Verhagelte Ernte

Monsanto ist der Gigant unter den Konzernen, die gentechnisch verändertes Saatgut produzieren. Das 1901 gegründete US-Agrarunternehmen mit Niederlassungen in 61 Ländern kontrolliert 80 Prozent des Markts, den Rest teilen sich Bayer, Syngenta und DuPont. Monsanto verkauft unter anderem Breitbandherbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat sowie transgene Maissorten und nutzt Biotechnologie zur Erzeugung gentechnisch veränderter Feldfrüchte.
Der enorme Einfluss Monsantos spiegelt sich auch in der legislativen Praxis wider, ganze Gesetze werden dem Großkonzern buchstäblich auf den Leib geschneidert und nach ihm benannt. So zuletzt in Guatemala, als am 26. Juni 2014 das „Ley Monsanto“ als Dekret 19-2014 im Amtsblattveröffentlicht wurde und somit in Kraft trat. Zuvor hatte der guatemaltekische Kongress der Gesetzesvorlage zugestimmt.
In der Folge kam es zu massiven Protesten von großen Teilen der Bevölkerung – mit Erfolg. Bereits Anfang September kippte der Kongress das Gesetz wieder; 117 der 158 guatemaltekischen Abgeordneten stimmten für eine Aufhebung des Gesetzes.
Die überwiegend kleinbäuerlich geprägte Gesellschaft Guatemalas hat allen Grund für ihre Ablehnung. Denn Monsanto nimmt genetische Änderungen an einheimischen Samen vor und meldet anschließend ein Patent für dieselben an. Auf Grundlage des „Ley Monsanto“ wäre der Konzern berechtigt, somit alljährlich Geld von guatemaltekischen Bauern und Bäuerinnen zu verlangen – auch wenn es sich nicht um Hybridsorten handelt und das Saatgut nicht jährlich neu gekauft werden muss, sondern vermehrt werden kann.
Gerechtfertigt wurde das nun gekippte Gesetz von Regierungsseite mit dem Schutz von Pflanzensorten. Dabei war die Verabschiedung des „Ley Monsanto“ mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen den USA, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik (DR-CAFTA) schlichtweg vertraglich festgelegt, es war gar eine Vorbedingung der US-Regierung für dessen Zustandekommnen.
DR-CAFTA nimmt niedrige Arbeits- und Umweltstandards billigend in Kauf und bedroht die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Zentralamerika vor allem mittels durch Subventionen verbilligte US-Exporte. Der „Schutz“ von Samen und Pflanzen schützt nicht die Interessen der Kleinbauern und -bäuerinnen. Gesetze wie das „Ley Monsanto“ flexibilisieren die Aussaatregistrierung und erlauben Konzernen, sich das Saatgut anzueignen.
Zudem gefährden oder verhindern derartige Beschlüsse durch die vertraglich festgelegte Ab­hängigkeit von Großunternehmen die Ernährungssouveränität der betroffenen Staaten. Durch die Kontrollmöglichkeiten der Konzerne werden Kleinbauern und -bäuerinnen abhängig von Monsanto und Co. Wer nicht zahlt, muss mit hohen Geld- oder sogar Freiheitsstrafen rechnen. Der Saatgutmarkt wird mehr und mehr monopolisiert, der Politik werden zunehmend Spielräume und Einflussmöglichkeiten entzogen.
Oder die amtierenden Politiker_innen übernehmen das gleich selbst, am besten, wenn sie die Bevölkerung abgelenkt glaubt: Nicht zufällig wurde das „Ley Monsanto“ in Guatemala während der Fußball-WM verabschiedet – Aufmerksamkeit erregte es trotzdem. Über soziale Netzwerke verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und brachte eine massive Protestwelle ins Rollen, wie es sie nicht nur in Guatemala auch schon während der Verhandlungen des CAFTA-Abkommens gegeben hatte.
Die Unterzeichnung des DR-CAFTA-Abkommens im Jahr 2005 ist eine Konsequenz des Scheiterns von FTAA. Unter diesem Namen hatten vornehmlich die USA versucht, ein Freihandelsabkommen voranzutreiben, das alle 34 Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika sowie in der Karibik (mit Ausnahme Kubas) umfassen sollte. DR-CAFTA verpflichtet die Staaten Mittelamerikas sowie die Dominikanische Republik, bis 2015 alle Importhürden für US-Waren abzubauen und garantiert US-Unternehmen so den uneingeschränkten Zugang zum mittelamerikanischen Markt. Umgekehrt erhalten Waren aus Zentralamerika besseren Zugang zum US-Markt.
DR-CAFTA reiht sich dabei ein in eine lange Liste bi- und multilateraler Freihandelsabkommen, die seit dem Patt innerhalb der Welthandelsorganisation WTO nach der Konferenz in Hongkong 2005 abgeschlossen wurden und werden. Aktuellste Beispiele dafür sind die jüngst abgeschlossenen Verhandlungen zu CETA zwischen der EU und Kanada sowie die derzeitigen Verhandlungen zu TTIP zwischen den USA und der EU.
Mit ihrer Ablehnung von rein kaptitalfreundlichen Gesetzen wie dem „Ley Monanto“ und Freihandelsabkommen zwischen ungleichen Partnern steht die guatemaltekische Bevölkerung nicht allein – im Gegenteil. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten gab und gibt es massiven Protest und Widerstand gegen die jeweilige nationale Variante des Monsanto-Gesetzes und entsprechenden Freihandelsabkommen. Mit der jetzigen Aufhebung des „Ley Monsanto“ in Guatemala – und dem damit verbundenen Vetragsbruch von DR-CAFTA – ist allerdings ein Präzedenzfall geschaffen worden, dessen Auswirkungen derzeit noch kaum abzuschätzen sind.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Nach dem Frühling

Das Anwaltsbüro, für das Sie in Guatemala arbeiten, vertritt die Opfer auch weiterhin. Welche Hoffnungen setzen Sie in diesen neuen Prozess?
Die Bedingungen für einen fairen Prozess haben sich stark verschlechtert. Das System ist fest entschlossen, die Justiz zu kontrollieren und unabhängige Richter nicht mehr zuzulassen. Es besteht das Risiko, dass der Prozess zu einem Schauprozess wird. Damit stecken wir und die Opfer in einem echten Dilemma. Wenn sie nicht teilnehmen, ist die Anklage ohne Frage geschwächt, da der Prozess auf jeden Fall stattfindet; doch wenn sie teilnehmen, könnte das als Zustimmung zur betrügerischen Annullierung des Urteils interpretiert werden.

Wie verhält sich die Justiz?
Auf den Richtern lastet sehr viel Druck. Auf Yassmin Barríos, die Richterin, die das Urteil gegen Ríos Montt gesprochen hat, war zu Beginn des letzten Prozesses ein Attentat geplant, das erst in letzter Sekunde aufflog und verhindert werden konnte. Nach der Urteilssprechung wurde sie zeitweise vom Dienst suspendiert und ist heftigsten Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Es braucht viel Mut, um diesem Druck standzuhalten.

Bestehen überhaupt Chancen für einen fairen, transparenten Prozessverlauf?
Wir können schwer einschätzen, wie sich das neue Gericht in dem Fall verhalten wird, aber wir machen uns keine großen Hoffnungen. Deshalb haben wir Ende 2013 Klage bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eingereicht und hoffen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Entscheidung des Verfassungsgerichtes gegen das Urteil für ungültig erklärt. Allerdings wird dieser Prozess noch Jahre dauern.

Zusammen mit Kolleg_innen, Menschenrechtsgruppen und den Opfern haben Sie bereits Ende der 1990er Jahre begonnen, Vergehen der Militärs während des Bürgerkriegs aufzuarbeiten und damit den Prozess gegen Ríos Montt vorzubereiten. Warum haben Sie sich damals entschieden, Strafverfahren in Guatemala einzuleiten und nicht in Spanien wie beispielsweise Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchú?
Unser Ziel war nie, nur die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nach den Friedensverträgen wollten wir mit den Prozessen, die wir führten, immer auch Debatten in der Gesellschaft anstoßen und eine funktionierende Justiz aufbauen. Das geht nur in Guatemala selbst. Dabei nutzen wir die internationalen Prozesse und Ermittlungen, um Druck im eigenen Land aufzubauen.

Wie werden in der Gesellschaft und in den Medien die Bürgerkriegsverbrechen debattiert?
In bestimmten Sektoren der Bevölkerung wurde damals noch geleugnet, dass es überhaupt Massaker gegeben habe. Präsident Arzú hatte sich Ende der 1990er Jahre noch geweigert, den Bericht der UN-Wahrheitskommission über die Verbrechen während des Bürgerkrieges öffentlich entgegenzunehmen. Dass heute selbst die Militärs zugeben, Massaker verübt zu haben, ist deshalb ein wichtiger Erfolg. Auch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die rund um den Ríos-Montt-Prozess geführt wurden, empfand ich als heilsam. Natürlich waren sie extrem kontrovers, aber in diesem Moment hat sich die Gesellschaft intensiv mit der eigenen Geschichte, der Gewalt und dem Rassismus, die Guatemala weiterhin so sehr prägen, auseinandergesetzt.

Was bedeutet das Urteil für die Opfer?
Das dürfen wir trotz aller Rückschläge nicht unterschätzen. Während des Prozesses sagten über 100 Zeugen vor laufenden Kameras aus. Man muss sich vorstellen, was es für sie heißt, in diesem Gericht in Anwesenheit des ehemaligen Diktators auszusagen. Sie konnten ihre Geschichte erzählen und wurden gehört. Danach gibt es kein Zurück mehr. Dennoch hat sich unsere Vorstellung, dass wir mit jedem Prozess kleine Risse in die Mauer der Straflosigkeit schlagen und der Völkermordprozess sozusagen der letzte Schlag ist, mit dem das System zusammenbricht, als Illusion erwiesen. Der Kampf ist noch nicht vorbei.

