ins Zentrum rückt. Einig waren sich die Gruppen auch darin, eine Koordination mit einem politischen Mandat zu wählen und nicht nur ein reines “facilitating committee”. Praktisch einstimmig wurden elf Gruppen in die Koordination gewählt, die dann widerum eine vierköpfige Koordination bildeten.

Grenzen und Chancen in der Zukunft

ndere aber die Zusammensetzung von Koordination und Exekutive machen Stärken und Grenzen des Forums deutlich. Das Forum wird deutlich bestimmt von einem Bündnis zwischen Gewerkschaften (der Dachverband CUT ist wiederum in die Koordination gewählt worden), professionellen NGOs und Umweltgruppen. Die Festigung dieses Bündnisses bildet sicherlich das Rückgrat des Forums. Wichtige soziale Bewegungen, die vor der UNCED eine Rolle im Forum gespielt haben sind in der neuen Koordination nicht mehr vertreten: die Frauengruppen und Stadtteilbewegungen. Das Forum ist zur Zeit kein breites Bündnis der sozialen Bewgungen. Das ist nicht das Produkt eines Ausgrenzungsprozesses, sondern spiegelt eher die Zersplitterung dieser Bewegungen wider. Besonders schmerzlich ist, daß ein wichtiger, organisierter Bereich fehlt: die ländlichen Bewegungen. Hier spielen durchaus auch inhaltliche Differenzen etwa über den Stellenwert der Ökologie und die Rolle der NGOs eine Rolle. Aber auf der Ebene der Netzwerke sind die ländlichen Bewegungen vertreten, etwa im Netzwerk Cerrado. In der konkreten Arbeit bietet sich anscheinend eher die Chance, alte Frontstellungen aufzubrechen, die im Vorfeld der UNCED zu einer Distanzierung der ländlichen Bewegungen vom Forum geführt haben.
Nicht übersehen werden kann auch eine regionale Begrenzung des Forums, besonders deutlich sichtbar in der Zusammensetzung der Koordination: hier sind nur noch Gruppen vertreten aus Rio, Sao Paulo und Brasilia. Etwa aus Amazonien war in Sao Paulo nur eine einzige Gruppe vertreten. Natürlich spielen hier auch die eminenten Reisekosten eine Rolle, ein Flug Sao Paulo – Belem ist fast so teuer wie ein Billigflug nach Europa. In Amazonien hat ein spezifischer Formierungsprozeß jedoch begonnen: die Bildung der GTA (Arbeitsgruppe Amazonien), ein Zusammenschluß von NGOs, Gewerkschaften, indianischen Gruppen und sozialen Bewegungen, die inzwischen über 120 Gruppen umfaßt. Die Zukunft des Forums wird auch davon abhängen, ob es ihm gelingt durch eine überzeugende Arbeit seine jetzigen Begrenzungen aufzubrechen.

Ein roter Stern am Amazonas

Nach Gurupá

Gurupá liegt am Amazonas und damit an der Schiffsroute, die von Belém über Santarem nach Manaus führt. Eine Schiffsfahrt auf dem Amazonas, das ruft romantische Vorstellungen wach. Aber zunächst ist es eine Konfrontation mit den realen Problemen der Region. Neoliberal inspiriert strich der damalige Präsident Collor alle Subventionen für die staatliche Schiffahrtsgesellschaft am Amazonas, die darauf prompt fast den gesamten Linienverkehr einstellen mußte. Konsequenz: überfüllte Privatschiffe bei hohen Preisen. Im Februar 1993 kostet eine Fahrt nach Gurupá etwa 65 DM, ein Vermögen bei einem Mindestlohn von etwa 100 DM. Für diesen Preis darf man seine Hängematte auf einem stickigen und eng belegten Deckplatz befestigen. Dennoch sind die unvermeidlichen RucksacktouristInnen begeistert. Denn auf dem ersten Teil der Fahrt bewegt sich das Boot nahe am Ufer, es umfährt Marajó, die größte Flußinsel der Welt. Die grüne Uferkulisse bietet einen Einblick in die scheinbar noch intakte Regenwaldvegetation, deren beruhigende Monotonie immer wieder durch ans Ufer gebaute Holzhäuser von KleinbäuerInnen unterbrochen wird. “Ribeirinhos”, die Familien am Flußran,d sind die HauptbewohnerInnen der Region. Die Gegend ist extrem dünn besiedelt, nach dem einzigen Halt auf der Fahrt in Breves passiert das Schiff während der 12 Stunden bis Gurupá keine größere Siedlung mehr. Das war früher anders. Reisende aus dem 17.Jahrhundert berichteten, daß die Portugiesen bei ihrer Ankunft zwischen Belém und Gurupá hunderte von Dörfern vorfanden, einige von ihnen mit mehr als tausend EinwohnerInnen. Aber entlang dieses Teils des Amazonasflusses sind die indianischen UreinwohnerInnen versklavt und ausgerottet, ihre Kultur vernichtet worden. Die heute dort ansässigen ribeirinhos sind Nachfahren der Indios, die sich mit den neuen SiedlerInnen vermischt haben.
Ein Erwerbszweig der ribeirinhos fällt sofort ins Auge: vor vielen Häusern liegen Holzstämme zum Abflößen bereit. Und in Breves stehen am Ufer zahlreiche Sägewerke, etwa die Hälfte davon aber geschlossen und verfallen. Hier ist der Holzeinschlag offensichtlich schon in die Krise geraten. Auf dem Hintergrund der grünen Idylle sind die Konsequenzen menschlicher Geschichte sichtbar. Bei dem Halt in Breves wird das Boot von den Einbäumen der ribeirinhos umzingelt: Frauen und Kinder betteln um Lebensmittel und Geld.

Boom und Dekadenz

Gurupá ist ein kleines, verschlafenes Amazonasnest. Im Ort selbst wohnen 3.600 EinwohnerInnen, einfache Holzhäuser, zahlreiche Läden am Ortseingang, die alle dasselbe verkaufen, und die Fahrräder prägen das Bild der Stadt. Aber der prächtige Sitz der Gemeindeverwaltung und Überreste eines Forts weisen darauf hin, daß Gurupá schon eine bedeutendere Rolle in der Geschichte Amazoniens gespielt hat. Am Zugang zum Amazonas gelegen hatte es eine wichtige strategische Position bei der Eroberung Amazoniens inne. In der 2.Hälfte des 16.Jahrhunderts setzten sich die Holländer in Gurupá fest, und erst 1623 gelang den Portugiesen die endgültige Eroberung der Stadt. Die ökonomischen Interessen beider richteten sich auf die Ausbeutung der natürlichen Reichtümer Amazoniens, insbesondere Kakao, Zimt, Nelke, Vanille und ölhaltige Samen, den sogenannten “drogas do sertao”. Zu ihrer Gewinnung wurden die Indios versklavt und schwarze Sklaven aus Afrika eingeführt. Der große Boom Gurupás ist aber – wie vieler anderer Orte Amazoniens – mit dem Kautschuk verbunden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Kautschuk das wichtigste Wirtschaftsgut der Region, die zahlreiche EinwandererInnen aus dem Nordosten anlockte. Während diese als KautschukzapferInnen in unfreien Arbeitsverhältnissen ausgebeutet wurden, prosperierte das Handelskapital. In Gurupá erschienen zeitweise zwei Tageszeitungen, die Straßen wurden gepflastert und mit Gaslaternen versehen, der pompöse Sitz der Verwaltung gebaut. Anfang des 20.Jahrhunderts brach dies alles zusammen. 1876 hatte der Engländer Henry Wickman 70 000 Samen von Gummibäumen aus Brasilien herausgeschmuggelt und etwa dreißig Jahre später begannen in den asiatischen Kolonien die Plantagenproduktion des Kautschuks das brasilianische Gummi, das direkt aus dem Urwald gezapft wurde, zu verdrängen. Aus den KautschukzapfernInnen wurden “ribeirinhos”, KleinbäuerInnen, die im wesentlichen vom Fischfang und Subsistenzanbau überleben. “Dekadenz, Vernachlässigung und Isolierung”, so hat ein Wissenschaftler die Situation der Region in diesem Jahrhundert nach dem Kautschukboom gekennzeichnet.

Das grüne Gold

Ende der fünfziger Jahre begann ein neuer Zyklus die Wirtschaft der Region grundlegend umzugestalten. Holzfirmen kauften großflächig Land auf und begannen mit dem Holzeinschlag in der Region. In Portel und Melgaço (Nachbargemeinden von Gurupá) erwarb die von der US-amerikanischen Firma Georgia Pacific kontrollierte Amazônia Madeiras 400.000 ha, in Breves die von derselben Firma kontrollierte MEGESA 300.000 ha. In Gurupá war es eine holländische Firma, die in die Holzwirtschaft einstieg: Die Brumasa, kontrolliert von BRUYNZEEL NV, erwarb in den sechziger Jahren 95.708 ha und wurde so zum größten Landbesitzer in Gurupá. Das Vordringen der Holzfirmen wird durch staatliche Kredite und Steuererleichterungen begünstigt. Die Holzproduktion verdrängt die schon darniederliegende Kautschukwirtschaft , Holz wird zum wichtigsten Handelsprodukt der Region. 1970 produziert Gurupá 292.000 Kubikmeter Holz, 1984 sind es 665.300 Kubikmeter. Interessant ist aber nun die Entwicklung nach 1984. Offizielle Zahlen liegen nicht mehr vor, aber eine Feldstudie zeigt einen deutlichen Rückgang der Produktion: 1988/89 sollen danach nur noch 452.440 Kubikmeter produziert worden sein. Für die ribeirinhos ist jedenfalls der Niedergang der Holzproduktion evident: “Heute ist es sehr schwierig vom Holz zu leben. Gutes Holz gibt es nur noch ganz drinnen, und der Preis der Aufkäufer deckt nicht die Kosten. Aber es gibt Leute, die schlagen jede Rute, um zu überleben.”
Die holländische Holding hat inzwischen ihre Anteile an der BRUMASA an eine brasilianische Firma verkauft. Die dicksten Gewinne sind abgesahnt, zurück bleibt eine weiter verarmte Bevölkerung und ein degenerierter Wald. Seit der Eroberung durch die EuropäerInnen ist die Region durch die extraktive Bewirtschaftung geprägt, die nicht auf dem Anbau beruht, sondern die natürlichen Ressourcen nach Art einer Mine behandelt, aus der es alles rauszuholen gilt – bis zur Erschöpfung.

Delikatessen für den Supermarkt

Der Niedergang der Holzindustrie ist noch nicht das letzte Kapitel des Extraktivismus. Ende der siebziger Jahre beginnt Gurupá Palmito (Palmherz) für den Markt zu produzieren. Das Palmito wird aus der Açaí- Palme gewonnen, die am Amazonas und seinen Seitenflüssen in großen Mengen wächst. Aus den Früchten der Palme wird dunkelrot-violetter Brei gewonnen, der für die ärmere Bevölkerung Parás ein Grundnahrungsmittel ist. Das Palmherz hingegen wird in der Region nicht gegessen. In den achtziger Jahren nun dringen Firmen aus dem Süden Brasiliens in das Amazonasgebiet vor. Die Bestände von Palmen, aus denen im Süden Brasiliens Palmito gewonnen wird, werden zusehends geringer, in wenigen Jahren konzentriert sich 90% der brasilianischen Palmitoproduktion in Pará. Der größte Teil der Produktion geht in den Export. Brasilien ist weltweit der wichtigste Exporteur dieser Delikatesse.
1978 beginnen Palmito-Firmen in Gurupá mit dem Einschlag. Sie kaufen von GroßgrundbesitzerInnen (deren Besitztitel oft zweifelhaft sind) die Einschlagrechte und rücken mit TagelöhnerInnen an, die in anderen Gemeinden angeheuert werden. Nach offiziellen Statistiken steigt die Produktion von Palmito von 60 Tonnen (1978) auf 300 Tonnen an, ein Wert, um den sie in den darauffolgenden Jahren pendelt. Eine Untersuchung vor Ort schätzt aber für 1989 eine Produktion von 4850 Tonnen! Auf jeden Fall wird Palmito Ende der siebziger Jahre zur wichtigsten “cash crop” Gurupás. Ab 1983 setzt eine neue Etappe in der Palmitogewinnung an. Einige Firmen beginnen, den KleinbäuerInnen Geräte und Techniken zur Verfügung zu stellen, um selbst das Palmito zu verarbeiten und in Gläser abzufüllen. Der gesamte Produktionsprozeß – vom Einschlag bis zum Glas – wird in der KleinbäuerInnenfamilie geleistet, die AufkäuferInnen der Firma holen die fertig verarbeiteten Palmitos ab, nur noch die Etiketten werden aufgeklebt. 70 dieser Familienbetriebe – fabriqueta genannt – gibt es inzwischen in Gurupá, 52 davon am Fluß Marajoí, einem kleinen Seitenarm des Amazonas, an dem sich die größten Açaí-Vorkommen des Municipios konzentrieren.
Eine Fahrt über den Marajoí gibt einen guten Eindruck über die aktuelle Situation in der Gemeinde. Eine immer noch unglaublich hohe Dichte von Açaí-Palmen, zahlreiche Häuser der ribeirinhos, an deren Seite oft eine kleine Bude angebaut ist, die “fabriqueta”. Aber die meisten der fabriquetas liegen still. Im Februar 1993 lag der Aufkaufpreis für ein Glas Palmito bei 2000 Cruzeiros, ziemlich genau 20 Pfennig! In den Supermärkten von Belém, Rio oder Sao Paulo findet sich dasselbe Glas – nur noch mit einem Etikett versehen – für 3 – 5 DM wieder. Für diesen Preis – so lautet immer wieder die Aussage der BewohnerInnen – lohnt sich die Arbeit nicht. Es ist ein Oligopol von wenigen Firmen, die den Palmitomarkt kontrollieren. Bisher haben die KleinbäuerInnen nur die Wahl, sich den ihnen diktierten Bedingungen zu unterwerfen oder nicht zu verkaufen. Gleichzeitig ist aber der Verkauf des Palmito praktisch die einzige Möglichkeit, ein Geldeinkommen zu erzielen. Zwar bearbeiten KleinbäuerInnen in der Regel ein kleines Feld, die roça, aber dessen Ernte (hauptsächlich Mais und Maniok) dienen zum eigenen Konsum. Agapito de Souza, ein Kleinbauer des Marajoí, erinnert sich noch gut: “Früher bevor das mit dem Holz begann, gab es hier viel mehr Landwirtschaft. Aber dann kam das Holz, danach das Palmito, das brachte Geld, und die Leute haben aufgehört anzubauen.”
Damit ist ziemlich genau die problematische Situation in Gurupá charakterisiert: Seit Jahrhunderten hat der Extraktivismus seine zyklische Gewinnlogik der Region aufgezwungen und die KleinbäuerInnen seinen Verwertungsinteressen unterworfen. Heute sehen sich diese mit einer doppelten Krise konfrontiert: der Extraktivismus ist im Niedergang aufgrund der ökologischen Konsequenzen (Holz) oder wenig rentabel aufgrund der wirtschaftlichen Monopole der AufkäuferInnen. Gleichzeitig hat es in der Region keine Entwicklung der Landwirtschaft gegeben. Bei Maniok etwa deckt die Produktion der Gemeinde nur 30% des Bedarfs. Und auch beim Palmito sind die ersten Anzeichen des Niedergangs zu erkennen: Die großen Einschläger haben die dichtesten Bestände ausgebeutet, die Verlagerung der gesamten Produktion in die Familie ist auch eine Antwort auf die wachsenden Schwierigkeiten große, zusammenhängende Açaí-Bestände zu finden, bei denen sich der Einschlag im großen Stil lohnt. Weitere Konsequenzen sind für die KleinbäuerInnen unmittelbar spürbar: Am Marajoí hat der Palmito-Einschlag zu einem großen Fischsterben geführt: die Firmen haben die Reste der Palmen einfach in den Fluß geworfen, was zu einer Übersäuerung führte. Und der Holzeinschlag hat den Bestand an jagdbarem Wild deutlich verringert. Die zwei wichtigsten Nahrungsquellen der ribeirinhos, Fisch und Wild, drohen zu versiegen.

Erstarken der KleinbäuerInnen

Der Niedergang des Extrativismus hat – was auf den ersten Blick paradox erscheint – das organisatorische Erstarken der KleinbäuerInnen begünstigt. Im Gegensatz zu anderen Regionen Amazoniens sehen sich die KleinbäuerInnen mit keiner starken und organisierten Gruppe von GroßgrundbesitzerInnen konfrontiert. Mit dem Niedergang des Kautschuks erodierte die ökonomische Basis der Herrschenden in der Region. Alle weiteren Impulse (Holz und Palmito) kamen von außen, die lokalen GroßgrundbesitzerInnen profitierten lediglich durch Verpachtung oder Verkauf von Einschlagrechten, ohne dabei eine neue produktive Basis zu schaffen. Viele GroßgrundbesitzerInnen unterscheiden sich nur durch die Größe ihres Landbesitzes von den KleinbäuerInnen, nicht aber durch Reichtum und Lebensumstände. Politisch wurde die Gemeinde in den letzten Jahren durch die HändlerInnen, die sich in der Stadt konzentrieren, dominiert.
Die KleinbäuerInnen sind in der überwiegenden Mehrheit posseiros, das heißt, sie bebauen – oft seit Generationen – Land, über das sie keine legalen Titel besitzen. Diese Situation hat in der Vergangenheit zu zahlreichen Auseinandersetzungen geführt, bei denen sich immer mehr KleinbäuerInnen, unterstützt von der Kirche, erfolgreich zur Wehr setzten. Zur Zeit aber gibt es keine größeren Landkonflikte, die Besitzrechte der posseiros werden nicht bedroht – ein sicheres Indiz für die Schwäche der lokalen GroßgrundbesitzerInnen.
Die Gewerkschaft der LandarbeiterInnen (STR) ist wie in vielen ländlichen Gegenden Brasiliens ein Zusammenschluß von KleinbäuerInnen. In Gurupá unterscheidet sich die Geschichte der lokalen Gewerkschaftsgruppe wenig von der in vielen anderen Gegenden des Landes. In den achtziger Jahren beginnt eine Gruppe von KleinbäuerInnen, die Kontakt mit der Kirche hat, die traditionelle Führungsclique herauszufordern. Diese repräsentierte den von den Militärs verordneten offiziellen “Syndikalismus”, der nicht die Interessenvertretung der KleinbäuerInnen, sondern (bestenfalls) kleinere Dienstleistungen organisierte. Nach vielen Auseinandersetzungen gelingt es der Gewerkschaftsopposition 1986 schließlich die Wahlen zu gewinnen. Die Landarbeitergewerkschaft von Gurupá ist heute dem linken Dachverband CUT angeschlossen.

