Vom Recht, sich “das Kleid schmutzig zu machen”

Costa Rica war eines der ersten lateinamerikanischen Länder, das die politische Gleichstellung von Frauen mittels Quotenregelung gesetzlich verankerte. 1990 schon wurde ein Gesetz erlassen, das vorschreibt, die Positionen der Vizeminister, hohe politische Ämter und der Vorsitz staatlicher Institutionen in den ersten fünf Jahren zu mindestens 30 Prozent, in zehn Jahren zu 50 Prozent von Frauen eingenommen werden müssen. Es regelt außerdem, daß weder Männer noch Frauen mehr als 60 Prozent der Kandidatinnen stellen dürfen. Außerdem werden die einzelnen Parteien aufgefordert in ihren Parteistatuen “effektive Mechanismen” festzulegen, die eine Beteiligung von Frauen in der Parteiarbeit und bei der KanditatInnenwahl erleichtert.

Quotierung von KandidatInnen

Die in Lateinamerika am häufigsten praktizierte Form der Ouotierung beruht darauf, daß die Aufstellung der KandidatInnen politischer Parteien beeinflußt wird, eine Einflußnahme, die nur aufgrund der schon praktizierten Kontrolle der Parteien durch staatliche Organe stattfinden kann. Das bedeutet, daß die nationalen Wahlkommissionen die KandidatInnenlisten vor dem Beginn des Wahlkampfs anerkennen müssen, die Anerkennung verweigern, wenn nicht der im Quotengesetz vorgeschriebene Mindestanteil durch Frauen besetzt ist. Deshalb sind Quotenregelungen in Lateinamerika fast ausschließlich als Veränderungen der Wahlgesetze verabschiedet worden, nicht als Anti-Diskriminierungsgesetze per se.
Die weitreichendsten dieser Quotenregelungen sehen 30 Prozent der Kandidatinnenplätze auf den Listen der politischen Parteien für Frauen vor. Eine solche Regelung findet sich beispielsweise in Argentinien. Im November 1991 wurde hier das Gesetz Nr. 24.012 verabschiedet, welches vorschreibt, daß “die Liste der Kandidaten für ein öffentliches Amt mindestens 30 Prozent Frauen enthalten muß. Listen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, dürfen nicht veröffentlicht werden.”
Auch in der Dominikanischen Republik gibt es seit diesem Jahr ein vergleichbares Gesetz, welches fordert, daß ein Minimum von 30 Prozent der KandidatInnen aller politischen Parteien und Gruppierungen für das Nationalparlament und die Provinzparlamente Frauen sein müssen. In Brasilien gibt es seit 1996 eine 20 Prozent Quote bei der KandidatInnenaufstellung, die von einem Zusammenschluß aller Parlamentarierinnen durchgesetzt wurde.
In Chile wurde dieses Jahr dem Parlament ein Gesetzesvorschlag über eine Frauenquote von 20 Prozent vorgestellt. Er wurde allerdings bisher noch nicht verabschiedet. In Mexiko dagegen ist schon im letzten Jahr ein Gesetzesvorschlag, der eine 30 Prozent Quote vorsah, an den Stimmen der Abgeordneten der Partido Revolucionario Institutional (PRI) gescheitert.

Freiwillige Quoten

Zusätzlich finden sich in anderen Ländern Frauenquoten als freiwillige Verpflichtungen einzelner Parteien. So garantieren zum Beispiel die Sozialistische Partei in Uruguay, die Partido Colorado in Paraguay und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in Mexiko eine Quote von 30 Prozent für Frauen. Die Partido por la Democracia (PPD) in Chile hat eine 20 Prozent Quote eingeführt. Auch die PT in Brasilien hat nach langen Auseinandersetzungen eine Quote von 30 Prozent für alle Parteiämter eingeführt. “Es war ziemlich schwer, diese Quote in der Partei einzuführen”, so Benedita da Silva, Gründungsmitglied der PT und seit 1994 im Brasilianischen Senat. “Einige Männer meinten, es gäbe gar keine Diskriminierung in der Partei und alle Frauen könnten hohe Parteiämter erlangen, wenn sie nur kompetent seien. Wir Frauen haben dagegengehalten: ‘Was denkt ihr eigentlich? Wir haben schon lange genug gezeigt, daß wir kompetent sind, erhalten aber nicht die entsprechende Anerkennung dafür’. Wir mußten sie also erst überzeugen, daß eine Quote notwendig ist, weil Diskriminierung der Grund ist, daß keine Frauen in hohen Positionen waren.”

Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg

Die Diskussionen um Quoten haben in allen Ländern dazu geführt, daß sich Frauen – teilweise auch Männer – aus verschiedenen politischen Gruppen oder unterschiedlichen Richtungen, aus Parteien und sozialen Bewegungen, in mehr oder weniger losen Koalitionen zugunsten der Quotenforderung zusammengeschlossen haben. Nur dort wo Zusammenschlüsse von Frauen mit massiver Unterstützung in der Öffentlichkeit eine Quotenforderung gestellt haben, waren diese auch erfolgreich, wie das argentinische Beispiel verdeutlicht.
Obwohl dort zwei unterschiedliche Versionen des Quotengesetzes zuerst von Abgeordneten der Unión Civica Radical, Senator Margarita Malharro, Norma Allegrone und Florentina Gomez Miranda im Senat und im Repräsentantenhaus vorgestellt wurden, erhielt es sofort Unterstützung von Vertreterinnen der anderen Parteien. Und obwohl die Stimmung vorher gegen das Quotengesetz gewesen war, wurde es überraschenderweise schon im September 1990 vom Senat verabschiedet. “An jenem Tag haben wir alle unsere Kollegen mobilisiert und um ihre Unterstützung gebeten”, so die Senatorin Malharro, “trotzdem hatten wir nicht viel Hoffnung und waren sehr überrascht, als die Abstimmung positiv verlief. Das war eher eine Frage des Glücks für uns.”
Ganz anders der Entscheidungsprozeß im Repräsentantenhaus: Als das Gesetz am 6. November 1991 debattiert werden sollte, war eine große Gruppe von Frauen als Beobachterinnen auf der Galerie, in den Fluren und auf den Straßen und Plätzen in der Nähe des Kongresses. Sie verliehen ihren Forderungen durch Rufe, Gesang und teilweise durch direkte verbale Angriffe auf die männlichen Abgeordneten während der Debatte Ausdruck. Frauen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Gruppen und Vertreterinnen unterschiedlicher Ideologien waren sich einig in der Unterstützung des Gesetzes. Es war ihnen außerdem gelungen, die weiblichen Abgeordneten, die das Gesetz nicht unterstützten wenigstens dazu zu bringen, es nicht öffentlich zu kritisieren.

Nicht einmal Frauentoiletten im Parlament

Die Brasilianerin Benedita da Silva erzählt ähnliches über ihre Zeit als Abgeordnete: “Als ich zuerst gewählt wurde, waren nur 26 von 599 Abgeordneten Frauen. Das war so eine Männerwelt, daß es nicht einmal Frauentoiletten gab. Und die Männer behandelten uns mit einem unglaublichen Paternalismus! Sie wollten auch, daß Frauen nur über Frauenangelegenheiten sprechen und versuchten, uns aus allen anderen Diskussionen rauszuhalten. Ich als Vertreterin der PT interessierte mich aber für die Agrarreform und die Rechte der ArbeiterInnen. Um gegen ihre Vorurteile anzugehen, fing ich also an, über “Frauen und die Agrarreform” zu reden, oder über “Frauen und Rechte am Arbeitsplatz”, Frauen und alles mögliche, bis sie mich endlich in allen diesen Bereichen ernst genommen haben.”
Gegen diese männliche Übermacht sind die Frauen aller Parteien in Brasilien dann zusammengekommen und haben eine nationale Kampagne gestartet, um eine Frauenquote von 20 Prozent bei allen KandidatInnen zu verlangen. “Das war ein tolles Beispiel dafür, wie Frauen mit ganz unterschiedlichen politischen Überzeugungen, gemeinsam mit der Frauenbewegung aus allen Teilen des Landes, zusammenkommen können. Wir haben gemeinsam alle Parteien zwingen können, den Frauenanteil in ihren Reihen zu erhöhen.”

Allheilmittel gegen Machismo…

Dabei ist allen Beteiligten vollkommen klar, daß es sich bei der Quotenregelung keinesfalls um ein Allheilmittel gegen Machismo oder jede Art von Benachteiligung handelt. Eine Quote von 30 Prozent bei der Aufstellung der KandidatInnen erhöht ja nur in den seltensten Fällen den Frauenanteil wirklich auf 30 Prozent. Sie sagt an sich ja noch nichts darüber aus, ob Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen landen. Selbst wenn Frauen auf jedem dritten Listenplatz stehen, führt das vor allem bei kleineren Parteien, die nicht viele Sitze gewinnen, am Ende auch wieder zu einer weitaus geringeren Repräsentation von Frauen.
Letztlich haben Quoten bei der KandidatInnenaufstellung aber doch in allen Ländern dazu geführt, daß mehr Frauen in die Parlamente gelangen. In Argentinien beispielsweise halten Frauen seit den Wahlen 1994 ein Viertel der Sitze im Parlament, der höchste Frauenanteil in der Geschichte Argentiniens.
Schlechter sieht es dann allerdings bei der Verteilung von Plätzen im Kabinett aus, wo in keinem lateinamerikanischen Land eine Quotenregelung praktiziert wird. In Argentinien hat die erhöhte Anzahl von Parlamentarierinnen nicht dazu geführt, daß nun Frauen auch tatsächlich mehr Regierungsämter bekleiden und sich in den Rängen mit hoher politischer Verantwortung wiederfinden. Im Vergleich dazu finden sich mehr Frauen auf ministerieller Ebene in Ländern, die keine gesetzlich geregelte Quote bei der KandidatInnenaufstellung, haben so zum Beispiel in Chile und Venezuela. Und in den karibischen Staaten bekleiden Frauen bis zu 20 Prozent der Ämter auf Ministerialebene. Auch ohne daß die Listen der KandidatInnen quotiert sind, halten Frauen in der Karibik im Durchschnitt 18 – 20 Prozent der Sitze im Parlament.

… oder Gnade der Mächtigen?

Was eine Quote real für Frauen bringt, ist umstritten. Selbst in den Ländern, in denen Quotenregelungen bestehen, sind sich die KommentatorInnen uneins, ob die Quoten den Frauen denn nun auch tatsächliche politische Handlungsmöglichkeiten verschaffen oder ob Frauen – mit oder ohne Quote – nur nach oben gelangen, weil sie durch Partei-Patriarchen unterstützt werden oder anders von Männern abhängig sind. Diese “Quotenfrauen”, so wird erwartet, machen sowieso keine progressive Politik.
Die Bolivianerin Sonia Montaño beobachtet zum Beispiel, daß “die wenigen Frauen, die nach oben kommen, eine solch große Bringeschuld gegenüber den parteipolitisch Mächtigen haben, daß sie fast immer nur zustimmend die Hand heben, mit der Mehrheit der Partei stimmen, um Konflikte zu vermeiden oder plötzlich blind werden für Menschenrechtsverletzungen.” Sie fügt deshalb unmißverständlich hinzu: “Von solchen Frauen wollen wir nicht mal 15 Prozent.”

Verändern Quoten Politik?

Forderungen nach Quoten wurden in der Öffentlichkeit manchmal so wahrgenommen, als ob sie nur den Partikularinteressen der parteipolitisch aktiven Frauen entgegenkommen, aber keine Relevanz für Normalbürgerinnen haben. Das hat einerseits die Vehemenz von Quotenforderungen geschwächt. Andererseits aber hat es dazu geführt, daß die Politikerinnen nur in intensiven Diskussionen über Politikstile und -inhalte die Unterstützung für Quoten durch Frauen der sozialen Bewegungen gewinnen konnten und ihr Verhalten im Parlament stärker beobachtet wurde. “Es war schwierig, dieses neue Konzept von Gleichheit durchzusetzen”, so die argentinische Abgeordnete der Frente Grande, Cecilia Lipczik, “nicht nur gegenüber der männlichen Welt, sondern auch der weiblichen Welt gegenüber.”
Die Diskussionen um Quoten spiegelten so die Debatte der Frauenbewegungen weltweit wider: Gibt es allen Frauen gemeinsame Interessen, die nur von Frauen vertreten werden können, und praktizieren Frauen als solche einen anderen Politikstil?
Insgesamt blieb es jedenfalls bisher eine Wunschvorstellung, daß sich feministische Überzeugungen, soziales Engagement und progressive politische Inhalte und Stile in einer Machtposition vereinigen. “Wenn auch Frauen anders als Männer sein mögen, so muß doch auch klar sein, daß nicht alle Frauen automatisch auf die Bedürfnisse anderer Frauen achten oder auf Gender-Fragen im allgemeinen. Mehr Frauen in wichtigen Positionen bedeuten deshalb noch lange nicht, daß auch mehr Aufmerksamkeit auf die Diskriminierung von Frauen gelegt wird”, so die Journalistin Anna Fernandez Poncela. Deshalb wäre es trügerisch, es als Erfolg zu werten, daß in Ecuador die Vizepräsidentin inzwischen eine Frau ist. Alexandra Vela bezeichnet sich selbst weder als Feministin noch hat sie besonderes Interesse an der Verbesserung der Situation von Frauen geäußert, auch wenn sich das mittlerweile ein wenig zu ändern scheint.
Auch das Beispiel Violettá Chamorros, der ehemaligen Präsidentin Nicaraguas, zeigt, wie wenig sich positive Veränderungen des Geschlechterverhältnisses einstellen müssen, nur weil eine Frau politische Entscheidungsträgerin ist.
Insgesamt scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, daß sich die “Qualität der Debatte” durch die Anwesenheit von Frauen verbessert habe und daß eine “Erweiterung des demokratischen Raums offensichtlich geworden sei, weil “das Thema Frauendiskriminierung” notwendigerweise behandelt werden mußte, auch von Politikern und Parteien, die sich sonst nicht damit beschäftigt hätten”, betont die brasilianische Feministin Graciela Rodriguez.
Quotenregelungen können also reale Möglichkeiten schaffen für mehr Pluralismus und für die Ausübung von Kritik und Kontrolle durch Frauen – im Parlament und von außen. Formal müssen Frauen dann jedoch überhaupt erst das Recht erhalten, genauso schlechte Politiker zu sein wie die Männer. Unter den “Quotenfrauen” werden dann hoffentlich auch so manche dabei sein, die andere politische Inhalte vielleicht sogar mit anderen Politikstilen verbinden und streitbare Alternativen innerhalb des politischen Systems formulieren.
Die nicaraguanische Feministin Sofía Montenegro drückt das so aus: “Der Kampf um die Rechte von Frauen muß aus dem Inneren des Systems heraus stattfinden. Sonst werden weiterhin andere Entscheidungen treffen ohne uns zu fragen. Irgendeine von uns muß jetzt hier ihr Kleid schmutzig machen, um für uns alle neue Wege zu eröffnen.” Die Erfahrung mit Frauenquoten und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in anderen Ländern wie zum Beispiel hier in der Bundesrepublik hat allerdings gezeigt, daß Quotendiskussionen die Energien der Frauenbewegungen eher aufsaugen und zum Verlust feministischer politischer Kreativität zu führen scheinen. Die Frage ist also noch offen, ob die Machtumverteilung und Politikveränderung durch Quoten, in Lateinamerika wie anderswo, die Frauenbewegung zum zahnlosen Tiger macht.