Wie meinen Sie das? Was ist seither passiert?
Nach der Verkündung des Völkermordurteils haben sich die traditionellen und die neuen ökonomischen Eliten in nie zuvor gekannter Einigkeit mit den militärisch-politischen Eliten zusammengeschlossen und zum Ziel gesetzt, die Justiz wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz, unter deren Leitung die Staatsanwaltschaft zwischen 2010 und 2013 die Aufklärungsrate tödlicher Delikte von zwei auf 35 Prozent erhöhen konnte, hatte es gewagt, Ermittlungen auch gegen Bankenbesitzer und das organisierte Verbrechen durchzuführen. Der Völkermordprozess war am Ende nur der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Seitdem wurde nicht nur die Generalstaatsanwältin frühzeitig aus dem Amt entlassen und der Druck auf die Richter erheblich erhöht, die sich mit Fällen organisierten Verbrechens und der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen. Auch die Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG), die die Bekämpfung der illegalen und klandestinen Strukturen im Staatsapparat zur Aufgabe hat, scheint der Regierung zu gefährlich zu werden; ihr Mandat soll nicht mehr verlängert werden.

Die Bedingungen für die Durchsetzung einer unabhängigen Justiz und der Menschenrechte verschlechtern sich also?
Ja, wir beobachten im Moment verschärfte Repressionen, Kriminalisierungen und Angriffe auf Aktivisten der indigenen und Kleinbauernbewegungen, die ihr Land verteidigen und sich gegen agroindustrielle, Bergbau- und Energieprojekte zur Wehr setzen. Es geht also nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen der Gegenwart, die ein funktionierender Rechtsstaat und eine unabhängige Justiz in Guatemala vereiteln könnten. Im Moment arbeiten meine Kollegen und ich vor allem daran, Akten zu scannen und die Beweise in unseren aktuellen Prozessen zu sichern. Wir befürchten, dass der Druck weiter zunehmen wird. Deshalb bin ich auch nach Deutschland gekommen, um direkte Kontakte mit deutschen Juristen und Politikern zu knüpfen, die uns im Ernstfall unterstützen könnten. In den letzten Jahren haben wir in Guatemala eine Art juristischen Frühling erlebt, aber der Sommer lässt auf sich warten.

Infokasten:

Michael Mörth

Der deutsche Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger lebt seit knapp 20 Jahren in Guatemala. In den 1990er Jahren beteiligte er sich an der Erstellung des Wahrheitsberichtes der katholischen Kirche, arbeitete in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen und war später Mitarbeiter der Kommission der Vereinten Nationen gegen die Straffreiheit in Guatemala. Mit Unterstützung von medico international ist er aktuell als rechtlicher Berater der Internationalen Jurist_innenkommission für das Bufete Jurídico de Derechos Humanos tätig. Das Anwaltsbüro führt die meisten der Prozesse gegen ehemalige Militärs in Guatemala und vertritt auch im Prozess gegen Ríos Montt die Opfer in der Nebenklage.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Wo ist mein Kind?

„Dieses Mädchen dort drüben gleicht meiner Tochter, ja, sie gleicht ihr wirklich sehr… ob sie es wohl ist?“, fragte sich María Eugenia Barrera, während sie auf ein Mädchen zeigte, das etwa zwanzig Meter entfernt am Boden saß. Um den Hals von María Eugenia Barrera hing eine Fotografie, groß wie ein Blatt Papier. Darauf zu sehen war das Gesicht einer lächelnden jungen Frau, ihrer siebzehnjährigen Tochter Clementina Lagos Barrera, die am 9. November des Jahres 2003 ihr Haus im nicaraguanischen Chinandega verließ und nie mehr zurückkehrte. Die vorerst letzte Spur von Clementina Lagos führte zu Menschenhändler_innen und Netzen der Zwangsprostitution in Tapachula, Chiapas.
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich ist, sie gleicht meiner Tochter aufs Haar, nur die Nase ist anders…“, fügte María Eugenia, mehr zu sich selbst, hinzu. Es war ein Sonntagmorgen, der 28. Oktober 2012. Auf den Treppen vor der Basilika der Jungfrau von Guadalupe, im Norden von Mexiko-Stadt gelegen, ruhte sich María Eugenia Barrera aus, zusammen mit etwa zehn weiteren Frauen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador. Diese Frauen waren Teil einer 38-köpfigen Gruppe von Zentralamerikaner_innen, deren Angehörige in Mexiko verschwunden sind. In zwei Reisebussen hatte die Gruppe auf der Suche nach ihren Kindern, Geschwistern oder Ehemännern bereits drei Viertel des Landes durchquert. Wie María Eugenia Barrera trugen auch diese Frauen vergrößerte Fotografien ihrer Angehörigen um den Hals. An 23 Orten im ganzen Land machten die Busse halt, und jedes Mal stiegen die Frauen aus, in ihre Landesflaggen gehüllt, zeigten die Fotografien ihrer vermissten Angehörigen und riefen gemeinsam: „Lebend gingen sie – lebend wollen wir sie wiedersehen!“ Im nun achten Jahr in Folge hat die Caravana de Madres de Centroamericanos Desaparecidos en Tránsito por México („Karawane von Müttern verschwundener Zentralamerikaner_innen auf dem Weg durch Mexiko“) zwischen dem 15. Oktober und dem 3. November Mexiko von Guatemala her kommend durchquert, diesmal bis in nördliche Städte wie Reynosa, Monterrey, Saltillo und San Luis Potosí. Dank der Karawane haben fünf der 38 Mütter ihre vermissten Angehörigen gefunden. Einige Mütter konnten wenigstens neue Spuren ausfindig machen, die meisten aber gingen wieder, wie sie gekommen waren: mit leeren Händen.
Nach einigen Minuten der Unentschlossenheit fasste sich María Eugenia Barrera ein Herz und ging zu diesem Mädchen, das ihrer Tochter so stark glich, allerdings nicht alleine. Eine junge Mexikanerin begleitete sie und schilderte die letztlich enttäuschend verlaufene Begegnung folgendermaßen: „Auf dem Weg zu ihr blieb María Eugenia hinter mir und hielt die ihr um den Hals hängende Fotografie mit beiden Händen fest. Das Mädchen hatte ein Kleinkind in den Armen, vollständig in Weiß gekleidet, ganz so, als wäre es eben erst getauft worden. Ich entschuldigte mich für die Störung und sagte ihr, dass María Eugenia ihre Tochter vor einigen Jahren aus den Augen verloren hätte und sie in ihr eine große Ähnlichkeit sehen würde. Das Mädchen sagte ihren Namen, versuchte zu lächeln und schüttelte den Kopf. María Eugenia akzeptierte, dass es sich nicht um ihre Tochter handelte, wir bedankten uns trotzdem und gingen. Das Mädchen sah uns an, eher traurig denn unbehaglich. Ihre Versuche zu lächeln, wollten nicht gelingen“.
María Eugenias Tochter Clementina Lagos Barrera hatte ihr Heim im Viertel Rafaela Herrera in Chinandega in der Nacht des 9. November 2003 verlassen. Sie war 17 Jahre alt und Mutter von elfmonatigen Zwillingsmädchen, die aus der Vergewaltigung durch einen Nachbarn resultierten. Ihre Mutter María Eugenia hatte den Mann ins Gefängnis gebracht und ihr mit dem Gleichen gedroht, falls sie eine Abtreibung vornehmen ließe. „Hier sind deine Töchter. Wenn du sie schon so gerne magst, dann zieh du sie groß!“, warf Clementina ihrer Mutter nach der Geburt an den Kopf und überließ ihr die Säuglinge. Am Nachmittag ihres Verschwindens erreichten Clementina zwei Telefonanrufe. In einem wurde ihr ein Geschäft unbekannter Natur angeboten. Als es dunkel wurde, war sie schon weg.