Neue Strategien zur Nutzung des Waldes

Bestimmte in den achtziger Jahren die Konfrontation mit den “gelben” GewerkschafterInnen und den “Patronen” die Aktionen der progressiven KleinbäuerInnen, so sahen sie sich nach dem Wahlsieg mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Auch hier spiegelt Gurupá, so abgelegen es erscheinen mag, durchaus eine typische Entwicklung in den Landgewerkschaften wider. Nach der kämpferischen Phase in den siebziger und achtziger Jahren, den Konfrontationen mit Strukturen der Militärdikatur, sahen sich viele Gewerkschaftsführer plötzlich als “Präsidenten” mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert: konkrete Vorschläge und Projekte zu entwickeln, die eine Entwicklungschance für die bäuerliche Familienwirtschaft eröffnen. Zusammen mit BeraterInnen erstellt die Gewerkschaft zunächst eine Analyse der Situation, die zu folgender Schlußfolgerung führt:
“Zwei Grundprobleme erschweren das Leben der KleinbäuerInnen in Gurupá:
– Die Verknappung der Sammelprodukte wie Açaí, Holz, Palmito und Fisch.
– Die geringe Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Maniok, Reis, Bohnen etc.”
Ansetzend an diesen Schwierigkeiten wird zusammen mit italienischen Entwicklungsorganisationen (MLAL) ein Projekt mit zwei Grundkomponenten entwickelt: zum einen zur Förderung des Anbaus von Grundnahrungsmitteln und deren Weiterverarbeitung (Mühlen zur Produktion von Maniokmehl) und zum anderen zur nachhaltigen Nutzung von Açaí.
An dem bereits erwähnten Marajoí-Fluß haben sich dreißig Familien zusammengeschlossen, um die Açaí – Palmen systematisch zu bewirtschaften.
Dies setzt voraus, daß nicht alle Stämme einer Pflanze geschlagen werden, daß eine Pflege des Geländes betrieben wird und daß nachgepflanzt wird. Dies ist arbeitsintensiv, aber die BewohnerInnen der Region haben erkannt – oder besser: am eigenen Leib erfahren – daß der rücksichtslose Einschlag nur kurzfristigen Gewinn und langfristige Zerstörung der Lebensgrundlagen bringt. Im Gegensatz zu anderen Palmen aus denen Palmito gewonnen wird bietet Açaí durchaus Möglichkeiten für eine nachhaltige Nutzung. Für die KleinbäuerInnen lohnt sich die Mühe allerdings nur, wenn sie einen besseren Preis für ihr Produkt bekommen. Eine entscheidende Herausforderung für das Projekt der Gewerkschaft ist es daher, bessere Vermarktungsmöglichkeiten zu erschließen. Ein kollektiver Absatzvertrag soll die Marktposition der KleinproduzentInnen verbessern.
Der ehemalige Gewerkschaftspräsident Manuel Chico ist der Leiter des Projekts, das auch Gelder vorsieht, die die Infrastruktur der Gewerkschaft stärken. Diese wird damit zusehends zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Gemeinde. Bis Ende April dieses Jahres war eine Frau Präsidentin der Gewerkschaft: Bertila, die mit ruhiger Bestimmtheit eine Sitzung des Direktoriums zu leiten weiß, in der über zwanzig Männer versammelt sind. Zwar waren außer ihr noch zwei andere Frauen ins Direktorium gewählt worden, als diese aber nicht regelmäßig zu den Sitzungen erschienen, wurden sie ihrer Funktionen entbunden. Somit bleibt Bertila eine Ausnahmeerscheinung. Sie gehört zu den “lideranças” der Gewerkschaft, die in den Auseindersetzungen der letzten Jahre unglaubliche Lernprozesse durchgemacht haben und nun tatsächlich in der Lage sind, aktive Politik zu betreiben.

Wahlsieg der PT: ein Kleinbauer als Bürgermeister

Das Erstarken der Gewerkschaft bildet das Fundament auch für eine Neubestimmung des politischen Kräfteverhältnisses in der Gemeinde. Die soziale Basis der PT sind die KleinbäuerInnen, und bereits bei den Kommunalwahlen 1988 hätte die PT beinahe den Sieg errungen. 1992 gelang dies schließlich, weil ein Teil der örtlichen HändlerInnen den KandidatInnen der PT unterstützte. Die PT schloß nach heftigen innerparteilichen Diskussionen ein Bündnis und gewährte einem der “Abtrünnigen” das Amt des Vizebürgermeisters auf der Wahlliste. Der Wahlsieg von PT/Gewerkschaft war möglich geworden, weil diese im Gegensatz zur traditionellen Oligarchie ein ökonomisches Konzept für die Region entwickelt haben. Die organistorische Stärke der KleinbäuerInnen schaffte somit die Voraussetzungen, ein neues hegemoniales Projekt in der Gemeinde zu konsolidieren.
Nun ist – nicht nur in Brasilien – ein Wahlsieg keineswegs das happy end einer Geschichte, sondern der Beginn ganz neuer Schwierigkeiten. Der Wahlsieger Moacyr Alho gibt dies ganz unumwunden zu. Seine Geschichte ist typisch für das Wachsen von “lideranças”,von Führungspersönlichkeiten, in der Gemeinde. Als Jugendlicher begann seine Politisierung in Katechismuskursen der Kirche, darauf folgten Engagement und Fortbildung in der Gewerkschaft und schließlich der PT. Nach den ersten Wochen Amtszeit strahlt Moacyr Optimismus, Energie und fast Verzweifelung zugleich aus: “Ich fühle mich wie in einer Wüste, ich verstehe einfach nichts von dem ganzen Verwaltungskram”, so beginnt unser Gespräch mit Moacyr. Der neue Bürgermeister hat 33 Tage seines Lebens in einer Schule verbracht und sieht sich mit den jurustischen Schlingpflanzen einer Administration konfrontiert. Das Gespräch, an einem Sonntag in dem aus dem letzten Kautschukboom übriggebliebenen pompösen, aber heruntergekommenen Rathaus zeigt schon einen Teil der Schwierigkeiten: immer wieder werden wir unterbrochen, weil DorfbewohnerInnen und Verwandte hereinkommen und Moacyr bitten, irgendein Problem zu lösen. “Sie glauben, ich sei für alles zuständig und ich habe Schwierigkeiten, nein zu sagen.” Dies sind keine persönlichen Probleme sondern Widerspiegelungen der politischen Verhältnisse in weiten Teilen Brasiliens: Eine lokale Verwaltung konstituiert sich nicht über einen politischen und ökonomischen Plan, sondern über ein Geflecht von Begünstigungen, das Gefolgschaft sichert. Der Anspruch der PT ist es, mit diesem personalistisch-korporativistischen Politikmodell zu brechen, das heißt aber in vielen Fällen auch, mit Erwartungen zu brechen, die im Bewußtsein der Bevölkerung tief verwurzelt sind.
Das wichtigste Instrument, um persönliche Gefolgschaft zu sichern, ist der öffentliche Dienst. Von den 3600 BewohnerInnen des Hauptortes sind 331 bei der Stadtverwaltung beschäftigt, dem bei weitem größten Arbeitgeber. Diese Verwaltung, angefüllt mit Angehörigen und Gefolgsleuten der bisherigen Bürgermeister, erbt nun die PT: die Lohnzahlungen verschlingen 80% des Haushaltes.
Dieses ist der enge Rahmen, in dem die neue Verwaltung versucht, ihr Projekt zu realisieren. Kernstück ist dabei, in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft, die Stärkung der kleinbäuerlichen Produktion. Manuel Chico, der Leiter des Gewerkschaftsprojektes, ist auch Stadtrat für Landwirtschaft geworden. Die neue Verwaltung hat damit zumindest einen Ansatz, mit der bisherigen Politik der völligen Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Wirtschaft zu brechen.
Neben der Förderung der Landwirtschaft ist die Erziehung ein weiterer Schwerpunkt. Benilda, Stadträtin für Erziehung, ist eine deutschstämmige Siedlerin aus dem Süden Brasiliens, deren Familie mit der “Transamazônica” in den siebziger Jahren nach Amazonien gekommen ist. In einigen Gemeinden in der Nähe von Altamira haben die SiedlerInnen die “Bewegung zum Überleben an der Transamazônica” formiert, eine der bestorganisiertesten sozialen Bewegungen Amazoniens. Die Erfahrungen aus dieser Region sollen nun in Gurupá genutzt werden. Bertila hat zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht: Die Rate der vorzeitigen SchulabgängerInnen beträgt 81,7 Prozent. Das Problem dabei sind weniger die SchülerInnen als die LehrerInnen: Nur acht der 108 LehrerInnen, die auf dem Land arbeiten, besitzen überhaupt einen Schulabschluß! Auch dieser Posten ist von den bisherigen Bürgermeistern als Privileg an die Gefolgschaft vergeben worden. Viele LehrerInnen treten ihren Posten gar nicht erst an oder kehren vorzeitig von den oft mehrere Tagesreisen entfernt liegenden Minischulen zurück. Das Programm der Gemeinderätin setzt dazu zunächst an der Fortbildung und Motivierung der LehrerInnen an. Des weiteren sollen der Schultransport (per Boot, versteht sich) verbessert, ein Programm zur Schulspeisung ausgebaut und neue Unterrichtsmaterialien entwickelt werden, die nach der Methode Paulo Freire an den lokalen Gegebenheiten ansetzen: bis heute werden Kinder in Amazonien meistens mit Büchern alphabetisiert, die die Umwelt von Mittelschichtskindern in Sao Paulo widerspiegeln. Während des Gesprächs mit Bertila setzt ein heftiger Amazonasregen ein und nach wenigen Minuten läuft das Wasser an den Wänden des Rathauses herunter…
Trotz aller Schwierigkeiten hoffen Bertila und ihre KollegInnn, daß nicht alles den Bach `runtergeht, sondern neue Ansätze in der Kommunalpolitik entwickelt werden können.

Neue Wege für Amazonien?

Die Erfahrungen in Gurupá sind über den lokalen Rahmen interessant für die Neuformulierung von Entwicklungskonzepten in wichtigen Regionen Amazoniens. Die Kritik an einem ausbeuterischen Extraktivismus, an dem ungeordneten Holzeinschlag ist keine Idee, die von außen kommt, sondern spiegelt die lebendige Erfahrung der KleinbäuerInnen wider. In den Gesprächen mit den ribeirinhos ist die Gegenüberstellung von “früher” und “heute” immer wieder präsent:
“Es war günstiger. Früher gab es Holz am Ufer. Es gab mehr Wild zum Jagen und mehr Fisch.” Oder: “Es wird immer schwieriger. Zunächst war Açai das große Nahrungsmittel. Heute nicht, nachdem sie das Palmito geschlagen haben. Und auch andere Sachen werden knapper: die Palmitofirmen rotten das Wild aus, Holz gibt’s nur noch im Inneren. Wenn du heute leben willst, mußt du doppelt so viel arbeiten wie früher.” – “Alles war reichlicher da; es gab mehr Fisch, mehr Wild, mehr Enten im Wald. Die Arbeit war nicht so eine Qual wie heute.”
Die Erfahrung des Niedergangs ist allgegenwärtig und damit wächst das Bewußtsein, daß es so nicht mehr weiter gehen kann. Die traditionellen Eliten, die Holzhändler und Palmitoeinschläger haben aber nichts Neues zu bieten, sie können höchstens neue Gegenden erschließen und Verwüstungen zurücklassen. Wenn KleinbäuerInnen jetzt von “nachhaltiger Nutzung” reden, dann haben sie nicht nur Vokabular von außen aufgeschnappt, um besser an Entwicklungshilfegelder zu kommen. Vielmehr ist es eine durchaus naheliegende Konzeptualisierung von konkreten Erfahrungen.
Der Wald ist in Gurupá durch den Holzeinschlag sicherlich schwer geschädigt (ein Inventar liegt nicht vor), aber keineswegs vernichtet. Ein ungeübtes Auge nimmt die Veränderungen gar nicht wahr, die RucksacktouristInnen glauben durch “den” Urwald zu fahren. Die inzwischen deutlich Wahrnehmung der Krise, das Wachsen neuer sozialer Akteure und das noch nicht vollendete Werk der Zerstörung bieten – bei allen Schwierigkeiten – große Chancen für nachhaltige Änderungen.

Anmerkung: Der Artikel beruht auf einer Reise nach Gurupá im Februar 1993, zahlreichen Gesprächen vor Ort. Bei den historischen und statistischen Angaben verdankt der Artikel fast alles einer ausgezeichneten Arbeit Paulo de Oliveiro Junior über “Genese, Unterordnung und Widerstand der Bauernschaft in Gurupá”, eine Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft erstellt wurde. Auch ein Teil der im Artikel zitierten Aussagen von KleinbäuerInnen ist der Arbeit entnommen.

Kasten:

Die Gemeinde von Gurupá hat insgesamt 19 000 EinwohnerInnen, von denen 3600 in der “Stadt” wohnen. Diese teilen sich 9.300 Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Saarland leben auf 2570 Quadratkilometer 1.073.000 Menschen in 52 Gemeinden. Straßen gibt es nur im Hauptort, ansonsten ist das Schiff das Transportmittel zu den Siedlungen. Diese liegen oft mehrere Tagesreisen vom Hauptort entfernt. Dabei ist Gurupá nicht mal eine besonders große Gemeinde. Andere Orte in der “Region der Inseln”, zu der Gurupá gehört, besitzen erheblich größere Flächen. Die Sozialstruktur außerhalb des Hauptortes ist durch das Vorherrschen kleinbäuerlicher Familienbetriebe geprägt.

“Gefährliche Klasse”

Brasilien wird manchmal in seiner Sozialstruktur mit einer Schweiz und zwei Bangladeshs verglichen. In der Zone des Aufpralls zwischen diesen beiden Lagern befinden sich die Kinder und Jugendlichen. Daher die vielen Toten, die Todeskommandos. In den letzten Jahren ist in dieser Zone des Aufpralls auch eine politische Bewegung entstanden, die – anders als zahlreiche NGO’s – die Kinder nicht von der Straße holen, sondern mit ihnen die politischen Bedingungen fürs Überleben erkämpfen will. Man kann sich darüber streiten, ob diese Bewegung der ErzieherInnen in Wirklichkeit nur die Funktion hat, die Konfrontation ein wenig abzumildern. Festzustellen ist, daß ihr Platz vor Ort massiv – ja mit dem Mittel der bewaffneten Gewalt – bekämpft wird, und zwar von den Hütern der alten Ordnung.
Das “Straßenkinderkomitee Brasilien” (Treffpunkt im FDCL) hat Anfang April 1993 Volmer do Nascimento, einen der Gründer dieser politischen Bewegung der ErzieherInnen und Straßenkinder (MNMMR) eingeladen. Im Kulturhaus Berlin Mitte hielt er am 2.4.1993 einen Vortrag, am nächsten Tag gab es eine Diskussionsrunde im kleineren Kreis. Wir fassen im folgenden den Bericht und die Diskussionen in einem Themenaufriß zusammen.

Volmer do Nascimento – zur Person

Volmer do Nascimento betätigte sich in den 70er und frühen 80er Jahren in den Gewerkschaften. Er war Mitglied der kommunistischen Partei (PCB) und wechselte, als diese 1982 verboten wurde, zum legalen Sammelbecken der demokratischen Opposition PMDB. Seit 1985 ist er Mitglied der Arbeiterpartei (PT).
1985 übernahm er leitende Funktionen in der staatlichen Behörde FUNABEM (Stiftung der Kinder- und Jugendwohlfahrt) und begann in Duque do Caxias, einem Stadtteil von Rio de Janeiro, seine Arbeit mit Straßenkindern. Diese Arbeit vor Ort organisierte die Kinderpastorale, eine kirchlichen Institution, die – von der Befreiungstheologie inspiriert – den direkten Weg zu Kindern und Jugendlichen gesucht hat. Als 1986 einige Straßenkinder, mit denen Volmer zusammengearbeitet hatte, verschwanden und umgebracht wurden, begann er mit Untersuchungen zu den Hintergründen der Morde.
Volmer do Nascimento gehört zu den Gründungsmitgliedern des Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR), das seit 1985 besteht. Er hat seitdem zahlreiche Initiativen auf dem Feld des Kinder- und Jugendschutzes organisiert. Inzwischen ist er einer der international bekanntesten Verfechter der Rechte der Straßenkinder. In diesem Jahr sieht er sich besonderen Repressionen ausgesetzt, wie weiter unten ausgeführt wird.

ErzieherInnen und Straßenkinder organisieren sich

Gegen Ende der Militärdiktaturen in Südamerika erfuhren gerade die pädagogischen Bereiche eine Neubestimmung ihrer Aufgaben; es galt Erziehungsalternativen zum Autoritarismus zu entwerfen. Viele Gruppen von ErzieherInnen machten sich recht selbständig auf den Weg in die Favelas und auf die Straßen. Die Aufbruchstimmung in Brasilien entging den staatlichen und internationalen Einrichtungen nicht; sie versuchten, Impulse in diese Basisbewegungen hineinzutragen und die zahlreichen Gruppierungen durch koordinierte Förderung einzubinden.
UNICEF führte von 1983-85 zusammen mit dem Ministerium für Soziales auf Bundesstaatsebene (SAS) und der Stiftung für Kinder- und Jugendwohlfahrt (FUNABEM) ein Betreuungsprogramm für Straßenkinder durch, in dem partizipative Modelle der Erziehung erprobt werden sollten. Nach Auslaufen des UNICEF-Programms wurde auf einem nationalen Treffen die Gründung einer von Staat, Kirche und Parteien unabhängigen Organisation beschlossen. Auch inhaltlich wollte man sich stärker von sozialfürsorgerischen und paternalistischen Konzepten abgrenzen. Die politische Auseinandersetzung unter ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, Kindern und Jugendlichen stand im Vordergrund. So entstand 1985 das Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR). Die innere Struktur dieser Bewegung ist basisdemokratisch angelegt. Es gibt regelmäßige Diskussionen auf der Straße, in der Schule und im Stadtteil. Dort werden Kinder von ihren AltersgenossInnen gewählt, um so die Vertretung auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zu gewährleisten. Landesweit sind heute 3.000 ErzieherInnen dem MNMMR angeschlossen, und die Bewegung erreicht mehr als 80.000 Kinder und Jugendliche. Im Dezember 1992 hat in Brasilia der dritte Nationalkongreß des MNMMR mit 1.200 Kinder- und JugendvertreterInnen aus allen Landesteilen stattgefunden.
In der Selbstdarstellung des MNMMR wird betont, daß man “mit” statt “für” die Bevölkerung arbeite. Das kritische Bewußtsein solle gestärkt werden (nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen!), um dadurch zu einem Wandel der ungerechten Strukturen der Gesellschaft zu gelangen. Die Identität auch der Straßenkinder solle respektiert und davon ausgehend ein Lebensentwurf dieser Gruppen gesucht werden. Die Arbeitssituation, in der sich die meisten Kinder und Jugendlichen Brasiliens befinden, solle zum Ausgangspunkt genommen werden, damit die Arbeitenden selbst zu den Akteuren der Veränderung werden könnten.