Für uns selbst

Es wird immer wieder in Frage gestellt, ob der Feminismus auch ein für Lateinamerika geeignetes Konzept sei. Ebenso wird behauptet, lesbische Liebe sei ein westliches Phänomen. Wie aber läßt sich dann die Existenz feministischer und lesbischer Organisationen erklären?
Erinnerungen an eine exotische Bewegung?
Die Organisation von Frauen in Lateinamerika und der Karibik ist sichtbar, vielschichtig und oft kämpferisch. Mit dem Kampf um das Überleben und Fortkommen ihrer Familien begannen Frauen am politischen Geschehen teilzunehmen. Sie kämpften in Gewerkschaften, Berufsverbänden und politischen Parteien. Dazu kam noch der Kampf der Feministinnen um die Durchsetzung von Frauenrechten. Von Anbeginn, das heißt seit den 70er Jahren schlossen sich Feministinnen den oppositionellen Strömungen an. Sie klagten Militärregimes, aber auch demokratische Regierungen wegen ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung an.
Die feministische Bewegung und ihr Leitmotiv, das Persönliche als politisch zu begreifen und den Alltag zu reflektieren, brachten neue Themen auf (Gewalt gegen Frauen, Sexualität, Reproduktion, Machtverhältnisse in der Familie). Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf andere Bewegungen -so auf die Lesben-und Schwulenbewegung -,wobei in jedem Land das eigene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umfeld eine Rolle spielte.
Seit Ende der 60er Jahre entstanden in einigen Ländern gleichzeitig Bewegungen, die für die Rechte der Lesben und Schwulen eintraten. Diese individuellen und kollektiven Prozesse stießen in der Öffentlichkeit auf Widerstände oder wurden negiert, in vielen Ländern dauert die Diskriminierung im kulturellen Umfeld, ja sogar in der Rechtsprechung noch an.
Auf ihrer langen Suche nach einem unabhängigen politischen Weg veranstalteten feministische Frauen aus Lateinamerika und der Karibik zu Beginn der 80er Jahre ihr erstes regionales Treffen. Thema sollte der Wandel der feministischen Politik und ihre Beziehung zu jenen Bewegungen sein, die ebenfalls für eine Welt ohne Ausgrenzung und Unterdrückung eintreten. Mittlerweile hat es sieben solche Treffen gegeben…..
Obwohl die feministischen Lesben auf vielfältige Weise aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet hatten, wurde dies nur selten anerkannt. Einerseits gab es in den 80er Jahren noch immer gesellschaftliche sexistische
Unterdrückungsmechanismen,
andererseits hatten einige Feministinnen auch Angst davor, “beschuldigt” zu werden, Feminismus mit Lesbianismus gleichzustellen, oder als Männerhasserinnen zu gelten. Es wurde für Lesben notwendig, eigene Organisationsstrategien zu entwerfen. Das führte zu den Treffen der ” Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik, ‘ die daraufhin in Mexiko (1987), Costa Rica (1990). Puerto Rico (1992) und Argentinien (1995) stattfanden.
Lesben: Mehr als eine exotische Minderheit
Sexualität ist ebenso wie Freundschaft, Glaube und Liebe ein Teil der privaten Sphäre, und niemand hat das Recht, sich hier einzumischen. Frauen haben sich diesbezüglich Freiräume und Rechte erkämpft, die religiösen und konservativen Teilen der Gesellschaft ein Dom im Auge sind. Insbesondere lesbische Liebe wird von dieser Seite her als “unmoralisch, lasterhaft und schädlich für das soziale Leben und die Gesundheit” angeprangert. Tatsächlich hat die Bewegung für eine freie sexuelle Orientierung einen bislang unerforschten Freiraum eröffnet, von dem aus ein zentraler Aspekt der herrschenden Vorstellung über das menschliche Leben hinterfragt werden kann: die Sexualität. Solange die Sexualität nach wie vor Gegenstand autoritärer Unterdrückung und eines verzerrenden und verdammenden Stillschweigens ist, trägt die Möglichkeit, diese Sicht offen zu hinterfragen, zu demokratischeren Beziehungen und einem gesellschaftlichen Klima der gegenseitigen Achtung bei.
Die Lesbenbewegung bedroht somit das vorherrschende Muster der weißen, heterosexuellen, männlichen Dominanz. Daraus entstehen nicht nur gesellschaftliche Konflikte, sondern auch Konflikte in den verschiedenen Organisationen und Basisbewegungen, die sich mit partizipatorischen Konzepten, mit Meinungsvielfalt, mit verschiedenen Optionen und Lebensstilen auseinandersetzen müssen.
Diskriminierung passiert an vielen Orten -trotz verschiedener internationaler Abkommen und Erklärungen, die von der UNO festgelegt wurden. In Ländern wie Chile, Nicaragua, Ecuador und Puerto Rico herrscht eine repressive Politik, die Lesben und Schwulen das Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthält. In anderen Ländern ist die Repression durch die Gesellschaft drückender als die gesetzlichen Regelungen. Die katholische Kirche nimmt eine starre Haltung ein. Die traditionelle Familienstruktur, die mangelnde Information und der fehlende Respekt vor anderen Lebensformen -all das sind Hindernisse für die Bewegungsfreiheit von Lesben.
Sag mir, mit wem du gehst…
Da die lateinamerikanischen Lesben in ihrem jeweiligen Umfeld unterschiedlicher sexueller und gesellschaftlicher Unterdrückung ausgesetzt waren, wurden sie zu Expertinnen im Verheimlichen und im Entwickeln verschiedener kleiner Signale zum gegenseitigen Erkennen.
Die beste Art sich zu treffen, war die Teilnahme an Frauenaktivitäten. In diesem Umfeld war es für uns leichter, uns zu er-kennen und dies mit unseren feministischen Aktivitäten zu verbinden. Über das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte fühlten sich viele gestärkt, und es kam der bis dahin unerhörte Gedanke auf, eine Lesbengruppe zu gründen.
wir wollten dadurch auch diejenigen Lesben unterstützen, die Angst hatten, sich offen zu bekennen und andere zu suchen, um aus ihrer Isolierung heraus-zukommen oder auch um einfach einmal ein bißchen Spaß zu haben. Die Freiräume und Tätigkeiten der Lesbenorganisationen sind vielfältig; einige &von sind kurzlebig, andere wiederum gefestigt.
Das Auftreten der AIDS-Krise wurde in einigen Ländern zum bestimmenden Merkmal der Lesben-und Schwulenorganisationen. Eine der sozialen Folgen ist die Homosexualisierung von AIDS und die sich daraus ergebende Ablehnung oder Diskriminierung aller Personen, von denen man annimmt, daß sie homosexuell sind. Dies führte zu neuen, sozialen, politischen und humanitären Aktivitäten. Kampagnen zur AIDS-Vorbeugung richteten sich meist an die ge-samte Gesellschaft. Dadurch wurden Tabuthemen wie Sexualität und vor allem Homosexualität öffentlich diskutiert.
Erstes öffentliches Auftreten von Lesben
Verschiedene feministische Ereignisse waren für die Bildung einer Lesbenbewegung entscheidend und prägten die gegenseitige Beziehung von Frauen-und Lesbenbewegung.
Im Juli 1983 kamen 600 Frauen beim II. Feministischen Treffen in Lima zusammen. Die geplante Tagesordnung sah das Thema der Liebe zwischen Frauen nicht vor. Dennoch veranstaltete eine Gruppe unabhängiger Frauen einen kleinen Workshop über Patriarchat und Lesbianismus. Dort trafen verschieden Erwartungen, Neugier, Spannung und die unvermeidlichen neutralen Beobachterinnen zusammen. Der Workshop berührte viele, brachte sie einander näher, führte zu den verschiedensten Diskussionen. Es war ein wichtiger Versuch, aus der Isolierung auszubrechen und einander als lesbische Feministinnen mit verschiedenen Hintergründen zu begegnen. Es war das erste öffentliche Auftreten der Lesben und eine Herausforderung für die heterosexuellen Feministinnen. die sich dadurch mit ihrer Homophobie auseinandersetzen mußten. Aus diesem Treffen entwickelten sich Organisationen wie die Gruppe der selbstbewußten feministischen Lesben (Grupo de Autoconciencia de Lesbianas Feministas -GALF) in Peru und des Lesbenkollektivs Ayuquelen in Chile.

Lesbianismus als Politikum
Beim III . Feministischen Treffen in Bertioga/Sao Paulo in Brasilien (1985) organisierte GALF einen geschlossenen Workshop zum Thema “Wie organisieren wir Lesben uns?” Wir tauschten unsere Erfahrungen aus, aber das reichte noch nicht. Wir entschieden, ein eigenes Treffen zu organisieren – eine Idee, die auch 1986 auf der internationalen Konferenz von ILIS (International Lesbian Information Service) in Genf wieder auftauchte, an der mehr als 700 Lesben aus Asien, Afrika Ost-und Westeuropa. Lateinamerika und der Karibik teilnahmen. Es wurde beschlossen, das I. Treffen der Feministischen Lesben Lateinamerikas und der Karibik in Mexiko -parallel zum IV. Feministischen Treffen in diesem Land -abzuhalten.
Fast 220 Frauen trafen sich im Oktober 1987 in Cuemavaca, Mexiko. Dieses I. Treffen Fe-ministischer Lesben Lateinamerikas und der Karibik wurde zu einem der repräsentativsten überhaupt.

Als Folge entstand ein Netzwerk, mit dessen Hilfe die Isolierung durchbrochen und solidarische Beziehungen gestärkt wer-den sollten. Solche regionalen Treffen sollten in Zukunft regelmäßig, d.h. alle zwei bis drei Jahre, stattfinden. Zur Teilnahme aufgerufen waren feministische Lesben, aber auch Lesben. die sich in anderen Zusammenhängen bewegen. Die Beschlüsse sollten einstimmig gefaßt werden. Um den Informationsfluß zu verbessern, sollte ein halbjährlich erscheinendes Bulletin herausgegeben werden. Trotz des Widerstands seitens der Regierung, der Kirche und der Medien fand das II. lateinamerikanische Treffen der Feministischen Lesben in Costa Rica im April 1990 statt. Frau mußte zu einer heimlichen Strategie greifen, denn die Einwanderungsbehörden hatten die Weisung, keine alleinreisende Frau einreisen zu lassen. Zugleich sollte die persönliche Sicherheit der Frauen im Land gewährleistet werden, und alle Teilnehmerinnen mußten -um jedes Risiko zu vermeiden -am Veranstaltungsort bleiben. Ein Treffen unter solchen Bedingungen war schwierig. Neben kulturellen Veranstaltungen wurden Workshops durchgeführt. Themen waren unter anderem die nicht immer freundschaftlichen Beziehungen zwischen Feminismus und Lesbianismus, die Problematik der lesbischen Mütter und ihr Kampf um das Sorge- recht für ihre Kinder, die gesetzliche Unterdrückung und die internalisierte Lesbophobie.
Auf dem VI. feministischen Treffen in Cartagena / Chile im November 1996, an dem fast 600 Frauen teilnahmen. drehten sich die Diskussionen in erster Linie um die politische Verortung und die Autonomie der Frauenbewegung, um Führungsrollen und Vertretung nach außen, um Ethik und um finanzielle Ressourcen. Das Treffen war sehr spannungsreich und polarisiert. Es nahmen viele, vor allem junge Lesben teil. Trotz ihrer großen Präsenz und Energie, die sich nicht zuletzt in künstlerischen Beiträgen und in der Abendgestaltung manifestierte, waren sie nicht imstande, ihre Vorstellungen und Visionen als konkrete politische Vorschläge zu formulieren. Sie ließen sich vielmehr von einer destruktiven
wußte Sichtbarmachung Ausdruck der nach wie vor bestehen- den Diskriminierung innerhalb der Frauenbewegung ist. Es scheint aber auch, daß es einem nicht unwichtigen Teil der Lesbenbewegung schwerfällt, eine gewisse Opferhaltung zu überwinden.
Perspektiven

Im Zuge ihrer Selbstorganisation hat sich die feministische Lesbenbewegung gewisse Freiräume in der Gesellschaft schaffen können. Diese Freiräume entstanden nicht aufgrund der Aktivitäten der Frauenbewegung oder als Zugeständnis der Gesellschaft. Die Lesben haben hart gearbeitet, das zu erreichen -sowohl innerhalb der Frauenbewegung als auch gemeinsam mit anderen Minderheiten, mit Männem und Frauen, Feministinnen und nicht-feministischen Frauen, national und international. Die Solidarität von Lesben-und Schwulenorganisationen aus dem Norden hat ebenfalls zur Schaffung dieser Freiräume beigetragen.
Die Zunahme an Sichtbarkeit, Legitimität, Anerkennung und die Vielfalt von Aktionen der feministischen Lesben in ihren jeweiligen -zum Teil gemischten -Organisationen bringt neue Spannungen und Herausforderungen in Bezug auf Prioritäten, den Kampf ums Überleben, den ungleichen Zugang zu Ressourcen. die Autonomie der Bewegung, die Teilnahme an anderen Gruppen oder Netzwerken, aber vor allem in Hinblick auf organisierte Strukturen der Bewegung. Diese Aufgaben werden lösbar, wenn Frau die alte Rendenz überwindet, sich Opposition zur Macht zu begreifen, wie es die linken Gruppen tun, denn diese Dynamik schränkt ein und führt zur Erschöpfung. Es geht drum, von der Wut zur Selbstermächtigung überzugehen, und nicht erstere als permanenten emotionalen Zustand zu kultivieren.
Die Zukunft der feministischen Lesbenbewegung wird also von ihrer Fähigkeit abhängen, unterschiedliche ideologische Vorstellungen, die es in der Bewegung gibt, zusammenzubringen und sie in globalere Strategien einfließen zu lassen, um so Antworten auf die komplexe Realität zu finden. Das bedeutet, daß die bestehenden Gruppen gestärkt werden und sich erweitern müssen, um auch schwarze, behinderte oder indigene Frauen zu integrieren. Ziel muß sein, als Bewegung Strategien zu entwickeln, die sich von jenen der NGOs, der Institutionen und der politischen Parteien unterscheiden. Mithilfe dieser Strategien sollen Brücken geschlagen und verschiedene Allianzen und Kooperationen auf regionaler und internationaler Ebene aufgebaut werden.
Es ist eine beständige Herausforderung für uns alle, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse so zu verändern, daß alle Menschen friedlich zusammenleben können.

Rebeca Sevilla

Huren wissen, was sie wollen

In Rio de Janeiro wirbelten bereits drei brasilienweite Prostituiertenkongresse viel Staub auf, nicht mitgerechnet die zahlreichen Treffen in den einzelnen Bundesländern, vor allem in Rio Grande do Sul und Pará. Im Juli 1987 fand das erste dieser aufsehenerregenden Ereignisse statt. Der Auftakt der brasilianischen Sexarbeiterinnenbewegung wurde unter dem Motto Mulher da Vida é Preciso Falar – ‘Frauen des Lebens’, es ist wichtig zu sprechen – veranstaltet, um Themen wie Polizeirepression, Diskriminierung bei der medizinischen Versorgung und Recht auf Erziehung zu diskutieren. Zum ersten Mal wurde die Stigmatisierung der Frauen sowie deren Kriminalisierung durch die Gesetzgebung breit in die Öffentlichkeit getragen.

Willkürliche Festnahmen

Prostitution ist in Brasilien zwar nicht verboten, aber die Polizei benutzt immer wieder einen in der Verfassung von 1988 abgeschafften Gesetzesparagraphen, um Personen, die sich des “Vagabundierens” verdächtig machen, willkürlich auf der Polizeiwache festzuhalten. In Porto Alegre wurden Frauen von Militärpolizeieinheiten verschleppt und auf den Flußinseln vor der Stadt ausgesetzt, nachdem sie vorher ausgeraubt und vergewaltigt worden waren. Die Prostituierten riefen PolitikerInnen, RechtsanwältInnen, JournalistInnen und Polizeichefs zusammen, um den ständigen Polizeiübergriffen ein Ende zu bereiten. Die Forderung nach Gesetzesveränderungen, die den Zuhälterparagraphen abschaffen und durch Legalisierung normale Arbeitsverhältnisse fördern, waren ein wichtiger Bestandteil auf allen nationalen wie bundestaatlichen Treffen, um die Gewalt und Diskriminierung einzuschränken.
Gleichzeitig wuchsen die Solidarität und ein neues Bewußtsein unter den Prostituierten. Die einzige Anlaufstelle der Frauen war früher die ‘katholische Pastorale der marginalisierten Frau’, die jedoch in ihren Grundfesten die Prostitution abschaffen wollte, anstatt die Frauen in ihren Forderungen nach besseren Arbeitsverhältnissen zu unterstützen.

Vila Mimosa – Kampf um Selbsbestimmung

Wie sich die Prostituierten selbst in der Öffentlichkeit für ihre Anliegen einzusetzen wußten, bewies der lange Kampf gegen die Vertreibung aus einem der traditionsreichen Rotlichtviertel Rio de Janeiros. Die Vila Mimosa war die letzte Straße des seit Anfang des Jahrhunderts existierenden Mangue – noch heute das Synonym für Bordellzone. In den fünfziger Jahren war hier der Schauplatz eines interessanten Experimentes der República do Mangue. Paradoxerweise ging die Initiative vom zuständigen Sittendezernat aus. Alle Puffmütter wurden aus den Bordellen verjagt, weil sie oft das fünffache von der an den Staat bezahlten Miete von den Prostituierten verlangten. In jedem Bordell wählten die Frauen eine Vertreterin, die die Geschäftsführung für eine befristete Zeit übernahm. Diese Sexkooperativen überlebten fünfzehn Jahre, bis sie, wie schon zuvor Stefan Zweig befürchtete, dem “zivilisatorischen Ehrgeiz und der Moral zum Opfer” fielen.
Die Vila Mimosa war von den Abrißbirnen der siebziger Jahre verschont geblieben, die den Weg für Bürohochhäuser und städtische Administrationszentren und die neue Metrostation Estácio ebneten. 1987 jedoch plante ein evangelikaler Pfarrer den Abriß für die Erweiterung seines Fernsehsenders. Die etwa 600 dort anschaffenden Frauen, donas-de-casa (Leiterinnen der Etablisements) und StraßenhändlerInnen setzten sich gemeinsam zur Wehr, so daß am 29. September 1987 die erste Prostituiertenorganisation Brasiliens, mit Maria Magdalena als Schutzheiliger im Emblem, gegründet wurde. Welche biblische Figur könnte besser passen, als die, die Christus’ Auferstehung beiwohnte, und als erste Apostelin nicht anerkannt wird, weil ihr eine freizügige Lebensweise nachgesagt wird.
Genaugenommen waren die ersten Organisationen schon 1906 in Rio de Janeiro und 1924 in Sâo Paulo von jüdischen Prostituierten gegründet worden, um altgewordene und kranke Kolleginnen zu unterstützen. Sie besaßen sogar eigene Synagogen und Friedhöfe, da ihnen der Zugang zu denen der jüdische Gemeinde versperrt blieb.
Die Proteste gegen den Abriß der Vila Mimosa 1987, die von von Prominenten wie Jorge Amado unterstützt worden, waren erfolgreich. Nach einer Unterredung mit dem Oberbürgermeister übergab dieser das Nutzungsrecht für die stadteigenen Immobilien an die Prostituiertenorganisation. Zusammen mit den donas-de-casa wurden die 44 Häuser renoviert, und mit städtischer Unterstützung die Strassenbeleuchtung installiert, die Kanalisation instandgesetzt und die Straße asphaltiert.