María Eugenia folgte den Spuren, die sie zur Hand hatte. Sie fand heraus, dass ihre Tochter in der Hauptstadt Managua gesehen worden war. Sie bezahlte zwei Polizisten, die sie zu einem getarnten Lokal führten, welches nach außen die Fassade einer Anwaltskanzlei vorspiegelte. Aber sie kamen zu spät und fanden nur leere, verlassene Räume vor. Die Nachbarn versicherten ihnen jedoch, dass dort wirklich junge Frauen festgehalten wurden und eine davon derjenigen auf María Eugenias Foto stark geglichen hätte. „Dies ist wohl ein Fall von Menschenhandel. An Ihrer Stelle würde ich in El Salvador weitersuchen“, sagte einer der Polizisten. María Eugenia Barrera verkaufte ihr Haus und mit dem Erlös setzte sie die Suche nach Clementina fort. Mit dem Foto ihrer Tochter um den Hals durchstreifte sie Straßen und Parks und befragte die Leute. Ein Mann sprach sie an: „Ich habe dieses Mädchen schon gesehen, und zwar im Nachtklub El 2 de Oros. Sie bot sich dort an, ich lud sie auf ein Bier ein und tanzte Reggaeton mit ihr. Leider hatte ich die 50 Dollar nicht, um mit ihr aufs Zimmer zu gehen.“ María Eugenia selbst war damals erst 33 Jahre alt und verfügte noch über einen gut erhaltenen Körper. Dazu war sie groß gewachsen und hellhaarig, womit sie für die Arbeit im Nachtklub El 2 de Oros attraktiv genug war. Durch die Anstellung als Tänzerin und Prostituierte erhoffte sie sich, ihre Tochter dort zu finden. „Schön zurechtgemacht und dazu noch nachts lassen sich die Jahre gut kaschieren“, sagte ihr die Bordellchefin aus Nicaragua. Drei Tage später merkte María Eugenia jedoch, dass sich ihre Tochter nicht mehr dort, sondern vielleicht in einem anderen Nachtklub derselben Mafia aufhielt und flüchtete aus dem Etablissement. Nach wenigen Tagen wurde sie von drei Männern aufgespürt und als Rache für die Flucht aus dem Nachtklub geschlagen und vergewaltigt – aber am Leben gelassen. Ihre Suche führte María Eugenia anschließend nach Guatemala, wo Leute vor einem weiteren Nachtklub Clementina auf dem Foto erneut erkannten. „Ja, sie war hier, ist aber mit einem Mexikaner fortgegangen“, sagten sie María Eugenia, „sie wollte in Tecún-Umán über die Grenze, trug jedoch keine Papiere bei sich“.
Auf der Suche nach ihrer Tochter trennte sich María Eugenia von ihrem Mann, der nicht der Vater von Clementina war, und heiratete einen Salvadorianer. Während Jahren verband sie die Suche nach neuen Spuren mit ihrem Lebensunterhalt, der Herstellung und dem Verkauf von dulces de leche, Süßspeisen aus Milch, Zucker und Vanille. Im Jahr 2011 erhielt sie einen Platz in der Karawane Paso a Paso hacia la Paz („Schritt für Schritt zum Frieden“), der siebten Karawane von Müttern von Verschwundenen, die durch Mexiko zog und dabei am 13. November in Tapachula haltmachte. Dort traf María Eugenia zwei Frauen, die neue Hoffnung aufkommen ließen, als sie ihr sagten, dass eine ihrer Tochter sehr ähnlich sehende junge Frau im Viertel 5 de febrero in einem Haus mit auffälliger, roter Tür wohnen würde. María Eugenia machte sich sofort auf den Weg dorthin und klopfte an die Tür. Ein gewalttätiger und aufgebrachter Mann mit hellem Haar und von großer Statur öffnete ihr, stritt aber jede Verbindung mit Clementina ab und drohte María Eugenia mit einer Anzeige. „Ich möchte sie ja gar nicht mitnehmen, ich werde das Leben respektieren, das Clementina jetzt führt, nur sehen möchte ich sie“, bat die Mutter. „Ich werde Sie wegen Verleumdung und Beleidigung gerichtlich belangen“, erwiderte der Mann und schlug die Tür zu. Ein Jahr später – María Eugenia Barrera hatte sich auf der Suche nach ihrer Tochter zum zweiten Mal einer Karawane angeschlossen, die auch in Tapachula haltmachte – fragte sie die Leute erneut nach Clementina. Wieder wurde sie erkannt, niemand konnte aber Genaues sagen. María Eugenia verließ den Ort mit dem Gefühl, dass ihre Tochter noch am Leben war.
Auf den Treppen vor der Basilika der Jungfrau von Guadalupe sitzend, ließ eine alte Frau die Zeit verstreichen. Am Morgen hatte man ihr, Teodora Ñaméndiz, die Neuigkeit überbracht, dass ihr seit 32 Jahren vermisster Sohn Dionisio Francisco Cordero Ñaméndiz am Leben und am Hafen von Veracruz gesehen worden sei. Er führe ein einfaches Leben als Fliesenleger und Familienvater. In etwas mehr als 24 Stunden würde Teodora Ñaméndiz ihren Sohn wiedersehen, in Tierra Blanca im Bundesstaat Veracruz, wo die Karawane ihren nächsten Halt einlegen würde. Die Spur von Francisco hatte sich drei Jahrzehnte zuvor verloren nachdem er einen ersten und einzigen Brief an seine Familie geschickt hatte, mit Stempel aus Veracruz. Seitdem schrieb er nicht mehr und rief auch nicht an. Seine Geschwister nahmen an, dass er nicht mehr am Leben wäre. Der Brief, den seine Mutter aufbewahrte, war für Rubén Figueroa ein erster Hinweis auf der Suche nach Francisco. Rubén Figueroa ist als Mitglied der Menschenrechtsbewegung Movimiento Migrante Mesoamericano auf das Wiederfinden von verschwundenen Migrant_innen in Mexiko spezialisierten. Franciscos Adresse in Veracruz stimmte nicht mehr, doch ehemalige Nachbar_innen versuchten weiterzuhelfen. Aus falschen Spuren wurden verheißungsvolle Fährten, bis Rubén Figueroa in Veracruz schließlich einen Mann namens Francisco aufspürte, der mit ausländischem Akzent sprach. Dieser wähnte sich zuerst als Opfer eines Erpressungsversuchs, bis Rubén Figueroa ihn bei seinem zweiten Namen Dionisio nannte. Diesen hatte Francisco während der ganzen Zeit in Mexiko nie benutzt, weder seine Frau noch seine Kinder kannten den Namen, ja er war sogar aus seinen neuen mexikanischen Papieren verschwunden. Stunden später sagte Dionisio Francisco: „Ich dachte, meine Mutter sei schon vor Jahren gestorben, weil die Briefe, die ich schickte, immer zurückkamen. Ich hörte schließlich auf damit, auch weil ich nicht immer das Gleiche schreiben wollte.“ Schon den ganzen Morgen über hatte Teodora Ñaméndiz auf der Treppe der Basilika versucht, sich das Wiedersehen mit ihrem Sohn in verschiedenen Weisen vorzustellen. Manchmal dachte sie, dass sie ihm die Ohren langziehen und ihn fragen würde, warum er sich denn so lange nicht gemeldet hätte. Dann wiederum äußerte sie sich gnädiger, sie würde ihm sagen, sie fühle sich jetzt als glücklichste Frau der Welt, Gott und der Karawane sei Dank. Beim Wiedersehen 24 Stunden später tat sie dann beides, umringt von einem Dutzend Fotograf_innen konfrontierte sie ihren Sohn mit milden Vorwürfen und umarmte ihn lange.
Dionisio Francisco Cordero Ñaméndiz war früher ein einfacher Bauer in Chinandega. Mit 19 Jahren schloss er sich der Armee an, kämpfte gegen die Rebellen der „Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront“, welche schließlich als Sieger aus dem Kampf hervorgingen. Verletzt und verängstigt flüchtete er auf einem Boot nach El Salvador und setzte die Reise in Richtung Norden fort, bis er sich in Veracruz niederließ und jenen Brief an seine Mutter schrieb. Er wusste damals lediglich, dass sie schwer krank war. Als dann seine Briefe von der Post immer wieder zurückgeschickt wurden, gab er auf und hielt seine Mutter für tot. Francisco Cordero versprach, sie in spätestens 18 Monaten in Chinandega zu besuchen, wenn sein jüngerer Sohn die Schule abgeschlossen und er etwas Geld gespart hätte. Seine Mutter indessen würde schon vorher nach Chinandega zurückreisen und ihre Arbeit wieder aufnehmen, nämlich frescos zuzubereiten, Erfrischungsgetränke verschiedenster Fruchtaromen, die sie vor ihrem Haus für fünf Córdobas oder umgerechnet 20 Cents verkauft.