Demokratie und Todesschwadrone

Der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie brachte in Brasilien nicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit. Die 80er Jahre bedeuteten auch für dieses Land eine Zunahme an Verarmung, Hunger und einen Rückgang der Löhne. Die sozialen Auseinandersetzungen haben sich verschärft. Noch nie wurden in Brasilien so viel Menschen auf dem Land wie in der Stadt durch staatliche und parastaatliche Repression umgebracht.
Die Doktrin der Militärdiktatur der 70er Jahre richtete sich mit Folter und Todesschwadronen gegen die politische Opposition. Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gibt die oberste Militärinstanz Brasiliens, die ESG, neue Richtlinien vor: In das Schußfeld geraten nun die “gefährlichen Klassen”, die Obdachlosen, die Plünderer, die Straßenkinder, die Homosexuellen und HIV-Positive. Nach dieser neuen, nach der “Sozialhygiene” ausgerichteten Doktrin soll die Armut durch die Vernichtung der Armen bekämpft werden. Diese Ideologie ist in den letzten Jahren in Brasilien durchaus gesellschaftsfähig geworden: Die neuen Todesschwadrone (escuadrôes de exterminio) werden nicht nur von Militär und Polizei gebildet. Auch Geschäftsleute, Richter und hohe Politiker erteilen “Exterminio”-Aufträge an private Sicherheitsdienste und Killerkommandos.
Nach einem parlamentarischen Untersuchungsbericht (1992) wurden in Brasilien zwischen 1987 und 1991 über 16.000 Kinder ermordet, 80% von ihnen Schwarze. Nach offiziellen Angaben werden in Brasilien täglich vier Kinder umgebracht, das MNMMR geht von täglich sieben bis acht Morden an Kindern aus. Während in Sâo Paulo die (Militär-)Polizei aktiv wird – von zehn Morden gehen nach Schätzungen sechs auf das Konto der Polizei – sind in Rio de Janeiro ganze Stadtviertel in der Hand von Todesschwadronen.
Parallel zu dieser Entwicklung der tausendfachen Morde formte sich der brasilianische Staat zu einer Verfassungsdemokratie um. Es gab eine sehr breite Diskussion um die einzelnen Artikel der Verfassung, die schließlich 1988 verabschiedet wurde und 1990 in Kraft trat. Auch das MNMMR beteiligte sich an der Ausarbeitung eines in der Verfassung verankerten Statuts der Kinder- und Jugendlichenrechte. Laut UNO hat Brasilien eines der fortschrittlichsten Kinder- und Jugendschutzgesetze.
Die Jugendrechtsreform hat in einigen Bereichen tatsächlich enorme Umbrüche ausgelöst. Die frühere Form der staatlichen Kinderfürsorge, die Kinderverwahranstalten, die eher Gefängnissen glichen, wurde weitgehend abgeschafft. Es gab keine Nachfolgeeinrichtungen. Von den Vorteilen des Gesetzes haben die Kinder und Jugendlichen allerdings bisher kaum etwas zu spüren bekommen. Die Auflösung von staatlichen Erziehungsanstalten, die Schließung von Heimen hat viele Kinder auf die Straße entlassen, so daß sich die Todesschwadrone mehr denn je berufen fühlen, Minderjährige zu foltern und umzubringen. Daß den Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, mehr Rechte eingeräumt werden als früher, sehen die Todeskommandos und ein Teil der (zivilen!) Gesellschaft als Provokation.
In anderen Bereichen hat die Jugendrechtsreform nichts verändert. Nach wie vor werden in wohl allen Gefängnissen und auf vielen Polizeistationen dauerhaft Kinder und Jguendliche festgehalten – illegal wie auch zuvor.
Nach dem Geist der Verfassung sollte an die Stelle der Kinderverwahranstalten eine ausdifferenzierte Form der Gesellschaftskontrolle treten. Auf kommunaler wie auf regionaler und nationaler Ebene wurden gewählte Gremien eingesetzt, die zur Hälfte aus staatlichen Vertretern und zur Hälfte aus der “Zivilen Gesellschaft” stammen. Im strafrechtlichen Bereich sollen Vormundschaftsräte erzieherische und disziplinarische Maßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche beschließen können und ihre Durchführung überwachen. Diese Gremien und vor allem die Vormundschaftsräte sind unterdes auf viel Widerstand gestoßen. Vor allem Polizisten und Richter, die bisher über uneingeschränkte Kompetenzen verfügten, wollen die Beschneidung ihrer Macht nicht hinnehmen. In ihrer Befürchtung, daß “der Gesellschaft” zuviel Macht zugestanden wird, haben Politiker inzwischen über 150 Gesetzvorlagen zur stückweisen Abschaffung dieses Statut eingereicht. Wenn im Oktober 1993 über eine Verfassungrevision entschieden wird, befürchtet das MNMMR die gänzliche Abschaffung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes.
Das MNMMR sieht zur Zeit einen wichtigen Kampf in der Durchsetzung und Verwirklichung des Statuts. Es sieht das Statut als Bestandteil einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. In diesem Sinn mobilisiert die Bewegung nun die Kinder, damit diese ihre Rechte einklagen und damit die Regierung gezwungen wird, sich um die Belange der Kinder zu bemühen.

Repressalien gegen MNMMR

Die ErzieherInnen des MNMMR haben angefangen die Morde an den Kindern anzuprangern und die gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen zu benennen, die hinter den Todesschwadronen stehen, – so wurden die Namen von Geschäftsleuten, Richtern, Politikern und Polizeipräsidenten bekannt. Seitdem werden Personen des MNMMR verfolgt und bedroht. Volmer do Nascimento berichtete, daß von den sechzig Kindern, mit denen er in der Kinderpastorale in Duque de Caxias arbeitete, einundzwanzig Kinder in neunzehn Monaten umgebracht wurden, und zwar von den Escuadrôes de Exterminio, die im Auftrag von Geschäftsleuten handelten. Schließlich kamen auf starken Druck hin staatliche Ermittlungen in Gang. Es wurde festgestellt, daß die Zahl der ermordeten Kinder in Duque de Caxias noch weitaus höher lag. 147 Kinder waren laut dieser staatlichen Ermittlung allein in diesem Stadtteil und 427 Kinder in der Baixada Fluminense, also dem gesamten Bezirk, im gleichen Zeitraum (bis Juni 1988) umgebracht worden. Unterstützt von Amnesty International reichte das MNMMR eine Klage wegen dieser Morde ein. Obwohl die Namen der Mörder bekannt waren, wurde niemand festgenommen oder zur Rechenschaft gezogen.
Eine 500-seitige Untersuchung, die Volmer do Nascimento mit der Staatsanwältin Tania Moreira 1989/90 erarbeitete und 1991 vorlegte, versammelte eindeutige Beweise unter anderem gegen vier Richter aus Duque de Caxias. Einer der Anführer der Todeschwadrone war demnach ein Gerichtsdiener beim Amtsgericht dieses Stadtteils.
Zwei Richter strengten daraufhin einen Prozeß wegen Verleumduung und übler Nachrede gegen Volmer do Nascimento an. Sie verloren den Prozeß, weil Volmer Beweise in der Hand hatte, die aus den Büros der Richter entwendet worden waren, und die die Richter nicht zum Gegenstand des Verfahren machen wollten, weil sie sich damit allzu kompromittiert hätten. Der Justizminister Brasiliens mußte eingestehen, daß Luis Cesar Bittencourt, immerhin Präsident des Gerichtshofs von Rio de Janeiro, mit Hilfe des Richters Rubens Medeiros jahrelang Kriminellen Schutz gewährt hat.
Seitdem häuften sich Morddrohungen gegen Volmer. Anfang 1991 bekam er auf Anweisung des Präsidenten Brasiliens Polizeischutz, allerdings eher zu seiner Überwachung als zu seiner Sicherheit. Im April 1991, kurz nachdem dieser zweifelhafte Schutz unangekündigt eingestellt wurde, wurde Volmer für 43 Stunden von Unbekannten entführt und wieder freigelassen. Die Polizei ermittelte nicht wegen der Entführung, stattdessen erhielt Volmer seinen nächsten Prozeß. Nochmals klagten ihn Richter wegen Verleumdung und übler Nachrede an. Volmer hatte nicht ausgeschlossen, daß dieselben namentlich bekannten Hintermänner der Todesschwadrone auch hinter seiner Entführung gestanden hätten. Zudem wurde auf richterlichen Beschluß das Kinderhaus der Kinderpastorale in Duque de Caxias geschlossen, unter dem Vorwand, daß die Kinder dort zum Klebstoffschnüffeln animiert würden.
So wurde Volmer im November 1992 zu insgesamt sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Das Strafmaß übersteigt das für das Delikt vorgesehene Höchstmaß um fünf Jahre. Wahrscheinlich läuft im Mai 1993 die Revision des Prozesses. Falls das Urteil bestätigt wird, muß Volmer befürchten, daß er die Gefängnisstrafe antreten muß und das Gefängnis nicht lebend verlassen wird.

“Wir machen unsere eigene Einigung!”

LN: Ab dem 1.1.1994 werden Argentinien und Brasilien einen gemeinsamen Markt haben, dem 1995 auch Uruguay und Paraguay beitreten werden. Mit welchen Gefühlen stehen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern dem gegenüber und welche Erwartungen verbinden sie damit?
J.K.: Hier in Lateinamerika gibt es einen Traum, den wir von unseren Vorfahren geerbt haben. Das ist die Vision eines vereinigten Lateinamerika, eines großen Vaterlandes. Daher kommt es, daß wir einer Integration, in diesem Fall der Länder des Cono Sur, nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Wir stellen uns jedoch frontal gegen die Integrationspolitik, die von den Regierungen unserer Staaten in den Verhandlungen zum MercoSur betrieben wird. Sie treffen und trafen Entscheidungen, ohne irgendjemanden zu fragen – nicht einmal die Bevölkerung, die sie gewählt hat. Und dazu kommt, daß die Einigung, die sie wollen, eine rein wirtschaftliche ist. Wenn wir sagen, daß wir eine Gemeinschaft wollen, dann meinen wir damit etwas viel umfassenderes, eine Einigung von Volk zu Volk, eine geschwisterliche Einigung, die von Kooperation und gegenseitiger Hilfe geprägt ist. Wir wollen eine Zusammenarbeit zwischen brasilianischen Bäuerinnen und Bauern sowie paraguayischen Bäuerinnen und Bauern, zwischen ArgentinierInnen und UruguayerInnen: eine Integration zwischen ProduzentInnen, wo gemeinsam Verbindungen geknüpft werden, die nicht nur durch die Spielregeln des Marktes bestimmt sind, sondern vor allem durch Solidarität.
Die Frage des MercoSur beschäftigt inzwischen sehr viele Leute hier in Argentinien, nicht nur landwirtschaftliche ProduzentInnen. Auch Organisationen der KleinuntemehmerInnen sind besorgt, weil niemand wirklich die Folgen absehen kann. Um Widerstand zu organisieren, haben wir es aber mit sehr kurzen Zeiträumen zu tun – ein, zwei Jahre. Das ist sehr wenig Zeit angesichts der wenigen Kontakte, die wir bisher hatten.

Wie ist denn die momentane Situation der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Argentinien?
Das ist stark abhängig vom jeweiligen Produkt. Argentinien ist ja sehr groß, so daß jede Region ein bestimmtes Produkt hervorbringt. Beispielsweise finden wir ProduzentInnen von Tee und Yerba Mate in Misiones, Baumwolle im Chaco. Im Zentrum gibt es Weizenanbau, Mais und Soja, während aus dem Süden vor allem Wolle, Felle, Früchte, Zwiebeln und Kartoffeln kommen. Einige Produkte erzielen einen guten Preis auf dem internationalen Markt, beispielsweise Früchte, und diejenigen, die sie anbauen, befinden sich in einer verhältnismäßig guten Situation.
Aber fast alle KleinproduzentInnen haben große Schwierigkeiten mit der Kommerzialisierung ihrer Produkte. Es gibt ZwischenhändlerInnen, die wiederum zu größeren Unternehmensgruppen gehören, die man als die eigentlichen BesitzerInnen der Produktion betrachten kann. Hier gibt es fünf Gruppen, die die Preise für Baumwolle bestimmen und die Produktion unter sich aufteilen. Die ganze Produktion an Lebensmitteln wird hier von drei Gruppen bestimmt, zum Beispiel die Getreideproduktion von “Molinos del Rio de La Plata”, die zum Multi Bunge y Born gehören und in Argentinien genauso wie in Brasilien die Preise für Mais und Sonnenblume bestimmen. Ähnlich sieht es im Fall von Geflügel aus, wo die internationale Gruppe Targil wegen ihrer Monopolstellung die Preise für die gesamte Produktion bestimmt. Die größte Schwierigkeit für KleinproduzentInnen besteht darin, daß der gesamte Zwischenhandel von diesen drei oder vier Gruppen bestimmt wird. Genauso bestimmen die auch die Preise die KonsumentInnen und stecken sich die Gewinnspanne in die Tasche.

Gibt es denn Möglichkeiten, dagegen Widerstand zu leisten?
Es gibt einige Bestrebungen, sich von, dieser Abhängigkeit zu lösen, was aber sehr schwierig ist. Zum Beispiel haben WollproduzentInnen im Süden acht Kooperativen gegründet, um die Vermarktung zu organisieren. Gleichzeitig organisieren die Kooperativen auch den Großeinkauf von Grundnahrungsmitteln wie Zucker, Milch, Yerba für ihre Mitglieder.
Kooperativen haben hier in Argentinien eine lange Geschichte; es hat lange Zeit funktioniert, daß ProduzentInnen ihre Waren mittels eines Systems von Kooperativen vermarkteten. Das erfordert allerdings einige Voraussetzungen, wie beispielsweise Ehrlichkeit, die heute aber oft nicht gegeben sind: Vor kurzem ist eine der ältesten Kooperativen Argentiniens eingegangen, die Kooperative “El hogar obrero”, die seit 1905 bestand. Diese Kooperative bestand aus mehreren Teilen; sie war Konsumkooperative, auch Wohnungsbaukooperative und besaß ungefähr 100 Fabriken und circa 600 Verkaufsstellen in jedem größeren Dorf in Argentinien. Es gab auch eine Zeit des argentinischen Peronismus, wo vom Staat Initiativen ausgingen, Gruppen von KleinproduzentInnen gegenüber den Großen zu schützen, aber heute geht in dieser Richtung nichts mehr vom Staat aus. Es wird immer nur vom sogenannten freien Markt gesprochen, der in Wirklichkeit von Oligopolen oder Monopolen beherrscht wird.
Eine andere Aktion des Widerstands haben wir in Paraguay beobachtet, wo eine Kampagne gegen Multis organisiert wurde. Statt Baumwolle zu säen, soll die eigene Produktion diversifiziert werden, um der eigenen Familie eine einigermaßen gute Ernährungsgrundlage zu schaffen. Nur die Überschüsse sollen auf dem Markt verkauft werden. Die “Baumwollbarone” reagierten, indem sie den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Samen aus den USA versprachen, die 2000 Kilogramm pro Hektar an Ertrag liefern (normaler Samen liefert ungefähr 1200 Kilogramm je Hektar). Dieser Samen sollte verschenkt werden und die notwendige Chemie gleich mit dazu. Da Samen für die KleinproduzentInnen sehr teuer ist, wurde also auf diese Weise versucht, die Abhängigkeit der Kleinen zu erhalten.

Inwieweit könnt Ihr denn einschätzen, welche Auswirkungen die wirtschaftliche Integration des Cono Sur haben wird?
Zollschranken und staatliche Kredite stellen bisher einen Schutz für einheimische, vor allem bäuerliche ProduzentInnen dar. In den nun abgeschlossenen Verträgen sind die Regierungen übereingekommen, sich so weit wie irgend möglich aus dem Wirtschaftsgeschehen zurückzuziehen und alles den von ihnen so gepriesenen Marktkräften zu überlassen. Auf einem solchen Markt werden nur die Großen bestehen können, vor allem die transnationalen Konzerne. Außerdem wurden die Verträge sehr eilig ausgearbeitet. Vergleiche das doch mit den Verhandlungen zum EG-Binnenmarkt, über den seit fast 30 Jahren verhandelt wird, und jetzt ist immer noch nicht abzusehen, was passieren wird! Wenn wir das beobachten, dann drängt sich doch der Verdacht auf, daß diese Verhandlungen ganz entscheidend von den transnationalen Gruppen beeinflußt wurden, denn die werden sicher Vorteile haben und wollen die nationalen Ökonomien noch ausschließlicher als heute unter sich aufteilen.
Es ist schon abzusehen, wer den Nutzen aus diesem gemeinsamen Markt ziehen wird. Beispielsweise hat Argentinien gute Chancen, Weizen nach Brasilien zu exportieren, oder nach Paraguay oder auch Uruguay – Fleisch ebenso und auch Milchprodukte. Die kleineren Länder wie Paraguay und Uruguay werden dagegen keine Chance haben. Die Zuckerindustrie in Paraguay etwa wird sicher nicht gegenüber dem argentinischen Zucker bestehen können. Die Kleineren werden ruiniert oder zumindest erheblich schlechter dastehen. Zum Beispiel ist die Sojaproduktion in Brasilien um die Hälfte billiger als in Argentinien. Wer also wird in Argentinien noch Soja produzieren?

Warum ist Brasilien so viel billiger?
Das hat verschiedene Gründe. Vor allem sind die Arbeitskräfte viel billiger. Aber auch insgesamt ist das Land industrialisierter als Argentinien. Niemand spricht über die sozialen Auswirkungen – darüber, was es bedeutet, wenn ganze Industriezweige eingehen werden. Eine Angleichung der Produktionskosten im Sinne der Industrie wird sich an den niedrigsten Standards orientieren. Das bedeutet noch niedrigere Löhne, Abfindungszahlungen und schlechtere Arbeitsbedingungen für die ArbeiterInnen. Außerdem besteht natürlich ein Interesse die Macht der Gewerkschaften so weit wie nur möglich einzuschränken. Über diese Faktoren gibt es keine Verhandlungen, da wird nichts vertraglich geregelt. Deswegen ist es wichtig, daß wir uns ein Bild verschaffen, nicht nur über unser eigenes Land, und daß wir mit den ArbeiterInnen, den Gewerkschaften zusammen arbeiten.

Im August 1992 gab es ein Treffen von Kleinbauern- und KleinbäuerInnenorganisationen des Cono Sur in Asunción, Paraguay, das unter dem Motto “Wir machen unsere eigene Einigung!” stand. Wie kam es zu diesem Treffen?
Im Rahmen des Treffens der 500-Jahre-Kampagne 1991 in Guatemala trafen sich Bäuerinnen- und Bauernorganisationen aus Brasilien, Uruguay, Paraguay und Argentinien zum ersten Mal. Dort entstand die Idee zu einem Kongreß in Asunción, Paraguay zum Thema “MercoSur”. Es gab dann in Argentinien einige Vorbereitungstreffen, die hier in Buenos Aires stattfanden und schließlich fuhren wir zu dem Kongreß nach Paraguay.

Wer waren denn die teilnehmenden Organisationen?
Aus Brasilien kamen die Landlosenbewegung “Sem Terra” und VertreterInnen der Abteilung Landwirtschaft des Gewerkschaftsverbandes CUT. Aus Paraguay nahmen die Vereinigung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (Federación Campesina de Paraguay) und auch die Bewegung der LandbesetzerInnen teil. Auch aus Chile waren VertreterInnen gekommen, obwohl Chile ja gar nicht am MercoSur beteiligt ist. Es kamen Leute von der bäuerlichen Organisation “El Surco” und von der Mapuche-Organisation AD MAPU. Aus Argentinien schließ- ‘lich nahmen aus dem Süden der CAI (Consejo Asesor Indígena), aus dem Nordosten VertreterInnen des MAM (Movimiento Agrario de Misiones, Landbewegung Misiones) und aus dem Zentrum, aus der Pampa, nahm MARP (Movimiento Agrario de la Region Pampeana) teil.
Ein Ergebnis dieses Treffens war der Beschluß der Organisationen, sich und ihre Arbeit regional zu koordinieren. Dazu wurde eine Organisation mit dem Namen Asociación Regional de los Movimientos Campesinos gegründet.

Worin soll die Arbeit dieser Organisation bestehen? Glaubt Ihr, an der bestehenden Konzeption des gemeinsamen Marktes noch etwas ändern zu können? Bisher wurden verschiedene Arbeitsgruppen gegründet, zum Beispiel eine, in der Wissenschaftlerinnen aus den verschiedenen Ländern sich austauschen und sich gemeinsam eine Vorstellung davon erarbeiten, was der MercoSur für uns bedeuten wird. Außerdem wurde eine Menschenrechtskommission ins Leben gerufen, weil es eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen, Repressionen und Verfolgung gegenüber KleinbäuerInnen und Bauern gibt – vor allem gegen über den LandbesetzerInnen in Brasilien und Paraguay. Außerdem gibt es eine Kommission für Kommunikation und Erziehung, die eine gemeinsame Zeitschrift herausgeben wird. Auf diese Weise wollen wir uns so gut wir können den Vereinigungsplänen der Regierungen entgegenstellen.