Erneute Vertreibung

1994 begann die letzte Folge der Vertreibung der Vila Mimosa. Nun wurde der Bau eines der größten Telekommunikationszentren Lateinamerikas geplant, obwohl bisher auf dem Gelände nur Grünflächen angelegt wurden. Auch wenn die Klientel der Bürohochhäuser oftmals mit dem der Vila Mimosa übereinstimmt, werden derlei Plätze nicht gerne nahe des neuen modernen Stadtmodells gesehen. Die räumliche Verdrängung ist bloß die Konsequenz der gesellschaftlichen Marginalisierung der Prostitution.
Trotz des Abrisses gaben die Frauen der Vila Mimosa nicht nach. Zwar wurde das Entschädigungsgeld von der Stadtregierung durch die ehemalige Vereinsvorsitzende veruntreut, doch kauften sie von ihrem eigenen Geld eine ehemalige Lagerhalle des Milchproduktekonzerns Parmalat am Praía Bandeira. Während des Ausbaus arbeiteten die Frauen unter erschwerten Bedingungen in wenigen Zimmern. Dieses Jahr wurden die kleinen Bars, an einem U-förmigen Gang gelegen, fertiggestellt. Der Name Vila Mimosa wurde aus Nostalgie übernommen, obwohl die hygienischen Verhältnisse besser sind und die kleinen, aber sauberen mit Klimaanlage bzw. Ventilator ausgestatteten Zimmer nicht mehr mit den alten vergleichbar sind. Auch der mittlerweile in Amocavim (Associaçâo de Moradores do Condomínio e Amigos da Vila Mimosa) umbenannte Verein hat am neuen Ort seinen Platz gefunden.
Neben der Verdrängung prägt auch die Stigmatisierung der Huren als mögliche Verantwortliche für die Ausbreitung von Aids die Situation der brasilianischen Prostituierten. Seitdem sie ihre Anliegen selbst in die Hand nehmen, zeigen sich aber Erfolge bei den in Eigenregie durchgeführten Aufklärungskampagnen über Geschlechtskrankheiten und Aids. Kondome und Infobroschüren wurden verteilt, Kunden erhielten Rabatt, wenn sie mindestens fünf Kondome mitbrachten. Außerdem wurde das Radio Mimosa gegründet Im April 1991 ging das Programm in Eigeninitiative zum ersten Mal über den Äther. Täglich sendeten die Radiomacherinnen Musik, Grüße, Reklame und Spots mit der Aufforderung zum Gebrauch von camisinhas, Kondome – in Brasilien “Hemdchen” genannt -, bis das Radio 1992 geschlossen werden mußte, nachdem die Sendeanlage gestohlen worden war. Neben der Gesundheitsprävention wurden zur besseren Versorgung von HIV-Positiven und Kranken Abkommen mit Krankenhäusern, die auch anonyme Aidstests durchführen, abgeschlossen. Da es keinen Sozialversicherungsnachweis für Sexarbeiterinnen gibt, mit der die Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung wenigstens zu einem Bruchteil gewährleistet wäre, müssen sich die Frauen unter einer anderen Berufsbezeichnung eintragen, oder ihnen bleiben nur die völlig überlasteten öffentlichen Gesundheitsposten, bei denen sie oft wegen ihrer Tätigkeit diskriminiert werden.
Die Prostituierten setzen sich nun zur Wehr und sprechen selber, anstatt daß über sie gesprochen wird. Allen voran Gabriela Silva Leite, die seit Anfang der achtziger Jahre im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, als sie die ersten Demonstrationen gegen Polizeigewalt in Sâo Paulo mitinitiierte: “Wir haben gesehen, wie Prostituierte sprechen lernen. Sie entdecken, daß sie die Stimme einer Gesellschaft sind, die bei der Konfrontation mit Sexualität zu Tode erschreckt. Die Prostituierte muß aus dem Ghetto geholt werden, um sie in die brasilianische Realität zu plazieren.” Um diesen Schritt voranzutreiben, berät sie in dem 1992 gegründeten Verein Davida zu juristischen Fragen, organisiert Kongresse und koordiniert das brasilianische Netzwerk der Sex-Professionellen, dessen Bezeichnung auch die männlichen Sexarbeiter und Transvestiten miteinbeziehen soll. Auf dem Gelände in Estacio – “der Wiege des Sambas und der Prostitution” -, werden auch Karnevalsworkshops für Kinder angeboten und nicht zuletzt der seit 1988 erscheinende Beijo da Rua – Kuß der Straße, die einzige Prostituiertenzeitung Brasiliens, herausgegeben. Jede Ausgabe hat andere Schwerpunkte wie Transvestie, Gefängnis, Polizei sowie Gedichte und Berichte von der Straße und aus den Clubs.
“Wir sind politische Huren; Huren, die wissen was sie wollen; Huren mit Rechten und Pflichten in dieser Gesellschaft” sagt Lourdes Barreto von GEMPAC, Belém. Doch darüber wie diese aussehen sollen, ob z.B. mit oder ohne regelmäßige Gesundheitskontrolle darüber, gibt es noch unterschiedliche Vorstellungen. Mit Spannung kann erwartet werden, ob die Probleme der lateinamerikanischen Kolleginnen vergleichbar sind. Vom 1. bis 3. Oktober diesen Jahres findet in San José, Costa Rica, der erste lateinamerikanische und karibische SexarbeiterInnenkongress statt.

“Herkules-Quasimodo” im Hinterland Bahias

Die Broschüre erschien 1993. Hundert Jahre zuvor kam die Pilgerschaft des Antonio Vicente Mendes Maciel im Sertâo von Bahia zum Stehen. Der frühere Kaufmannsgehilfe aus Quixeramobim in der Provinz Ceará war seit etwa 20 Jahren in den trockenen Inlandsgebieten des brasilianischen Nordostens bekannt als ein wandernder Eremit und Prediger. Durch seine Taten wie sein Auftreten – er baute verfallene Friedhöfe und Kirchlein wieder auf und predigte von Sünde und Erlösung – erwarb er sich den Respekt vieler der bäuerlichen sertanejos und den Ehrentitel Conselheiro – der Ratgeber. Ebenso erwarb er sich den Zorn der Amtskirche und das Mißtrauen der Behörden. 1893 zog sich Antonio mit einer noch kleinen Schar von Anhängern in einen Winkel des Sertâo Bahias zurück. Seine Wahl fiel auf den Weiler Canudos, etwa 400 km nordöstlich der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, Salvador gelegen, zwar im Fadenkreuz einiger regionaler Straßen, doch in unwegsamem, bergigem Gelände und abseits der einzigen Eisenbahn- und Telegraphenlinie im Nordwesten des Bundesstaates. Daß in Rio vier Jahre zuvor eine Koalition von Politikern und Militärs die Monarchie zu Fall gebracht und die Republik auf den Thron gesetzt hatte, hatten im Sertâo wahrscheinlich noch nicht einmal alle mitbekommen. Gesellschaftliche Veränderungen dort brachte der staatspolitische Umsturz nicht mit sich.
Die Bewegung von Canudos wurde bald zur regionalen und überregionalen Attraktion. Ein steter Strom armen Landvolks bewegte sich durch die Caatinga, die dornig-struppige Vegetation des Sertâo, auf den Ort zu. Innerhalb von drei Jahren schwoll Canudos auf viele tausend Bewohner an, eine Großstadt inmitten des von extensiver Viehwirtschaft und spärlicher Besiedelung gekennzeichneten Sertâo. So abgelegen und uninteressant die Gegend auch immer für die Eliten gewesen sein mochte, dieses Phänomen konnten sie nicht länger ignorieren. Nicht nur, weil der Conselheiro und sein Gefolge längst als kriminelle Vereinigung stigmatisiert waren, in die sich viele der gefürchtetsten Banditen der Region geflüchtet hätten (und sich, Zeitzeugen zufolge, alsbald vom Conselheiro bekehren ließen, ihre Sünden bereuten und hinfort dem Rauben und Morden abschwörten).

Canudos gegen die Großgrundbesitzer

Nicht nur, weil Canudos als “Unruhestifter” zur strategischen Masse eines inneroligarchischen Konflikts um die Macht im Bundesstaat Bahia geworden war. Sondern vor allem, weil Canudos in der Tat den regionalen Eliten ein echtes Problem bereitete: Den Fazendeiros, den Großgrundbesitzern, liefen in Scharen die Arbeitskräfte weg, vor allem Menschen, die als Tagelöhner oder als kleine Viehhirten wenig zu verlieren hatten. Es machten sich aber auch solche nach Canudos auf, die über Besitz und Auskommen verfügten, Einzelne und ganze Familien, die Haus und Garten verkauften, um sich der Bewegung anzuschließen. Messianische Strömungen und religiöse Führer, die sie lenken, hat der Sertâo immer wieder gekannt; in dieser Region, die nach ihrer Kolonisierung und der “Pazifierung”, sprich Ausrottung der indianischen Ursprungsbevölkerung über Jahrhunderte kaum sozialen Wandel kannte, hat das “Mittelalter” in der feudalen Besitz- und Machtstruktur ebenso wie in der mentalen Disposition noch lange nachgewirkt. Und manche dieser Bewegungen brachten die politisch-ökonomische Ordnung des Coronelismo durcheinander. Diese basiert darauf, daß die wenigen mit viel Land die vielen ohne Land nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und juristisch kontrollieren, d.h. sie durch feudale Arbeitsverhältnisse und klientelistische Beziehungen an sich binden, die Gerichtsbarkeit über sie ausüben und sie als “Stimmvieh” auf sich verpflichteten – sofern sie wählen durften, was in der Ersten Republik in Brasilien Analphabeten und damit 90 Prozent der Bevölkerung verwehrt war.
Die Repression konnte nicht ausbleiben. Auf “ordnungswidrige” Massenbewegungen der einfachen Bevölkerung hatte der Sklavenhalterstaat Brasilien nie anders als repressive Antworten gegeben; “das Volk” war formal-rhetorische Referenz, aber kein Gegenüber, mit dem man etwa verhandelt hätte.
Ein Polizeibataillon wird Ende 1896 ausgesandt, mit Canudos aufzuräumen. Ohne den Ort selbst zu erreichen, muß der Trupp bewaffneten Widerstand vergegenwärtigen, der sie zum Rückzug zwingt. Tote bleiben zurück, die meisten sind Conselheiristas, doch auch zehn Polizisten sind darunter. Einer zweiten, größeren Expedition, widerfährt das gleiche Schicksal. Die Aufregung ist groß, auch in der 2.000 Kilometer entfernten Bundeshauptstadt Rio de Janeiro. Ein Heer wird aufgestellt unter Führung eines berüchtigten Kriegshelden aus dem Krieg gegen Paraguay mit weit über tausend Soldaten und Polizisten, die dieses Mal auch Kanonen aus Kruppschen Schmieden mit sich führten. Canudos verteidigt sich mit Mitteln, die Jahrzehnte später unter dem Namen “Guerilla” auf dem Kontinent berühmt werden. Die Arroganz der Küste gegenüber dem Hinterland mündet in einer erstaunlichen Ignoranz, und die Armee macht ungefähr alles falsch, was man für einen Krieg unter den logistisch-topographischen Gegebenheiten des Sertâo falsch machen konnte. Es gelingt den Soldaten nicht, den Verteidigungsring zu knacken. Als der berühmte Befehlshaber César höchst unnötigerweise ums Leben kommt, ist die Moral der Truppe gebrochen. Zum Schluß fliehen sie in Panik durch die Caatinga, verfolgt von den Conselheiristas. Der Rückzug gelingt nur mit Mühe.
Canudos, mittlerweile ein nationaler “Skandal” erster Ordnung, forderte die Republik als selbsternannte brasilianische Moderne, existentiell heraus. “Canudos” geriet zum diskursiven Ereignis, das die veröffentlichte Meinung vor allem im Jahr 1897 durchgängig beschäftigte. Das Gemeinwesen im Sertâo wurde spätestens nach der Niederlage der dritten Expedition diskursiv zum “von ausländischen Mächten unterstützten monarchistischen Aufstand” aufgeblasen. Die Barbarei habe sich gegen die Zivilisation aufgelehnt, der Atavismus gegen die Moderne. Der Diskurs zu Canudos setzte sich in solchen Fundamentaloppositionen seinen Rahmen.

Vom “Sieg der Republik” am 5. Oktober 1897…

Aus dem ganzen Land wurden Soldaten zusammengekratzt; Über 10.000 von ihnen, weit über die Hälfte der brasilianischen Streitkräfte, wurden zwischen April und Oktober 1897 in Canudos eingesetzt, dazu Unmengen an Waffen und Munition. Die “Niederschlagung des Aufstands” übersetzte sich in einen Vernichtungskrieg, ein wochenlanges Massaker. Als Canudos am 5. Oktober, nach dreimonatiger Belagerung endlich fiel, waren nicht nur in den Ruinen der Stadt keine Überlebenden mehr zu finden. Auch von den männlichen Gefangenen sollte kaum einer überleben. Ihnen wurde, einer im kürzlichen beendeten Bürgerkrieg im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul aufgekommenen Mode folgend, die Kehle durchgeschnitten; passar gravata vermelha, die rote Krawatte anlegen, hieß es im Soldatenjargon.
Der “Sieg der Republik” wurde enthusiastisch gefeiert. Es dauerte Monate, bis kritische Stimmen laut wurden, die die Grausamkeiten des Massakers und die Rolle der Sertanejos für Brasilien anfragten. Doch es dauerte fünf Jahre, bis das Bild von der Armee als heldenhafter Retterin der Nation einen den Diskurs drehenden Schlag erhielt. 1902 erschien “Os Sertôes” des Ingenieurs Euclides da Cunha, der die Schlußphase des Krieges (allerdings nicht die allerletzten Tage) als Kriegsberichterstatter des O Estado de Sâo Paulo miterlebt hatte. Das Werk ging schon kurze Zeit nach seinem Erscheinen in die Liste der brasilianischen Literaturklassiker ein. Berthold Zilly, Dozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, hat 1994 seine hervorragende Übersetzung (“Krieg im Sertâo”) fertiggestellt. Os Sertôes beschreibt ausführlich in einer Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und fiktionaler Erzählung die Region, ihre Bewohner und den Krieg von Canudos. Stark beeinflußt von positivistischen und darwinistischen Theorien, schildert da Cunha die Sertanejos von Canudos als Produkt ihrer Rassenmischung und ihrer geologischen, klimatischen und sozialen Umwelt. Das Ergebnis sei “Herkules-Quasimodo”, eine eigene Rasse geistig minderbemittelter und der Modernisierung letztlich unfähiger Menschen, rückständiges Volk im rückständigen Hinterland und dennoch stark, weil homogen, und deshalb wertvoll für die Entwicklung der brasilianischen Nation zum Besseren. Die Zukunft der Nation angesichts ihrer “gemischtrassigen” Zusammensetzung war um die Jahrhundertwende eine Hauptsorge vieler brasilianischer Intellektueller, die sich beständig den europäischen Spiegel vorhielten. Das Buch endet mit einer Grossen Anklage an die Armee. Da Cunha bezichtigt sie des Verbrechens an den Sertanejos. Ausführlich schildert er die Degolamentos, die Abkehlungen der Gefangenen. Die Soldaten, resümiert er, hätten eine größere Barbarei begangen als die angeblichen Barbaren.
Canudos gehört zweifelsohne, wie der Präsident des Abgeordnetenhauses in Brasília bei der Eröffnung der Sondersitzung zum Zentenarium von Canudos am 21. Oktober 1993 feststellte, zu den “umstrittensten Episoden der ganzen Geschichte unseres Vaterlandes”.