Infokasten

Dieser Text ist ein Auszug aus der Reportage ¿Dónde está mi hijo?, die im Dezember 2012 in der Zeitschrift Gatopardo abgedruckt wurde. Die Reportage wurde 2013 mit dem Walter-Reuter-Medienpreis ausgezeichnet, den die Deutsche Botschaft, das Goethe-Institut, die deutsch-mexikanische Handelskammer sowie die deutschen politischen Stiftungen in Mexiko an mexikanische Journalist_innen vergeben.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Honduras in Mexiko

Doña Nora sitzt unter einem bunten Sonnenschirm. Denn in der Sackgasse, die zur Migrations­­behörde führt, brennt unbarmherzig die Mittagssonne nieder. Der Strom für Laptop und Drucker kommt aus dem Schnellrestaurant hinter ihrem kleinen Stand. An diesem Morgen sind ihre Dienste viel gefragt: Von Männern und Frauen, zumeist aus Mittelamerika und vor allem aus Honduras, denen Nora Rodríguez zielstrebig beim Ausfüllen der Internetformulare hilft.
Doña Nora ist stets modisch gekleidet, ein breiter Gürtel liegt um ihre Hüften. Ihre Wimpern sind dicht getuscht. Wenn sie von ihrer eigenen Migration erzählt, treten Tränen darunter hervor. Vor zehn Jahren ist sie aus Honduras aufgebrochen, um ihre Kinder durchzubringen. In die USA zu gelangen, war ihr Traum. Damit scheiterte sie schon an der zweiten Grenze, die sie überquerte. „In Tapachula hatte ich kein Geld mehr, aber mit „La Bestia“, dem Güterzug, weiter Richtung Norden zu reisen, traute ich mich nicht.“ Dieser ist oft das einzige Trans­port­mittel, das Abertausenden Migrant_innen aus Mittelamerika auf dem Weg durch Mexiko bleibt – abseits der Landstraßen, die von der Migrationspolizei kontrolliert werden.
Nora Rodríguez begann damals als Hausmädchen in Tapachula, im südlichsten Zipfel des mexikani­schen Bundesstaates Chiapas, zu arbeiten. „Doch als Migrantin versuchen viele Leute, sich an einem zu bereichern.“ Oftmals wurde ihr der Lohn vorenthalten. „Es war eine schwere Zeit“, seufzt sie. Fast jeden Tag wird sie daran zurückerinnert, wenn sie anderen Migrant_innen dabei hilft, eine Arbeits­erlaubnis in Mexiko zu erhalten – und damit bessere Jobaussichten zu angemessenen Löhnen. Denn Rechtlosigkeit und Rassismus gehen oft Hand in Hand. „Egal wie lange wir hier schon leben, ob Jahre oder Jahrzehnte: Sie sehen uns nie einfach nur als Menschen, sondern immer als Migranten, die sie mit einem Haufen von Vorurteilen überschütten.“
Zunächst war Doña Noras selbstgewählte Tätigkeit einfach eine Chance, abseits ausbeuterischer und diskriminierender Arbeitsverhältnisse ein Einkommen zu schaffen. Schnell entwickelte sie Herzblut, ihren paisas, ihren Landsleuten durch den Wust der zur Legalisierung notwendigen Anforderungen und Unterlagen zu helfen. In Mexiko ist es tatsächlich in wenigen Jahren möglich, eine permanente Aufent­halts­genehmigung zu bekommen, und mit dem Nachweis von stabilen Arbeits- oder Familien­verhältnissen sogar relativ bald die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Haupthindernis sind dabei die kafkaesk anmutenden Praktiken der staatlichen Migrationsbehörde INM, die französische Sprach­lehrer_innen wie honduranische Bauarbeiter_innen gleichermaßen verzweifeln lassen.
Doch für Letztere lasten die Unkosten der Legalisierung schwerer auf der schmalen Geldbörse. „Früher waren 500 Pesos pro Jahr zu zahlen, heute sind es mehr als 3000 Pesos.“ Die umgerechnet knapp 200 Euro sind eine Hürde für die Mehrheit der Migrant_innen, die sich im informellen Sektor gerade so durchschlagen. Diese versucht Nora Rodríguez zu organisieren. Die sozialen Netze, die sich über die Jahre rund um eine Handvoll Herbergen und das honduranische Konsulat gebildet haben, sind mittlerweile über ganz Tapachula gespannt.
In den mexikanischen Medien und in der Gesellschaft hingegen würde Migration zumeist als etwas Skandalöses und höchst Dramatisches dargestellt, bekundet die Soziologin Carmen Fernández, die am Studienzentrum CIESAS forscht und lehrt. „Berichtet wird über Zugunfälle und ruchlose Schlepper, über menschliche Tragödien und kriminelle Netzwerke. Doch es gibt auch eine Migration, die ganz alltäglich und still vor sich geht. Menschen entscheiden sich zum Leben im Nachbarland und bauen sich ganz allmählich eine Existenz auf. Und in der südlichen Grenzregion Mexikos kann man deswegen seit ein paar Jahren honduranische baleadas zu essen finden und Samstagabends wird punta auf der Tanzfläche gespielt.“
Die schnellen Rhythmen von der honduranischen Karibikküste erklangen zunächst in den ausgedehnten Rotlichtzonen in und um Tapachula. Dort sind fast ausschließlich Frauen aus Mittelamerika, in der Mehrheit aus Honduras, angestellt. Denn infolge der Illegalisierung durch die regionale US-Migrationspolitik, die Mexiko zu einem Filter auf dem Weg in die USA macht, wird Mittel­amerika­ne­rin­nen in anderen Bereichen kaum Arbeit angeboten. Im Umkehr­schluss wird in einer Verknüpfung rassistischer und sexistischer Vorurteile in der mexikanischen Grenzregion angenommen, dass Frauen aus Honduras „besonders freizügig“ wären. Die Exotisierung der südlichen Nachbarinnen stachelt die Begierde mexikanischer Männer an, die die Prostitution in der Grenzregion nicht selten als ganz normale Abendveranstaltung wahrnehmen. Die überdimensionale Nachfrage nach Minder­jährigen wird dabei nicht selten mit der angeblichen „Frühreife der Honduranerinnen“ gerechtfertigt.
Viele tapachultekische Frauen sprechen davon, dass „Honduranerinnen Ehemänner rauben“. Das Zusammenspiel von machismo und marianismo wird hier gewahr: Ehefrauen und Mütter werden zu „Heiligen“, zur Maria, Mutter Gottes, stilisiert, während Sexualität und Lust als rein männlich definiert und von Männern mit „Huren“ abseits des Ehebetts in Motels und Bordellen ausgelebt werden. Geschlechter­bilder, an denen die Gesellschaft in der Grenzregion krankt.
Doch Prostitution findet auch in heruntergekommenen Pensionen und auf öffentlichen Plätzen im Stadt­zentrum Tapachulas statt. Hier sind auch männliche migrantische Jugendliche, die auf der Straße leben, zu finden. Denn immer mehr Kinder und Jugendliche fliehen vor der Gewalt der Jugend­banden in Mittelamerika. Diese führen in den marginalisierten Vierteln Zwangsrekrutierungen durch und haben engmaschig ihre Territorien abgesteckt. Das bringt die Jugendlichen, die sich über die unsichtbaren Grenzen hinausbewegen, als vermeintliche Spitzel in die Schusslinie der feindlichen Bande.
In der Straßenkinderherberge Todo por Ellos finden die minderjährigen Geflüchtete Unterschlupf. Die meisten von ihnen kommen aus Honduras. „Auf der Straße sind sie Ausbeutung und sexuellen Übergriffen seitens Polizei und Passanten schutzlos ausgeliefert“, berichtet Prediger Ramón Verdugo, der Leiter der Herberge. Doch immer öfter stehen ganze Familien vor seiner Tür. Wie Ingrid und Jorge, die mit ihren beiden kleinen Kindern aus dem honduranischen San Pedro Sula geflohen sind. „Unser vages Ziel war die USA. Doch jetzt überlegen wir, hier in Tapachula zu bleiben und einen Asylantrag zu stellen“, erzählt Ingrid.
Ramón Verdugo hat ihnen vorübergehend ein Dach über dem Kopf gewährt. Vor einem Jahr musste er selbst in die USA fliehen, da er die Verstrickungen der Stadtregierung in die Ausbeutung von minderjährigen Guatemaltek_innen öffentlich machte. Diese Kinder und Jugend­lichen, die Tag und Nacht an jeder Straßenampel Tapachulas Kaugummis und Zigaretten verkaufen, sind so omnipräsent wie unsichtbar in der Stadt. Niemand grüßt sie, wie es sonst zum höflichen Standard gehört, doch alle nehmen ihre Serviceleistungen in Anspruch. Dass sie keinen mexikanischen Pass besitzen, scheint jegliches Mitgefühl der sonst vor Kinderliebe überschäumenden Bevölkerung wegzuwischen.
Dabei gehört die chiapanekische Küstenregion erst seit 172 Jahren zu Mexiko und die Grenzlinie zum ehemaligen Vaterland Guatemala, die heute keine halbe Autostunde von der Stadt entfernt ist, wurde erst im Jahr 1882 endgültig festgelegt. Und nicht nur Tapachula, sondern auch die Klein­städte entlang der Tiefebene der Pazifikküste sind durch die letzten beiden Jahrhunderte hindurch bis heute von Migration und Einwanderung aus Ländern wie China, Japan, Deutschland, den Vereinigten Staaten, dem Libanon und dem nordwestlich gelegenen Bundesstaat Oaxaca geprägt. Nichtsdesto­trotz ist ein latenter Rassismus gerade gegenüber Menschen aus Mittelamerika allgegenwärtig. Der Begriff „Migrant“ kommt einem Schimpfwort gleich.
In Tapachula soll deswegen in den nächsten Jahren ein Museum der Migration (MUMISOC) entstehen, nicht zuletzt, um die Identitätswahrnehmung der Bevölkerung mittels museums­pädago­gischer Arbeit zu revidieren. „Aktuelle Migrationen werden als etwas Bedrohliches wahrge­nom­men“, konstatiert der Psychologe Santiago Martínez, der an der Ausarbeitung des Museums­projekts beteiligt ist. Ausgeblendet wird dabei der eigene Migrationshintergrund. „Kaum eine Familie in Tapachula blickt auf rein mexikanische Vorfahren zurück. Da kommt die Großmutter aus dem Libanon, der Vater ist aus Guatemala eingewandert, oder der Nachname der Mutter ist Sonnemann oder Chang.“ Der kulinarische, linguistische, architektonische und kulturelle Reichtum der südlichen Grenzregion Mexikos basiere auf diesem kosmopolitischen Gefüge in der sonst so ländlichen Region.
Aktuell lassen die Zahlen von honduranischen Einwanderer_innen die Bevölkerung der prosperie­ren­den Grenzstadt anschwellen. Prosperierend nicht zuletzt, weil Erntearbeiten und Bauarbeiten, reproduktive Arbeit und Haushaltsarbeit, Gastronomie und Service fast zu 100 Prozent von Migrant_innen getragen wird, während sich der mexikanische Teil der Bevölkerung bildungs-, einkommens- und ansehensstärkeren Berufsfeldern widmen kann.
Doch in vereinzelten Fällen findet auch „Brain Drain“ statt. So arbeiten Karla und Astrid, zwei junge Geigenvirtuosinnen aus Honduras, als Musiklehrerinnen an einer neugegründeten Kunst­akademie in Tapachula und bauen ein Jugendsymphonieorchester auf. In der Stadt ist kaum Fachpersonal für bildende Künste zu finden und aus anderen Teilen des Landes wollen nur die wenigsten in den abgelegenen, provinziellen Boomtown ziehen. So sind es begabte und gut ausgebildete Künstler_innen aus den karibischen und mittelamerikanischen Hauptstädten, die zum Arbeiten hierher kommen.
Vor den Feiertagen treffen Astrid und Karla viele Wahltapachultek_innen im Ticabus, der die Auswanderer_innen in einer eineinhalb-Tagesfahrt von Tapachula zurück nach Tegucigalpa bringt – der honduranischen Hauptstadt mit den unzähligen unverputzten Häusern auf den Hügelketten, den Kolonialbauten und roten Ziegeldächern im Tal.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

// „You can´t evict a movement“

Bis in den mexikanischen Senat hatte sie es mit ihrem Anliegen geschafft. „Wenn wir Frauen nicht unsere Stimme erheben, wird uns niemand hören, und heute werde ich für diese Frau sprechen, die vergewaltigt wurde, die entführt wurde, die ein Kind verloren hat“, verkündet Paola Quiñones. Sie ist Teil der Karawane für den Dialog, in der sich im Juni Migrant_innen aus Zentralamerika zusammengeschlossen hatten, um ihre Rechte einzufordern. Und sie ist Teil eines neuen Selbstbewusstseins: Migrant_innen organisieren sich, machen ihre Situation öffentlich und zwingen die Politik, sie anzuhören.

Erst über Ostern hatte die Migrant_innenkarawane Viacrucis („Kreuzweg“) in Mexiko-Stadt für hunderte Personen 30-tägige Transitvisa für die Reise in die USA ausgehandelt. Die Geflüchteten hatten sich entschlossen, Mexiko zu Fuß zu durchqueren und auf ihrer Durchreise die Menschen über die prekäre Situation undokumentierter Migrant_innen im Land aufmerksam zu machen. Zwischenzeitlich wuchs die Karawane auf rund 1.200 Personen an. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung mit der staatlichen Garantie einer sicheren und freien Durchreise für die Zentralamerikaner_innen durch Mexiko. Eine der marginalisiertesten Gruppen des Kontinents hatte plötzlich ein politisches Gewicht bekommen, das Mexiko kurzzeitig sogar seinen großen Nachbarn im Norden vergessen ließ. Sehr zum Ärger der USA, deren Reaktion mit der massiven Abschiebung von Mexikaner_innen deutlich ausfiel.

Die circa 60 Teilnehmenden der zweiten Karawane für den Dialog fordern nun eine umfassende Lösung der problematischen Situation der Migrant_innen. „Wir wollen die Gewaltsituation verändern, welche die Migration auslöst und Mexiko in einen Weg der Entmenschlichung verwandelt“, heißt es in ihrem ersten Kommuniqué an die mexikanische Regierung und die Botschafter_innen von Honduras, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Zur gleichen Zeit formierte sich in Mexiko-Stadt die Gruppe Migrantes LGBT, die auf die Situation von Homosexuellen und Trans* aufmerksam machen will.