Auf welchen Weg wollt Ihr das erreichen, wie stark seid Ihr in eurem Widerstand?
Eine Schwierigkeit ist, daß es hier in Argentinien im Gegensatz zu Brasilien keine nationale Organisation der KleinbäuerInnen und Kleinbauern gibt. Es gibt viele unterschiedliche Grüppchen, Gruppen und Organisationen, aber alle haben eine sehr geringe “Reichweite”, sie umfassen im Höchstfall eine oder zwei Provinzen. Wir haben uns mit VertreterInnen des CAI aus dem Süden, des MAM und des MARP hier in Buenos Aires getroffen und darüber eine Menge diskutiert. Dann haben wir einen Arbeitsplan entworfen, mit dem es möglich sein könnte, daß sich drei regionale Organisationen (Norden, Süden, Zentrum) aus den kleinen
Organisationen bilden. Das bedeutet für die drei Organisationen Arbeit für das ganze Jahr, um all diese Gruppen zu versammeln. Es sollen drei regionale Treffen stattfinden, bevor dann ein nationales Treffen vorbereitet werden kann. Nur auf diese Weise können wir eine starke Opposition gegen die Regierung bilden und selbst mehr Klarheit erlangen über die zu erwartenden Auswirkungen der Integration.
In einer ähnlichen Situation der Uneinigkeit befinden sich auch die meisten Indigena-Organisationen und Comunidades. Für unsere gemeinsame Opposition gegen den MercoSur wäre es gut, wenn auch sie sich zusammenschließen würden. Es gibt bisher einige größere Organisationen, wie die Asociación de Pueblos Guaraníes (Zusammenschluß der Guaraní in Misiones) oder den CAI im Süden, in dem sich mehrere Comunidades Mapuche zusammengeschlossen haben. Wenn sich landwirtschaftliche ProduzentInnen und Indígenas auf nationaler Ebene zusammenschließen würden, dann gäbe uns das ein viel stärkeres Gewicht in der Diskussion um die Integration.
Nur wenn sich auf regionaler Ebene und in allen betroffenen Ländern die Organisationen zusammenschließen, haben wir die Möglichkeit, unseren Forderungen gegenüber den Regierungen Ausdruck zu verleihen. Nur wenn wir Unterstützung von vielen haben, wenn es Unterschriftensammlungen gibt oder Demonstrationen oder Straßenblockaden, Sitzstreiks, können wir die Regierenden dazu bringen, ihre Positionen zu überdenken.
Auch wenn wir nicht viel Zeit haben, können wir bei guter Arbeit in zwei Jahren so stark sein, daß wir wirkungsvoll Widerstand leisten können.

Da bist Du ja ganz schön optimistisch! Arbeitet Ihr denn schon mit anderen Gruppen oder Organisationen zusammen?
Die Klein- und mittelständischen UnternehmerInnen haben eine Organisation, APYME (Asociación de la pequeña y mediana empresa), in der sich genau diejenigen zusammengeschlossen haben, die die größten Befürchtungen vor dem MercoSur haben. Außerdem haben wir Kontakte zu einigen Gewerkschaften. Es ist uns sehr wichtig, die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen, damit die Integration, die wir wollen, die zwischen Bäuerinnen und Bauern, aber auch zwischen allen anderen, den ArbeiterInnen, den StudentInnen stattfindet.

Kasten:

Gemeinsamer Markt im Cono Sur – MercoSur

Im “Vertrag von Asunción” vom März 1991 verständigten sich die vier Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay auf die Schaffung eines “Gemeinsamen Marktes im Cono Sur”. Dieser Prozeß soll bis zum 31.12.1994 abgeschlossen sein. Im Vertrag werden vier Ziele festgelegt:
1. Freier Austausch von Waren, Kapital, Technologie und Arbeitskräften
2. Die Festlegung einheitlicher Zollschranken an den Grenzen des gemeinsamen Marktes
3. Abstimmung der makroökonomischen Politik
4. Abstimmung der Außenpolitik, vor allem bezüglich der Handlungsweise innerhalb internationaler Organe, wie GATT oder ALADI (Asociación Latinoamericana de Integración).
Die einzigen erkennbaren Fortschritte, die bisher erzielt wurden, bezogen sich auf den Abbau der Zollschranken innerhalb des MercoSur. Zwischen Argentinien und Brasilien sollen diese bis zum 1.1.1994, im Handel mit den beiden anderen Staaten bis zum 1.1.1995 vollständig abgebaut sein. Unter den Bedingungen des MercoSur soll auf brasilianische Produkte eine Importsteuer von 14 Prozent erhoben werden. Allerdings hat Argentinien unter Wirtschaftsminister Cavallo schon jetzt nur noch Importsteuern von durchschnittlich 9 Prozent eingeführt, so daß brasilianische Waren in Argentinien starker internationaler Konkurrenz ausgesetzt sind.
Aufgrund der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der vier Staaten erscheint es außerordentlich rätselhaft, wie eine Abstimmung der Wirtschafts- und Außenpolitik erreicht werden soll.
In Argentinien und Brasilien konzentrieren sich 92 Prozent der gesamten Außenhandelsaktivitäten der vier Länder. Gleichzeitig sind aber die beiden kleineren Staaten weitaus abhängiger vom Handel innerhalb der Region. Der Handel innerhalb des MercoSur hat in Uruguay einen Anteil von 33 Prozent am gesamten nationalen Außenhandel, für Brasilien hingegen sind es nur 4 Prozent. Währenddessen wickelt Brasilien drei Viertel seines Außenhandels mit den “entwickelten” Ländern ab.
Während der achtziger Jahre führten Argentinien und Brasilien Verhandlungen, die zu einer Vereinfachung des Handels in bestimmten Industriezweigen führen sollten. Damals war von einem gemeinsamen Markt noch nicht die Rede, aber im Bereich der Maschinenindustrie wurden, vor allem für Argentinien, bedeutende Handelserleichterungen vereinbart.
Im Zuge der “Initiative für Amerika”, die US-Präsident Bush im Juni 1990 propagierte und mit der eine “Freihandelszone von Alaska bis nach Feuerland angestrebt wird, wurde dann von Vereinbarungen über bestimmte Wirtschaftszweige Abstand genommen. Neues Ziel war nun die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, der auch Uruguay und Paraguay einschließen sollte. Wofür die EG Jahrzehnte brauchte, das wollten die vier Regierungschefs in ein paar kurzen Jahren abhandeln. DiplomatInnen geben inzwischen ZU, dass diese Ansprüche vielleicht doch ein wenig zu hoch gegriffen sind.
Dafür wird jetzt Chile als möglicher zusätzlicher Partner umworben. Worin Vorteile des MercoSur für Chile liegen sollten, ist unklar, zeigt sich doch das Lieblingskind der WirtschaftswissenschaftlerInnen viel eher an einem bilateralen Abkommen mit den USA interessiert.
Um deutlich zu machen, daß die Integrationsbemühungen am lateinamerikanischen Südkegel nicht gegen die USA gerichtet sind, unterzeichneten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay 1991 ein “Rahmenabkommen über Handel und Investitionen” (auch “4+1-Abkommen”) mit den USA.
Nachdem sie die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Markt geschaffen hatten, ziehen sich die Regierungen immer weiter zurück, um die konkrete Ausgestaltung des MercoSur den privaten Unternehmen zu überlassen. Die transnationalen Unternehmen haben schon jetzt mit massiven Firmenaufkäufen, Kooperationsverträgen und Absprachen reagiert. Unternehmen mit Produktionsstätten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern sind zur Strategie der Konzentration von Produktionsstätten übergegangen, was natürlich mit Entlassungen verbunden ist. Von staatlicher Seite aber gibt es keine Anstrengungen, die sozialen Folgen des Liberalisierungs- und Umstrukturierungsprozesses abzufangen. Von einem einheitlichen Arbeitsrecht oder Sozialsystem ist erst gar nicht die Rede.

Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.

“Weniger Staat – mehr Gerechtigkeit”

Salinas nähert sich der Halbzeit seiner Amtszeit, und schon jetzt ist deutlich geworden, daß selten zuvor ein mexikanischer Präsident so viele Weichen für tiefgreifende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Sektoren gestellt hat wie er. Mit der Privatisierung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft (Banken, Telekommunikation und rentable Unternehmen, wie z.B. der Kupfermine Cananea) sowie die weitere Öffnung der Tore für ausländische Investoren bzw. Investitionen (einschließlich in der Erdölindustrie), werden radikale Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen vorgenommen. All diese Schritte bedeuten eine klare Abwendung von der bisherigen mexikanischen Politik, in der der Staat oder seine Institutionen einerseits die Kontrolle über die Schlüsselsektoren hatten und andererseits die wirtschaftliche Entwicklung mitbestimmten. Erklärtes Ziel dieser Politik ist erstens die Vereinheitlichung der Strukturen mit denen der US-amerikanischen Wirtschaft. Dies ist für Salinas einer der entscheidenden Schritte, um sein historisches Projekt, die Bildung einer Freihandeiszone mit den USA bzw. Kanada, zu verwirklichen. Zweitens soll das Vertrauen der ausländischen und mexikanischen Privatwirtschaft in das Land verstärkt werden. Mexiko hat inzwischen Brasilien von Platz 1 auf der Liste der lateinamerikanischen Länder mit den höchsten ausländischen Investitionen verdrängt. Und drittens soll die Privatisierung der staatlichen Unternehmen die materielle Basis der alten PRI-Bürokratie treffen, die einen Teil ihrer Existenz auf die Nutznießung dieser Unter- nehmen baute. Mit der Schwächung der alten Garde der Partei (die “Dinosaurier”) sollen vor allem die traditionellen Gewerkschaften innerhalb der PRI getroffen werden. Hier befinden sich auch die meisten GegnerInnen der Privatisierungspolitik von Salinas, nicht zuletzt weil diese von einer Reform der PRI begleitet wird. Der letzte Parteikongreß Ende letzten Jahres verabschiedete denn auch eine Reform der Partei. Diese schränkt die Möglichkeiten der drei Volkssektoren innerhalb der PRI (Gewerkschaften. BauerInnen und Volksorganisationen) bei der KandidatenInnenaufstellung für die Gemeinde und Gouverneurswahlen ein. Die Hegemonie der neuen Führungsgruppe (Technokraten) innerhalb der PRI, die schon unter de la Madrid deutlich wurde, wird dann nicht mehr gestärkt sein.
Salinas’ Modernisierungs- bzw. Privatisierungspläne schaffen nicht nur innerhalb der Partei GegnerInnen, sondern ebenso bei einem Großteil der Bevölkerung. Einerseits konnte die Inflation unter Kontrolle gebracht werden (1990 lag sie bei 30% und 1989 bei 19,7%) und 1990 erzielte die mexikanische Wirtschaft ihre größte Wachstumsrate (3,9%) seit 9 Jahren. Andererseits liegt des Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 14% unter dem von 1981 und 8,4% unter dem von 1983. Fast die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Diese Pläne werden nämlich von einer Politik des Einkommens- und Lohnver- falls begleitet, die die Abwertung der mexikanischen Arbeitskraft fortsetzen wird. In Mexiko liegt der Mindestlohn mit 1/57 US$ pro Tag unter dem von Korea, Singapur, Hongkong und Taiwan.

Seit 1940 die Erdölindustrie verstaatlicht wurde und dies als ein Akt von nationaler Souveränität in die Geschichte Mexikos einging, hat kein mexikanischer Präsident es gewagt, die Verstaatlichung rückgängig zu machen. Jüngst, vor allem im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA, stellte die mexikanische Presse die Frage, ob auch die Privatisierung von PEMEX am Verhandlungstisch behandelt werde. Der mexikanische Präsident hat dies bisweilen vehement verneint. Inzwischen soll er auf diese von JournalistInnen gestellte Frage schon allergisch reagieren. Diesem Präsidenten traut man/frau inzwischen alles zu. Der politische Preis könnte jedoch zu hoch sein. So ließ sich Salinas etwas einfallen womit er die mexikanische Verfassung unterlaufen konnte. Dort ist die Verstaatlichung der PEMEX festgeschrieben.
Daran soll zwar nichts verändert werden, doch hat die mexikanische Regierung die Tore für ausländische Investitionen in diesem Sektor weit geöffnet. Das “schwarze Gold” selbst soll mexikanisch bleiben, während die Förderung durch- aus mit Hilfe von US-Firmen realisiert werden soll. So hat die mexikanische Regierung einen US-Kredit in Höhe von 5,6 Mrd US$ von der Eximbank erhalten, mit deren Hilfe technische Mittel aus den USA angeschafft werden und die Erdölförderung mit US-Hilfe realisiert werden soll. Damit werden die ausländischen Investoren ihren Einfluß auf PEMEX verstärken können. Daß auch dieser Schritt äußerst gewagt war, zeigt die Tatsache, daß dieses Vorhaben der Öffentlichkeit möglichst verschwiegen werden sollte. Anfang Februar wurde der stellvertretende Energieminister Escofet Artigas gefeuert, weil er das Vorhaben der Regierung, PEMEX für ausländische Investitionen und Investoren zu öffnen, publik machte.
Im Zusammenhang mit der Öffnung der Tore von PEMEX für das ausländische Kapital sollte nicht vergessen werden, daß eines der ersten Schritte in der Regierungszeit von Salinas die Verhaftung des Vorsitzenden der Erdölarbeitergewerkschaft (STPRM) La Quina war. Seine kritische Haltung gegenüber Salinas und seine Sympathie für den Oppositionsführer Cárdenas hätten eine zu große Bedrohung für Salinas’ Politik darstellen können.

Vollzogen wurde im Februar diesen Jahres die Privatisierung der mexikanischen Telefongesellschaft (TELMEX). Dieser Schritt zeigt die Entschlossenheit und das politischen Geschick, mit der Salinas seine Politik umsetzt. Gerade bei Telmex stellt sich die Frage, wieso auch höchstrentable staatliche Unternehmen verkauft werden. TELMEX war nach PEMEX das wichtigste und größte staatliche Unternehmen. Es stand 1990 auf Platz 31 auf der Liste der größten Unternehmen Lateinamerikas. Somit zeigt sich, daß vor allem die Privatwirtschaft weiter gestärkt und ausländische Investoren angelockt werden sollten. Die Mehrheitsanteile der TELMEX wurden unter das mexikanische Konsortium “Grupo Carso”, an die “Southwestern Bell Co. aus den USA und an die “Telecom” aus Frankreich aufgeteilt. Die Privatisierung von TELMEX hatte außerdem noch einen wohlüberlegten Nebeneffekt. Sie stärkte nämlich die Position der Telefonarbeitergewerkschaft (STRM). Sie gehört dem Dachverband der dem öffentlichen Sektor angehörenden Gewerkschaften FESEBES (Federación de Sindicatos de Empresas de Bienes y Servicios) an. Dieser wurde gegen den Willen von dem Führer des mexikanischen Gewerkschaftsverbandes (CTM), Fidel Velázquez, und mit Unterstützung von Salinas in den Arbeiterkongreß (CT) aufgenommen. Die Strategie der FESEBES, ist es die Notwendigkeit einer Modernisierung und Flexibilisierung der Industrieproduktion anzuerkennen, gleichzeitig eigene qualitative Politikkonzepte für eine Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsbeteiligung zu entwickeln, sowie die Beziehung zur Staatspartei PRI zu lockern, ohne jedoch den Rahmen staatlich vermittelter Sozialpakete zu verlassen.

Brasilien: Kautschukzapfer:Opfer der Marktwirtschaft

Die Kautschukzapfer können nicht mehr im Urwald überleben, sie verlassen massenhaft die seringais (Zapfgebiete), 100.000 seringueiros (Kautschukzapfer) könnten in den nächsten Wochen die Wälder verlassen und die Peripherie der Städte bevölkern. Dieser Prozeß ist jetzt schon in Rio Branco, der Hauptstadt Acres, wahrnehmbar. Das ist die Essenz der Lagebeschreibung Julio Barbosas, des Präsidenten des Nationalen Rates der Kautschukzapfer. Am 11. März trafen sich im ökumenischen Dokumentationszentrum Sao Paulo (CEDI) der Kautschukzapfer mit Gewerkschaftern und Politikern, um eine Kampagne für die Kautschukzapfer vorzubereiten. Genau ein Jahr nach dem Machtantritt von Collor zeigt der marktwirtschaftliche Rigidismus seine ersten Resultate. Collor hatte mit einem Schlag alle (oder fast alle) Subventionen abgeschafft und damit auch Importbeschränkungen und Stützungen der nationalen Kautschukproduktion.
Der Gummimarkt teilt sich in verschiedene Produkte auf: synthetisches Gummi und Naturkautschuk. Die Gummiindustrie (mit ihrem wichtigen Zweig, der Reifenindustrie) braucht für eine Reihe ihrer Produkte einen Anteil von Naturkautschuk. Fast die gesamte Weltproduktion des Naturkautschuks wird auf den Plantagen Südostasiens(Ma1aysia und Indonesien) gewonnen. Brasilien verfügt sowohl über eine Plantagenproduktion (vorwiegend im Süden des Landes) als auch über den wildwachsenden Kautschuk im Amazonasgebiet, der von den seringueiros gesammelt wird. Cirka 50% der nationalen Produktion von Naturkautschuk wird in den Urwäldern gewonnen, der Rest stammt aus Plantagen. Bisher mußten Firmen zunächst den nationalen Kautschuk zu einem festgelegten Preis kaufen, bevor sie sich auf dem (erheblich preisgünstigerem) Weltmarkt bedienen konnten. Diese Politik der “Marktreseve” und Preisstützung ist nun von der Regierung weitgehend aufgegeben worden. Der Preis ist daraufhin ins Bodenlose gefallen. Laut Tabelle müßten die seringueiros 130 Cruzeiros für ein Kilo Kautschuk bekommen, das ist etwas weniger als eine Mark (Stand: Mitte März 91). Tatsächlich zahlen die Zwischenhändler aber nur 80-100 Cruzeiros. Ein Kautschukzapfer kann maximal 10 Kilo pro Tag produzieren, seine durchschnittliche Jahresproduktion beläuft sich aber auf nur 500 Kilo.

Ökologie ist nicht rentabel

Der Kautschukpreis hat seinen absoluten Tiefstand seit den siebziger Jahren erreicht, die mühevolle Arbeit des Zapfens lohnt sich einfach nicht mehr: sie sichert nicht mehr das Überleben im Urwald. Die Ausführungen Julio Barbosas lassen nur einen Schluß zu: die Produktion natürlichen Kautschuks im Urwald ist ökonomisch nicht konkurrenzfähig -und kann es auch nicht werden. Ein Plantagenarbeiter zapft bis zu 100 kg Kautschuk pro Tag, also 10X mehr als ein seringueiro. Die wenig verblieben Mittel für eine nationale Kautschukpolitik investiert die Regierung nun auch noch in die Plantagenproduktion, die Kautschukzapfer bleiben allein im Wald. Aber sie bleiben eben nicht, der Exodus hat bereits begonnen.
Verlassen die seringueiros die Wälder, dann ist das große Projekt der “reservas extrativistas” bald gestorben. Das sind “Sammelreserven”, die der Kautschukproduktion vorbehalten bleiben. Tatsächlich hatten die Kautschukzapfer erste Erfolge erzielt. Große Gebiete in Acre und Amapá waren von der Regierung zu Sammelreserven deklariert worden. Aber Sammelreserven ohne Sammler sind ein (schlechter) Witz. Was aber tun? Die seringueiros wollen im April eine große Kampagne starten, um die Regierung zu zwingen, eine neue Preisstützungspolitik zu etablieren. Ihre Idee dabei ist, den Kautschukpreis an die Kosten für einen Lebensmittelkorb (“cesta basica”) zu koppeln, also eine Art Existenzminimum für seringueiros zu schaffen. solche Forderungen sind in der Zeit der Wirtschaftskrise schwer zu verwirklichen: Das Bruttosozialprodukt sank in Brasilien im vergangenen Jahr um über 4%, Massenentlassungen sind die Folge, und überall schreit die Industrie nach Subventionen.
Das Argument der Kautschukzapfer ist die Ökologie: Der Marktpreis als Rentabilitätsindikator kann eben den längerfristigen ökologischen Nutzen nicht messen. Sie bauen dabei aber auch auf ein Argument, das die internationale Gummiindustrie zum Bündnispartner machen Soll: Schon jetzt versorgen südostasiatische Gummiplantagen immer wieder mit Setzlingen aus Amazonien. Der genetisch verarmte Plantagenbaum wird immer anfälliger für Krankheiten und muß periodisch aufgefrischt werden. Der Amazonas also als Naturreserve für die Multis?
Große Hoffnungen setzen die seringueiros auf die internationale Öffentlichkeit. Welchen Sinn macht der ganze Einsatz für Chico Mendes, für die Verurteilung seiner Mörder, wenn sein großes Projekt auf kaltem Weg liquidiert wird. Die Marktwirtschaft, das erfahren die Kautschukzapfer, ist oft tödlicher und zielsicherer als die Kugeln der Großgrundbesitzer. Und noch etwas wissen die Kautschukzapfer: Soo konsequent ist der Wirtschaftsliberalismus Collorscher Prägung nun auch nicht: Zwei mächtige Lobbies bekommen wieder ihre Subventionen: die Aluminium- und Alkohol-(für Autos) Industrie, energieintensive und umweltverschmutzende Produktionen, die ohne Subventionen nicht überleben können.