…zum nationalen Trauma

Os Sertôes hat in Brasilien eine bis auf den heutigen Tag nachhaltige Wirkung verbreitet. Das Militär haßte es über Jahrzehnte, weil es die Kriegsverbrechen (und die Unfähigkeit) des Militärs anprangerte. Dutzende von Schriften aus der Feder von Offizieren sind erschienen, die alle belegen wollen, warum die “Fanatiker” von Canudos damals die Republik bedrohten und deshalb mit Krieg überzogen werden mußten.
Die Historiker und Sozialwissenschafter liebten es, weil es ihnen scheinbar die Arbeit einer eigenen Forschung abnahm und sie über Generationen hinweg ihre Interpretationen zu Canudos immer wieder und immer nur mit Os Sertôes unterfütterten, statt die Quellen zu studieren.
Canudos ist eines der großen Traumata der Geschichte der brasilianischen Republik und einer der großen Mythen vor allem der brasilianischen Linken. In der Auseinandersetzung “Küste versus Hinterland” gleich “Modernität versus Anachronismus” sehen konservative Gruppen bis heute einen Fanatismus am Werk, der die Republik bedroht habe. Von anderer Seite ist Canudos als verwirklichte sozialrevolutionäre Utopie gekennzeichnet worden, die auf die Brechung der Macht des Großgrundbesitzes gezielt und in urkommunistischer Manier in reinem Gemeineigentum gelebt habe. Auch die linken Interpretationen gehen wohl an der Realität vorbei, ohne daß bis heute Klarheit herrschte über den Charakter der Gemeinde von Canudos. Die Quellenlage zum Internen von Canudos ist mehr als dürftig. Viel spricht jedoch dafür, daß das Leben in Canudos sich von dem anderer Orte im Sertâo nicht wesentlich unterschied. Nicht alle nahmen beständig am religiösen Leben teil. Nicht alle blieben bis zum Schluß, viele flohen vor dem Krieg. Ob der Ratgeber tatsächlich unumschränkte Autorität besaß oder nicht zunehmend die militärischen Führer die Zügel in die Hand nahmen, ist ungewiß. Gewißlich war Canudos nicht “demokratisch” verfaßt. Es gab Privateigentum; auch die Häuser durften verkauft werden. Es gab einen regen Handel mit umliegenden Orten und Fazendeiros, deren Eigentum nicht angetastet wurde. Das Acker- und Weideland nutzten die Conselheiristas gemeinsam. Weideland in Gemeineigentum ist eine Tradition des Sertâo, und der Landkonflikt in der Region von Canudos heute besteht weniger darin, daß die einzelnen Familien Parzellen für sich fordern als darin, daß der Fundo de Pasto von Großgrundbesitzern nach und nach als Privateigentum reklamiert, eingezäunt und von Pistoleiros verteidigt wird. Dieses seit Generationen gemeinsam genutzte Weideland ist existentiell wichtig für die Haupteinnahmequelle der Gegend, die Ziegenzucht.
Religiöse Motive und nicht die Landfrage bewegten den Conselheiro und sein Gefolge. Dennoch war Canudos eine auch wirtschaftliche und gesellschaftlich Alternative. Die Bewegung wird heute in der Forschung als “sozio-religiös” gekennzeichnet: Canudos, obwohl vom Conselheiro als religiöse Gemeinschaft gegründet, deren konservative Sündentheologie nichts “Befreiendes” aufwies, prägte Züge eines gesellschaftlichen Gegenmodells aus. In Canudos wohnten viele ehemalige Sklaven; der Conselheiro war immer ein Gegner der Sklaverei gewesen. Es gibt Hinweise darauf, daß Indios in Canudos wohnten und mitkämpften. Es gab in der Tat keinen Großgrundbesitzer, keine Abgaben, keine Unterstellung unter seine Gerichtsbarkeit. Es gab ein System des Ausgleichs bei Gütern des Bedarfs; wer nicht selbst genug Nahrungsmittel produzieren konnte, dem wurde geholfen. Canudos, aus und auf Religion gegründet, verursachte erhebliche sozio-ökonomische Turbulenzen in der Gesellschaftsformation des Sertâo und repräsentierte für die gesamte brasilianische Elite ein Mikromodell einer politisch-ökonomischen Autarkie jenseits des elitär-autoritären Gesellschaft, das nicht hinzunehmen war.
Hinzu kommt: Im Krieg von Canudos kristallieren sich Grundkonflikte der brasilianischen Gesellschaft bis heute: Der zwischen den Großstädten an der Küste und den Dörfern des Hinterlands; die enorme Diskrepanz von Arm und Reich, die sich bis heute ungebrochen an der Frage der Verfügung über Land offenbart und Konflikte entzündet. Brasilien hat – aller Rhetorik zum Hohn – bis heute keine Agrarreform erlebt. Es kann daher nicht verwundern, wenn sich der MST, der Gewerkschaftsverband CUT oder die befreiungstheologisch orientierten Pastoralinstitutionen der katholischen Kirche schon seit vielen Jahren auf das vermeintlich sozialrevolutionäre Erbe des Conselheiro beziehen. Dieser wäre heute vermutlich kein Führungsmitglied, aber ein Sympathisant des MST.

“Canudos” im Aufschwung

In Brasilien erlebt “Canudos”, immer verknüpft mit Euclides da Cunha und seinem Buch, im Zusammenhang des Doppeljubiläums 1893/97-1993/97 (Gründung/Zerstörung von Canudos) einen Aufschwung in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vor allem in diesem Jahr jagen sich die wissenschaftlichen Symposien, Debatten, Videovorführungen. Ein Kinofilm – die teuerste brasilianische Produktion aller Zeiten – ist gedreht worden. Im Sertâo hat die Landesuniversität von Bahia einen archäologischen Park angelegt, in dem die wichtigsten Kampfstätten in der Caatinga besichtigt werden können. Die Ruinen von Canudos selbst und das in ihnen neuentstandene, zweite Canudos sind hingegen Ende der 1960er Jahre in einem Staudamm versunken, den die Militärregierung anlegen ließ – ob aus rein topographischen Gründen oder um das kollektive Gedächtnis der Region zu ertränken, sei dahingestellt. Das dritte Canudos ist 1985 in den Rang einer Kommune aufgestiegen. Auf deren 3.000 Quadratkilometer wohnen etwa 14.000 Menschen. Dort verdient eine Schullehrerin oft weniger als einen Mindestlohn (ca. 180 DM monatlich). Außerhalb der Stadt Canudos haben viele der Bewohner weder Strom noch fließend Wasser. Die Straßen sind nicht asphaltiert, bei Regen sind die entlegeneren Weiler im Munizip abgeschnitten. In der Sozialindikatoren-Tabelle des nicht gerade hochentwickelten Bundesstaates Bahia rangiert die Kommune zwischen Platz 200 und Platz 360 – von 415 Munizipien. Der Park ist nur eine der Unternehmungen des “Centro de Estudos Euclides da Cunha” der Landesuniversität, mit denen in Canudos die aktuelle soziale Situation verbessert und die Erinnerung an den Krieg und seine Bedeutung für die brasilianische Geschichte wachgehalten werden soll, zum Beispiel durch die Einrichung eines “Canudos-Hauses” mit Bibliothek im heutigen Canudos. Lange Zeit redete im Sertâo aus Angst vor Repressalien niemand über den Krieg – eine Schwierigkeit, auf die die wenigen interessierten Forscher noch in den 50er und 60er Jahren stießen. Heute sind die, die als Kinder oder Enkel von überlebenden Conselheiristas noch die Geschichte erzählten, nahezu alle weggestorben. Die Jugend hört nicht mehr zu. Fernsehen und Videogame sind heute auch im Sertâo vitale Absauger oraler Traditionen. Nicht zur Pflege des steingewordenen kollektiven Gedächtnisses, sondern in der Hoffnung auf Touristen wird die Bar “Zum Conselheiro” in Bendegó gerade renoviert. Dennoch ist die Existenz dieser – und anderer, ähnlich benannter- Kneipen ein Beleg für die Lebendigkeit des Mythos Canudos. Daß dieser Mythos unmittelbar anschlußfähig ist, stellten im Jubiläumsjahr 1993 zwei Spitzenpolitiker unter Beweis. Im Wahlkampf für die Präsidentenwahl zog der Spitzenkandidat der Arbeiterpartei PT, Lula da Silva, mit einer Karawane durchs Hinterland. In Canudos teilte Lula eigenhändig Brot unter den Menschen aus. Gebete wurden gesprochen und Lula rief, in überraschender Abwandlung des üblichen materialistischen Diskurses seiner sozialistischen Partei, den Menschen zu: “Das Rot der Fahne der PT ist das Blut von Jesus Christus am Kreuz.” Auch der Soziologe Fernando Henrique Cardoso wußte, was der Mythos wert ist, und ließ es sich nicht nehmen, seine Wahlkampf tour durch Bahia in Canudos zu eröffnen. Er brachte kein Brot mit, sondern das Versprechen, auf der von Salvador kommenden Bundesstraße ein 80 km langes Teilstück bis nach Canudos zu asphaltieren. Das Versprechen auf Modernisierung gewann die Wahl gegen das Versprechen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Canudos erhält – die Straße ist jetzt tatsächlich im Bau – seinen Asphalt und wartet weiter auf Landreform, eine funktionierende Justiz und Ärzte.

Krieg im Sertâo

Jenseits der politischen Konjunkturzyklen sind es vor allem Intellektuelle und Wissenschaftler, die sich für Canudos interessieren. Dieses Interesse ist nicht mehr auf Brasilien beschränkt. In den USA, wo bereits 1947 eine Übersetzung von Os Sertôes erschien, steht das Ereignis zumindest für die Studierenden der Latin American Studies auf dem Lehrplan. Vargas Llosas Canudos-Roman La Guerra del Fin del Mundo, 1981 erschienen1, sorgte auch anderswo für erste Kenntnisnahme. In Deutschland errang “Krieg im Sertâo”, passend zur Frankfurter “Brasilien”-Buchmesse 1994 erschienen, eine erstaunliche Aufmerksamkeit und viele Spalten in allen großen deutschsprachigen Feuilletons. 1995 wurde Canudos auf zwei Symposien im Berliner Haus der Kulturen thematisiert. Im Mai diesen Jahres schließlich veranstaltete das Zentrum Portugiesischsprachige Welt an der Kölner Universität den wohl bisher in Europa größten wissenschaftlichen Kongreß zu Canudos, mit 20 geladenenen Referentinnen und Referenten aus Brasilien, dazu aus Italien und Frankreich. Dieses Interesse ist zum einen sicherlich konjunkturell erzeugt von Buchmesse und Zentenarien. Doch hat dieses Interesse am Ereignis und seiner Interpretation durch Euclides wohl auch zu tun mit dem heutigen Faible für die Auflösung von Gattungsgrenzen, für die Genrewanderung zwischen Literatur und Wissenschaft, die da Cunha ja unternimmt.

Canudos ist überall

Es hat auch zu tun mit der erschreckenden Aktualität von Kriegen, die im Namen von “Rassen” oder wie wir heute sagen “Ethnien” geführt werden. Das hat zu tun mit der ambivalenten Modernitätseuphorie und Modernitätskritik, die da Cunhas Werk kennzeichnete und heute wieder den Zeitgeist. Die Frage etwa, ob die Barbarei als Entartung oder Wesensmerkmal der Moderne zu betrachten ist, führt – im Zusammenhang mit der Shoah – fortgesetzt zu erregten Debatten. Die Frage “Sind die Sertanejos Brasilianer und was heißt das für unsere Nation?” stellt sich heute als die Frage nach der sogenannten “Identität” Europas. Und sie stellt sich mit Vehemenz, wenn an den Hauptbahnhöfen Kerneuropas massenhaft zerlumpte Gestalten auftauchen, die fatal an die Bilder aus der Dritten Welt erinnern, aber darauf pochen, als Rumänen oder Ukrainer zu “uns” zu gehören. Der jugoslawische Bürgerkrieg schließlich hat endgültig die Illusion zerstört, im Herzen der europäischen Zivilisation sei die Barbarei besiegt. Über den europäischen Rand hinausgespäht, geraten, während alles über Globalisierung redet, unentwegt Retribalisierungen in den Blick, politisch-geographische Sezessionen, ethnisch begründet, ökonomisch schwachsinnig, fundamentalistisch verteidigt. Und schon heben jene den Finger, die vom Kampf der Kulturen als dem Konfliktmuster der Zukunft reden.
Ähnlich wie die irritierten Beobachter heute fragte da Cunha Ende des letzten Jahrhunderts, ob die Bewegung von Canudos unter die Opfer eines Modernisierungsprojektes zu zählen sei. Canudos repräsentierte eine fragmentierte Identität, die sich religiös begriff und sich gesellschaftlich vollzog. Damit geriet sie in Gegensatz zur in Konstruktion befindlichen “nationalen Identität” Brasiliens. Diese wurde den Leuten in Canudos deshalb auch konsequent verweigert; sie galten auf dem Höhepunkt des Krieges der öffentlichen Meinung nicht als “Brasilianer”, sondern irgendwie als “Ausländer”. Im Hirngespinst der ausländischen Kriegsberater und Wafffenlieferanten, die Canudos gehabt haben soll, fand dieser Diskurs sein Spielbein.
Euclides da Cunha analysierte ein Ereignis, das er in den Zusammenhang des Konfliktes Zivilisation versus Barbarei eingestellt sah. Und er entdeckte, daß die Barbarei auch auf Seiten der Zivilisation heftig wuchert. Die Europäer sind mit der Erkenntnis konfrontiert, daß ihre Barbarei nicht zu den historischen Akten gezählt werden kann. Tatsächlich helfen die Kategorien Zivilisation und Barbarei weder heute noch damals sonderlich weiter. Aber Canudos liefert uns Europäern des späten zwanzigsten Jahrhunderts ein Beispiel dafür, daß die Bestrebungen des modernen Nationalstaats zur Standardisierung und Homogenisierung nicht nur von Gesetzen und Industrienormen, sondern auch von “Identitäten” als Zuschreibungen, von gesellschaftlichen Verhaltens- und politischen Sichtweisen ein universelles Phänomen ist, das den Sertâo Bahias mit Berlin verbindet.

1 Euclides da Cunha, “Krieg im Sertâo”. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Berthold Zilly, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994.
2 Auf Deutsch erschienen als Mario Vargas Llosa, “Der Krieg am Ende der Welt”, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987

Das Schokoladenbonbon

Wenngleich kulinarische Vergleiche für sein Werk ziemlich abwegig sind, amüsierte sich Ak’abal köstlich darüber, weil doch eigentlich zum Ausdruck kommen sollte, daß seinen oft kurzen und lakonisch anmutenden Gedichten eine eindrucksvolle Vermittelbarkeit zueigen ist. Hier ein erstes Beispiel.

Ferne

In diesem kleinen Land
ist alles weit entfernt:

das Essen,
die Literatur,
die Kleidung.

Sein eigentlicher Name lautet Kaqulja Ak’abal und bedeutet in der Mayasprache Quiché “Sturm am Morgen”, aber bei der Geburtsmeldung erlaubte man damals – in “diesem kleinen Land” Guatemala – keinen indianischen Vornamen, sondern lediglich einen spanischsprachigen, der dann Humberto war. Humberto Ak’abal wurde 1952 in Momostenango, Provinz Totonicapán, geboren. Nach der Schulzeit schlug er sich erst mit einigen Gelegenheitsjobs durch, bevor er 1990 mit der Veröffentlichung seiner Gedichtbände beginnen konnte. Darunter befinden sich folgende Buchtitel: “Ajyuq’ – El animalero” (1990); “Guardián de la caída de agua” (1993); “Hojas del árbol pajarero” (1995); “Ajkem tzij – Tejedor de palabras”, zweisprachig, Quiché-Spanisch (1996); “Lluvia de luna en la cipresalada” (1996). Die Journalistenvereinigung Guatemalas APG erklärte seinen zweiten Gedichtband “Guardián de la caída de agua” zum Buch des Jahres 1993 und ehrte den Dichter mit dem Kulturpreis “Quetzal de Oro”.
Der fast neunzigjährige guatemaltekische Romancier und Sozialwissenschaftler Mario Monteforte Toledo eröffnete seinen Aufsatz mit dem Titel “Der Fall Ak’abal” in der Zeitschrift “Revista USAC/ letras” mit folgenden Worten: “Der Fall Ak’abal ist das größte Ereignis in der aktuellen Literatur Guatemalas. Der erste Maya-Dichter, der aus einem Volk kommt, das die Wörter verschluckt, weil ihm nach vier Jahrhunderten der Herrschaft von Schwert und Kreuz die Stimme geraubt wurde.”
Ak’abal schreibt in erster Linie für sich und sein Volk, daher auch die poetische Vermittelbarkeit, doch nicht allein in der Mayasprache, sondern auch in der spanischen Sprache, in die er seine Gedichte dann weiterübersetzt. Er fügt der Maya-Literatur, wozu das Schöpfungsbuch “Popol Vuh” und die archaische Maya-Poesie gehört, ein völlig neues Kapitel hinzu. Seine meditativen und lautmalerischen Gedichte sind in der zum Teil noch intakten Kulturtradition einer integralen Weltsicht der Maya-Nachfahren verankert, in der einst die Steine, Pflanzen und Bäume, Tiere und Menschen miteinander lebten, sprachen und träumten. Die zeitgenössische Poetik der Verse Ak’abals korrespondiert auf schlichte Weise mit dem zivilisatorischen Zeitsprung. Ak’abal zählt zu den Mitbegründern einer innovativen indigenen Poesie.

Poesie

Die Poesie ist Feuer,
das in einem brennt
und im anderen,

ansonsten wird es irgend etwas sein,
aber nicht Poesie.

Dieses poetische Phänomen kann man aber auch sonst in Lateinamerika beobachten, wenn man zum Beispiel nach Südchile schaut und die junge Poesie der Mapuche-Dichter, darunter Elicura Chihuailaf und Lorenzo Aillapán Cayuelo, kennenlernt.
Als Ak’abal im vergangenen Jahr beim VI. Internationalen Poesiefestival in Medellín im Theatersaal Camilo Torres der Universität von Antioquia vom stürmischen Applaus bei seiner Lesung – an einem Tisch mit Dichtern aus Bosnien-Herzegowina, Japan, Kolumbien und Brasilien – überrascht wurde, war er so stark bewegt, daß er kaum mehr weiterlesen konnte und schließlich seinen Gedichtband ins Publikum warf, um aufhören zu dürfen und sich wieder irgendwie zu sammeln. Aus dieser unerwarteten Erfahrung entstand sein folgendes Gedicht.

Verwirrung

Abdulah Sidran,
Marilia und Gozo Yoshimasu,
Henry Luque Muñoz,
Lindolf Bell
und ich.

Sprachverwirrung,
Vogelgestalten der Poesie,
Blumenregen

und 3.000 Rufe
im Saal “Camilo Torres”
der Universität
von Antioquia.

Harald Hartung, der in Berlin lebende Lyriker und Literaturprofessor, schrieb folgende Zeilen über Humberto Ak’abal: “Wir begegnen dem in der Mayasprache dichtenden Humberto Ak’abal. ‘Was ist das für ein Lärm?’ beginnt der ehemalige Schafhirte und Teppichweber ein Gedicht und hängt an die Antwort ‘Eine Uhr’ die listige Frage: ‘Wem ist so was bloß eingefallen?’ Ak’abals lakonisch-witzige Poesie besteht sehr wohl neben Antonio Cisneros, Haroldo de Campos und Alvaro Mutis.” (FAZ, 5.12.1996)

Ak’abal lebt heute in Momostenango und Guatemala-Stadt. Erste Gedichtproben von ihm wurden ins Französische, Englische, Italienische und auch ins Deutsche übersetzt und in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht, hierzulande in: “Literaturmagazin”, “Chelsea Hotel” sowie “Das Gedicht”.