Doch die Organisierung von Geflüchteten beschränkt sich nicht auf Zentralamerika. Auch hierzulande treten Migrant_innen immer offensiver für ihre Rechte ein. Anfang Juli konnten Geflüchtete in der besetzten ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin eine vollständige Räumung verhindern und die Unfähigkeit der lokalen Politik gegenüber der Asylfrage bloßstellen. Über mehr als eine Woche riegelten über 1.500 Polizist_innen einen gesamten Kreuzberger Block ab, während die Entscheidungsträger_innen sich die Verantwortlichkeit für das Fiasko gegenseitig zuschoben. Schon im September 2012 hatten Geflüchtete mit dem Refugee Protest March von Würzburg nach Berlin und dem kollektiven Brechen der Residenzpflicht ihre Stimme hörbar gemacht. Mit dem Refugee March for Freedom von Straßburg nach Brüssel, gestartet im vergangenen Mai, wurde die europaweite Vernetzung auf eine neue Ebene gebracht.

Geflüchtete und Migrant_innen drängen sich mit den kollektiven Aktionen und ihrer Vernetzung in die politische Wahrnehmung und zeigen, dass sie kein Spielball internationaler Politik sind. Und auch wenn die Situationen in Mexiko und Europa sich in verschiedenen Punkten unterscheiden mögen, ist eines deutlich: Die Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt wird nicht länger hingenommen. Zeit zum Aufatmen ist deshalb nicht. An den durch Frontex gesicherten Außengrenzen der EU sterben weiter Menschen, SPD und Union beschlossen erst im Juli eine Verschärfung des deutschen Asylrechts. In Mexiko erhielt die zweite Karawane nach der Viacrucis keine Durchreisevisa mehr, La Bestia, die Reise mit dem Güterzug, wird auch weiterhin das gefährliche Mittel der Wahl für viele Migrant_innen auf dem Weg in die USA bleiben. Die Situation von Geflüchteten in Lateinamerika und Europa wird sich nicht schlagartig verändern. Die angefangene Organisierung der Kämpfe durch die Migrant_innen jedoch ist ein Prozess, der Entscheidungen zu ihren Lasten immer schwieriger machen könnte. Die Geflüchteten in der Gerhart-Hauptmann-Schule stellten dies angesichts ihrer drohenden Räumung klar: „Ihr könnt keine Bewegung räumen!“ – „You can‘t evict a movement!“


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Straflosigkeit als Staatsräson

„Als Kongress wollen wir sagen, dass wir die Vergangenheit vergessen, anfangen zu arbeiten und nach Harmonie, Frieden und Versöhnung suchen sollten.“ So begründete der Präsident des guatemaltekischen Kongresses die Resolution, welche die juristische Anerkennung eines Völkermords im Land während des bewaffneten Konflikts bis 1996 für undurchführbar erklärt. Mit deutlicher Mehrheit war sie am 13. Mai 2014 verabschiedet worden. Für die Opfer der Diktatur ist das blanker Hohn, für aktuelle soziale Kämpfe eine Drohung: die Straflosigkeit der Mächtigen ist in Guatemala Teil der offiziellen Politik.

Dabei hatte noch vor einem Jahr der Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt Hoffnung gemacht. Die Verurteilung zu 80 Jahren Haft wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschheit wurde als Meilenstein auf dem Weg zur Versöhnung und der Suche nach Gerechtigkeit in Guatemala gewertet. Doch eine unabhängige Justiz in einem von Landkonflikten und umstrittenen Megaprojekten geprägten Land scheint dem Establishment aus Politiker_innen, Militärs und Wirtschaftseliten ein Dorn im Auge. Seit dem hist­orischen Urteil konnte die Welt mit ansehen, wie der Justizapparat auf beispiellose Weise wider den Interessen der Mächtigen Guatemalas untergeordnet wurde.

Der erste Schlag kam nur zehn Tage nach dem Urteil, als das guatemaltekische Verfassungsgericht wegen angeblicher Verfahrensfehler den Prozess annullierte und forderte, die Beweisführung neu aufzurollen (siehe LN 468). Es folgten Anschuldigungen gegen die verantwortliche Richterin Yassmín Barrios, die nun Anfang April für ein Jahr von der Anwaltskammer suspendiert wurde. Der Grund: Sie habe sich am ersten Verhandlungstag respektlos gegenüber dem Verteidiger Ríos Montts verhalten. Das Urteil gegen die Richterin sieht zudem eine öffentliche Abmahnung in der auflagenstärksten Tageszeitung sowie jeweils zwei Radio- und Fernsehsendern Guatemalas vor. Während die Diskussion um eine Amnestie für Ríos Montt wieder aufflammt, wird die Richterin, die ihn verurteilte, medial an den Pranger gestellt. An Yassmín Barrios wurde so ein Exempel statuiert, das katastrophale Auswirkungen auf die Unabhängigkeit von Richter_innen in politisch brisanten Prozessen hat.

Die Neubesetzung der Generalstaatsanwaltschaft vergangen Mai weist die gleichen Muster auf. Denn eigentlich hätte Claudia Paz y Paz, die den Prozess gegen Ríos Montt entscheidend mit angetrieben hatte, noch bis Dezember im Amt bleiben sollen. Doch das Verfassungsgericht entschied im Februar, dass Paz y Paz nur die Vertreterin ihres früher aus dem Amt geschiedenen Vorgängers sei und kein Anrecht auf eine eigene Amtszeit von vier Jahren habe. Dem Ankläger im Fall werden Verbindungen zur ultrarechten Stiftung gegen den Terrorismus nachgesagt. Das Urteil stieß international auf Ablehnung und Paz y Paz bewarb sich erneut auf das Amt. Doch mit Thelma Aldana übernimmt nun eine Vertraute des Präsidenten Otto Pérez Molina den Posten.

Und jetzt noch die Negierung des Völkermords durch den Kongress. Nur ein Jahr nach dem Urteil ist die Hoffnung auf einen Aufbruch Guatemalas zu einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und einer unabhängigen Justiz im Keim erstickt worden. Auch in Zukunft ist der Straflosigkeit in Guatemala Tür und Tor geöffnet, solange die Interessen bestimmter Eliten betroffen sind. Die Leichtigkeit, mit der der Justizapparat innerhalb nur eines Jahres demontiert wurde, zeigt deutlich: Harmonie, Frieden und Versöhnung bleiben auch in Zukunft ein Privileg der Mächtigen Guatemalas.
Und falls der Fall Ríos Montt Anfang nächsten Jahres überhaupt wie vorgesehen wieder aufgenommen werden sollte, dürfte er ein bitterer Abklatsch eines ehemals großartigen Projektes werden.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„An der Schwelle zu neuen Landvertreibungen“

Seit 2006 befinden sich die 12 Gemeinden von San Juan Sacatepéquez im Widerstand gegen die Firma Cementos Progreso. Wie begann der Protest?
Im Jahr 2006 wurden unsere Rechte verletzt, als fremde Personen in unsere Gemeinden eindrangen. Wir waren vorher weder informiert noch nach unserem Einverständnis gefragt worden. Damals haben wir uns organisiert und den Bürgermeister von San Juan Sacatepéquez über die Vorgänge befragt. Dieser meinte ernsthaft, dass er von nichts wisse. Doch nach weiteren Treffen mit ihm wurde klar, dass er bereits ein Übereinkommen mit der Firma Cementos Progreso unterschrieben hatte, die eine Zementfabrik in unseren Territorium bauen wollte und dabei war, eine topographische Studie für eine Zugangsstraße zu erstellen.

Es gab also keine vorherige Befragung der Gemeinden auf dem Territorium, obwohl Guatemala die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat?
Wir haben den Bürgermeister aufgefordert eine Befragung durchzuführen, welche am 15. April 2007 stattfinden sollte. Doch kurz vorher sagte er die Konsultation ab und verschob sie auf den 13. Mai. Nur um sie kurz vorher wieder zu annullieren und zu sagen, dass für die Durchführung der Befragung eine Million Quetzales (circa 94.000 Euro, Anm. d. Red.) nötig seien und das Geld stattdessen in die Infrastruktur der Gemeinden fließen würde. Dazu fing er an, Flugzettel über die Absage der Befragung zu verteilen.
Aber die Autoritäten der Gemeinden hatten bereits einen Plan B und die asambleas (Basisversammlungen, Anm. d. Red.) entschlossen sich, mit Bezug auf die ILO-Konvention 169 eine eigene Befragung durchzuführen. Auch wenn der Bürgermeister verbreitete, dass die Teilnahme an dieser selbstorganisierten Konsultation strafbar sei, kamen 8950 Personen. 8946 stimmten gegen die Niederlassung der Firma.

Welche Reaktion gab es auf das Ergebnis der Konsultation?
Wir glaubten, dass die Sache damit erledigt wäre. Doch die Antwort des Staates, der Regierung und der Firma waren Bedrohungen, Einschüchterung und Repressionen gegen die Gemeinden: Anonyme Anrufe und Nachrichten und am 14. Dezember 2007 der erste Angriff durch die Nationalpolizei. Eine asamblea der Gemeinden wurde mit Tränengas bombardiert, 17 compañeros festgenommen und die Häuser der Repräsentanten der Gemeinden durchsucht. Außerdem gab es anonyme Kampagnen, die behaupteten, dass wir Terroristen seien und biologische und atomare Bomben bauen würden. 2008 wurde dann ein Präventionszustand in der Region verhängt, der 15 Tage dauern sollte. Das Gebiet wurde militarisiert und 43 compañeros verhaftet.
Zusätzlich zu den willkürlichen Verhaftungen durch die Sicherheitskräfte werden unsere Mitglieder systematisch strafverfolgt. Dabei werden die Regeln des fairen Verfahrens grundsätzlich nicht eingehalten. Zurzeit liegen 86 Anzeigen gegen Gemeindemitglieder vor. Für Kautionen haben wir inzwischen mehr als eine halbe Millionen Quetzales (mehr als 46.000 Euro, Anm. d. Red.) bezahlt und das Geld für die Honorare der Anwälte ist noch nicht mit eingerechnet. Dieses gesamte Geld wurde durch die Gemeindemitglieder gesammelt. Niemand sonst finanziert uns.