Kasten:

Gewalt ohne Ende

Auch nach dem Mord an Chico Mendes hören die Gewalttaten gegen Gewerkschaftsführer auf dem Land nicht auf. Die Fälle sind nur weniger spektakulär und erregen weniger Aufmerksamkeit. In das öffentliche Schweigen platzte im Februar die Nachricht über die Ermordung von Expedito Ribeiro, dem Präsidenten der Landarbeitergewerkschaft von Rio Maria im Süden Parás. Expedito hatte bereits Morddrohungen erhalten, er war eine populäre Figur und die internationale Presse hatte über seine Situation berichtet. Er ist das letzte Opfer einer Serie von Attentaten in dieser Gemeinde, die nun auch ins Blickfeld der brasilianischen Öffentlichkeit gerät.
Nach Erhebungen der CPT (Landpastoral) sind 1989 und 1990 allein in Bahia und Pará 59 Landarbeiter/innen ermordet worden. Eine parlamentarische Untersuchungskommission hat ermittelt, daß in den achtziger Jahren 130 Landarbeiter/innen in Bahia ermordet wurden. In keinem Fall wurde ein Täter bestraft! Im Falle Expeditos ist nun ein Fazendeiro als vermuteter Auftraggeber verhaftet worden.

“Es ist verboten zu verbieten”

Am 22.2. eröffnete die PT (Arbeiterpartei) im Hotel Danubio im Zentrum Sao Paulos die Vorbereitungsphase für ihren ersten Kongreß – nach elfjährigem Bestehen. Der Kongreß wird Ende November stattfinden, die lange Vorbereitungsphase soll eine gründliche Diskussion über die Reihen der PT- Mitglieder hinaus ermöglichen. Kein Zweifel: Mit dem Einberufen des Kongresse reagiert die PT auf die nationale und internationale Krise des sozialistischen Projekts: “Es ist unmöglich zu leugnen, daß das Denken der Linken und die radikalen Ideen zu einer gesellschaftlichen Umwälzung mit einer schweren Identitätskrise konfrontiert sind.”, heißt es im Manifest zum ersten Kongreß. Auf diese Krise will die PT nicht mit neuen Verlautbarungen, sondern einer schonungslosen Diskussion antworten, einer Diskussion, die auch interne Differenzen nicht tabuisiert: Auf der Pressekonferenz versprach der Parteivorsitzende Lula der versammelten bürgerlichen Presse (und dem LN -Korrespondenten): “Ihr werdet in der nächsten Zeit genug zu schreiben haben über die PT. Keine interne Diskussion soll behindert werden. Unser Motto heißt jetzt: Es ist verboten zu verbieten” Drei Punkte stehen im Mittelpunkt der Diskussion der nächsten Monate: die Sozialismusfrage, die interne Struktur der PT und die Herausforderung, eine konkrete Alternative zu bürgerlichen Politik zu praktizieren(in den von der PT regierten Stadtverwaltungen) beziehungsweise zu entwickeln. Das Ziel zumindest ist benannt: 1994 sollen die Präsidentschaftswahlen gewonnen werden.

„Jeder aus der Berliner Mauer herausgebrochene Stein fiel auf unseren Kopf“

So Lula auf der Eröffnungsfeier. Tatsächlich hatte die bürgerliche Presse und Politiker in Brasilien den Fall der Mauer weidlich als Wahlkampfmunition ausgenutzt. “Obwohl die PT im Kampf gegen die autoritären Konzepte des Sozialismus geboren ist, können wir nicht leugnen, daß diese Krise negative Auswirkungen auf die politische Kultur der Linken im Allgemeinen und im besonderen für unsere Partei hat.” Aber es ist nicht nur das Ende des europäischen Sozialismus, das die Genossinnen frustriert. Die Stimmung in der PT ist nicht gut, das ist in Brasilien leicht wahrzunehmen. Viele “petistas” sind frustriert, schimpfen nur noch auf die Partei oder haben sich schon aus ihr zurückgezogen. Die Aufbruchstimmung der frühen Jahre ist vorbei, heute gibt es weniger Parteigruppen als 1985 und die Zahl der Mitglieder sinkt. Das hat verschiedene Gründe: Viele Mitglieder haben seit Sommer 1989 vorwiegend Wahlkampf betrieben. Die Erfolge Lulas, die Tatsache, daß er fast zum Präsidenten gewählt wurde (“quasi la”) bedeuteten zunächst einen riesigen Aufschwung, dann ein gewisses (verständliches) Abschlaffen. Darauf wurden die Energien aber gleich wieder auf die nächsten. Wahlkampfe gestürzt, die Parlaments- und Gouverneurswahlen im letzten Jahr, dieses mal mit einem erheblich niederschmetternderem Ergebnis (vgl. LN 199).
Zum anderen sind die internen Kämpfe in der PT zwischen den verschiedenen Tendenzen in voller Schärfe entbrannt. Teilweise nehmen diese internen Kämpfe die Hauptkräfte in Anspruch. Hier trifft das gesamte Spektrum linker Kräfte in einer Partei zusammen, inklusive eines recht starken und wiederum zerstrittenen trotzkistischen Flügels. Ein neuer Höhepunkt der internen Streitigkeiten waren die Gewerkschaftswahlen bei den Bankangestellten Sao Paulo, einer der größten Gewerkschaften Lateinamerikas. Hier traten zwei Strömungen der PT gegeneinander an und führten einen harten Wahlkampf. Der “gemäßigte” Kandidat Gilmar Carneiro konnte sich nur knapp mit 50% (gegen 44%) der Stimmen gegen seine trotzkistische Herausforderin durchsetzen. Die Fraktionskämpfe bleiben nicht auf die Partei beschränkt, sie wirken sich in den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen aus.
Die schwierigste aber auch interessanteste Diskussion entwickelt sich in den von der PT regierten Städten. In einer Reihe wichtiger Städte Brasiliens (z.B. Sao Paulo, Santos, Porto Alegre) stellt die PT die Bürgermeister/innen. Hier gerät die PT-Basis zunehmend mit “ihrer” Stadtverwaltung in Konflikt. Lula brachte dieses Problem auf folgenden Nenner: “Wir sind es gewohnt immer Forderungen an andere zu stellen, unsere ganze politische Kultur ist eine Forderungskultur. Und jetzt sind unsere Bürgermeister gezwungen, die Preise der Busse aufgrund der Inflation zu erhöhen -und unsere Parteibasis ist nicht darauf vorbereitet, das zu begründen und zu verteidigen.” Lula legte ein unbedingtes Bekenntnis zu Regierungsfähigkeit der Partei ab, die Partei, so ihr Vorsitzender, muß deshalb auch bereit sein, sich gegen partikulare Bewegungsinteressen durchzusetzen.
Die PT – und das unterscheidet sie von fast allen linken Gruppierungen Lateinamerikas -ist eine Partei, die über erhebliche Machtfragmente bestimmt, und eine Partei, die fast die Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte. Sie will Regierungspartei werden und muß dafür eine konkrete Alternativ entwickeln. Die ewige Frage lautet daher: Gerät die PT in ein eher sozialdemokratisches Fahrwasser oder können radikale, libertäre Strömungen eine Antwort auf die hier skizzierten Probleme entwickeln. Zumindest kann man spannende Debatten erwarten und hoffen, daß die Parole “es ist verboten zu verbieten” nicht nur die Tür öffnen soll um mit “altlinken Tabus” zu brechen – und daß die Linke wirklich etwas zu sagen hat.

“A guerra é nossa”

Diese erste größer angelegte Demonstration nach dem Beginn des Krieges zeigte einen Mikrokosmos der Probleme, die eine Mobilisierung verhindern. Innere Streitigkeiten, Segmentierung und platter Antiimperialismus bestimmten das Bild. Zusammen mit der PT hatten die beiden kommunistischen Parteien PCB und PCdoB zur Demonstration aufgerufen. Der greise Vorsitzende der PCdoB Joao Amazonas (einer Partei, die gerade mitansehen muß, wie der letzte Leuchtturm ihres Sozialismus, Albanien!, dem Revisionismus verfällt) war in seinem Element. Wilde Attacken gegen den Imperialismus, dessen Kriegsziel eindeutig ist: Vernichtung des Volkes, das gegen den Imperialismus kämpft. Offene Pro-Saddam Parolen waren allerdings nicht zu hören oder zu sehen, obwohl Teile der Trotzkisten innerhalb der PT und andere Gruppierungen (MR-8) die Solidarität mit Saddam proklamieren. Dafür aber ein gigantischer Parolenmix: “Raus mit dem Imperialismus aus dem Golf und aus Brasilien!” oder “Weg mit Bush und Collor, für Generalstreik!”
Positiv von diesen angesichts der versammelten “Massen” nur noch lächerlichen Parolen setzte sich die Rede Lulas ab. Er ging auf die Situation Brasiliens ein, auf die Bomben Collors und der Wirtschaftsministerin Zelia, die das Land verwüsten. “Brasilien befindet sich im Krieg, in einem Krieg, der durch Rezession die Industrie zerstört, die Menschen durch Entlassungen ins Elend treibt, in einem Krieg, der vom IWF aufgezwungen wird.” Lula markierte damit das Dilemma der brasilianischen Antikriegsbewegung: ein ferner Krieg interessiert wenig, wenn der tägliche Kampf so grausam ist. Zur Gewöhnung an die Gewalt trägt auch das Fernsehen bei durch die Unzahl von Zeichentrickfilmen und japanischen Metzelserien, die einer der Renner im Tagesprogramm sind. Warum dann aber “a guerra é nossa”? Weil, so Lula, die imperialistischen Staaten offensichtlich bereit sind, eine Milliarde US $ pro Tag in den Krieg zu stecken, während in der “Dritten Welt” die Kinder sterben, und die imperialistische Aggression jederzeit auch Brasilien treffen könnte, etwa durch eine Intervention in Amazonien.

PT zerstritten

Lula umschiffte in seiner Rede eher die Punkte, die in der PT hef¬tig diskutiert werden. Die in einer Resolution des Parteivorstandes festgehaltenen Positionen (siehe Kasten) werden vor allem von den Trotzkisten innerhalb der PT kritisiert. Sie sehen darin eine Abweichung vom Antiimperialismus, fordern (teilweise) “Solidarität mit Saddam” und halten die Besetzung Kuwaits für eine gerechte Sache. Insbesondere unter den Intellektuellen in der PT befinden sich andererseits zahlreiche Juden, die sich in einer “Kommission für jüdische Fragen” zusammengeschlossen haben. Sie sorgten dafür, daß bei aller Kritik an der Politik Israels, das Existenzrecht des Staates Israel in offiziellen Verlautbarungen der PT anerkannt wird. Aber auch außerhalb des Lagers der harten Trotzkisten fordern viele Mitglieder eine bedingungslose Unterstützung der PLO durch die Partei.
Noch andere Streitpunkte wurden auf der Demonstration sichtbar: Eine kleine Gruppe wohlorganisierter DemonstrantInnen trat plötzlich auf, als die Redner loslegten. Es waren BesetzerInnen einer Wohnsiedlung, adventista II. Angeblich von einer Tendenz innerhalb der PT (“o trabalho”) haben sie mit öffentlichen Mitteln gebaute Wohnungen für BezieherInnen kleiner Einkommen (COHAB) besetzt. Die Stadtverwaltung von Sao Paulo, auch von der PT gestellt, fordert den Abzug der BesetzerInnen, da sie nur anderen Armen, die durch Wartelisten einen Anspruch erworben haben, die Wohnungen wegnähmen. Ein Anführer der BesetzerInnen spricht mich an: Er zeigt mir Bilder von verstümmelten und verletzten Kindern – Opfer der Räumungen in Diadema (Industriestadt bei Sao Paulo) vom Ende letzten Jahres. (Offiziell) vier Tote, viele Verletzte, einige Verschwundene waren das Resultat: “Das ist unser Bagdad”, sagt er. Diadema wird von der PT regiert. Auch wenn es die Landesregierung war, die die Räumungen angeordnet hatte, geriet die PT-Verwaltung in der Stadt doch zusehends in den Strudel der Beschuldigungen. Natürlich war die Demonstration vom 22.2. nicht die einzig Aktion gegen den Krieg im Golf, aber die anderen waren genausowenig signifikant. Bezeichnend ist der Charakter der größten Manifestation für den Frieden: Ein gemeinsamer Gottesdienst der vier großen Konfessionen (evangelische und katholische Christen, Moslems, Juden), zu dem die Folha de Sao Paulo aufgerufen hatte. 2000 Menschen fanden sich ein, inklusive der politischen Prominenz Sao Paulos von links bis rechts. Bei allgemeinem Friedensgesäusel fiel nur der Rabbiner aus der Rolle: Zum Entsetzen (nicht nur) der linken Juden verteidigte er die Aktionen der Alliierten als gerechten Krieg.
Schlußbemerkung: Am selben Tag (22.2.) trafen sich 1000 Personen zu einer ganz anderen Demonstration, einer Veranstaltung mit dem Titel “Em Defesa do Marxismo”.

Kasten:

Die Partei der Arbeiter – Resolution
der PT zum Golfkrieg (27.1.1991 – Auszüge)

Unter dem Vorwand, die Integrität des kuwaitischen Territoriums zu vertei¬digen, haben die Vereinigten Staaten und ihrer Alli¬ierten die größte Mordma¬schinerie seit dem Zweiten Weltkrieg in Aktion gesetzt. Die Vereinten Natio¬nen dienen als Schutzschild für die Kriegspolitik von Bush. Was im Golf auf dem Spiel steht, sind die gigantischen Interessen der Ölkonzerne, die die Fol¬gen einer Konzentration von Macht in den Händen eines Dikta¬tors fürchten, der die Verhandlungen über den Ölpreis erschwe¬ren kann. Aber grundsätzli¬cher geht es bei diesem Krieg um die Fähigkeit der Regierung der USA, sich zur einzigen Großmacht im Weltmaßstab zu erheben und eine neue ökonomi¬sche, politische und militärische Weltordnung zu etablieren.
Wir verurteilen die Versuche der USA und ihrer Verbündeten, den Konflikt militärisch zu lösen…
Wir verurteilen die Invasion des Iraks in Kuwait…
Wir verurteilen, daß die UNO den USA und den Alliierten einen Freibrief für ihre Kriegspolitik gegeben haben. Die Rolle der UNO ist es, Frieden zu suchen und nicht, Krieg zu legitimieren.
Wir verurteilen die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Is¬rael, im Irak, in Saudi Arabien oder jedem anderen Land der Re¬gion.
Wir verteidigen eine Verhandlungslösung als einzigen Ausweg, um den Frie¬den in der Region wiederherzustellen.

Erziehung zum Kapitalismus?

Anfang Februar dieses Jahres setzte das Rotationsroulette der argentinischen Regierungsposten wieder ein und ließ den bisherigen Außenminister Domingo Cavallo (s.LN 200) zum neuen Chef des Wirtschaftsministeriums avancieren. (s.Kasten) Damit soll versucht werden, die argentinische Bourgeoisie zum Kapitalismus zu erziehen. Zwei Wochen zuvor hatte bereits ein Korruptionsskandal zur völligen Kabinettsumbildung geführt . Der seitdem amtierende Verteidigungsminister Guido Di Tella nahm im Februar Cavallos Außenministerposten ein, der bisherige Wirtschaftsminister “Sup”-Ermán Gonzales wurde neuer Verteidigungsminister. Köpfe sind eben beliebig austauschbar. Die Wirtschaftspolitik wird unter Cavallo allerdings bezüglich des eingeschlagenen neoliberalen Kurses der peronistischen Regierung kontinuierlich bleiben. Diese drei modernisierungswilligen Ökonomen sollen unter der Leitung von Cavallo eine Art Mini-Kabinett bilden, was die starke Position des neuen Wirtschaftsministers zeigt.

Der ökonomische Putsch

Mitte Januar wurde die Position des damaligen Wirt¬schaftsministers Gonzales zunächst gestärkt. Im Zuge der Umbildungen nach dem Korruptionsskandal innerhalb der Regierung wurde das Ministerium für öffentliche Dienstleistungen und Staatsbetriebe aufgelöst und dessen Aufgaben Gonzales direkt übertragen. Gerade innerhalb dieses Ministeriums, das für die Privatisierung der Staatsbetriebe zuständig ist, war es in der Vergangenheit immer wieder zu Korruptionsfällen gekommen. Im Anschluß präsentierte “Sup”-Ermán dann eine neue Anpassung seines Wirtschaftsplans (die sechste innerhalb eines Jahres), welche vor allem rigorose Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und Korruption vorsahen. Die Steuern sollten in fast allen Bereichen erhöht werden, um das chronische Haushaltsdefizit des argentinischen Staates (4,5 Mrd. US-Dollar) zu senken. Gleichzeitig sollten Steuerhinterzieher mit hohen Strafen rechnen. Als Bonbon bot Gonzales der argentinischen Bourgeoisie zwar an, ihre Dollars nun legal auf Auslandskonten anlegen zu dürfen – geradezu eine Aufforderung zur Kapitalflucht – doch den wirtschaftlichen Machtgruppen gingen diese Ankündigungen zu weit.
“Diese ökonomischen Tendenzen können uns in eine sehr delikate Situation bringen, sollten sie nicht korrigiert werden”, sagte der Präsidentenberater für Wirtschaftsfragen und Auslandsverschuldung Alvaro Alsogaray bei seinem Rücktritt Mitte Januar. Diese Aussage des ultraliberalen Ökonomen hätten eine Warnung für den Wirtschaftsminister sein können. Gerade mit Alsogaray hatte es in den vergangenen Monaten immer wieder Differenzen bezüglich der Wirtschaftpolitik gegeben. Doch alle Warnungen schienen nichts zu helfen, Gonzales blieb bei seinen Maßnahmen.
Ende Januar wurde dann durch eine gezielte Intervention der argentinischen Wirtschaftsgruppen auf dem Finanzmarkt die Inflation erneut angeheizt. Die Wirtschaftsbosse agierten ähnlich wie im Frühjahr 1989. Damals wurde durch eine inszenierte Erhöhung der Dollarnachfrage die Hyperinflation in Gang gebracht, die nicht nur den argentinischen Austral binnen eines Monats um 200% an Wert verlieren ließ, sondern auch zu landeswei¬ten Plünderungen und dem vorzeitigen Rücktritts von Menems Vorgänger Alfonsín führte (LN 183/4). Der Dollar stieg diesmal innerhalb weniger Stunden um 25% und die Tageszeitungen konnten am nächsten Tag titeln: “Der Dollar schlug Ermán k.o.”. “Gonzales hat den Kampf gegen seine Feinde verloren”, kommentierte freimütig ein Großunternehmer. Der Wirtschaftsminister zog es vor, mit seinem gesamten Stab zurückzutreten, anstatt weitere Maßnahmen zu ergreifen.