Der Besuch der Chaostante

Monatliche Schecks, ab und zu ein Brief, der in vagen, aber blumigen Worten von florierenden Geschäften und einer profitablen Eheverbindung kündet. Die Lieben daheim freuen sich. Der grobschlächtige Vater, der zum zweiten Mal verheiratet ist, schafft seinen Anteil am Geldsegen auf die Seite, die verwitwete Schwester Perpétua nährt in ihrer bigotten Brust die Hoffnung, die verlorene Schwester werde ihre beiden Söhne zu reichen Erben machen. Doch siehe da: Eines Tages kündigt Tieta an, sie wolle in Begleitung ihrer Stieftochter leibhaftig in Agreste erscheinen. Was für ein Auftritt, dieser Besuch der neureichen mittelalten Dame: Ein roter Sportwagen wird mit Vollbremsung auf dem staubigen Dorfplatz plaziert, dann entsteigt sie mit blonder Perücke und orangenem Designerfummel. Tieta erscheint auf den ersten Blick wie die typische Projektionsfläche aus einer Telenovela. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, daß hinter der Maskerade Sonia Braga steckt. Nach zwölf Jahren USA, wo sie unter anderem in “Der Kuß der Spinnenfrau” und “Milagro – Der Krieg im Bohnenfeld” zu sehen war – ist die brasilianische Schauspielerin in ihre Heimat zurückgekehrt. Back to the roots, auch in künstlerischer Hinsicht: Nach “Dona Flor und ihre beiden Ehemänner” (1976) und “Gabriela” (1983) – den Filmen, die ihr international zum Durchbruch verhalfen – verkörpert die Braga in “Tieta” wieder die Hauptrolle in der Verfilmung eines Romans von Jorge Amado.
Die Literaturvorlage “Tieta do Agreste” ist eine mal ausufernd-burleske, dann wieder geschliffen ironische Mischung aus Satire über und Liebeserklärung an das kleinstädtische Leben in der Region Bahia. In der Verfilmung durch Carlos Diegues dominiert eindeutig die Lust am Dick-Aufgetragenen – sowohl in der Einfärbung der Dialoge als auch in der hyperbunten Optik, die wie eine Tuschkastenorgie ins Auge knallt. Ein Brasilien wie aus dem Bilderbuch, mit saftigem Lokalkolorit, aber auch klischeehaften Einsprengseln von Werbeästhetik: Weiße Strände, pittoreske Liebesnester am Meer… Auch die Tatsache, daß nebenbei heftige Kritik an kleinbürgerlicher Doppelmoral, umweltzerstörerischen Machenschaften von Großkonzernen und anderen gesellschaftlichen Mißständen geübt wird, trübt das Gesamtbild demonstrativer Vitalität nur unwesentlich. Fast scheint es, als habe sich die erste Riege brasilianischer Kulturprominenz – neben Braga, Amado und Diegues waren auch der Musiker Caetano Veloso und der Schriftsteller Joâo Ubaldo Ribeiro an dem Projekt beteiligt – bewußt zu einer konzertierten Aktion zusammengefunden, um nach Jahren ökonomischer Durststrecke, welche das Filmschaffen quasi zum Erliegen brachte, sein derzeitiges Wiederaufleben so plakativ, populär und profitabel wie möglich zu feiern.
Auch wenn psychologische Subtilitäten mit großzügiger Geste überpinselt werden und manche der Verwicklungen dramaturgisch durchsichtig bleiben, sind nicht nur der sinnliche, sondern auch der komödiantische Eros ziemlich ansteckend. Sonia Braga ist eine Vollblut-Tieta: großmäulig und herzlich, ordinär und mondän, verletzlich und gnadenlos direkt in den Äusserungen ihrer (Lebens-)Lust. Ihre Tieta verkörpert eine Kraft, die – allein schon aus egoistischen Gründen – Gutes will und Chaos schafft. Man muß sie einfach lieben!

“Tieta do Brasil”, Brasilien 1996; Regie: Carlos Diegues; Farbe, 115 Minuten.

Exporte statt Menschenrechte

Eigentlich hatte Hebe de Bonafini eine ganz andere Be­grüßung in der deutschen Regie­rungshauptstadt erwartet: Ge­plant war ein offizieller Empfang der Gruppe durch den Bundes­tags-Unterausschuß für Men­schenrechte. Dieser war jedoch kurzfristig ohne nähere Begrün­dung abgesagt worden. Dem war die Ablehnung der Visaanträge zweier peruanischer Delegierter der­selben Gruppe durch das Bun­desaußenministerium vor­aus­gegangen. María Fernández Rojas und Adilia Rojas, Mutter und Schwester der bei der Er­stürmung der besetzten japani­schen Botschaft in Lima getöte­ten MRTA-Guerillera Rolly Ro­jas, wollten auf ihrer Deutsch­landreise über die Haftbedingun­gen insbesondere der MRTA- KämpferInnen in peruanischen Gefängnissen berichten.
Für die inhaftierten MRTA- Mit­glieder, die häufig ohne Pro­zeß oder nach Schnellurteilen ano­nymer, maskierter Richter eingesperrt wurden, sind Tö­tun­gen, Isolationshaft, Folter und Be­suchssperren an der Tages­ord­nung. Die Angehörigen von Rol­ly Rojas, ebenso wie die Mut­ter und Schwester des MRTA-Kom­man­danten Nestor Cer­pa Car­to­li­ni, die als politi­sche Flüchtlinge im französi­schen Exil leben und des­halb nach Deutschland ein­reisen durften, betonen, weder MRTA-Mitglieder zu sein noch je­mals die Hand gegen den pe­ruani­schen Staat erhoben zu ha­ben. Sie stellen sich für Peru eine Or­ganisation der Angehörigen nach dem Vorbild der ar­gen­ti­ni­schen “Madres” vor, die ge­walt­frei für die Aufklärung aller Fäl­le von “Verschwundenen”, die Be­stra­fung der Täter und die Ver­bes­serung der Haft­be­din­gungen politischer Gefangener streitet.

Madres in Deutschland unerwünscht

Das Pressereferat des Bun­des­außenministeriums mochte die Ab­lehnung der Visa nicht be­grün­den. Eine “Infor­ma­tions­rei­se” der beiden Menschenrechts­ver­treterinnen würde die deutsch – peruanischen Beziehungen be­las­ten, teilte der Leiter der La­tein­amerika-Abtei­lung des Pres­se­referats, Lindner, gegenüber der LN mit. Dies habe aber nichts mit einem Ignorieren der Men­schenrechtslage in Peru zu tun. Lindner betonte, Men­schen­rechts­verletzungen durch staat­liche Organe in Peru seien im­mer ein Thema bei Gesprä­chen mit peruanischen Reprä­sen­tanten. Außenminister Kinkel füh­re in Menschenrechtsfragen ei­ne “Politik des beharrlichen Dia­logs” mit Präsident Fujimori.
Es ist bemerkenswert, daß Deutsch­land als bisher einziges Land in Europa der Delegation von Menschenrechtlerinnen offi­ziell das Gespräch verweigerte. Über die Gründe dafür läßt sich nur spekulieren: Offenbar reichte es der Bundesregierung schon, daß es sich bei den Delegierten um Angehörige von MRTA-Mit­glie­dern handelt. Die hat ja be­kannt­lich zu Beginn der Bot­schafts­besetzung auch deutsche Di­plo­maten als Geiseln festge­halten, und man befürchtete viel­leicht so etwas wie eine Pro­pa­gan­da- und Rechtfertigungs­kam­pagne für die Botschaftsbe­set­zung. Mit einer solchen Ar­gu­men­tation begäbe sich die Re­gie­rung aber auf gefährliches Glatt­eis, würde sie sich doch Fu­ji­mo­ris Begriff von “Sippenhaft” zu eigen machen und damit die re­a­le Repression, der die Ange­hö­ri­gen Rolly Rojas’ und anderer po­li­tischer Gefangener in Peru aus­ge­setzt sind, rechtfertigen und ver­stärken. Eine solche Ar­gu­mentation erinnerte auch fa­ta­lerweise an die Haftbedingun­gen von mutmaßlichen RAF-Mit­glie­dern und Sympathisanten und die Be­spitzelung und Re­pression ge­gen deren Angehö­rige in den sieb­ziger und achtzi­ger Jahren, ei­nem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Men­schen­rech­te in der Bundes­republik Deutsch­land.

Fujimoris harte Hand stimu­liert Investitionen

Die Liste der Menschen­rechts­verletzungen durch den pe­rua­nischen Staat ist lang. Die deutsche Regierung muß schon ge­wichtige Gründe haben, ange­sichts Fujimoris Staatsterroris­mus beide Augen zuzudrücken. Und die hat sie: Seit 1993 hat sich das Außenhandelsvolumen mit Peru beinah verdoppelt. Die Bun­desrepublik ist inzwischen zum wichtigsten Handelspartner Pe­rus in Europa avanciert und steht in der Liste der Außenhan­dels­partner Perus an fünfter Stel­le nach den USA, Japan, Ar­gen­ti­nien und Brasilien. Noch hält die unsichere Lage in Peru deut­sche Unternehmen von Di­rekt­in­ve­stitionen ab. Die deut­sche Wirt­schaft braucht daher eine er­folgreiche “Antiterrorpolitik” ei­nes Präsi­denten mit “harter Hand”. Und dessen langer Arm reicht bis nach Deutschland: Zwar kann die Bundesregierung Fujimoris Bitte nach einer Aus­lie­ferung des in Hamburg le­ben­den MRTA-Sprechers Isaac Ve­las­co nicht er­füllen, da jener hier als politi­scher Flüchtling an­er­kannt ist, doch forderte Bun­des­in­nenmini­ster Manfred Kanther die Ham­bur­ger Behörden auf, Ve­lasco jeg­liche öffentliche po­li­tische Mei­nungs­äußerung zu ver­bie­ten. Der Ham­burger In­nen­se­nator wies dies allerdings auf­grund verfas­sungs­rechtlicher Be­den­ken zu­rück.

Juvem e progresso – Jugend und Fortschritt

Als sich vor einigen Jahren die Karneval-Szene von Rio nach Bahia verla­gerte und Grup­pen wie Olodum und Timbalada zu angemessenem Weltruhm kom­men ließ, wurde nach und nach auch in Deutschland be­kannt, daß die Axé Music des bra­silia­nischen Nordostens mit ih­ren Trommleraufmärschen das al­te Samba – Bossa Nova – Kli­schee abgelöst haben mußte.
In­zwi­schen ist diese Bahia-Szene fast an ihrer eigenen Fließ­band­produktion er­stickt und konnte sich ge­rade mal so durch Öff­nung zu Hip Hop-, Funk- und Rock­elementen soweit hin­über­retten, daß man noch eine Weile an sie glauben darf. Den Pio­nieren wie Carlinhos Brown ist es zu verdanken, daß diese Mu­sik den Bezug zur Tradition von tropi­calismo genauso be­wahren kann wie zum worldwide dance­pool. Wer da den gelunge­neren Teil abhören will, nehme sich “al­fagamabetizado” von Mr. Brown oder Marisa Montes Al­ben und staune im Booklet, wer hier mit wem zusammenar­beitet: Man kennt sich offenbar unter­ein­ander ganz gut.
Erwähnen muß man hierbei aber unbedingt einen, der vor nicht allzu langer Zeit aus der kom­merziellen Ver­wertungs­schie­ne des touris­mus­at­traktiven Bahia-Sounds aus­scherte, weil er eben nicht aus Salvador, sondern aus Recife kam und einen Schritt weiter­ging: Chico Science. Ge­sang­lich ein Rapper, rhyth­misch ein Re­gionalist und musi­kalisch ein – man glaubt es kaum – Psy­che­deliker. Man war fast ver­führt, in ihm eine Art Neo-Tro­pi­ca­list zu se­hen. Sein Mangue-Beat-Sound hatte genau das an­tropo­pha­gistische Element des tro­pica­lismo der 60er, wel­ches für eine Kulturrevolution gesorgt hatte und Brasilien mit dem www. der Popmusik ver­band.

Aus dem Schlamm ins Chaos

Sein Schlag­wort hieß: Aus dem Schlamm ins Chaos. Für ihn ist Chaos Situation und Chance zu­gleich. Brasiliens Pop­stile, im­mer in Bewegung und einem stän­digen Crossover aus­gesetzt, bie­ten einem Außenste­henden manch­mal einen etwas chaoti­schen Eindruck. Aber alles ist in stän­diger Bewegung, ge­nauso wie in der weltweiten Kommu­nikation. Chico träumte davon, daß Brasilien an dieser chaoti­schen Kommunikation nicht nur teil­nimmt, son­dern sie auch spürbar be­einflußt. Seine Band Naçâo Zumbi sollte ein Pool von Ideen und Rhythmen dieser Welt sein, ein ähnliches Konglomerat wie das Internet. Ob Samba, Trip Hop oder Grunge: Brasilien ist ab jetzt da­bei! Chicos Symbol war daher die Parabolantenne: Sie em­pfängt alles, hat gleich­zeitig große Sende­reich­weite und ist in der Form den Krebsen im Schlamm seiner Hei­matstadt ähn­lich, von denen die arme Be­völ­kerung lebt. Ein wahr­haft geist­reiches Sinnbild: vom Schlamm ins Chaos, von der Da­seins-Scheiße zum Mit­mi­schen in der großen Un­über­sicht­lich­keit des Erdballs. Chico symboli­sierte auch ein neues Selbst­bewußtsein der Jugend. Vor ei­ni­gen Jahren er­wischte es ihn, den Visionär, bei einem Ver­kehrs­un­fall. Er hinter­ließ nur zwei CDs.
Seltsamerweise konnte man aber zur gleichen Zeit jede Men­ge interessanter neuer und alter Na­men entdecken, die ein neues Flair in den Betrieb brach­ten. Da ver­band Daúde plötzlich die Mu­sik der fahrenden Sänger des Ser­tâo, den repentistas mit ihren frei improvisierten Spontanreim-Sän­ger­wettstreiten, mit ameri­ka­ni­schem Rap. Nichts war nahe­lie­gender, aber Daúde langte zu­erst zu. Auch Brasiliens ehema­liger weiblicher Rockstar No. 1, Fer­nanda Abreu, früher bei The Blitz, zeigte, daß Funk à la Prince sich mit brasilianischer Rhyth­mik verbinden läßt.

Vom Musikjournalisten zum Sänger

Und schließlich sollte man noch Chico César erwäh­nen, ein ehe­maliger Musikjournalist, der be­ein­flußt von der Musik des Mali­nesen Salif Keita be­gann, als exo­tischer Tausendsassa die alte bra­silianische Idee der World­music, sprich tropica­lis­mo, in die 90er zu trans­por­tie­ren. (Siehe auch das Inter­view in die­ser Ausgabe) All diese Leute sind kurz davor, dem Weltmarkt zu zeigen: “Wir ha­ben es drauf, demnächst für Euch die Töne anzuge­ben!” Nicht, weil sie bes­ser oder schlech­ter wären, aber weil sie das kreative Potential haben, wel­ches schon einmal in den 60er vergleichbare Denker von England, USA und Deutsch­land aus die Welt infi­zieren ließ. Check it out! Die Damen und Her­ren sind dieses Jahr bei uns auf Tournee.
Trotzdem soll dies alles nicht heißen, daß Brasiliens Popmusik sich nun main­stream-orientiert voll­ständig an die internationalen Kon­zerne verkauft habe. Es geht auch anders. Während die ei­gent­lich kommerzielle Welle in Bahia tobte, ent­wickelte sich bei genauer Beobachtung fast eine lei­se Gegenbewegung, eine Art Bra­sil unplugged. Neue Talente wie Lenine & Suzano, der sensi­ble Celso Fonseca, das a capella-Trio Esperanca aus Paris, das tun­tenhafte, aber dennoch abso­lut geniale Stimmwunder Edson Cor­deiro, der irgendwo zwischen Ni­na Hagen und Yma Sumac an­zu­siedeln ist, oder die Avant­gar­de­band Uakti, die mit selbst­ge­bau­ten Instrumenten Ravel-Kom­positionen urwald-kom­pa­ti­bel machen, ver­mitteln, daß Bras­ilien noch eine andere Seite ab­seits vom Dance­floor hat. Auch er­wäh­nens­wert ist Arnaldo An­tunes, ei­ner der großen Rock­sänger, der jetzt höchst an­spruchs­volle Texte in kon­kre­ter Poesie à la Ernst Jandl schreibt und äußerst ge­wagte Stücke mit Atem­ge­räusch-Kanons, aber im­mer noch auf Rockbasis, auf­nimmt. So etwas wäre bei uns entwe­der Artrock für Spezia­li­sten oder un­vor­stell­bar. Und von den Altstars sollte man da­bei Ca­e­tano Veloso nicht ver­ges­sen, der erstmal eine Weile seine Fans mit New Yor­ker Avant­gar­de-Mu­si­ker-Begleitung narrte und jetzt schon zwei CDs lang alte spanische (!) Her­zens­bre­cher mit groß­or­che­stra­ler Begleitung aus dem Re­pli­kator holt, daß es nur so eine Wonne ist. Caetano hat nunmal Narrenfreiheit, wenn er er­zählt, daß er bei all diesen Lie­dern immer nur weinen muß, aber dafür gibt es niemanden, der sowas bes­ser kann, und für mich hat er damit sowieso sein Mei­ster­werk abgeliefert (Fina Estam­pa).