Was sind die größten Kritikpunkte der Gemeinden an dem Bau der Zementfabrik?
80 Prozent der Menschen hier leben von der Landwirtschaft, vor allem vom Rosenanbau. Als wir 2008 die Studie über die Auswirkungen der Zementfabrik auf die Umwelt einsehen konnten, stellten wir fest, dass die Fabrik täglich 900.000 Liter Wasser verbrauchen wird. Mit diesem Wasserverbrauch werden wir ernsthafte Probleme bekommen, da wir das Wasser nicht nur zum Trinken sondern auch für die Bewässerung der Felder brauchen.
Für den Bau der Straße haben wir bis heute keine Studie zu den Auswirkungen erhalten, obwohl wir diese beim zuständigen Ministerium beantragt haben. Gleichzeitig werden Gemeindemitglieder bedrängt, ihre Grundstücke zu verkaufen und es gab sogar Fälschungen von Eigentumsdokumenten in Gemeindebesitz. Wir sind an der Schwelle zu neuen Landvertreibungen.
Außerdem haben wir eine Befragung der lokalen Bevölkerung durch das Nationale Institut für Wälder (INAB) gefordert, da dieses die Lizenzen für Abholzung austeilt. In der Finca San Gabriel wurden bereits 84,5 Hektar Wald abgeholzt. Seitdem hat sich eine Veränderung des Klimas eingestellt und es gab neue Plagen auf den Feldern. Doch das INAB hat bereits die Lizenz für die Rodung weiterer 42 Hektar an eine andere Finca gegeben.
Gleichzeitig hat mit dem Beginn des Konflikts eine Zerstörung des sozialen Gefüges in der Region begonnen und ungefähr fünf Prozent der Gemeindemitglieder sind nach so vielen Einschüchterungen und Manipulationen für den Bau der Fabrik.

Zählt zu diesen Manipulation auch das Versprechen von mehr als 2000 Arbeitsplätzen während der Konstruktionsphase der Fabrik?
Ja, denn diese 2000 bis 3000 Arbeitsplätze gelten für die Konstruktionsphase der Infrastruktur über drei Jahre. Wenn die Fabrik erst einmal fertig gestellt ist, wird sie nur noch rund 250 qualifizierte Arbeiter brauchen – Architekten, Elektriker, Ingenieure. Für die 60.000 Einwohner der Gemeinden ist also nicht einmal Arbeit durch die Fabrik garantiert, während wir gleichzeitig die Auswirkungen ertragen müssen.

Inwiefern berücksichtigt Cementos Progreso die kulturellen und sozialen Auswirkungen des Projektes?
Cementos Progreso versprach die Kultur der hier ansässigen Gemeinden zu respektieren. Aber derzeit hat die Firma den Zugang zu drei für uns heiligen Bergen versperrt. 2007 haben wir gefordert, dass das Ministerium für Kultur und Sport die Berge zu unantastbarem kulturellem Erbe erklärt, aber bis jetzt ist dies nicht geschehen. Ebenso haben wir bei Cementos Progreso den freien Zugang zu den heiligen Orten eingefordert. Aber in einem Dialog zwischen dem Ministerium, der Firma und den Gemeinden wurde von Cementos Progreso erklärt, dass sie uns Zugang gewähren würden, wenn wir die Firma in Ruhe und zu hundert Prozent arbeiten lassen. Unsere Rechte werden also an Konditionen gebunden – wie kann Cementos Progreso da behaupten unsere Kultur zu respektieren?

Mitten in dem Konflikt der Gemeinden mit Cementos Progreso begann 2011 ein dreijähriger Mediationsprozess, welcher durch die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geleitet wurde. Was sind eure Erfahrungen mit dieser Mediation?
Nun, als wir die Gelegenheit hatten, zweimal mit dem damaligen deutschen Botschafter Thomas Schäfer zu sprechen, hatte die GIZ bereits ein Abkommen mit Cementos Progreso unterschrieben. Sie kamen also mit einer Vorstellung von Entwicklung, die an die Zementfabrik gebunden war. Wir sind offen für einen Dialog, aber haben unsere Forderungen nach einer Garantie für Wasser, Landwirtschaft und unsere Gesundheit nie aufgegeben. Außerdem wollen wir eine neue Umweltstudie, da die aktuelle viele Fehler aufweist und sich nie wirklich mit der Region auseinandergesetzt hat. Als der deutsche Botschafter in die Gemeinden kam, hatte er verschiedene Zeitschriften und Broschüren dabei. Darin stand, dass die Zementfabrik angeblich an der tiefsten Stelle der Gemeinden gebaut werden soll und so unseren Zugang zum Wasser nicht einschränkt. Ich habe sofort die Gelegenheit ergriffen und den Botschafter zur Gemeinde San Antonio las Trojes I geführt, die sich unterhalb der Zementfabrik befindet.
Zudem gab es den Vorschlag, dass wir doch selbst entscheiden könnten, wo die neue Straße entlangführen soll. Aber wir in den Gemeinden wollen eine solche Entscheidung nicht treffen. Warum sollten wir so etwas entscheiden, wenn wir vorher nie informiert und befragt und unsere Rechte von Anfang an missachtet worden sind? Letztlich ist der Konflikt durch die Mediation nicht verändert worden.

Während der Mediationsphase wurde 2012 eine Militärbasis in der Region installiert. Wie sehen Sie dieses Ereignis im Zusammenhang mit den Protesten in San Juan Sacatepéquez?
Dieses Thema begleitet uns seit dem Präventionszustand 2008. Denn nach Ende des Ausnahmezustandes blieben eine Abteilung des Militärs und ein Polizeicamp innerhalb des Privatbesitzes von Cementos Progreso. Angeblich wusste nicht einmal das Verteidigungsministerium von diesem Camp und musste eine Kommission schicken, um die Lage zu prüfen. Erst 2009 konnten wir einen Rückzug des Militärs und der Polizei aus dem Privatgelände der Firma erreichen. Das Thema der Militarisierung haben wir auch bei der Indigenen Karawane angesprochen, die in Cobán, Alta Verapaz startete und uns dabei klar gegen eine zweite Militärbasis in San Juan Sacatepéquez positioniert. In einer Diskussion mit Miguel Ángel Balcárcel, dem Direktor des Nationalen Dialogsystems, kamen wir zu einem Übereinkommen. Am nächsten Tag im März 2011 verkündete die Regierung jedoch die zweite Militärbrigade in San Juan Sacatepéquez. Diese zweite Militärbasis dient klar der Sicherung der Zementfabrik.

Wie sehen Sie den Konflikt in San Juan Sacatepéquez im Kontext der derzeitigen politischen Situation in Guatemala? Am 13. Mai verabschiedete der Nationale Kongress, dass es in Guatemala keinen Genozid gegeben habe. Nur ein Jahr zuvor war das Urteil gegen Ex-Diktator Ríos Montt wegen Völkermords bereits zehn Tage nach seiner Verkündung annulliert worden…
Was wir in diesem Land erleben, ist das aktuelle wirtschaftliche Modell Guatemalas. Regierungen, Ministerien und Politiker folgen nur partikularen Interessen und dies schlägt sich auch in der Gesetzgebung nieder, welche schon immer transnationale Konzerne bevorzugt hat. Es ist traurig, wenn eine Resolution den Völkermord in Guatemala negiert, obwohl es mehr als genügend Beweise dafür gibt. Das ist ein Mechanismus, um die Stimme der Bevölkerung in Guatemala zum Schweigen zu bringen und ein Modell, dessen Opfer immer die marginalisiertesten Gemeinden im Land sind.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Die Realität aus der Sicht der Zapatistas