Die grauen Eminenzen der argentinischen Politik

Inflation entsteht allerdings nicht aus heiterem Himmel, sie wird in Argentinien gezielt als machtpolitische Waffe angewandt. Um diesen Mechanismus zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die argentinische Geschichte notwendig:
Ab 1976 setzte eine der blutigsten Militärdiktaturen Lateinamerikas ein neues ökonomisches Akkumulationsmodell durch. In den vorhergehenden Jahrzehnten sorgte die traditionelle Rivalität zwischen der Agraroligarchie auf der einen und der Industriebourgeoisie auf der anderen Seite für die charakteristische politische Instabilität des Landes: Innerhalb kürzester Zeit wechselten die Regierungen, je nachdem welche politische Allianz sich aus den Wirtschaftgruppen, den Militärs und anderen gesellschaftlichen Einflusgruppen zusammengesetzt hatte. Keine dieser konkurrierenden Allianzen war in den 50er und 60er Jahren mehrheitsfähig. Entsprechend lösten sich kurze Phasen der liberalen Exportorientierung und Außenöffnung mit binnenwirtschaftlichen Entwicklungsmodellen ab. Während der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) wurde dieser alte Interessengegensatz aufgehoben. Gemeinsam mit der dann entstandenen Finanzbourgeoisie, welche ihre Gewinne ausschließlich aus dem lukrativen Geschäft der Finanzspekulation auf dem argentinischen Devisenmarkt schöpft, beherrschen diese Gruppen (grupos económicos) die wirtschaftliche Entwicklung. Ihre Interessensvertretungen und Verbände bilden heute eine einheitliche Gruppe. Während der Diktatur hat sich das Kapital enorm konzentriert: Durch umfangreiche Firmenaufkäufe wurde die Anzahl der argentinischen Großkonzerne immer geringer, ihre Tätigkeit hingegen diversifiziert. So sind heute alle argentinischen Großunternehmen in mehreren Branchen gleichzeitig aktiv. Dies ermöglicht es ihnen, sich je nach Konjunktur wechselweise auf verschiedene Sektoren zu konzentrieren. Die klassische Trennung zwischen Agrar- und Industriesektor wurde aufgehoben.
Die völlige Liberalisierung der argentinischen Wirtschaft, die die Militärs durchsetzten, ließ die exportorientierten Großbetriebe wachsen, während die binnenmarktorientierte Kleinindustrie zugrunde ging. Viele Unternehmen waren durch die rigorose Öffnung für Importe nicht mehr konkurrenzfähig, so daß eine regelrechte De-Industrialisierung einsetzte.
Die Interessen der großen Wirtschaftsgruppen gehen mit denen der Auslandsbanken einher. Eine möglichst hohe Exportquote sorgt für zusätzliche Einnahmen des Staates, der dann damit die Zinsen auf die Auslandsschulden bezahlen kann. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist allerdings der parasitäre Charakter der argentinischen Bourgeoisie. Sie will zwar ihre Profite vergrößern, dies allerdings lieber mit Finanzspekulation als mit produktiven Investitionen. Entsprechend versuchte der Staat durch Investitionssubventionen diese Aufgabe der Privatwirtschaft zu übernehmen. Neun von zehn der von Großkonzernen investierten Dollars sind Subventionnen des Staates.

Der Druck auf die “demokratischen” Regierungen

Der demokratisch gewählte Präsident Alfonsín scheiterte letzlich an der Konfrontation mit den herrschenden Unternehmensgruppen. Menem setzte hingegen in offener Allianz mit dem Großkapital (sein erster Wirtschaftsminister entsprang dem argentinischen Multi Bunge y Born) das liberale Export-Modell weiter fort. Die Macht der Wirtschaftsgruppen ist letztlich für jede Regierung Argentiniens entscheidend. Sie benutzen die demokratischen Regierungen, egal welcher Couleur, lediglich dazu, ihre Profite zu sichern und zu vergrößern. Sollte es dennoch eine Regierung wagen, in Kenntnis dieses entscheidenden Machtfaktors dessen Interessen einzuschränken, etwa indem höhere Steuern eingeführt werden, so wird durch einen ökonomischen Putsch klargemacht, wer die eigentlichen Machthaber im Land sind.
Die wenigen Großkonzerne intervenieren gezielt auf dem Devisenmarkt und kaufen Dollars in Massen. Dadurch erhöht sich die Anzahl der in Umlauf befindlichen argentinischen Australes. Geschieht dies in ausreichendem Umfang, setzt umweigerlich die Inflation ein. Dieses Spiel findet zudem nicht irgendwann, sondern meistens im argentinischen Sommer statt. Das Motiv dafür ist simpel: Die Agrarexporteure erzielen in den Monaten Dezember bis Februar ihre größten Dollar-Erlöse. Diese wollen sie natürlich dann durch die Spekulation auf dem Finanzmarkt zu einem möglichst günstigen, das heißt hohen Wechselkurs tauschen. Wird der Dollar künstlich niedrig gehalten, inszenieren sie die Inflation, damit letztlich der Wechselkurs freigegeben wird und sie ihre Gewinne erhöhen können. Das Geschäft besteht darin, zunächst Dollars in Australes zu tauschen. Diese werden dann zu dem sehr hohen, über der Inflation liegenden Zinskurs für einige Tage oder Monate angelegt und dann wieder in Dollars umgetauscht. Die so vermehrten Dollars transferieren sie dann auf ihre Auslandskonten: Kapitalflucht, wie das so schön heißt.
Diese Kapitalflucht hat in Argentinien einzigartige Ausmaße angenommen. Auf den Auslandsbanken der Großkonzerne befinden sich Devisen in Höhe der Auslandsverschuldung Argentiniens, also um die 65 Mrd.(!) US-Dollar. Jährlich vergrößert sich diese Summe um 1,2 bis 1,5 Mrd. US-Dollar. Ein lukratives Geschäft.
Auf diese Art und Weise sind im Frühjahr 1989 Alfonsíns Wirtschaftsminister Sourouille, im Dezember 1989 Menems Wirtschaftsminister Rapanelli und nun “Sup”-Ermán Gonzales weggeputscht worden. Die Regeln ökonomischer Lehrbücher sind in Argentinien durch dieses Vorgehen der großen Konzerne völlig auf den Kopf gestellt worden. So kommt es zu dem für IWF- und Weltbank-Strategen ‘unerklärlichen Phänomen’, daß bei einer tiefen Rezession gleichzeitig Hyperinflation entsteht. Gewußt wie!

Cavallo sucht die Konfrontation – oder doch nicht?

“Ein frontaler Schlag gegen das Haushaltsdefizit und die Korruption. Eine große Operation ohne Anästhesie”, so bezeichnete Präsident Menem die neuen Maßnahmen seines Wirtschaftsministers Domingo Cavallo, der Anfang Februar seinen Plan verkündete. Eindämmung der Kapitalflucht, Erhöhung der Steuereinnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits und Beginn einer produktiven Wachstums- und Investitionsphase sind die wesentlichen Zielsetzungen. Erreicht werden soll all dies durch einen völlig freien Wechselkurs, die Erhöhung der Steuern und ein rigides Regime gegen die Steuerhinterziehung. Listen sollen veröffentlicht werden mit den Namen derjenigen Unternehmen, die ordnungsgemäß ihre Steuern abliefern. Andere Unternehmen sollen dann denunziert und strafrechtlich verfolgt werden. So soll der enorme Steuerbetrug in Argentinien aufgedeckt und bekämpft werden. Den Unternehmen, die ihre Preise senken und so der Inflation Einhalt gebieten, verspricht Cavallo ebenfalls Steuervergünstigungen, während Preistreiber mit besonders harten Steuerkontrollen zu rechnen haben. Parallel will die Regierung Preislisten für die Grundprodukte und Arzneimittel veröffentlichen, damit die Bevölkerung beim Einkauf einen Anhaltspunkt hat.
Die staatliche Subventionierung für Investitionen des privaten Sektors wurde von Cavallo aufgehoben. Investitionsanreize sollen vielmehr über Steuererleichterungen geschaffen werden. Gleichzeitig wurden die Tarife für öffentliche Dienstleistungen erhöht und eine Reihe neuer Steuern für viele Produkte, so zum Beispiel Benzin, eingeführt. Die ArbeiterInnen erhalten einen einmaligen Lohnzuschlag von umgerechnet 25 US-Dollar als Inflationsausgleich, die RentnerInnen nur 20 US-Dollar.
Diese Maßnahmen sind eindeutig unpopulär unter den Wirtschaftsbossen. Auch wenn Cavallo als eine seiner ersten Amtstaten die Großkonzerne konsultierte, stieß sein Plan bei ihnen überwiegend auf heftige Kritik und Ablehnung. Klar, schließlich führt Cavallo die Politik von Gonzales noch rigider fort: Die argentinischen Großunternehmen werden durch die Steuerhöhungen zur Kasse gebeten und gleichzeitig aufgefordert, produktiv zu investieren, anstatt Gewinne durch Spekulation zu erzielen. Dennoch gingen Dollar-Nachfrage und Zinssätze nach Cavallos Amtsübernahme schlagartig zurück. Einige Preise für Grundnahrungsmittel wurden ebenfallls gesenkt, die Inflation dadurch gedämpft.
Die argentinischen Kleinunternehmer reagierten hingegen positiv auf Cavallos Wirtschaftplan. Auch innerhalb des Parlaments bekam Cavallo fast ausschließlich Zustimmung: “Sollte das von Cavallo Geäußerte in Taten umgesetzt werden, wird sich die Haltung der Radikalen Bürgerunion ändern”, ließ der “grand old man” der oppositionellen UCR, Juan Carlos Pugliese, verlauten.
Die VerliererInnen dieser erneuten wirtschaftlichen Anpassung stehen auf jeden Fall schon jetzt fest: für die argentinische Bevölkerung wird sich zunächst nichts Grundlegendes ändern, denn Lohnerhöhungen oder soziale Ausgleichsmaßnahmen sieht auch Cavallos Plan nicht vor. Die permanente wirtschaftliche Instabilität, die Inflation und die Verteuerung der Lebenshaltung treiben die ArgentinierInnen massenweise in die Armut: 13 von 32 Millionen werden mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze eingestuft. Vor einem Jahr waren es noch 11 Millionen.
Es ist fraglich, ob die peronistische Regierung wirklich gewillt ist, ein produktives kapitalistisches Entwicklungsmodell in die Wege zu leiten. Dies ist nur möglich gegen die bisherigen Interessen der Wirtschaftsgruppen und indem die argentinische Bourgeoisie zur “echten Kapitalistenklasse” erzogen wird. Cavallo, so scheint es, will dem parasitären Kapitalismus in Argentinien auf die Sprünge helfen. Sollte er dies nicht schaffen würde es ihm guttun schon im voraus sein Ticket auf die Bahamas gebucht zu haben – für den nächsten Sommer.

Kurznachrichten

Menems tiefe Depressionen
Das Image des Präsidemten ist stark angeschlagen. Menems Popularitätsrate ist von 85% bei Amtsantritt auf derzeit 30% gesunken. Zur Zeit machen in Argentinien allerlei Speku-lationen über einen vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten die Runde. Wirtschaftsminister Gonzales ließ dann auch verlauten, daß Menem von tiefen Depressionen befallen sei – “ein klinischer Fall”. Derweil zog sich der Peronist zu einem Meditationswochenende der Benediktiner aufs Land zurück. “Über die schwierigen Momente, in denen wir leben”

Der “produktive Revolutionär”
“Ich bin zufrieden damit, Außenminister zu sein. Ich wollte dort arbeiten, wo ich benötigt werde. Von der Ausbildung her gesehen wäre ich am besten für den Posten des Wirtschaftsministers oder Zentralbankchefs geeignet gewesen. Nach zwei Monaten als Außenminister denke ich, daß ich besser geeignet gewesen wäre für diese Aufgaben.” So sah Domingo Cavallo im September 1989 kurz vor seiner Abreise zu Verhandlungen mit dem IWF in Washington seine Position. Mit 45 Jahren ist Cavallo der jüngste der vier Wirtschaftsminister Menems. Insgesamt 26 Jahre widmete er dem Studium der Ökonomie. 1977 machte er gemeinsam mit einigen Leuten, die er in Washington beim IWF wiedertraf, an der Harvard-Universität seinen Doktor.
Seit vielen Jahren ist Domingo Cavallo ein Mann mit den besten internationalen Kontakten. 1982 war er Zentralbankchef unter der letzten Regierung der Militärs. Unter anderem hatte er damals die Verstaatlichung der privaten Auslandsschulden der Unternehmer, die heute einen Großteil der Auslandsschulden Argentiniens ausmachen, mitzuverantworten. Seit dieser Zeit verfügt er über beste Kontakte zu Teilen der argentinischen Bourgeoisie.
Dennoch ist er innerhalb der Unternehmer umstritten. Als Wirtschaftsberater in Menems Wahlkampf 1988/9 galt er als der sichere Kandidat für das Wirtschaftsministerium. Er arbeitete den Plan der “Produktiven Revolution” Menems aus. Ihm gegenüber schickten die Großunternehmen allerdings ihren eigenen Kandidaten ins Rennen: Miguel Roig vom Multi “Bunge y Born”, den ersten Wirtschaftsminister unter Menem.

Als Außenminister ist er für den neuen Kurs der Regierung verantwortlich: Traute Allianz mit den USA, Verhandlungen über die Malvinas mit Großbritannien, regionale Integration mit Brasilien und die Entsendung der beiden Fregatten an den Golf. Gleichzeitig war er bei den Verhandlungen mit IWF und Weltbank einer der wesentlichen Strategen. Cavallo wurde zum wesentlichen Kontaktmann zwischen Washington und Buenos Aires.
Cavallo ist zwar ein neoliberaler Ökonom, sieht allerdings die Ka¬pitalflucht und Steuerhinterziehung als Hauptursachen für die Wirtschaftskrise. Entsprechend will er die parasitäre argentinische Bourgeoisie endlich zu produktiven Investitionen anstelle der Finanzspekulationen bewegen. Ein Unterfangen, das ihn seinen Kopf kosten könnte.

Fragmente einer Reise

Brasilien im Januar
—– Der 10.000 Cruzados-Schein wurde durch einen Stempel zu 10 Cruzados Novos. Nach der derzeitigen Währung ist er 10 Cruzeiros wert (ca.10 Pfennig). Zum 1.1.91 wurde der Schein durch eine Münze ersetzt, ist aber noch im Umlauf. “Deus seja louvado” (Gott sei gelobt), steht auf dem Geldschein.
—– Die Reklame eines Motels in Rio: “Faça amor, nao faça guerra.” (Mache Liebe, mach nicht Krieg.) – Eine Annonce für Eigentumswohnungen in Búzios: “Hussein, deixe disso… vá pra Búzios!” (Hussein, laß das doch… geh nach Bú­zios!) – Ein kleiner Junge quengelt auf der Straße. Sein Vater droht ihm: “Wenn du nicht gleich aufhörst, schicke ich dich an den Golf!”
—– Im Nordosten herrscht auch in diesem Sommer eine Dürrekatastrophe. Schon im Dezember verteilte Collor Notpakete mit Grundnahrungsmitteln in den ärmsten Gebieten. Jetzt besuchte er ein Bewässerungsprojekt in Pernambuco. Dabei gab er bekannt, daß die Regierung 5,1 Milliarden Cruzeiros für Bewäs­serungs-, Strom- und Wohnungsbauprojekte zur Verfügung stellen will. In der Zeitung ein Bild vom fotogensten und sportlichsten aller Präsidenten. Diesmal fährt Collor allerdings nur einen Traktor.
—– Boom der Caipira-Musik, der brasilianischen “Country-Musik”: “Chitaozinho e Xororó” haben bereits 1,7 Mio. ihrer Platte “Meninos do Brasil” verkauft. “Legiao Urbana”, eine der bekanntesten brasilianischen Rockgruppen, dagegen nur 610.000 Exemplare ihrer Platte “Que país é este?” Die Platte “Purple Rain” von Prince wurde nur 150.000 mal verkauft. Der Star des diesjährigen Sao Paulo Country Festivals ist Almir Satter, Sänger und Held der gerade neu begonnenen Telenovela im Fernsehen.
—– Wenn jemand Fragen zu Deutschland stellt, dann entweder zur Situation nach dem Fall der Mauer, oder zum deutschen Fußball. Der Rückblick 1990 der “Isto é” (einer der größten Zeitschriften) beginnt mit einem Interview mit Elmar Altvater zu den Problemen des vereinten Deutschland.
—– Die Dengue-Epidemie greift um sich. Fast 40.000 Menschen sind schon von dem Virus infiziert, der von Mosquitos übertragen wird und im schlimmsten Fall bis zum Tod führen kann. In einer nationalen Kampagne zur Vernichtung der Mosquitos werden vor allem in Rio, dem Krisenherd, Springbrunnen und Wasser­löcher mit Sand zugeschüttet und große Mengen Insektizide versprüht.
—– Wenn am Kiosk oder im Laden kein passendes Wechselgeld vorhanden ist, gibt es stattdessen Bonbons oder Kaugummis. In der Apotheke darf ich mir als Wechselgeld eine kleine Packung Pillen aussuchen.
—– Die Preiserhöhungen in der ersten Januarwoche waren die höchsten seit Be­ginn des Plano Collor. Die Grundnahrungsmittel wurden durchschnittlich 12,7 % teurer; Bus- und Benzinpreise steigen. Es wird befürchtet, daß die Inflation in diesem Monat auf 22 % ansteigt. Wegen des Krieges und der steigenden Ölpreise, behauptet Ibrahim Eris, Chef der “Banco Central”. Das Wirtschaftsprogramm Collors hat auf der ganzen Linie versagt, behauptet die Opposition. Zélia Cardoso de Mello, die Wirtschaftsministerin, weiß die Lösung: Die Inflation wurde bisher falsch gemessen, jetzt müsse das richtige “Thermometer” gefunden werden.
—– Eine Bekannte erzählt, sie habe vor zwei Wochen nach einer Fete ein Taxi nach Hause genommen. Unterwegs hielt der Taxifahrer an, bedrohte sie mit einem Messer und vergewaltigte sie auf dem Rücksitz. Die Angst davor, bedroht und ausgeraubt zu werden. gehört zum Alltag. Über Vergewaltigungen wird normalerweise nicht gesprochen.
—– Die PT (Arbeiterpartei) gibt derzeit ein klägliches Bild ab. Sie ist aus der öffent­lichen Diskussion fast ganz verschwunden. Das Projekt einer “Parallelregierung” unter Lula ist gescheitert; bei den Gouverneurswahlen im Dezember konnte sie keinen einzigen Kandidaten durchbringen. Während der Gouverneurswahlen in Sao Paulo hat sie sich über der Frage zerstritten, ob sie sich dem Anti-Maluf Bündnis anschließen oder die Wahlen boykottieren sollte. Die Resignation und Orientierungslosigkeit der Linken nach der Wahlniederlage gegen Collor und dem “Ende des Sozialismus” dauert an.
—– Ergebnisse einer Umfage der “DataFolha” am 14.Januar: Sind Sie für oder ge­gen die Entsendung von brasilianischen Truppen in die Golfregion? 82 % sind dagegen, 16 % dafür. Davon befürworten 12 % den Einsatz der Truppen gegen den Irak; 4 % wollen auf der Seite des Iraks kämpfen.
—– “Vestibulares” in Sao Paulo: Aufnahmeprüfungen für die staatlichen und privaten Universitäten und Schulen. Auf einen Studienplatz bewerben sich teil­weise über 80 KandidatInnen. Die Polizei sperrt ganze Straßenzüge ab, damit die BewerberInnen an den Ort der Prüfung gelangen können (Wer kann, fährt in Sao Paulo mit dem Auto). In den Tageszeitungen werden auf Sonderseiten die Prüfungs­aufgaben und die Lösungen veröffentlicht.
—– Die Spekulationen über einen möglichen Kriegsbeginn im Golf veranlassen viele Menschen zu Hamsterkäufen. Es werden vor allem Gasflaschen gekauft, die in den meisten Haushalten zum Kochen verwendet werden. Schon nach zwei Tagen verkaufen Jungen die Gasflaschen am Straßenrand zum dreifachen Preis.
—– Ana arbeitet für ein von der Stadtsverwaltung unterstütztes Videoprojekt. In einem Video-Kino-Bus zeigt sie in Vororten Sao Paulos Videos zu Themen wie Erziehung, Hygiene, Probleme der Wasserversorgung, Umweltverschmutzung und Aids. Ihr Mann Roberto arbeitet bei TV Cultura. TV Cultura versucht als einziger Sender, ein ‘kulturell orientiertes Gegenprogramm’ zu den großen Kommerz-Sendern zu machen (Einschaltquote: 2 %). Roberto und Ana würden nach ‘Berliner Verhältnissen’ zum weiteren Umfeld der Alternativ-Szene gehö­ren. Am letzten Abend des Ultimatums frage ich sie, ob sie von Demonstrationen gegen den Krieg gehört haben. Sie schauen mich ver­wundert an. “Auf der Ave­nida Paulista haben wohl einige Leute ein paar Flug­blätter verteilt”, meint Ana. Roberto sagt: ” Wir Brasilianer haben ein anderes Verhältnis zur Straße als ihr in Deutschland. Jeder wirft bei uns seinen Müll auf die Straße. Die Straße gehört den Armen. Alleine hier in Sao Paulo leben 150.000 Menschen auf der Straße. In einer Situation wie dieser bleiben die Leute zuhause und sehen fern.”
—– Rock in Rio II. Zehn Tage Rockspektakel im Maracana, dem größten Stadion Rios. Neben brasilianischen MusikerInnen und Gruppen wie Lobao, Roupa Nova, Gilberto Gil, Elba Ramalho, Titas und Capital Inicial präsentieren sich inter­nationale Größen, z.B. Prince, Joe Cocker, Santana, Billy Idol, Guns N’Roses, Judas Priest und Deee-Lite.
—– Guilherme, Diplomchemiker, hat seinen Job bei einer brasilianischen Firma in Rio verloren. Dagmar sucht schon seit Monaten nach Arbeit. Während der kurzen Zeit in Brasilien höre ich immer wieder von Entlassungen. – Im Süden Brasiliens werden DeutschlehrerInnen gesucht. Seit letztem Jahr steigt in Rio Grande do Sul die Nachfrage nach Deutschunterricht an staatlichen und privaten Schulen.
—– Überschwemmungen durch anhaltende Regenfälle. In Sao Paulo stehen mehrere Stadtviertel unter Wasser. Einige Bundesstraßen mußten gesperrt wer­den. In Minas Gerais sind 30.000 Menschen obdachlos geworden.
—– Die Wirtschaftsrezession bewirkt eine Expansion des Videomarktes (ohnehin schon an fünfter Stelle weltweit), denn Video ist eine der billigsten Formen, sich zu unterhalten. – Die “außerehelichen Beziehungen” nehmen dagegen mit stei­gender Rezession ab. Der Umsatz von Motels in Sao Paulo sank um 20 %, die Prostituierten verzeichneten einen “deutlichen Rückgang” des Geschäftes. – Nach Untersuchungen von SoziologInnen der USP (Universität Sao Paulo) führten Massenentlassungen in einem Vorort Sao Paulos zu einer stark vermehrten An­zahl von Schwangerschaften und zu erhöhtem Konsum von Telenovelas.
—– Das Ende des Ultimatums erlebe ich mit einigen FreundInnen vor dem Fern­seher. Ich habe das ungute Gefühl, daß ein wenig Enttäuschung mitschwingt, als nach dem Countdown nichts passiert. Auf Manchete wird diese Nacht “Stranger than Paradise” gezeigt, ständig unterbrochen von der Nachricht, daß der Krieg noch nicht begonnen hat.
—– Im Dezember verweigerte Orestes Quercia, Gouverneur von Sao Paulo, den Angestellten im Öffentlichen Dienst ihr 13.Gehalt. Das Geld hat er für die Wahl­propaganda seines Nachfolgers Fleury verpraßt, wird gemunkelt. Nach massiven Protesten zahlte Quercia wenigstens die erste Hälfte des 13.Gehaltes aus. Nun soll aber die Zahlung des Januar-Gehalts um einen Monat verschoben werden.
—– Xuxa, der beliebteste (Kinder-)Fernsehstar, verliert immer mehr an Popula­rität. Auf fast allen Programmen gibt es inzwischen Xuxa-Imitationen. Überhaupt sieht es für den Mediengiganten Globo derzeit gar nicht gut aus. Im Telenovela-Kampf hat ihm der Sender Manchete mit der Novela “Pantanal” Teile seines Stammpublikums abjagen können. – “Brasileiros e Brasileiras” vom Sender SBT, die angeblich brasilianischste Novela, in der nur die Unterschicht vertreten ist, war ein Flop. – An den ersten beiden Abenden nach Beginn des Krieges fallen sämtliche Novelas wegen der Kriegs-Sonderberichterstattung aus. Auf allen Programmen wird CNN übertragen, mit brasilianischer Direktübersetzung. Auch die Tageszeitungen bringen täglich Extrabeilagen oder Sonderausgaben zum Golfkrieg.
—– Am Morgen nach Kriegsbeginn spielen die Kinder auf der Straße vor dem Haus. Sie spielen Krieg: Amerika gegen Irak.
—– In einer Sondersitzung beschließt die Regierung ein Notprogramm zum Ein­sparen von Brennstoffen. Die Versorgung der Tankstellen mit Benzin und Öl wird um 10 % gedrosselt; Gaslieferungen werden um 22 % gekürzt. Tankstellen bleiben ab sofort von 20 Uhr bis 6 Uhr und an Sonn- und Feiertagen geschlossen. Die Gasflaschen enthalten statt 13 Kilo nur noch 10 Kilo; es darf nur noch eine Gasflasche pro KonsumentIn verkauft werden.In einer Live-Ansprache im An­schluß an die Krisensitzung versucht Collor, die Bevölkerung zu beruhigen. Die Öl- und Gasvorräte würden für einige Monate reichen, so daß kein Anlaß zu Pa­nik bestünde. Collor warnt davor, die Gasflaschen zuhause zu horten. In der letzten Nacht ist eine Bar in die Luft gegangen, in der Gasflaschen gelagert waren.
—– Die ersten Auswirkungen des Golfkriegs auf den Karneval in Rio: Der “Clube Monte Líbano”, in der Südzone Rios, wird nach 31 Aufführungen den Namen seines Galatanzes ändern, mit dem er in der Stadt bekannt geworden ist: “Uma noite em Bagdá” (Eine Nacht in Bagdad). Die Aufführung heißt jetzt: “Baile de Gala do Monte Líbano” (Galatanz des Bergs Libanon).
—– Natürlich ist auch Brasilien in das Geschäft mit Rüstungsexporten ver­wickelt. Von 1982 bis 1989 lieferte Brasilien Waffen für 3120 Millionen Dollar in Länder der sog. Dritten Welt und belegte damit den elften Platz in der Welt­rangliste der Waffenexporteure. Der Irak hat vor allem Panzerfahrzeuge und Raketen von Brasilien erhalten. Aber das erfahre ich erst in Deutschland.