Treffer bei der Cocktail-Generation

In Deutschland traut man sich allerdings brasi­lianische Musik nur mit Zeitgeist-Touch zu ver­kau­fen, seit die Durchblicker un­ter den Major-Companies mitbe­kom­men haben, daß in England die Raver “Hey!” geru­fen haben, als einige Acid Jazz-DJs ihre ver­kratzten Bossa Nova-Schätze mit Dance-Beats vermischt auf­gelegt hatten und für die neue Cocktail-Generation einen Tref­fer gelandet haben. Die Folgen spürt man noch heute in den in­flationären Bossa Nova-Zitaten vie­ler Trip Hop-Produkte von der Insel, oder noch viel schlim­mer: bei den Club-Designern aus Ja­pan. Man höre sich das Soul Bos­sa Trio aus Japan an und kau­fe sich danach alle Platten von Sergio Mendes und Ramsey Le­wis. Zum Glück führt das we­nig­stens zur interes­santesten Wiederveröffentlichungsmanie seit Jahren.
Wer jetzt allerdings meint zu wissen, was man in Brasilien so hört, wenn man Zeit für eine Tasse echt brasilianischen Kaf­fees hat, der wurde arglistig ge­täuscht. Denn so ganz unter uns sei verraten, daß die beein­druckendsten Plattenverkäufe ei­gentlich eine Person wie Xuxa machte, ein Fotomodell, die eine Kindershow leitete Barbie-Welt zu den 40 lu­krativsten Unter­hal­tungs-Acts dieses Erdballs zählt. Und wem das nicht genug ist, der kaufe sich Platten von Lean­dro e Leonardo, damit er weiß, wie Marianne und Michael auf bra­silianisch klin­gen. Deren mú­si­ca sertaneja ist – wie bei uns die Schmonzetten-Volksmusik – ei­ner der krisensi­cheren Stile. Und apropo Michael: der Jack­son genannte zieht auch in Rio be­stimmt mehr Zuschauer als Cae­tano Veloso mit seinem Denk­mal-Bonus. Wenn krisen­si­cher, dann ziehe ich Djavan vor, in ihm steckt vielleicht alles, was in die­sem Artikel zur Sprache kam: Brasiliens unschlag­barer Melo­diereichtum, der versierte Touch zum an­gloamerikanischen Pop, kunstvolle Improvisationen und eine Intensität, die nur Jahr­hun­derttalente aufbrin­gen.

Neue Wege der Musica Popular Brasileira

Wie sind deine Erfah­rungen heute im Unterschied zu deiner ersten Tounee in Deutschland?

Das erste Mal war ich 1991 in Deuschland auf Tournee. Da­mals war ich nicht so bekannt und arbeitete noch als Journalist. Ich wurde vom Instituto Cultural Brasil-Alemanha eingeladen, zwei Konzerte auf dem Tübinger Straßenfest zu spielen, habe da­nach aber noch weitere Auftritte gehabt. Diese Reise war sehr wichtig, weil ich mich danach entschieden habe, mit dem Jour­nalismus aufzuhören und mich nur mit Musik zu beschäftigen.
Die Reaktionen des Publi­kums hier waren so gut, daß ich dachte, es könnte in Brasilien eben­so gut laufen. Ich habe aber das Bedürfnis, geographisch mit dem Volk meines Landes in Ver­bindung zu sein. Jetzt bin ich wie­der hier, allerdings unter viel besseren Bedingungen als da­mals, und mein drittes Al­bum, “Beleza, Mano” er­scheint gerade in Brasilien, Deutsch­land, Frank­reich und Japan.

Wie ist es für dich, hier mit deiner Band Cuscuz Clâ als Vorgruppe von Gil­ber­to Gil zu spielen?

Gil ist ein Ast des sehr frucht­baren Baumes der Música Po­pular Brasileira (MPB). Von diesem Ast bin ich ein Zweig, das heißt, ich gehöre zu einer neuen Gene­ra­tion von Künstlern, die Gils Weg sowie dem von Ca­etano Ve­loso und Djavan fol­gen.

Es gibt in Bra­silien viele Kri­tikerInnen, die dich mit Cae­tano vergleichen. Stimmt dieser Vergleich noch?

Immer weniger. Er selbst hat mir gesagt, daß ich mir nicht so viele Gedanken darüber machen sollte, auch Djavan wur­de am Amfang wurde mit Gil, Mil­ton Nascimento und Chico Buarque verglichen. Wenn man sich heute sein erstes Al­bum hört, wird deutlich, daß er nur mit sich selbst verglichen werden kann. Das­selbe würde mit meiner Musik geschehen, meinte Caetano.

Glaubst du, daß die neuen Wege in der MPB viel­leicht ihre Ursprünge in der po­litischen Öffnung Brasiliens haben könn­ten?

Ja. Und ich denke, es hat auch etwas mit Selbstbe­wußtsein zu tun. Es fing mit dem Amts­enthebungsverfahren von ex-Präsident Fernando Collor an, als die Leute gemerkt haben, daß sie ihr eigenes Schicksal in die Hände nehmen und wichtige Ent­scheidungen treffen könnten. Sie entdeckten, daß Brasilien viel Gutes zu bieten hat. Das gleiche gilt auch für Musik und Kunst. Außerdem nach sind die Gründe für diese neuen Wege auch in der “Entleerung” des brasilianischen Rocks der 80er Jahre zu finden.
Von dieser Generation ma­chen noch die Titas und die Pa­ralamas do Sucesso weiter, aber schon vorher haben sie mit der MPB viel geflirtet. Lobâo macht heu­te MPB, Fernanda Ab­reu mischt Funk mit Sambabeats. Ich den­ke, daß die 90er Jahre das Ende der Ghettos signalisieren. Es gibt keine Rap-, Rock- oder pure MPB-Ghettos mehr. Alles wurde ge­mischt. Die Musik, die ich heute mache, oder die von Daude oder Lenine ist genau diese Stil­mi­schung. Außerdem haben schon erfolgreiche Sängerinnen wie Maria Bethania, Daniela Mer­cury und Zizi Possi neue Komponisten in ihr Repertoire auf­genommen.

Wenn man an die Man­guebit-Szene aus Recife denkt, die versucht die neuen Trends der weltweiten Popmusik mit tra­ditionellen und regionalen Rhyth­men zusammenzubringen, meinst du, daß das eine Art neu­er Tropicalismus sein könnte?

Dieses Phänomen ist ei­gentlich nicht so neu. Zum Bei­spiel versuchte Pixinguinha, Chor­inho mit Foxtrot zu mi­schen. Es ist witzig, daß trotz diesen Mischungen die Musik immer echt brasilianisch klang und klingt. Schließlich wurden nicht nur in Recife, sondern in ganz Brasilien die traditionellen Rhythmen wiederentdeckt. Der Man­guebit hat aber nicht die­selbe Kraft wie der Tropicalis­mus, der ihm den Weg bereitet hat.

Trinker, Rinder und falsche Blondinen

Wochenende in Be­lém, der Millionen­stadt an der Amazo­nasmündung. Nach erledigtem Einkauf könnte ein feijoada lok­ken besonders aber ei­ne cerveja estupidamente gelada, ein aber­witzig kal­tes Bier, vorzugs­wei­se von der re­gionalen Marke CERPA (Cerveja do Pará). Also ab in die Knei­pe, die sich in Be­lém, wo die Strände fehlen und der Fluß zu­gebaut ist, vorzugs­weise und bequem am Straßen­rand findet. Alko­hol­kon­trol­len sind glücklicherweise nur aus dem Fern­sehen be­kannt, dem be­lieb­testen Tages­vergnügen in ei­ner brasilianischen Provinzme­tropole am Woch­enende. – Fres­sen und Saufen – steht somit nichts im Wege.
Aber da nerven schon wieder die Be­su­cherInnen aus Deutsch­land. Sie möch­ten in eine ru­hi­ge Kneipe, wo man sich vielleicht unter­hal­ten könnte. Selt­sam, daß sogar Men­schen, die schon im­mer alles wissen, sich in Ruhe unter­halten möch­ten. Nun gut, man ist ja besu­cher­freund­lich und gibt sein Bestes. Aber eine ru­hi­ge Kneipe? Versu­chen wir’s also mit dem Klassiker, der Bar do Careca. Nur der übliche Straßen­lärm und der Geruch der Abwässer könnten dort norma­lerweise das Wohl­befinden der gringos stören, die aber schon aufgrund ih­res weitverbreite­ten Gei­zes solche Belä­sti­gun­gen in Kauf neh­men, da der Amazo­nas­fisch hier gut und preiswert ist. Das cer­veja estupida­mente ge­la­da (leider nur Antar­tica) ist schnell ser­viert und der Fisch be­stellt. Aber da bahnt sich schon die Kata­stro­phe an, die so vor­her­seh­bar ist wie der näch­ste Regenschau­er. Ein Auto baut sich vor der Kneipe auf, die Heck­klappe wird ge­öf­fnet und bleibt of­fen. Die Besche­rung ist of­fen­sichtlich: Das gan­ze Auto ist mit Laut­sprechern vollge­baut, und die Be­schallung läßt nicht lange auf sich warten. Es bedarf kei­ner Stiftung Waren­test, um gleich zu erken­nen, daß der Käu­fer zwar mit Po­wer­wattzahlen, aber nicht mit Qualität be­dient wurde. Aber wahr­scheinlich ist’s schon recht so. Haupt­sache es dröhnt gut.
Den gringos steigt die Entset­zensbleiche ins Ge­sicht, mit der Ruhe ist’s nun vorbei und wieder bestätigt sich der alte Spruch: Von Brasi­lien lernen heißt, die Stille besie­gen lernen. Und das Schick­sal ist gnaden­los, die wum­mernden Laut­sprecher ge­ben nicht das von sich, was interna­tional als bra­silianische Musik (MPB) so ge­schätzt wird, son­dern das, was vielen in Belém am Besten gefällt. Und späte­stens wenn Ro­ber­to Villar sou pa­pudinho singt, wissen wir, daß die Auto­be­sitzer gute pa­raenses sind.

Von Schluckspechten und Sirenen

Wenn des Portugie­si­schen kun­dige Le­ser­Innen nun nicht wis­sen, was ein pa­pudinho ist, geht es ihnen nicht besser als den Menschen aus Sâo Paulo oder Rio. Das Wort ist nur im Nor­den und Nordosten ge­bräuchlich und be­zeich­net einen har­ten Trin­ker. “Ich bin ein Schluckspecht und nie­man­den Rechen­schaft schul­dig” mag zwar jeder Anti-Al­ko­ho­lismus-Kampagne Schau­er be­reiten, wur­de aber Profes­sio­nal Pa­pudinho eindeu­tig die Hymne der Sai­son – im Norden und Nord­osten Brasiliens wohl­ge­merkt – und der Durchbruch für Ro­ber­to Villar. Auch der ist wohl hierzu­lande kaum be­kannt, in Be­lém (und nicht nur dort) ist er ab­solut un­ver­meidlich und ver­kauft heute wohl ent­schieden mehr als alle Gil­berto Gils oder Cae­tano Velosos. Hier je­denfalls heißt der Star der Saison Ro­berto Vil­lar und die an­gesagte Musik ist bre­ga. Über die Her­kunft des Wortes strei­ten sich be­reits die SprachforscherIn­nen, aber im all­ge­mei­nen bedeutet es etwas wie “schlechter Ge­schmack”. Klei­der, Woh­nungs­einrichtun­gen oder Menschen kön­nen brega sein, in Ber­lin würde einem da eine Neuköllner Eck­kneipe ein­fallen. Und dort würde die Mu­sik von Roberto Vil­lar trotz aus­län­di­scher Texte kaum un­an­ge­nehm auffallen. Brega ist eine tenden­ziell sentimentale Schwof­musik, etwas für verliebte Gold­sucher (der Titel eines großen brega-hits), Last­wagenfahrer und Vor­stradtromantik. Als Tanz ist brega aber nun kein einfa­cher Schieber son­dern eine komplexe Paaran­ge­legenheit. Zu den an­geblichen Vorzügen von brega gehört eben, daß er getanzt und gehört werden kann. Brega ist nichts Neues. Altmeister Re­ginal­do Rossi versetzt seit zwan­zig Jahren Frauen jeden Alters in Verzückung, aber aus Grün­den die noch kei­ne Musikso­ziologe er­forscht hat, feierte brega 1996 mit dem Er­folg von Roberto Villar eine ungeahntes Come­back.

Tanzt das Rind!

Dankenswerterweise hat auch jede brega-CD ein Ende, und wenn das Schicksal ein­mal gün­stiger ge­son­nen ist, könnte nun nach Roberto Villar der andere Hit der Sai­son kommen: boi. Wörtlich nichts an­deres als Rind, han­delt es sich hier aber um einen Tanz, der in verschieden­sten Versio­nen in unter­schied­lichen Regionen Brasiliens ge­pflegt wird. 1996 wurde nun zum Jahr des amazo­nen­sischen boi. Der Durchbruch war jah­re­lang vor­be­reitet durch den systemati­schen Aufbau des boi-Fe­stivals in Parantins am Amazonasfluß. Ge­spon­sert durch Coca Cola wur­de das regio­nale Fest zu ei­nem nationalen me­ga­evento. In­teressantes De­tail: Parantins ist der ein­zige Ort der Welt, in dem es auch Coca mit blauen Eti­kett auf der Fla­sche gibt. Denn den beiden rivalisie­renden boi-Grup­pen sind Farben zugeord­net: es tritt rot gegen blau an und Co­ca mußte sein Neutra­lität bewei­sen. Aber der wirk­liche Durch­bruch kam erst als carapicho, eine Tanz­ka­pelle aus Manaus, die gar keine echte boi Truppe ist, von ei­nem französi­schen Filmre­gis­seur “entdeckt” und nach Frank­reich ge­hievt wurde. Als ihr Hit TIC TIC TAC in die franzö­sischen Hitpa­ra­den geriet, gab es auch in Brasilien kein Halten mehr. Zum großen Stolz der leid­ge­plagten Amazonas­be­woh­ner­In­nen brach­te die Saison 1996/7 zwei nationale boi-Hits in die Charts und eine ungewöhnli­che Aner­ken­nung für eine re­gio­nale Mu­sik.
Boi vermischt ver­schiedene Musikstile und gilt als ca­boclo-Musik, also als Musik der mit Weißen und Schwar­zen ver­misch­ten Nachkommen ent­wur­zel­ter Urein­wohner. Der neue boi ist deutlich schneller ge­wor­den, hat Pop Ele­mente inte­griert und beu­tet gleich­zeitig In­dio­ro­man­tik in sze­ni­schen Dar­stel­lungen aus, die sich beson­ders gut dazu eignen, leichtest­be­klei­de­te Frauen (“Krieger­in­nen”) auf der Bühne tanzen zu lassen.
Der zweite große boi-Hit der Saison heißt vermelho (rot) und ist eine Hymne auf die Roten von Pa­rantins, gesungen von der Gruppe Capri­cho­so. Aber auch Lieder ha­ben ihre Ge­schich­te. Im Wahljahr 1996 wur­de das völlig un­po­litisch gemeinte ver­melho zum Hit der in Belém sieg­reichen lin­ken Ar­beiterpartei (PT). Der Kandidat der Rechten versuchte er­folg­los das Abspie­len des Liedes während der Wahl­kampfzeit ver­bie­ten zu las­sen. Aber eine Adaption nicht ohne Ironie: In einer Zeile des Liedes heißt es “auch der alte Kommunist er­gibt sich (den Roten von Parantins)”. So wurde ein Lied, das eigent­lich eher den Triumph der Ver­gnügungskultur über die alten Ideo­logien besingt, zur Hym­ne der doch noch nicht ganz toten Linken.
Gut, der boi mag verpopt sein, aber wo geht’s schon rein in der Welt zu, es ist immer noch mit­reißende Tanz­musik, die auf Dauer allenfalls unter einer ge­wissen Mo­notonie leidet. Und spätestens als Altstar und Bu­sen­wun­der Fa­fá de Belém zu­sam­men mit Caprichoso­sänger Ar­lindo Junior ver­melho auf­nahm, war boi in die Kate­gorie der ge­hobenen Pop­musik mit na­tio­naler Verbreitung auf­gestiegen.