Manifestationen eines Kinos in der Krise

In diesem Jahr ist das Festival dem Fernsehen gewidmet und wird damit dem hohen Stellenwert gerecht, den TV-Produktionen im audiovisuellen Bereich ein­genommen haben. Gleichzeitig deutet die Würdigung des lateinamerikanischen Fernsehens aber auf die Krise des lateinamerikanischen Kinos hin. In einer Pres­sekonferenz werden wir auch schon gleich zu Anfang der Festspiele darüber in­formiert, in welchem Kontext die aufgeführten Filme zu sehen sind: Die Wirt­schaftskrise in den lateinamerikanischen Ländern, die sich in hoher Auslandsver­schuldung, Rückgang des Bruttosozialprodukts, fallenden Löhnen und immen­sen Inflationsraten äußert, hat auch vor dem Kino nicht haltgemacht. In Brasilien wurde aufgrund von Sparmaßnahmen über Nacht die Filmförderung ausgesetzt und das Filminstitut “Embrafilme” aufgelöst. Der Entzug der staatlichen Mittel führte dazu, daß 1990 statt den durchschnittlich über 50 langen Spielfilmen nur noch ein einziger gedreht wurde. Das kleinere Filmland Ecuador hat es in den letzten fünf Jahren gerade mal auf einen Film gebracht. Und in Argentinien, so Cipe Fridman, die Produzentin von “Flop” kann man nur noch als Verrückter Filme machen. Das argentinische Filminstitut – immerhin noch nicht aufgelöst wie das brasilianische – hat dieses Jahr nicht die vom Finanzministerium zuge­sagten Mittel erhalten. Die argentinischen Kinos sind wie überall auf dem Sub­kontinent von US-amerikanischen Filmen überschwemmt. Produktionskosten, die zwischen einer halben und eineinhalb Millionen US$ liegen, können nicht al­leine durch Zuschauererlöse gedeckt werden. Wer geht schon bei einem monatli­chen Einkommen zwischen 20 und 50 US$ in einen Film, für den er ungefähr einen Dollar Eintritt zahlen soll?
In noch folgenden Pressekonferenzen und Seminaren wurde dann auch nach Lö­sungen, wie das lateinamerikanische Kino überleben kann, gesucht und Ansätze vorgestellt. Zum einen sind da die Koproduktionen des spanischen Fernsehens. Dessen finanzielle Beteiligung – in den letzten vier Jahren an über 100 Projekten – machte angesichts der schlechten finanziellen Lage lateinamerikanischer Produ­zentInnen und Filminstitute oft erst die Herstellung von Kino- Fernseh- und Vi­deofilmen möglich. Beispiele hierfür sind die auch schon in Deutschland gezeig­ten “Ultimas imagenes del naufragio ” (Letzte Bilder des Schiffbruchs), “La nación clandestina” (Die heimliche Nation) und “Un señor muy viejo con unas alas enormes” (Ein sehr alter Herr mit gewaltigen Flügeln) sowie “Sandino”, auf den ich später noch eingehen werde. Zum andern existiert zwischen den Filmbehör­den verschiedener lateinamerikanischer Länder ein Abkommen über einen ge­meinsamen Filmmarkt, womit Filme aus den beteiligten Ländern die gleichen Vergünstigungen erhalten wie die eigenen Filme. Das “Abkommen zur latein­amerikanischen Integration im Filmwesen”, das im November 1989 in Caracas von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Mexiko, Nicaragua, Pa­nama, Peru, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Bolivien verabschie­det wurde, soll die Vermarktung von Kino- Ferseh- und Videofilmen in den je­weils anderen lateinamerikanischen Ländern erleichtern und damit sowohl zur kulturellen Integration als auch zur Verteidigung gegen die kulturelle Überfrem­dung seitens der US-amerikanischen Filme beitragen. Ansonsten gab es eine Menge Appelle, das bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Kino, Fernsehen und Video in den lateinamerikanischen Ländern in ein Miteinander umzuwan­deln.
Nichtsdestotrotz gab es in den folgenden Tagen eine Menge lateinamerikanisches Kino zu sehen. Manchmal drängte sich dabei jedoch die Frage auf, was denn das “Neue” an diesen Filmen sei. Und ein kubanischer Mitarbeiter des Festivals ge­steht, daß die Auswahl der lateinamerikanischen Filme durch die Kommission doch recht beliebig gewesen sei. So mußten wir uns bei den zwar technisch per­fekt gemachten, aber inhaltlich und dramaturgisch schwachen venezuelanischen Filmen “Cuchillos de fuego” (Feuermesser) und “Con el corazón en la mano” (Mit dem Herzen in der Hand) langweilen, den derben Witz der argentinischen Fami­lienkomödie “Cien veces no debo” (100 mal soll ich nicht) ertragen und uns über das peinliche Portrait der kolumbianischen Gewerkschaftsführerin Maria Cano ärgern.
Die größte Enttäuschung stellte wohl ein mit berühmten Schauspielern realisier­ter und eine berühmte Person der lateinamerikanischen Geschichte dar­stellender Film eines berühmten Regisseurs dar. Die Rede ist von “Sandino” des Chilenen Miguel Littín (mit Kris Kristofferson und Angela Molina) über den gleichnami­gen Freiheitskämpfer Nicaraguas. Mit viel Spannung in Kuba erwar­tet, ent­puppte sich das Werk dann allerdings als oberflächliche, unpolitische Großpro­duktion im Stile Hollywoods, bestehend aus Liebe, Intrige und Schieße­reien. Böse Zungen behaupten, das Beste an dem Film sei, daß er Sandino zum Thema habe. Und der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge wollte erst gar keinen Kommentar zu dem Produkt Littíns abgeben.Aber noch einmal zu­rück zu dem Eröffnungsfilm “Caidos del cielo” (Vom Himmel Gefal­lene): In dem schon auf den Festivals von Montreal und Orleans ausgezeichneten Film erzählt der Regisseur Lombardi simultan drei tragisch absurde Geschichten. Da ist zum einen ein altes Ehepaar, das alle seine Wertgegenstände und sogar sein Haus verkauft, um den Preis für ein Mausoleum aufzubringen, eine im Slum lebende alte blinde Frau, die ihre Enkel schikaniert und schließlich als Futter für ein zu mästendes Schwein endet und ein mißgestalteter Sprecher eines Radio­programms unter dem Motto “Du bist dein Schicksal”, dem es im wirklichen Le­ben nicht gelingt, eine Selbstmörderin vom Sprung in die Tiefe abzuhalten.
Auch nicht gerade ein optimistisches Bild der lateinamerikanischen Realitäten vermittelt am nächsten Tag “Después de la tormenta” (Nach dem Sturm) des Ar­gentiniers Tristán Bauer. Ein Film, der auch für das Forum des jungen Films im Rahmen der Berliner Filmfestspiele ausgewählt wurde. Protagonist ist ein Mann, der im Zuge der Unternehmenszusammenbrüche in Argentinien seinen Arbeits­platz verliert und damit gleichzeitig seine Stellung als Familienoberhaupt infrage gestellt sieht. Die Komposition schöner, melancholisch stimmender Bilder und nicht zuletzt der Einsatz des Hauptdarstellers Lorenzo Quintero erinnern oft an “Ultimas imagenes del naufragio” (Letzte Bilder eines Schiffbruchs) und “Hombre mirando al sudeste” (Der Mann, der nach Südosten schaut), was die kubanische Zeitung Granma veranlaßte Bauers Film ironisch mit “El hombre mirando el naufragio despues de la tormenta” (Der Mann, der den Schiffbruch nach dem Sturm betrachtet) zu betiteln. Inhaltlich und dramaturgisch vermag er jedoch nicht so zu überzeugen wie seine Vorbilder. Besser gefallen haben mir zwei an­dere argentinische Produktionen: “Flop” von Eduardo Mignona, die (wahre) Ge­schichte eines Varietekünstlers im Argentinien der 40er Jahre, mit den Mitteln des Theaters spielend, witzig und traurig zugleich. Und “Yo, la peor de todas” (Ich, die schlimmste von allen) von Maria Luisa Bemberg. Die argentinische Re­gisseurin, die auch in den vergangenen Jahren mit ihren Filmen große Erfolge auf dem kubanischen Festival feiern konnte – dieses Jahr ist ihr Werk der absolute Favorit des Publikums und der Presse – widmete sich auch dieses Mal einem Frauenthema. Nach dem Roman von Octavio Paz stellte sie wichtige Situationen im Leben der Nonne Juana Inés de la Cruz dar, einer der bedeutendsten latein­amerikanischen Schriftstellerinnen im 17. Jahrhundert. Da diese sich nicht in Mann und Kindern selbstverwirklichen wollte und ihr als Frau der Weg in die Universität versperrt blieb, wählte sie das Kloster, um dort zu lesen, zu schreiben und zu forschen.
Zwischen den Filmen mal eine Pause. Mit einem guagua, so heißen die Busse in Kuba, angeblich weil sie die Geräusche quengelnder Kleinkinder wiedergeben, geht es in einen Vorort von La Habana, eine Einladung zu einem trago, einem Schluck Rum, annehmend. Doch auch hier werden wir nicht von Filmen ver­schont. Das Oberhaupt der Familie, Doña Josefina, sitzt mit diversen Freunden, Bekannten und Nachbarn vor dem Fernseher und verfolgt gebannt die brasiliani­sche Fernsehserie “Roque Santeiro”. Zwischen Begrüßung, Fragen, wie mir denn Kuba gefalle und dem Ausschenken eines Glases Rum, diskutieren die Anwe­senden eifrig die neueste Missetat des Filmbösewichts. Antonio erklärt mir, daß seine Mutter keine der täglich zur besten Sendezeit ausgestrahlten Folgen aus­lasse und in den Unternehmen sogar ganze Betriebsversammlungen verschoben werden, damit die compañeros bei ihrer Lieblingstelenovela am Ball bleiben können.
Wieder zurück im dunklen Kinosaal der Innenstadt sehen wir uns den kubani­schen Film “Mujer transparente” (Durchsichtige Frau) an. Anders als die anderen von Kuba für den Wettbewerb ausgewählten Produkte, “Hello Hemingway”, ein nett gemachter Film, aber auch nicht mehr, der nach nicht ganz nachvollziehba­ren Kriterien den ersten Preis gewann und “Maria Antonia”, die beide in den 50er Jahren, also vor der Revolution spielen und es damit umgehen, sich mit der ge­genwärtigen Situation in Kuba auseinanderzusetzen, sind die sechs Kurzepiso­den von “Mujer transparente”, Portraits von sechs Frauen, in dem Kuba von heute angesiedelt. Besonders beeindruckend ist die Episode “Laura”. Eine junge Frau, besagte Laura, wartet auf ein Treffen mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Ana, die vor zehn Jahren mit 100.000 anderen unzufriedenen KubanerInnen die Insel verlassen hat und nun, als Touristin nach Kuba zurückgekehrt, in einem teuren Dollar-Hotel abgestiegen ist. Der Film läßt die ZuschauerInnen an den Gedanken Lauras über die Beweggründe von Ana und die gegenwärtige Situa­tion in Kuba sowie an ihrer Wut über die Behandlung als Bürgerin zweiter Klasse gegenüber den devisenbringenden TouristInnen teilhaben. Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt. Die Bilder auf der Leinwand treffen mit der Realität zusam­men: Gegen Dollars, deren Besitz den KubanerInnen streng verboten ist, kann man hier (fast) alles kaufen. Die normalen KubanerInnen haben dagegen schon seit Monaten keine Butter mehr gesehen und selbst das Grundnahrungsmittel Bohnen ist nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Dollars sichern auch den Zugang zu den Touristenhotels, während die Kubanerinnen ohne Einla­dungskarte draußen bleiben müssen. Im Kino wird dauernd Beifall geklatscht, Bravorufe ertönen, und auch bei der Abschlußveranstaltung – Laura gewinnt den ersten Preis in der Kategorie Kurzfilm – gibt es hier den meisten Applaus und die Regisseurin muß mehrere Male aufs Podium zurückkehren. Fidel Castro ist die­ses Mal nicht zur Preisverleihung erschienen, um eine seiner berühmten Reden zu halten. Die trägt er dann zwei Tage später bei einem Kongreß über Ersatzteile vor.
Und bei den rhythmischen, Optimismus verbreitenden Klängen der brasiliani­schen Band Morais Moraira – alles tanzt inzwischen, obwohl die Preise für die langen Spielfilme noch nicht vergeben sind – fragen wir uns wie es mit Kuba und dem lateinamerikanischen Kino weitergehen wird.

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

Festival der Frauen

Invasion der Feministinnen

San Bernardo, ein Badeort, der 9 Monate im Jahr schläft und nur 3 Monate durch die Touristen zum Leben erwacht, wird jäh aus seinem Winterschlaf gerissen noch bevor die Saison beginnt. 70 Omnibusse bringen 3.000 Frauen aus 39 Län­dern, aus ganz Lateinamerike und der Karibik und Gästinnen aus Nordamerika, Europa, Asien und Afrika, die sich hier zum 5. lateinamerikanischen Feministin­nenkongreß trafen, um über 10 Jahre Feminismus in Lateiname­rika Bilanz zu ziehen. Den knapp 4.000 Einwohnern San Bernardos mag die Ankunft der Massen von Frauen wie eine Invasion vorgekommen sein. Neugierig bis ablehnend beäugten sie die Ankommenden und in nicht wenigen Gesichtern stand die bange Frage geschrieben: Warum gerade in San Bernardo? So standen sie staunend angesichts der vielen Frauen, die mit ihrer Buntheit, Vielfältigkieit und ihrem Selbstbewußtsein eine Woche lang das Straßenbild be­stimmten.
Das Feministinnentreffen in Lateinamerika hat bereits Geschichte: Zum 5. Mal innerhalb von 10 Jahren trafen sich Frauen aus Ländern Lateinamerikas und der Karibik. Die Treffen ermöglichen, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und bieten die seltene Gelegenheit, Frauen aus anderen Ländern zu treffen und wiederzusehen. So hat der Kongreß mittlerweile eine enorme Wichtigkeit er­langt, dementsprechend steigt auch jedesmal die Zahl der Teilnehmerinnen: Beim ersten Mal in Kolumbien 1980 waren es noch 260 Frauen, 1983 in Peru be­reits 600, nach Brasilien kamen 1985 850 und in Mexiko waren es 1987 bereits 1 500. Daß zum Kongreß nach Argentinien 3.000 Frauen kamen, erfüllte alle mit Stolz. Doch das Treffen in Argentinien hat mittlerweile eine Größenordnung erreicht, die organisatorisch kaum mehr zu bewältigen ist, noch dazu unter den gegebenen schlechten Bedingungen.

Herzlich willkommen

Eigentlich sollte der Frauenkongreß in den Räumlichkeiten der Energiegewerk­schaft stattfinden, einem riesigen Komplex mit 800 Hotelbetten und zahlreichen Tagungsräumen. Doch kurzfristig wurde der vereinbarte Sonderpreis um über 300% erhöht. Der Kongreß drohte zu scheitern, doch konnten die Organisatorin­nen mit der Stadtverwaltung einen Kompromiß erreichen und viele Hotels, Cafés und Boutiquen stellten in Erwartung einer finanzkräftigen Invasion von kauf und konsumfreudigen Frauen ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Stadt­verwaltung war offensichtlich das leidige Vorgeplänkel sehr unangenehm. Sie sah sich bemüßigt, ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das die Frauen in San Bernardo herzlich willkommen hieß. Auch der kirchliche Vertreter begrüßte aus­drücklich die ankommenden Frauen, um Gerüchten entgegenzuwirken, die Kir­che wolle den Kongreß verhindern.
Die Veranstaltungen fanden an allen möglichen und unmöglichen Stellen statt: die großen Cafés und Hotels waren ausnahmslos alle besetzt. Sogar in den Ho­telhallen, in Garagen, in Staßencafés und in noch leerstehenden Boutiquen saßen diskutierende Gruppen, wobei es der vorbeitosende Verkehr der Hauptstrasse oft unmöglich machte, auch nur ein Wort zu verstehen. Nicht selten nervten neugierige Auto- oder Motorradfahrer mit laufendem Motor, die versuchten her­auszubekommen, was die Feministinnen zu bereden hatten. Zudem wurde aller­orts gebaut, gebohrt und gehämmert: der Badeort machte sich fertig für die Saison, die 14 Tage später beginnen sollte.

Das “Nicht-Treffen” und das “Suchen” statt “Treffen”

Einen Großteil der Zeit auf dem Treffen verbrachte frau damit, ihre Workshops zu suchen. Hunderte von Frauen wanderten mit dem Tagesprogramm und dem Stadtplan in der Hand die Hauptstraße rauf und runter, suchten und fragten sich durch, trafen zufällig Bekannte, blieben auf ein Schwätzchen stehen, vergaßen die Zeit, hetzten weiter, um wenigstens noch ein halbes Stündchen mitzube­kommen, oder blieben unterwegs in einem der einladenden Straßencafés hängen und gaben frustriert die Suche auf.
War dann endlich der Ort gefunden, mußte frau nicht selten feststellen, daß der Workshop ausgefallen, die Veranstaltung auf den nächsten Tag verschoben war oder tags zuvor bereits stattgefunden hatte. Los gings dann auf die Suche nach dem nächsten Workshop, mit der Hoffnung, da wenigstens noch ein paar inter­essante Sätze zu ergattern, oder ab ins nächste Café oder an den Strand.

San Bernardo – Stadt der Frauen

Die Frauen erobern San Bernardo. Endlich keine Angst mehr haben müssen nachts beim Nachhausegehen, denn immer sind Frauen in der Nähe unterwegs. Die Frauen erobern sich die Discos, die Cafés, und sogar die Männerklos.
Vielen Männern in San Bernardo waren diese Feministinnen sehr suspekt. Die einen sahen in ihnen eine Gefahr für San Bernardo, sie hatten Angst, daß die Feminis­tinnen, ihnen ihre Frauen wegnehmen oder ihnen zumindest den Kopf verdrehen wollen. Andere machten sich große Hoffnungen (“von den 3.000 Frauen kommen mindestens 2-3 auf mich”). Sie wollten mitfeiern und verstanden die Welt nicht mehr, weil diese vielen Frauen nichts von ihnen wissen wollten, weil sie draußen bleiben mußten. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, was es soviel zu reden und diskutieren gab und manche beschwerten sich, keiner habe sie vorher gefragt, ob sie mit dieser Invasion einverstanden wären.
Auch die Frauen von San Bernardo beäugten zunächst recht skeptisch bis ableh­nend die fremden Artgenossinnen, die selbstbewußt, schwatzend und singend durch die Straßen zogen und sich nicht um Konventionen und Machos scherten. Einige wenige machten bei den Workshops mit, andere nahmen in den Cafés oder bei den abendlichen Festen Kontakt auf oder sahen begeistert oder befrem­det zu.
Und als die 70 Busse wieder wegfuhren, war wieder Frauenalltag angesagt.

Der Mammutkongreß – ein organisatorischer Wahnsinn

Trotz guter Laune und Frauenpower erschwerten die schlechten infrastrukturel­len Bedingungen die ohnehin schwierige Aufgabe organisatorisch einen solch riesigen Kongreß zu bewältigen! Die Suche kostete viel Zeit und erschwerte die Kommunikation untereinander. Das stundenlange Schlangestehen mit hungri­gem Magen zum Mittag- oder Abendessen nervte und nur besonders Unverdros­sene sahen darin die Möglichkeit, sich im Gespräch näher zu kommen.
Als am dritten Tag der Regen prasselte und alle Straßen überflutete und der Strom ausfiel und es weder Programme gab noch Veranstaltungen stattfanden, drohte der Kongreß im Chaos zu ersticken. Doch dank der hervorragenden Im­provisationsgabe der lateinamerikanischen Organisatorinnen und der uner­schütterlichen Geduld der Teilnehmerinnen lief er trotzdem irgendwie weiter.
Es war schier unmöglich, auch nur ansatzweise einen Überblick über das Diskus­sionsgeschehen der einzelnen Veranstaltungen zu bekommen. Ein gezieltes Tref­fen und Austausch mit Frauen aus anderen Ländern schien unmöglich und dem Zufall überlassen. Es gab kein gemeinsames Diskussionsziel. Zu groß war das Angebot an Workshops, Gesprächskreisen und Kultur. An sechs Tagen wurden 300 offizielle Veranstaltungen angeboten, nicht mitgerechnet die zahlreichen selbstorganisierten spontanen Diskussionsrunden und Foren. Es gab viel zu viele interessante Angebote, die alle zur selben Zeit stattfanden: Von der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus, seiner Beziehung zur Macht, Politik oder Basisbewegung, über gesundheitliche Themen (Abtreibung und Verhü­tungsmittel, Psychopharmaka…) Gewalt gegen Frauen hin zu religiösen ethischen Fragen, zu Selbsterfahrungsgruppen, Körperübungen, Lesungen, Videos … für jeden Geschmack etwas. Bedauerlich, daß Diskussionen über wich­tige Themen mangels Zeit nur angerissen und kaum vertieft werden konnten.
Beeindruckend auch das Angebot an Publikationen, vor allem deswegen, weil noch vor wenigen Jahren feministische Publikationen in Lateinamerika fast aus­schließlich aus Übersetzungen von Artikeln US-amerikanischer und europäischer Feministinnen bestanden.
Aus der Masse der Angebote möchte ich trotzdem einige Diskussions- oder Kri­tikpunkte aus diversen Workshops erwähnen.

Diversität und Ungleichheit – Herausforderung oder Komplikation?

Die Diversität und Ungleichheit innerhalb der feministischen Bewegung (die Autonomen, die Sozialistinnen …) von vielen als bremsend beargwöhnt, werden jedoch auch als eine Herausforderung und eine Bereicherung für die Diskussion innerhalb der Bewegung erkannt. Genauso verhält es sich mit neuen Themen, wie Ökologie, Gewalt gegen Frauen, Ethik…
Ein Widerspruch, der immer wieder auftaucht, ist der Ruf nach charismatischen Führerinnen einerseits, die die Bewegung voranbringen sollen, der aber anderer­seits mit dem Wunsch nach kollektiver Arbeitsweise kollidiert.
Eine immer wieder spannende Frage taucht auf: Radikalität oder Kompromisse? Im Workshop “Feminismus 90” zum Beispiel einigten sich dazu die Frauen auf die Grundaussage des Feminismus: Demokratie, Diversität und Kompromisse. Das bedeutet: Zusammenarbeit mit offiziellen (auch staatlichen) Stellen ist mög­lich und fördert mehr interne Demokratie innnerhalb der Bewegung. Gewalt wird als Grundhindernis für die Entwicklung der Frauen in ganz Lateinamerika und der Karibik angeprangert. Die Konzepte für Entwicklungspolitik werden als sexistisch und gegen die Frauen gerichtet verurteilt. Die Rechte der Frauen sollen als Menschenrechte festgeschrieben und das Konzept der Menschenrechte, dem bisher jegliche Frauenperspektive fehlt, umdefiniert werden.
Bei vielen Themen wiederholten sich die Diskussionen und die Argumente aus den vorherigen Treffen und bei bestimmmten Punkten traten auch diesmal wie­der dieselben Konflikte auf, die unüberbrückbar scheinen: Zum Beispiel die Fra­gen: Sollen Frauen, die an der Macht sind, unterstützt werden? Vertreten sie die Interessen der Frauen oder sind sie mehr ihrer Partei verbunden? Wird sich für Frauen etwas verändern, wenn Frauen als Politikerinnen an die Macht kommen? Oder ändern sich Frauen, sobald sie an der Macht sind? Welche Macht ist das, die angestrebt wird, eine feministische Macht?

Feministometer

Manche der Alt-Feministinnen denken noch wehmütig an das erste Treffen in Kolumbien, wo noch der reine feministische Geist herrschte. Denn schon in Peru kamen auch Frauen aus anderen Bereichen mit dazu: Frauen aus politischen Or­ganisationen, Gewerkschaften, aus Basisbewegungen etc., die sich alle als mehr oder weniger feministisch definierten, was zu Konflikten führen mußte. In Me­xiko, als die mittelamerikanischen Frauen mit ihrer spezifischen Problematik mit dazu kamen, mußte endlich erkannt werden, daß es nicht nur einen Feminismus gibt. So auch in Argentinien: “Was ist das für eine Feminismus, der uns nicht be­achtet”, fragt Sergia, eine schwarze Frau aus der Dominikanischen Republik. “Die weißen Frauen distanzieren sich von uns”, klagten die indianischen Frauen über ihre “feministischen Schwestern”. Eine Frau aus einer Villa Miseria in Argenti­nien berichtete, daß sie in ihrer Arbeit mit den Frauen
nicht dazu kommt, spezifische Frauenthemen anzusprechen, denn “in einem Jahr starben uns 12 Kinder, so daß Erziehung und Gesundheit Vorrang haben.”
In einem Workshop zum 500. Jahrestag der Kolonisation meldet sich eine Gua­temaltekin zu Wort, die, wie sie sagt zum ersten Mal auf so einem Treffen mit Frauen aus unterschiedlichen Ländern ist und alles ganz toll findet, “aber”, bittet sie, “es würde mir besser gefallen, wenn Sie etwas konkreter reden würden, in Worten, die wir auch verstehen, die aus dem Gefühl jeder einzelnen Frau kom­men.” Nach der Veranstaltung sprach ich eine der Wortführerinnen darauf an, eine Chilenen, die in der Dominikanischen Republik an der Uni arbeitet. Ihre Antwort spricht für sich: “Tja, wir müssen sie halt auch mal reden lassen.”
Rassismus? Nein, den gibt es bei uns nicht! Bekräftigen mir einhellig die weißen Frauen aus Uruguay, Argentinien und Chile, die sich am Abend vorher in der Kneipe ausführlich über den Rassismus in Deutschland ereifert hatten. Doch viele Teilnehmerinnen auf dem Kongreß haben dazu eine andere Meinung.

Schwarze Frauen

Auf dem Kongreß waren nur relativ wenige schwarze Frauen vertreten und nur wenige definieren und organisieren sich als schwarze Frauen. Ihre alltägliche Diskriminierung zeigt sich schon in der Sprache: schwarzes Schaf, Schwarz­markt. Sie als schwarze Frauen werden am meisten ausgebeutet, haben den geringsten Zugang zu Bildung, Aus­bildung und Arbeit. Viele versuchen der Diskriminierung zu entgehen, in dem sie sog. Weißmachungsmittel vermitteln: spezielle Cremes um die Haut heller zu machen, oder Mittel, die das krause Haar glätten. Untersuchungen haben mitt­lerweile bewiesen, daß diese Weißmachungsmittel im höchsten Grad krebserre­gend sind.
Eine Informationskampagne über AIDS, nach der der AIDS-Virus aus Afrika kommt, hatte zur Folge, daß die schwarzen Prostituierten nicht mehr so stark frequentiert werden, weil sie als Überträgerinnen von AIDS stigmatisiert werden. In Uruguay war der erste AIDS-Fall, der bekannt wurde, eine schwarze Frau. Daraufhin führte die Gesundheitsbehörde eine starke Kontrolle bei den schwar­zen Prostituierten durch, sperrte sie ins Gefängnis, mißhandelte sie und läßt sie ihre Arbeit nicht mehr durchführen. Der Arbeitsmarkt für schwarze Frauen ist jedoch sehr eingeschränkt (55% von ihnen arbeiten als Hausmädchen) und eine schwarze Frau, die als Prostituierte gearbeitet hat, wird kaum mehr eine andere Arbeit finden.
Schwarzen Frauen hängt der Mythos nach, besonders “sexy” zu sein. “Aber das ist eine Interpretation des weißen Mannes. Sie sehen uns als exotische Sexualob­jekte, die sie zu ihrer Befriedigung nutzen können. Die schwarzen Männer be­nutzen uns auch, aber bei den weißen Männern kommt neben dem Sexismus noch der Rassismus hinzu.”

Lesbenphobie

Nur relativ wenige Lesben in Lateinamerika bekennen sich offen als Lesben, zu stark sind die Vorurteile der Gesellschaft, der Einfluß der katholischen Kirche und zu stark ist auch die Repression durch den Staat. In einigen Ländern gibt es spezielle Gesetze gegen Homosexualität, worin die Lesben einbezogen sind, an­derswo wird das Gesetz über Sodomie so ausgelegt, daß lesbische Liebe auch im privaten Rahmen unter Strafe steht. Auch das Gesetz der “Erregung öffentlichen Ärgernisses” wird benutzt, um Lesben festzunehemn, zu schlagen, zu demütigen und etliche Jahre ins Gefängnis zu werfen. Viele Lesben leben auch in der Angst, als Lesben erkannt zu werden und ihren Arbeitsplatz zu verlieren… Aber auch auf dem Feministinnen-Kongreß in San Bernardo mußten sie vielen Vorurteilen begegnen: Eine Frau aus Brasilien berichtet, daß ihre Tischnachbarin beim Mit­tagessen aufgestanden ist und sich woanders hinsetzte, als sie erwähnte, daß sie Lesbe sei. Es wurden anonyme Forderungen gestellt, die Lesben von Tanzveran­staltungen auszuschließen, sie wurden als Exhibitionistinnen beschimpft, die öf­fentlich ihre Zärtlichkeiten austauschen, und würden dem Ansehen des Femi­nismus schaden…
In ihren Veranstaltungen und in einer Pressekonferenz wandten sich die lebsbi­schen Frauen energisch gegen die Lesbenphobie, die ihnen massiv von vielen Feministinnen entgegenschlug. Sie forderten für das nächste Treffen mehr Raum für sich und ihre Themen und wollten die spezifische Lesbenproblematik, die Lesbenphobie und Zwangsheterosexualität in allen Workshops behandelt wis­sen. Sie verlangten, respektiert zu werden in ihrer Lebensphilosophie. Amparo aus Costa Rica bringt das Problem auf den Punkt: “Wir wollen dahin kommen, daß ich nicht erklären muß, warum ich Lesbe bin und du nicht erklären mußt, warum du heterosexuell bist, sondern daß wir Feministinnen sind, in einer Be­wegung, in der wir gemeinsam kämpfen. Wir Lesben sind solidarisch mit allen Feministinnen und kämpfen für die Legalisierung der Abtreibung, obwohl das für viele von uns kein Thema mehr ist, und für alle Problematiken der Frau. Wir wollen nun auch Solidarität von den Hetero-Feministinnen, daß sie nicht nur für ihre eigenen Forderungen, sondern auch für die Forderungen der Lesben kämp­fen.”

Abtreibung

Ein zentrales Thema bei diesem Treffen war wie immer die Abtreibung. Zu ei­nem der diversen Abtreibungs-Workshops hatte die argentinische Frauenorgani­sation “Nonnen für die Legalisierung der Abtreibung” eingeladen. In der Einfüh­rung begründeten sie ihre Position mit einem sehr einleuchtenden Argument aus der Bibel: Als Maria erfuhr, daß sie ein Kind bekommen sollte, ließ ihr der Verkündi­gungsengel einige Zeit zum Überlegen, ob sie die Schwangerschaft an­nehmen wollte oder nicht. Maria entschied sich schließlich dafür, das Kind zu bekommen. Die Atheistinnen in der Gruppe haben dazu eine andere Meinung, aber allen gemeinsam ist die Forderung nach Legalisierung der Abtreibung, die auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit Ausnahme von Kuba in allen Län­dern verboten ist. Die einzelnen Länderbeispiele zeigten zwar Unterschiede in der Gesetzeslage (in einigen wenigen Ländern ist Abtreibung nach einer Vergewalti­gung oder aus gesundheitlichen Gründen erlaubt), überall gibt es je­doch eine erschreckend hohe Zahl der illegalen Abbrüche, die die Haupttodesur­sache bei Frauen im gebärfähigen Alter ist. In Nicaragua haben die Frauen mitt­lerweile zur Selbsthilfe gegriffen und kämpfen dafür, daß der von ihnen bereits praktizierte ambulante Abbruch legalisiert wird.

Konkrete Ergebnisse

Es gab viel Kritik an diesem fünften lateinamerikanischen FeministinnenKon­greß. Es gab kein gemeinsames Abschlußkommuniqué, doch es gab viele Vor­schläge aus einzelnen Workshops. Hier die wichtigsten davon: Um von der ewi­gen Jammerei wegzukommen, hin zu konkreten Aktionen, wurden zu diversen Themen kontinentweite Netze gegründet: Zum Beispiel zu Medien, physischer Gesundheit, zu Gewalt von Frauen… Der Straferlaß der argentinischen Regierung gegenüber der Verbrechen den Militärs wurde verur­teilt und die Ablehnung der Zahlung der Auslandsschulden bekräftigt. Außerdem wurde die Solidarität mit dem revolutionären Prozeß in Kuba betont.
Der Vorschlag der Vertreterinnen der spanischen Frauenorganisation Flora Tri­stan aus Madrid, die Feierlichkeiten zum 500.Jahrestag der “Entdeckung” Latein­amerikas zu einer großen Protestveranstaltung von Frauen aus Lateinamerika und Europa im Oktober 1992 in Sevilla zu nutzen, wurde mit großem Protest ab­gelehnt. Die Lateinamerikanerinnen fühlten sich von den Spanierinnen domi­niert. Sie wollten nicht feiern, sondern lieber selbst auf ihren eigenen Spuren der Geschichte nachgehen.
Das nächste Treffen wird 1992 in Mittelamerika stattfinden, in einem noch aus­zuwählenden Land. Den mittelamerikanischen Frauen bleibt es überlassen, wie des nächste Kongreß gestaltet werden soll: ein weiterer Mammutkongreß mit dann vielleicht 57.000 Frauen oder Delegiertenprinzip oder dezentrale themenbezogene Treffen.

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