Flaschen, Hintern und falsche Blondinen

Nun reicht’s aber mit der Re­gio­nal­mu­sik. Irgendwann kommt ga­rantiert die dritte Komponente ei­nes po­pulären Mi­xes. “É a danca da bun­dinha” – “Das ist der Hinterntanz”, dröhnte es nun aus den Laut­sprechern, was al­ler­dings ohne die ent­sprechende Auf­füh­rung äußerst reizlos bleibt. Es hat die Stunde von É o Tchan geschla­gen, der wohl meist­ge­spiel­testen Gruppe der Sai­son. Die Musik wird als Bahia-pagode be­zeichnet und stellt wohl eine ex­treme Ver­falls­form des Sam­bas da. 1995 be­gann der Aufstieg ei­niger pa­gode-Gruppen aus Bahia. Pa­gode ist ein mit einer kleineren (als die Sambaschu­len) Besetzung ge­spiel­ter melodiöser Sam­ba. Die Bahia-Gruppen schaff­ten ih­ren Auf­stieg, indem sie diese tendenziell im­mer schon seichte Musik zu Kar­ne­vals­schlagern zum Mit­grölen mu­tierten. Aber nicht al­lein das erklärt den Aufstieg von É o Tchan, Gerasamba oder Com­pa­nia do Pa­gode. Zum Mix ge­hö­ren be­wußt anzügli­che Texte und die Choreo­grafie der Tänzer­in­nen. Carla Perez, Tän­zerin von É o Tchan, ist die unum­strittene Pop­müll-Mu­se des Jahres 1996 ge­worden, und auch 1997 ist noch kein Ende ih­rer Popula­rität ab­zu­sehen. Meistens wird sie nur noch als a loira, die Blonde, be­zeichnet. Mit ihr tanz­te fast die ge­samte bra­silianische Jugend den Fla­schentanz: “Reib’ Dich auf dem Fla­schenhals”, und jetzt ist halt der Hintern dran.
Kul­turkritische Gei­ster sind ent­setzt, wohl weniger weil Car­las Haare nur ge­färbt sind, son­dern weil aus­gerechnet Bahia, das angebliche Zen­trum des Schwar­zen Bra­siliens eine fal­sche Blondine zum Pop-Idol ge­macht hat. Hinter Car­la jau­len die Sän­ger die dumm anzüg­li­chen Texte mit einem un­ver­meid­lichen Grin­sen, das Fröh­lich­keit ver­breiten soll. Nun das ist bei un­seren Autotätern glück­li­cher­weise nicht zu sehen. Doch Vor­sicht: Nach zehn Mi­nuten Zwangs­hören von Ba­hia-pagode kann je­der Glaube an die bra­si­li­a­nische Musik ei­nen schweren Knax er­leiden. Aber was soll’s, hier sollen ja nicht kulturkriti­sche Gei­ster be­dient, son­dern den gewöhn­li­chen Ver­gnü­gun­gen ei­nes Wochenendes ge­frönt wer­den. Wäh­rend aus unserem ru­higen Mittag­essen nun nichts geworden ist, hat sich aber um den Zwangsbeschaller in­zwi­schen eine tanz­freudige Menge ge­bil­det, der es so gefällt. Die In­ve­stition in Watt­zahlen hat sich so­mit als guter Köder be­währt.
Nun ist allerdings der Bahia-Stoff nicht nur miesepet­rigen Deut­schen ein Greuel, die Klas­siker des bra­silianischen Sambas und das Feuilleton ha­ben mit vereintem Ent­setzen reagiert. Und so bewahrheitet sich die Um­kehrung ei­ner alten Weisheit: Wo viel Schatten ist kommt bald auch Licht. Sambaalt­mei­ster wie Zeca Pago­dinho und Martinho da Vila fühlten sich provo­ziert und haben neue Platten auf­gelegt und ver­kau­fen nun im Windfall des pagode-Schrotts ihre doch deut­lich bessere Mu­sik wie noch nie. Die ei­gentliche Sensation der letz­ten Monate war aber die neue Pro­duktion von Paulo da Viola: Be­badosam­ba ist die richtige Me­di­zin nach musika­lischen Zwangs­be­rie­se­lungen. Funktio­niert also doch das theologi­sche Motto “Durch Übel zum Gu­ten”? Wie dem auch sei, un­sere kurze Rund­schau läßt sich da­mit we­nigstens mit einem eindeutigen Plattentip beenden, der aller­dings nicht unbedingt das ist, was in einer Provinz­me­tro­po­le an Wochenenden so läuft.

PC Farias: Tangotänzer und Mafioso

Mit der finanziel­len Unter­stützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias­, im Volks­mund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsident­schaftswahlen. Aber auch nach der Wahl ver­sorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korrup­tion und Machtmiß­brauch seines Am­tes enthoben wurde, mit reich­lich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Be­weisen” 1994 in ei­nem offen­sicht­lich politisch motivier­ten Kor­ruptionspro­zeß frei­ge­spro­chen, lebt Collor heute in Miami. PC be­kam sieben Jah­re, die er größtenteils höchst kom­fortabel im of­fe­nen Straf­vollzug von Ma­ceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.

PCs Comeback

Als ihn 1996 in seiner Wo­chenendvilla im Nord­oststaat Ala­goas der tödli­che Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein poli­tisches Co­meback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zu­ständige Po­lizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahl­köpfig-char­man­te Tangotän­zer sei wegen Be­ziehungspro­ble­men von seiner Freundin Suzana Mar­colino er­schossen wor­den, die anschlie­ßend an seiner Seite Selbst­mord be­gangen habe. – Spott und Iro­nie war der Tenor von Brasiliens Leitar­tikeln. Als Tat­motiv wurde allgemein Quei­ma de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenom­men, da PC exzellenter Kenner der brasi­lianischen Kor­ruptionsme­chanismen war und streng­gehütete Geheim­nisse der jünge­ren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemei­nen Ver­blüf­fung be­stätigte zwei Mo­nate später der bis dahin landes­weit hoch­ange­sehene Gerichts­me­di­zi­ner Badan Palhares nach vor Ort an­gestell­ten Untersu­chungen die Ver­sion des Polizei­chefs. Für die Re­gie­rung schien der Fall damit er­le­digt.
Von Anfang an hatte der ala­goanische Gerichtsmedi­ziner und Militärpolizei­oberst George San­guinette mit einem hohen Maß an Zivil­courage öffentlich auf Un­gereimtheiten bei dem Mord hin­ge­wiesen. Seine ermit­telnden Kol­legen würden von “oben” ge­wal­tig unter Druck ge­setzt, bei dem Verbrechen han­dele es sich um einen Doppel­mord. Sangui­nette erhielt da­raufhin Mord­droh­ungen und wurde we­gen seiner Aufmüpfig­eit zeit­weise unter Haus­arrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht ein­schüch­tern, wies über­zeugend grobe Er­mitt­lungs­fehler nach, und ver­öf­fent­lichte darüber sogar ein Buch. Die Untersu­chungen wur­den schließlich wiederaufge­nom­men. Die jüng­ste defini­tive Ex­per­tise vom Mai macht die bis­he­rige offizielle Version zu Ma­ku­la­tur. Suzana Marco­lino konn­te nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschrie­be­nen Weise umge­bracht haben — ge­mäß der zu­ständigen Staats­an­wäl­tin weisen die Indi­zien nun­mehr auf Dop­pelmord hin. Als PC und dessen Freundin be­reits tot waren, wur­den nach­weis­lich Te­lefongesprä­che mit der Wo­chen­endvilla ge­führt. Die Lei­chen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.

Zivilcourage eines Gerichtsmediziners

Laut Sanguinetti steht die Ma­fia von Alagoas hinter der Tat. Mitt­lerweile wurden auch Ver­bin­dungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waf­fenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC stu­dierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die ita­lienische Po­li­zei vier Konten des Er­mordeten aus­machen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar de­poniert: Ein Bruch­teil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschät­zung nach säßen bei strenge­ren Ge­setzen gegen Korruption im Wahl­prozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bau­un­ternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Git­tern. Und er muß es wohl am be­sten wis­sen.

KASTEN

Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?

Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich viel­verlegte brasi­lianische Roman­cier, stau­nte nicht schlecht, als er bei der Pre­miere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaik­fußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Ha­kenkreuz nach dem an­deren kunstvoll aufge­reiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von ei­nem Schauspieler er­worben und in ein Theater umgewan­delt worden war, hatte nie­mand An­stoß an der auch vom angrenzenden öffentli­chen Platz deutlich erkennba­ren Haken­kreuz­or­na­men­tik genommen.
Obwohl in den brasiliani­schen Zeitungen häufig über Hakenkreuz­schmierereien in Deutschland und anderen eu­ropäischen Län­dern sowie über die entsprechen­den Proteste jü­discher Organisa­tionen be­richtet wird, verkau­fen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nach­produzierte Me­tall-Erinne­rungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ost­mark, Pfingsten 1933 in Regens­burg”, darauf das Ha­kenkreuz unter’m Reichsad­ler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vor­namen Hitler – die Eltern wa­ren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Canta­lice läßt einen Parlaments­abgeordneten we­gen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt re­voltieren, behält Polizei­chef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhand­lungen über Geiselfreilassun­gen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfah­ren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vor­nahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jü­dischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbü­chern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechen­der Proteste. Ver­gangenes Jahr hat erstmals auch die jü­dische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf ver­urteilt, daß sogar im wichtig­sten brasilianischen Nach­schlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wu­cherer” definiert bzw. charakteri­siert wird.

Gegen die Kultur des Schweigens

75 Jahre alt ist er geworden. Allein sechzehn davon mußte er im Exil leben, weil die brasilia­nischen Mi­litärdiktatoren ihn nach dem Staats­streich 1964 we­gen seiner so erfolg­reichen Al­phabetisierungsarbeit unter der armen Bevölkerung als “Sub­ver­si­ven” ins Gefängnis warfen. Er hat­te eine Methode der Con­scien­tizaçâo, der politi­schen Al­pha­betisierung, entwic­kelt, die das Erlernen des Lesens und Schrei­bens mit einer kollek­tiven Kul­turarbeit ver­band. Im Exil in Chi­le schrieb Paulo Freire sein be­kann­testes, bis heute in 16 Sprachen über­setz­tes Buch “Die Päd­agogik der Unter­drückten”. Es wurde in­zwi­schen in aller Welt mehr als 500.000 Mal ver­kauft. In der Ar­beit mit den Bau­ern in Chile war Frei­re erneut bestätigt worden, was schon seine zentrale Er­kennt­nis in Bra­silien gewesen war, daß nämlich die alltäg­liche Er­fahrung von Gewalt die Unter­drückten zum Schweigen bringt. Sie werden gehorsam und “ver­ler­nen”, die Wirklichkeit als ein Macht­ver­hältnis zu erkennen. Anstatt die Täter bzw. die Ur­sa­chen der Un­gerechtigkeit anzu­kla­gen, fühlen sie sich ohn­mäch­tig, internalisie­ren die Werte der Un­ter­drücker und ver­drängen die ei­gene Lei­denserfahrung.
Befreiung, soziale Gerechtig­keit, Frieden, – dieses waren die großen Themen, denen sich Freire in den Jahren beim öku­menischen Weltrat der Kirchen annahm, wo er von 1971 bis 1980 arbeitete. Von hier aus konn­te er die jungen, gerade an die Macht gelangten Befreiungs­bewegungen in Afrika bei ihren Al­phabetisierungskampagnen un­ter­stüt­zen. In Nicaragua, aber auch in verschie­denen Län­dern A­siens, war er Be­rater von Bil­dungs­ministerien und sozia­len Be­wegungen. Insbesondere die Er­fahrungen in Afrika beein­druckten Freire tief, weil hier die traumati­sierenden, entfremden­den Aus­wirkungen kolonialer Sy­steme im sozio-kulturellen Kon­text multiethnischer Gesell­schaften sehr deutlich wurden. Wie später auch in Ni­caragua ver­suchte Freire, mit den staatli­chen Bil­dungsinstitutionen die Freiräume für eine Demokrati­sierung der Erzie­hung zu nutzen und hierbei gleichzeitig die An­erkennung und Förderung inter­kultureller bzw. autonomer Bil­dungsansätze zu er­möglichen. “Die Briefe aus Guinea Bissau” geben einen tiefen Einblick in den Konflikt Zentralstaat ver­sus Mul­tiethnizität und die große Ver­ant­wortung, die die Erzie­hung in der Vermittlung und Förderung des Dia­logs hat.
Diese zweite Epo­che Freires Wirkens endete 1980, als er nach der Redemo­kratisierung Brasili­ens erneut eine Einreisegeneh­migung in sein Land erhielt. Er lebte von jetzt an in Sâo Paulo und widmete sich vornehmlich bildungspolitischen Fragen, un­terrichtete an ver­schiedenen Univer­sitäten und war von 1989 bis 1991 Bil­dungsminister von Sâo Paulo, dem bevölkerungs­reichsten brasilia­nischen Bun­des­land. Insbesondere in seiner ho­hen politi­schen Funktion mach­te Freire durch seine mensch­liche Haltung im Um­gang mit all­täglichen, büro­kra­tisch­en Pro­ble­men deutlich, daß die Schule und die staatlichen Behörden in einer autoritären Tradition ste­hen, die ihrer eigentli­chen Auf­ga­ben­be­stim­mung entgegenste­hen. Schritt für Schritt “ver­mensch­lichte” er die Schule, ausge­hend von der Sorg­falt, mit der die Gebäude von den Nutzer­In­nen ge­pflegt wer­den, das Haus­meis­ter- und Kü­chen­perso­nal zu res­pek­tierten Teil­nehmer­In­nen im Schul­kol­le­gi­um wer­den oder die Leh­rer­In­nen mehr An­er­ken­nung durch bes­sere Löhne und eine engere El­tern­arbeit er­hal­ten. In diesen Jahren war er un­er­müd­lich im In- und Ausland un­ter­wegs, um über die große Be­deu­tung der Leh­rerperson für die Bildung von Kindern zu spre­chen. Seine Bü­cher aus die­ser Zeit konzi­pierte er in dialogi­scher Brief­form, meos livros fa­lados (meine ge­sprochenen Bü­cher), wie er diese außerge­wöhn­lich kom­mu­ni­ka­tiven wis­sen­schaft­lichen Re­flex­ionen nennt.
Nach seinem Rück­tritt von dem Re­gierungsamt 1991 be­gan Freires vierte Schaffenspe­riode. Er setzte sich zuneh­mend mit Fragen zu Umwelt und Glo­balisierung ausein­ander, formu­lierte immer neue Kritiken am Neo­liberalismus und wurde in sei­nem Land Brasilien zu einer ethi­schen In­stanz. Je mehr das Dik­tat der Wirt­schaft die sozia­len Bewegungen bedrängt bzw. zer­stört, desto notwendiger wird sei­ne Stimme der Hoffnung. Eine Stimme, deren Ver­stummen ei­nen großen Verlust für Latein­ame­rika und die Welt bedeutet.

Wem gehört die Moderne?

Wer die Ausstellung im Gropius-Bau in Berlin besucht hat, glaubt anschließend, die mo­der­ne Kunst sei nicht nur in der west­li­chen Welt entstanden son­dern auch nur für diese be­stimmt. Sämtliche namhaften KünstlerInnen dieses Jahrhun­derts sind dort vertreten, vom kubistischen Picasso, über Nol­de, Kirchner, Giacometti, Bacon, Duchamp, Ernst, Beuys, Pollock, etc. bis zu zeitgenössi­schen Künstlern wie Kienholz und Sherman.

Moderne in der Dritten Welt

Auffallend ist, daß Künstler­In­nen aus der “Dritten Welt” bis auf wenige Auserwählte, wie Frieda Kahlo, nicht vertreten sind. Gibt es dort also keine mo­derne Kunst? Simon Njami, afrikanischer Kunstkriti­ker aus Paris, beant­wortet diese Frage spitz mit ei­nem Nietzsche-Zitat: “Gott ist tot, und ich nehme an, er ist auch in Afrika tot.” Alfons Hug, Kurator der Ausstellung im Haus der Kul­tu­ren geht sogar davon aus, daß die Moderne der “Dritten Welt” die der “Ersten” längst überholt ha­be. Nicht nur, daß die Kubisten am Anfang des Jahrhunderts afri­kanische Skulp­turen zum Vor­bild gehabt hätten, auch sei der Kunstmarkt heute in der “Dritten Welt” weitaus größer und po­pu­lärer als der in Europa und Nord­amerika. So hätte manche Kunst­aus­stellung in Asien drei­mal soviele Be­su­cher wie die im Ver­gleich dazu un­scheinbare do­cu­menta in Kassel. Darüberhinaus seien die größten Metropolen, die immer An­gelpunkte der Mo­derne wa­ren, heute nicht mehr Paris, Mailand oder New York, son­dern Mexiko, Sâo Paulo oder Shanghai. Hug macht außerdem da­rauf auf­merksam, daß es in Brasilien lebende Künstler gäbe, denen ein eigenes Museum ge­wid­met werde. Und wo findet man so etwas sonst noch in der westlichen Welt?

“Sie sprechen wie ein Stalinist”

Was also hat Christos Joachi­me­des, den Kurator der Aus­stel­lung im Gropius-Bau dazu bewo­gen, die Künstler vom Trikont aus sei­nem Konzept aus­zu­schließen? Um dies zu klären, ver­anstaltete das Haus der Kul­tu­ren der Welt ein Podiums­ge­spräch “Westkunst oder Welt­kunst”. Geladen waren Joachi­me­des, der erwähnte Njami, Fei Dawei, ein chinesi­scher Kunst­kritiker aus Paris, und Alfons Hug, der Macher der “anderen Mo­dernen”.
Geklärt wurde kaum etwas. An­statt sich inhaltlich mit dem Pro­jekt der Moderne und der Frage auseinanderzusetzen, wa­rum die Werke der “anderen Mo­dernen” aus den hei­ligen Hallen des Gropius-Baus ver­bannt blie­ben, lieferten sich die beiden “Matadoren” polemische Wort­ge­fech­te. Das war zwar recht unterhaltsam, trug jedoch nur wenig zum Verständnis der Be­deutung von Kunst in “Erster” und “Dritter Welt” und in ihrer ge­genseitigen Wechselwirkung bei. Hug ging kaum auf sein ei­genes Ausstellungskonzept ein, griff dafür aber das von Jo­achimedes umso deutlicher an: “Das Perfideste, was man ma­chen kann, ist die Zeit selber, das 20. Jahrhundert, in Anspruch zu nehmen. Genau das tut diese Ausstellung, genauso wie die ehemaligen Kolonialmächte ei­nen Universalanspruch hatten.” Joachimedes rea­giert grinsend und gibt selbstbewußt zu beden­ken: “Das geht nicht, lieber Herr Hug, sie haben keine Vorstellung von dem Begriff der Moderne, sie benutzen ihn nur, um sich an unsere Ausstellung anzuhängen. Sie ar­gumentieren mit Zahlen und sprechen dabei wirklich wie ein Stalinist. Sie verwechseln Kultur mit Quantität und sind dabei völlig daneben, welches Thema wir diskutieren wollen. Wir wollen über Kunst reden, nicht über Kunstpolitik.” Hug grinst auch, die Stimmung ist gut, das Publikum lacht und klatscht. Simon Njami, der ge­nau­sowenig wie sein Kollege Fei Dawei Gelegenheit hatte, sich die Ausstellungen anzusehen, aber dennoch da war, um etwas über die Ausstellungskonzepte und über die Moderne überhaupt zu sagen, versuchte Klärung zu bringen. Er wies darauf hin, daß es nicht sinnvoll sein könne, über die unendliche Debatte der Mo­der­ne zu reden, sondern, daß man darüber sprechen solle, wer den Kunstmarkt mit welchen Mit­teln und welchen Absichten beherrsche. Das ging irgendwie unter und Fei Dawei zuliebe wurde über et­was anderes gere­det.
Trotzdem wurden manche Fra­gen ge­klärt. Dem Berliner Kunststreit scheint ein banales Miß­ver­ständ­nis zugrunde zu lie­gen: Für Joa­chi­me­des ist die Mo­derne ein epo­chaler Be­griff, der nur die Künstler mit­ein­schließt, de­ren Wir­kungs­ge­schich­te nachweis­bar ist und die es in der ganzen Welt zu An­er­ken­nung gebracht ha­ben. Das Haus der Kul­tu­ren hingegen scheint unter ‘Mo­der­ne’ ganz ein­fach globale, zeit­genössische Kunst zu verste­hen.
Dennoch ist nicht schlüssig, warum die Ausstellung im Gro­pius-Bau auch Werke zeitge­nös­si­scher Künstler präsentiert – aus Europa und den USA wohl­ge­merkt – obwohl deren Wir­kungs­grad heute genausowe­nig nach­weis­bar ist, wie der von Werken aus Afrika, Asien oder La­tein­amerika. Dieses eurozen­tri­sti­sche Kunstverständnis, ge­kop­pelt mit dem Anspruch, Al­lein­vertreter der modernen Kunst zu sein, will das Haus der Kulturen der Welt mit seinen 30 Werken aus der “Dritten Welt” de­zent­rie­ren. Es geht darum zu zeigen, daß sich Europa und die USA von der Vorstellung alle Maß­stäbe für Kunst und Krea­tivität zu setzen verabschie­den müssen und endlich zur Kenntnis zu neh­men haben, daß die Vielfalt und Schlagkraft der Kunst in der “Dritten Welt” ebenso enorm und spannend ist, wie die Kunst der “Ersten”. Daß Künstlern wie N. N. Rimzon, António Ole oder Shirin Nashat ein Forum ge­ge­ben wird, ist ohne Zweifel richtig und wich­tig. Und auch wenn heute nur gebildete Westler ihre Na­men kennen, so sind es doch mög­li­cherweise gerade sie, die für die Kunst der Zukunft maß­gebend sein werden.
Den Kuratoren des Gropius-Baus ist zwei­felsohne eine groß­artige Ausstellung der westlich orientierten Kunst dieses Jahr­hun­derts gelungen. Sie ist ein Muß für jeden, der sich für europäische und nordamerikani­sche Kultur interessiert. Wer je­doch eine ernsthafte Ausei­nan­der­setzung über die Moderne führen will, der muß er­kennen, daß “Kunst und Kreativität die bestverteiltesten Rohstoffe der Welt” sind und nicht ethnisch definiert werden dürfen. Die Ent­scheidung, ob es dem Haus der Kulturen der Welt mit seiner Ge­gen­ausstellung ge­lang, dies mit den Farben und Formen der “anderen Modernen” zu be­wei­sen, muß jedem selbst überlassen bleiben. Sicher ist, daß sie ganz neue, andere, fremde Aspekte der Kunst zeigt, von Spannung und Vielfalt lebt und neugierig macht auf mehr.

Terror, Lügen und Videoaufnahmen

Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadi­stischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Stras­sensperre zu errichten und zu­fällig vorbeikommende Bewoh­nerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blu­tig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort So­zial- und Menschen­rechts­arbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten ab­solut nor­mal und alltäglich ist. Der jüng­ste Fall von Polizeiter­ror erregt indessen enormes Auf­sehen, weil jemand gut versteckt tagelang al­les filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilia­nischen, son­dern auch im nord­ame­ri­ka­ni­schen, europäischen und asiati­schen Fernsehen ge­zeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Pa­dres protestieren vehement, stel­len nicht an­ders als amnesty in­ternational (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greu­eltaten nicht überra­schen. In ganz Brasilien würden die Men­schenrechte von der Mi­litär­po­li­zei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unter­privilegierten Schichten, An­zeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies ex­emplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mit­glieder einer Todesschwa­dron, die in jüngster Zeit minde­stens dreizehn Menschen ermor­det hat. Fünf Beamte standen be­reits we­gen acht Morden sowie Mord­ver­suchen und schwerer Körper­verletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Ent­rüstung im Ausland wurden in­zwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Re­gierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.

Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung

Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien ge­schürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesell­schaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibru­talität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbre­chensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinameri­kas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen Slumbewoh­nerInnen schlichtweg ignorier­ten. In Brasilien, so ai auf An­frage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerecht­fertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal über­fallen und dabei zwei Gäste er­schossen zu haben. Glücklicher­weise fand man eher durch Zu­fall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.

“Beifall” für Todesschwadrone

Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blut­bäder, sowie andere Aktionen der To­desschwadronen von sehr vie­len BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Ju­randir Freire Cos­ta, Therapeut und Direktor des Instituts für So­zialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Ober­schicht, so Costa, spreche Slum­bewohne­rInnen den Gleich­heits­grundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und rea­giere daher mit extremer Indiffe­renz und Akzeptanz auf jede Art von Ge­walt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Bet­to, enger Mitarbeiter von Kardi­nal Arns, teilt den Stand­punkt von Costa, zählt den Sozi­alwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadro­nen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Ge­spräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens prote­stierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Prä­sident Fernando Henrique Car­doso gegen all diese Greuel­taten und verlangten energische Maß­nahmen. Deren brasiliani­sche KollegInnen duldeten in­dessen, von wenigen Ausnahmen abge­sehen, die gravierende Ver­letzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Latein­amerikas, seien daher mitschul­dig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektu­ellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffent­lichen Meinung genössen, wür­den von Brasilia mit Posten, Po­sitionen und Geldern begün­stigt. Oder klarer ausgedrückt: kor­rum­piert. Der Theologe erin­nerte auch daran, daß viele In­tel­lek­tuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schrift­steller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gil­berto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filme­macher wie Héctor Ba­ben­co sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos aus­ge­spro­chen hatten. Positive Aus­nah­me: Chico Buar­que. “Daß all diese Perso­nen sich heute passiv ver­halten”, so Frei Betto weiter, “wird von den In­tel­lektuellen Eu­ropas na­türlich be­merkt. Wa­rum prote­stieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Bra­si­lien nicht – wie steht es daher um deren Se­riosität?” Sie sei nicht vorhan­den, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Gei­steswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Caran­diru-Gefängnis Sâo Paulos ein­gekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht ge­stellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich ange­prangert hatte. Im selben Jahr er­schossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru min­destens 111 Häft­linge.
Zum Lärm um das Amateur­video meint Frei Betto, das bra­silianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall dop­pelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Fir­menfilialen wird von einem Gou­ver­neur und en­gem Vertrauten aus des Staats­chefs Sozial­demo­kra­tischer Par­tei PSDB regiert. Glei­ches trifft auf den politisch Haupt­verant­wortlichen des Land­losenmassa­kers von 1996 im Amazonas­bundesstaat Pará zu – und auch auf den Gou­ver­neur Rio de Janeiros, wo ein Blut­bad an Minderjährigen dem an­deren folgt.

KASTEN

Männer des Gesetzes

Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.

Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?

Song von Thaíde und DJ HUM

KASTEN

Männer des Gesetzes

Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.

Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?

Song von Thaíde und DJ HUM

Hühnchen und Joghurt

Der Erfolg des Plano Real zur Inflationsbekämpfung ist unbestritten. Die Monatsinflation, die bis Mitte 1994 noch über 40 Prozent betrug, ist auf unter ein Prozent gefallen. Ebenso unbestritten ist, daß die Armen vor dem Plan über keine Möglichkeiten verfügten, sich gegen die Hyperinflation zu schützen und deshalb die Hauptleidtragenden der Geldentwertung waren. Daß die Klassen D und E, wie die Armen Brasiliens in den Wirtschaftsstatistiken euphemistisch bezeichnet werden, insgesamt ins glückliche Konsumparadies ein- gezogen wären, ist jedoch zu bezweifeln. Wohl läßt sich auch in den unteren Schichten eine Zunahme des Besitzes von dauerhaften Konsumgütern feststellen. Nur wird alles auf Pump gekauft und in Raten bezahlt, wobei die Zinsen zunächst vergessen wer- den. Der Gesamtpreis beträgt dann allerdings am Ende fast das Doppelte des Barpreises. So steht in vielen Hütten der Favelas ein fabrikneuer Kühlschrank, der, um die Raten bezahlen zu können, leer bleibt.
Die wirklichen Verlierer des Plano Real leben auf dem Lande. Wer nicht über ein festes Geldeinkommen verfügt, dem nützt die Währungsstabilität nichts. Der überbewertete Wechselkurs hat die Landwirtschaft in eine fatale Krise gestürzt: Wer den Mais anbaut, den die Indikatorhühnchen fressen, kann nicht einmal seine Produktionskosten decken.
Der Preis der Stabilität
Die Kritik am Plano Real zielt auf die Kosten, mit denen die Stabilisierung der Währung er-kauft wird. Durch einen sogenannten “Anker” ist der Real an den US-Dollar gebunden, was seine Stabilität garantieren soll. Die brasilianische Wahrung ist dadurch jedoch massiv über-bewertet, was dazu führt, daß ausländische Waren in Brasilien billig zu haben sind, brasilianische Güter im Ausland aber schwer abzusetzen sind. Der Dollaraufschwung der letzten Monate hat den Red mitgezogen und diesen Effekt weiter verstärkt Seit der Plano Real in Kraft ist, wird massiv mehr im-portiert als exportiert. Zudem kämpft Brasilien mit einem strukturellen Kapitalsabfluß. Allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres wurden 758 Millionen US-Dollar Zinsen auf die Außenschuld bezahlt, 844 Millionen US-Dollar
Dienstleistungsbilanzdefizit zusammen bewirken eine laufende Außenrechnung, die tief in den Roten Zahlen steckt. Im letzten Jahr ist dieses Defizit um 138 Prozent auf über 24 Milliarden US-Dollar hochgeschnellt.
Kamikaze á Brasileira
Der Plano Real kann werden, wenn ständig ausländisches Kapital in Form von Direktinvestitionen, langfristigen Krediten oder kurzSpekulationskapitaLand strömt. Die Regierung brüsich damit, daß gelang, die “Qualität” des Kapitazu verbessern, d.h. daß kurzfristiges Spekulabenöwird. Doch auch die anderen Kapithaben ihre Pferdefüße. Direktinvestitionen fü, der Zukunft die Gewinnrücküansteigen und das in der Dienstleistungsbilanz vergrößern wer-den. Dieser Effekt zeigt sich schon jetzt: in den letzten füJahren haben die abgefüGewinne und Dividenden 458,2 zugenommen. müssen auch, Kapitalien anzuziehen, die Zinsen in Brasilien hoch gehalten werden, was das Wirtschaftswachstum behindert. Insgesamt hat die Verwundbarkeit Brasiliens stark zugenommen; 48.4 Prozent des Staatshaushaltes mußte das Land 19% für den Schuldendienst aufwenden. Geht es in diesem Stil weiter, so wird Brasilien nach vier Jahren unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso zusätzliche Auslandsverbindlichkeiten von 120 Milliarden US-Dollar angehäuft haben.
Das Ende des Plano Real könnte von zwei Seiten kommen: Durch eine Krise der Weltwirtschaft oder dadurch, daß das internationale Kapital das Vertrauen in Brasilien verliert. Beeinflussen kann die Regierung nur Letzteres. Um das internationale Kapital bei der Stange zu halten, muß sie wirtschaftliche Reformen in dessen Sinne durchführen. So ist die umstrittene Privatisierung des Minenkozerns Companhia do Vale do Rio Doce zu erklären. Das Unternehmen ist ein hoch lukrativer Staatsbetrieb, der im vergangenen Jahr 600 Millionen US-Dollar Gewinn erzielte und über Erzreserven in unbekanntem Wert verfügt. Die plan-gemäße Verscherbelung der ‘Vale” ist das Faustpfand, welches das internationale Kapital als Beweis für den weiteren Reformeifer der Regierung fordert.
Der Fall der Zollmauern
Die “erfolgreiche” Stabilisierung der Währung hat Brasilien den Weg in die schöne neue Welt der Globalisierung geöffnet. Anfang der neunziger Jahre begann ein Prozeß, der die gesamte industrielle Struktur des Landes umkrempelt. Brasilien nahm endgültig Abschied vom Modell der Importsubstitution. Die Vermeidung von Importen durch den Aufbau einer “nationalen” Industrie hinter hohen Zollmauern sollte in den sechziger und siebziger Jahren wirtschaftliche Prosperität bringen. In den achtziger Jahren mußte die Importsubstitution unfreiwillig aufrechterhalten wer-den, um die riesigen Export-Überschüsse zu erwirtschaften, die als Schuldendienst ins Ausland abgeführt wurden.
Der Abbau der Zollschranken verachte, durch die Überbeertung verstärkt, eine Import-welle. Die Mittelklasse frönt dem Kaufrausch, endlich läßt sich in jeder größeren lianischen Stadt einkaufen wie üher nur im Kurzurlaub in Florida.
Hinzu kommen die Kapitalgüterimporte. Wer angesichts der offenen Grenzen konkurrenzfähig bleiben will, dem bleibt nichts anderes übrig als massiv zu investieren und dafür modernste Technologie aus dem Ausland einzuführen.
Auch die Rolle der Multis in Brasilien ändert sich grundlegend, wie das folgende Beispiel aus der Autoindustrie verdeutlicht.
Vom BrasiIia zum World Car
Hinter den hohen brasilianischen Zollmauern produzierten die europäischen und US-amerikanischen Automultis mit ausrangierten Maschinen Schrott auf Rädern -wie der Brasilia, der aussah wie ein zum Rechteck gestauchter VW-Käfer. Diese Zeiten sind vorbei: In den lezten Jahren haben die Automultis ihre Produktion weltweit neu organisiert; in keiner anderen Sparte ist die Globalisierung der Produktion so weit fortgeschritten. Nationale Nischenprodukte wie den Brasilia wird es in Zukunft nicht mehr geben, statt- dessen kommt das “World Car”: An verschiedenen Produktionsstandorten, die strategisch über den Globus verteilt sind, wird mit denselben Zulieferern überall exakt das gleiche Modell hergestellt. Die größtenteils noch nationale Autoteileindustrie Brasiliens hat dadurch einen schweren Stand Nur wenige Teilehersteller sind in der Lage, als Anbieter für ein World Car aufzutreten. Ihr Niedergang wird noch beschleunigt durch die Politik der niedrigen Einfuhrzölle, mit denen die Regierung den Wünschen der Multis entgegenkommt. Zudem buhlen mögliche Standorte mit großzügigen Steuergeschenken, fertig ausgebauter Infrastruktur und teilweise sogar Kapitalbeihilfen um die Gunst der montadoras, wie die Automultis genannt werden. Zugleich haben Importkonkurrenz und Rationalisierungsinvestitionen dazu geführt, daß die Autoteilebranche im letzten Jahr zehn Prozent ihrer Stellen abgebaut hat.

Die Globalisierung der Arbeitslosigkeit
Was mit der brasilianischen Autoteileindustrie , ist exemplarisch für die gesamte brasilianische Industrie. Ein Teil der Industrie wird durch die globale Konkurrenz hinweggefegt oder aufgekauft. In den übUnternehmen nimmt der Technologieandie Produktivität massiv zu; Rationalisierung werden vor allem unqualifiArbeitsplätze abgebaut. Diese Prozesse sind dieselben, die auch in den Indusändern vor sich gehen. Nur ß aufgseiner Altersstjedes Jahr eine Million Arbeitsplätze zusätzlich benötigt.
Die offizArbeitslosigkeit im ß, dem indusBades Landes, liegt bei knapp 15 Prozent; bereits die Hälfte der Beschäftigten arbeitet im Sektor. Der offizielle Arbeitsmarkt ist gespalten. Ein Viertel der Beschäftigten, 11 Menschen, haben einen einigermßen sicheren Job in einem der Multis oder der mittund gßebrasilianischen Betriebe und verdienen mehr als 1200 -Dollar. Auch in diesem modernen Sektor selbst öffnet sich die Lohnschere: Die Gehäim oberen sind in Brasilien schon 30 Prozent höher den USA.
Die anderen drei Viertel der Beschäverdienen weniger Mindestlöhne: unter 200 -Dollar. Viele dieser Jobs sind von der Rationalisierung bedroht.

Standortrisiko Cardoso
Fernando Henrique Cardoso, der Vater der Dependenztheorie, hat als Präsident das in eine neue Depengeführt. Kurzfristig seine Eitelkeit und seine Machtambitionen die größfüProjekt, Ende Jahres gelang in einer beispiellosen Schacher-Runde, vom Parlament eine Verfassungsänderung zu -kaufen, die eine erneute Kandidatur ermöglicht. Es ist absehbar, daß die Wiederwahl als Retter der Währung und Hüder Stabilität – mittels Hühnchen- und Joghurtpropaganda -will. Bis zum Wahltermin werden deshalb am Real keine grösseren Anpassunvorgenommen werden, auch wenn sie angezeigt wären. Währenddessen steigt die Gefahr, daß das Kapital kaFüße iegt und sich in andere Jagdgrunde aufmacht.
Längerfristig wird die globalisierte brasilianische Industrie weder in der Lage sein, einer Mehrheit der Arbeitskräfte Auskommen und Perspektive zu bieten, noch ist es wahrscheinlich, daß die Globalisierung aufgehalten werden kann. Die soziale Bombe könnte dennoch entschärft durch eine radikale Reform der Steuer- und Sozialpolitik und vor allem- durch eine umfassende Landreform. Dann ließe sich vielleicht- trotz Globalisierung- wieder über ein „Nationales Projekt“ für Brasilien nachdenken.

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