„Es wird Gerechtigkeit geben“, kündigt Comandante Tacho am frühen Samstagnachmittag des 24. Mai an. Während die Hitze in diesem Teil des lakandonischen Dschungels, unweit der mexikanischen Grenze zu Guatemala, weiterhin unerbittlich brütet, spricht Tacho im zapatistischen autonomen Caracol (Verwaltungszentrum) La Realidad vor knapp 3500 Basisaktivist_innen. Weitere 1000 Sympathisant_innen, freie Medienaktivist_innen und Anhänger_innen der Sechsten Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald (la Sexta) sind in einer Solidaritätskarawane angereist. Zu diesen hingewandt fügt er hinzu: „Wir wollen nicht, dass ihr provoziert!“
Tacho ist Teil des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandatur (CCRI-CG) der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), das in diesen Tagen beauftragt wurde, einen zuvor erfolgten paramilitärischen Angriff zu untersuchen. Dass die militärische Befehlsebene der zapatistischen Bewegung auf zivilem Boden agiert, erfolgt auf ausdrückliche Bitte seitens der zivilen Autoritäten. Das ist ungewöhnlich – genau wie die aus vielen Bundesstaaten angereiste Karawane. Alles andere als ungewöhnlich sind hingegen die Einschüchterungen, Aggressionen sowie Attacken bis hin zu Mord an zapatistischen Aktivist_innen. Zusammen mit Sozialprogrammen und sogenannten Armutsbekämpfungsplänen bilden sie die Eckpfeiler der seit dem 1. Januar 1994 allgegenwärtigen staatlichen Aufstandsbekämpfungsstrategie.
Der 2. Mai, ein Freitag, ist anders. Anders ist die Organisierung, anders die Durchführung. Anders ist auch, dass die Wahrheit über die erfolgten Geschehnisse nicht irgendwo zwischen den unterschiedlichen Aussagen der beteiligten und betroffenen Parteien liegt. Noch weniger liegt sie in den publizierten Nachrichten der renommierten kommerziellen Massenmedien – darunter auch vermeintlich kritische Medien wie die Tageszeitung La Jornada oder das Recherchemagazin Proceso – die als Erste von den Ereignisse berichteten. Zwischen diesen Darstellungen und der erst Tage später erfolgten Pressenachricht des in Chiapas tätigen und breit anerkannten Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) liegen Welten. Es ist das Frayba, das in diesen Tagen aufgrund der Spannungen in La Realidad als neutrale Vermittlungspartei ständig anwesend ist. Erst nach der Pressenachricht kommt es zu einer Stellungnahme seitens der Junta der Guten Regierung von La Realidad; aus Respekt vor der Unparteilichkeit des Menschenrechtszentrums, heißt es.
Während die Massenmedien erneut das Szenario eines internen Gemeindekonfliktes hervorrufen, in dem Zapatistas und Mitglieder der ebenso in La Realidad präsenten indigenen bäuerlichen Organisation CIOAC-Histórica bewaffnet aufeinander losgehen, zeichnen die Darstellungen vom Frayba ein ganz anderes Bild.
Demnach erfolgten im Caracol Konfliktverhandlungen zwischen der Junta der Guten Regierung und Repräsentanten der CIOAC-H – die Tageszeitung La Jornada spricht hierbei von einer Entführung des Delegierten – als außerhalb des Caracols anwesende Mitglieder der CIOAC-H, der Grünen Ökologischen Partei Mexikos (PVEM) sowie der Partei der Nationalen Aktion (PAN) die 150 Meter entfernte autonome Schule und Klinik der Zapatistas zerstören. Kurze Zeit darauf werden am Dorfeingang 68 angereiste zapatistische Basisaktivist_innen aus dem Hinterhalt mit Waffen, Macheten und Steinen von CIOAC-H Mitgliedern angegriffen. Als daraufhin der Zapatist José Luis Solís López, unbewaffnet und in der Bewegung besser bekannt unter dem Namen Galeano, aus dem Caracol eilt, um Hilfe zu leisten, gerät er in einen weiteren Hinterhalt der Angreifer. Er wird von 15 bis 20 Personen umzingelt. Eine Kugel trifft ihn in den rechten Fuß, eine weitere dringt in seine linke Brust ein. Mit Macheten schlagen sie auf ihn ein, auf den Rücken, über den Mund. Schließlich gibt ihm jemand den Gnadenschuss. Der tote Körper wird danach 80 Meter durch das Dorf geschleift. Galeano war in der Region von La Realidad zuständiger Lehrer in dem vor weniger als einem Jahr gestarteten Projekt der „kleinen zapatistischen Schule“ (Escuelita Zapatista), zu der bisher mehrere tausend interessierte Menschen aus aller Welt angereist sind, um den Autonomieprozess aus nächster Nähe kennen zu lernen. Es war kein Zufall, dass sich die Angreifenden auf ihn stürzten.
„Wir weisen ausdrücklich alle Anschuldigungen zurück, die behaupten, dass wir bewaffnet waren. Wenn dem so gewesen wäre, dann wäre das Ergebnis ein anderes“ heißt es in der Stellungnahme der Junta der Guten Regierung. Es ist keine Überraschung, dass deren Aussagen mit der Pressenachricht des Frayba wie die Faust aufs Auge zusammenpassen. Die Medien stehen keineswegs außerhalb des Szenarios. Sie reproduzieren nämlich das Bild, welches der Staat versucht zu verbreiten: Auf der einen Seite der neutrale, nach Aussöhnung suchende Staat, auf der anderen die sich bekriegenden Gemeindemitglieder.
Vor den stechenden Sonnenstrahlen durch einen großen Pavillon geschützt und auf weitere Ankündigungen seitens der Kommandantur der EZLN wartend, erklärt Pedro Faro Navarro vom Menschenrechtszentrum, dass der Mord an Galeano nur die „Spitze des Eisberges“ der Aufstandsbekämpfungsstrategie gegen das zapatistische Autonomieprojekt sei. Er berichtet, dass die Vereinnahmungsversuche der letzten Jahrzehnte seitens der mexikanischen und der chiapanekischen Regierung allmählich Früchte zeigten. Vermehrt wurden Anführer_innen bäuerlicher und indigener Organisationen erfolgreich gekauft. So wurde langsam aber stetig eine „staatliche Kontrolle der sozialen Bewegungen und ihrer Aktionsmodi“ erreicht.
Wenngleich Faro Navarro die CIOAC-H nicht als paramilitärische Organisation im eigentlichen Sinne bezeichnet, seien für ihn die gelegten Hinterhalte sowie die gezielte Ermordung Galeanos Zeichen einer paramilitärischen Organisierung. Zudem stechen deren engste Verflechtungen mit Politiker_innen und politischen Parteien auf lokaler, regionaler und bundesstaatlicher Ebene hervor.
Nach dem Mord wurde eilig innerhalb von einer Woche eine Karawane geplant; nach der expliziten Einladung der EZLN. Für viele fing die Reise in Mexiko-Stadt oder noch weiter nördlich an. Die knapp 1000 Kilometer lange Strecke aus der Hauptstadt nach Chiapas wurde in gut 44 Stunden zurückgelegt. Bereits vor der Ankunft in La Realidad sind am Straßenrand der zapatistischen Territorien Schilder zu erkennen, auf denen „Galeano lebt. Wir wollen Gerechtigkeit, keine Vergeltung!“ zu lesen ist. Im Caracol zeigt sich den Angereisten Unerwartetes: Rund um den Basketballplatz haben sich die Milizen der EZLN formiert. Es ist das erste Mal seit 1996, dass sich die Bewegung derartig präsentiert – ein Warnsignal, dass, obwohl das zapatistische Autonomieprojekt auf Gewaltverzicht, Dialog und den Ausbau ziviler Prozesse setzt, die militärischen Strukturen nach wie vor vorhanden und aktiv sind. Angesichts der sich häufenden Aggressionen und Attacken könne nicht tatenlos zugeschaut werden.
Mittlerweile füllt sich der Platz mit tausenden vermummten Zapatistas. Aus jedem der fünf Caracoles ist eine Delegation angereist, aus allen fünf Regionen werden Gedenkkränze für Galeano überreicht. Die Milizen bilden die äußerste Reihe. Tausende Augen haben ihren Blick auf die Angereisten gerichtet, die auf Bänken unter dem Pavillon Platz gefunden haben. Befehle werden gerufen und die Milizionär_innen schließen ihre Reihen, ziehen sich Klappen über ihre rechten Auge, haken sich ein und marschieren langsamen Schrittes in Richtung Pavillon. Plötzlich ist das Lied ‚Latinoamérica‘ der Band Calle 13 zu hören und Subcomandante Insurgente Marcos kommt auf einem Pferd angeritten. Er salutiert, reckt die linke Faust in die Höhe und streckt den Mittelfinger aus. Es erscheinen weitere Befehlsträger auf Pferden, unter ihnen Comandante Tacho sowie Subcomandante Insurgente Moisés. Sie salutieren ebenfalls, gehen ab und die beeindruckende, symbolhaft aufgeladene Inszenierung ist zu Ende.
Als Subcomandante Insurgente Moisés ein Kommuniqué verliest und sich die freien Medien vor der großen Bühne tummeln, auf der Marcos steht, erfolgt eine symbolische Verbindung zwischen den Anhänger_innen der Sexta und den Zapatistas. Während erstere auf dem Basketballplatz sieben Reihen bilden, werden sie von den tausenden anwesenden zivilen Zapatistas umringt – dies erfolgt weitaus disziplinierter als die Bildung der sieben Reihen der Angereisten. Schließlich passieren alle, sowohl Zapatistas als auch die Angereisten, das Grab von Galeano. Es befindet sich nicht auf dem Friedhof des Dorfes, sondern hinter dem Haus seiner Familie. Auf dem Grab türmen sich Blumen und unzählige kleine Steine.
Das Zusammentreffen in La Realidad ist nicht nur eine kollektive Trauerfeier oder die Präsentation von Stärke der Bewegung. Es ist vielmehr auch die symbolische Aufhebung des Todes von Galeano: „Und zum Schluss werden jene, die verstehen, wissen, dass nicht geht, wer niemals da war und dass nicht stirbt, wer nicht gelebt hat.“ Dies sind die letzten Worte von Subcomandante Insurgente Marcos in dieser Nacht – eine mediale Figur, geschaffen für die Kommunikation nach außen, die als nicht mehr notwendig erachtet wird. Damit Galeano weiter lebt, wird der Tod der Figur von Marcos nun als Subcomandante Insurgente Galeano vollzogen. Wiederbelebt durch tausende Stimmen, die in der Nacht zum Sonntag, ausrufen: „Wir sind Galeano.“ Gerechtigkeit wurde gesprochen; Gerechtigkeit, wie sie die Zapatistas verstehen: „Und der Tod wird sich betrügen lassen von einem Indigenen mit dem Kampfnamen Galeano und in diesen Steinen, die sie auf sein Grab legten, wird er wieder schreiten und wird jene, die das zulassen wieder das Basiswissen über Zapatismus lehren, das da heißt, sich nicht verkaufen, nicht aufgeben, nicht wanken.“

Nachtrag

Auf der Rückreise von La Realidad kam es zu einem Unfall, bei dem zwei mitgereiste Anhänger_innen der Sexta verletzt wurden. Einer von ihnen, David Ruiz García, erlag vier Tage später seinen Verletzungen. Der 25-jährige lebte und kämpfte in San Francisco Xochicuautla, Estado de México, gegen ein geplantes infrastrukturelles Großprojekt, welches die Abholzung der Wälder vorsieht. David war darüber hinaus im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) aktiv gwesen. Eine Woche nach der Trauerfeier im lakandonischen Dschungel wurde viele hundert Kilometer nördlich davon in den Bergen die Totenfeier für David abgehalten.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Gefährliche Kriminalisierung

Frau Sibrián, 2012 hat Ihre Organisation gemeinsam mit sieben weiteren Organisationen eine Begriffsbestimmung der Kriminalisierung vorgenommen. Was zählt außer einer illegitimen Verfolgung durch Polizei und Justiz noch zur Kriminalisierung und wer ist davon betroffen?
Grundsätzlich sind diejenigen betroffen, die die Menschenrechte verteidigen und mit der Ausübung ihrer Rechte die Interessen der politisch oder wirtschaftlich Mächtigen bedrohen. Dadurch werden sie Opfer einer Reihe von Aktionen von Seiten der Mächtigen: verbale und physische Aggressionen, öffentliche Stigmatisierung, die Zerstörung ihres Images und ihrer Person, oder eben die Eröffnung juristischer Prozesse.
Wenn wir von kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern sprechen, sprechen wir von Menschenrechtsverteidigern, die man versucht, als Personen, die gegen das Gesetz verstoßen, erscheinen zu lassen. Und in vielen Ländern ist das Gesetz auf die Interessen derjenigen zugeschnitten, die die politische und oftmals auch die wirtschaftliche Kontrolle haben. Daher gibt es Länder, in denen die Gesetze sehr ungerecht und undemokratisch sind, und die Menschenrechtsverteidiger geraten in Widerspruch mit diesen Gesetzen.

Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?
Es gibt das Beispiel des Widerstands von La Puya, ein Minenprojekt 18 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Die meisten, die sich im Widerstand organisiert haben, sind einfache Frauen aus der Gemeinde, Mütter, viele von ihnen aktiv in der Kirche. Sie haben einen tiefen Glauben an Gott und an die Gerechtigkeit. Manchmal kann man sie an der Zufahrt zur Mine stehen sehen und religiöse Lieder singen hören. Das ist sehr bewegend, weil es ein absolut friedlicher Protest ist. Trotzdem werden die sichtbaren Anführer juristisch verfolgt, einschließlich einer Frau, der bereits bei einem Attentat vor einigen Jahren in den Rücken geschossen wurde. Es gibt also diese Kombination von juristischen und nichtstaatlichen Angriffen.
Ein anderer Typ von Kriminalisierung betrifft diejenigen, die für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit in Guatemala eintreten. Es war ein großer Fortschritt in diesem Land, als 2012 das Verfahren gegen den General Efraín Ríos Montt eröffnet wurde. Aber mit dem Prozess begann auch die öffentliche Diskreditierung der indigenen Frauen, die als Zeuginnen in dem Prozess aussagten, und eine Diskreditierung all derjenigen, die Gerechtigkeit verlangten. Der Kern der Argumentation war, dass der Ruf nach Gerechtigkeit zu einer Spaltung des Landes führen würde, während doch in Wirklichkeit die Gerechtigkeit die beste Art sein kann, wie sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen in Bezug auf diese Verbrechen wieder annähern können. Jemand, der keine Gerechtigkeit erfährt, kann sich nicht mit dem anderen an einen Tisch setzen und versuchen, das soziale Gewebe zu reparieren.

Welche Akteur_innen und welche Interessen stehen hinter der Kriminalisierung?
Ich werde ein weiteres Beispiel nennen. Am 10. Mai 2013 wurde ein historisches Urteil gegen den General Efraín Ríos Montt gefällt. Das Urteil betrifft indirekt auch das Militär, da mit dem Urteil explizit die Rolle des Generals und der Armee bei Menschenrechtsverletzungen anerkannt wurde. Zwei Tage nach dem Urteilsspruch organisierte der private Sektor eine Pressekonferenz, auf der die Unternehmer das Verfassungsgericht öffentlich zu einer Korrektur seines Urteils aufforderten. Und eine Woche später entschied das Gericht, den Prozess gegen Ríos Montt zu annullieren. Glücklicherweise traf das Gericht diese Entscheidung nur mit drei zu zwei Stimmen, das heißt, dass zwei Richter erkannten, dass die Entscheidung illegal war. Aber hier wird die starke Allianz zwischen der wirtschaftlichen Macht und der für die schweren Menschenrechtsverletzungen schuldigen, militärischen Macht deutlich.

Auch die Botschaften der EU haben die Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Stimmt es, dass die EU-Botschaft in Guatemala dieser Aufgabe nicht nachkommt?
In der Botschaft der EU in Guatemala arbeitet nur eine Diplomatin, die Botschafterin. Der Rest des Personals kommt aus der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist in Guatemala anders als in anderen EU-Botschaften. Die EU erreicht auf der diplomatischen Ebene nicht die Stärke, etwa um Besuche bei kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern außerhalb der Hauptstadt zu machen. Wenn ich mich nicht irre, haben in den vergangenen zwei Jahren keine Besuche in Gemeinden stattgefunden. Manchmal schicken sie ihr Personal aus der Entwicklungszusammenarbeit, aber dieses hat nicht das gleiche Gewicht, wie wenn die einzige ranghohe Diplomatin, die Botschafterin, die kriminalisierten Gemeinden besuchen- und ein Interesse an ihren Problemen zeigen würde.

Im Jahr 2012 erklärte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Guatemalas Regierung für die im Zusammenhang mit dem international finanzierten Staudammprojekt Chixoy begangenen Massaker von Río Negro Anfang der 80er Jahre für schuldig. Ein im Januar in den USA beschlossenes Gesetz sieht nun die Entschädigung der Betroffenen durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank vor. Ist dies ein Erfolg im Kampf gegen Staudammprojekte?
Das ist vor allem ein Beispiel für Wiedergutmachung. Ein Erfolg wäre, wenn sich solche Verbrechen verhindern ließen. Die Guatemalteken und die internationale Gemeinschaft hätten jetzt die Möglichkeit, aus diesem Fall zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, damit sich solche Fälle nicht wiederholen. Die Gemeinden und die Anwälte, die den Fall Chixoy begleitet haben, haben einen langen Kampf hinter sich. Es war für sie ein großer Triumph, als die Verantwortung des Staates bewiesen und er zur Entschädigung verpflichtet wurde. Vor einigen Jahren sind dieselben Menschenrechtsverteidiger von Chixoy noch kriminalisiert und verfolgt worden. Leider wurde die Verpflichtung zur Entschädigung bislang nicht umgesetzt. Und hier spielen die USA eine sehr wichtige und bewundernswerte Rolle, indem sie dem guatemaltekischen Staat Bedingungen stellen. Sie sagen, dass die militärische Hilfe nicht einfach als Blankoscheck erfolgen kann. Ich denke, dass sich andere europäische Staaten daran ein Beispiel nehmen könnten und den Ländern des amerikanischen Kontinents sagen: Es gibt Menschenrechtsabkommen und wenn ihr die daraus hervorgehenden Verpflichtungen nicht einhaltet, muss es eine Art von Sanktion geben. Politische Sanktionen haben immer weniger Bedeutung. Sanktionen müssen daher wirtschaftlich sein, und sie dürfen nicht nur Staaten betreffen, sondern auch nichtstaatliche Akteure, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.

Infokasten

Anabella Sibrián arbeitet bei der 2001 gegründeten Holländischen Plattform gegen Straffreiheit, Guatemala, einem Projekt mehrerer internationaler Menschenrechtsorganisationen. Sie begleitet die Arbeit guatemaltekischer Menschenrechtsverteidiger_innen und betreibt in der EU Advocacy für die Menschenrechtsverteidigung in Zentralamerika.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Hürden auf dem Weg aus der Gewalt

Nichtregierungsorganisationen aus 14 Ländern der Amerikas haben Gruppenbefragungen von Geflüchteten und Interviews mit Vertreter_innen der Zivilgesellschaft durchgeführt, um herauszufinden, wie es um die Verwirklichung der Vereinbarungen steht, die mit der Erklärung von Cartagena 1984 getroffen wurden. Ab März dieses Jahres wird der Bericht Iniciativa Cartagena +30 („Initiative Cartagena +30”) im Internet zugänglich sein. Mit ihren Empfehlungen wollen die beteiligten Organisationen Einfluss auf die für Dezember geplante lateinamerikanische Ministerkonferenz in Brasilia nehmen, auf der ein flüchtlingspolitischer Aktionsplan verabschiedet werden soll.
Die „Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge“ wurde vor dem Hintergrund des staatlichen und paramilitärischen Terrors in verschiedenen zentralamerikanischen Staaten Anfang der 1980er Jahre verabschiedet, als mehrere Millionen Menschen über die Grenzen ihrer Heimatländer vertrieben wurden. Die in ihr enthaltene Flüchtlingsdefinition geht über jene der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus. Sie umfasst all jene Menschen, die sich zur Flucht veranlasst sehen „weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder Freiheit durch allgemeine Gewalt, Aggression von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder andere Umstände, die zu schweren Störungen der öffentlichen Ordnung geführt haben, bedroht ist“. Die zehn lateinamerikanischen Erstunterzeichnerstaaten bekannten sich zum Verbot, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen und dazu, sie in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit und Sicherheit zu unterstützen.
Im Gegensatz dazu zeugen die aktuellen Befragungsergebnisse der Nichtregierungsorganisationen nun davon, wie weit Diskriminierungen gegen Flüchtlinge verbreitet sind. Vielfach werden sie mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Xenophobe Vorurteile in Gesellschaft und Medien verbinden sich mit staatlichen Sicherheitsdiskursen. So wird in vielen Staaten des Kontinents der Zugang zum Asylverfahren durch die zunehmende Orientierung der Migrationspolitik an Fragen der nationalen Sicherheit erschwert. Das hat zur Folge, dass an den Grenzen immer wieder Menschen zurückgewiesen werden, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz hätten. Angesichts dieser Fokussierung auf Sicherheitsfragen ruft Pablo Asa vom argentinischen Centro de Estudios Legales y Sociales (Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) die Zivilgesellschaft dazu auf, ein Gegengewicht zu setzen, „damit das Thema der Rechte nicht auf der Strecke bleibt”.
Im Kontext der „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist auch die Praxis verbreitet, Migrant_innen und Asylsuchende zu inhaftieren. In Mexiko werden Asylsuchende häufig für den Zeitraum des Verfahrens ihrer Freiheit beraubt. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge den Prozess vorzeitig verlassen und darauf verzichten, von Rechtsmitteln gegen ihre Ablehnung Gebrauch zu machen. Gisele Bonnici und Elba Coria von der International Detention Coalition (Internationaler Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Menschenrechte inhaftierter Flüchtlinge, Asylsuchender und Migrant_innen einsetzen; Anm. der Red.) erklären deshalb: „Bei der Inhaftierung von Migrierenden handelt es sich um eine Maßnahme, die dazu dient, den Mangel an effektiven Werkzeugen zur Aufnahme seitens der Staaten aufzufangen”.
Allein den Zugang zum Asylverfahren erschweren einige Staaten durch kurze Antragsfristen, so zum Beispiel Ecuador (15 Tage) und Mexiko (30 Tage). Angesichts fehlender Informationen über das Verfahren und seine Fristen droht der betroffenen Person deshalb die Inhaftierung und Abschiebung ohne Prüfung der Risiken. Alejandra Macías von der mexikanischen Organisation Sin Fronteras („Ohne Grenzen“) beschreibt die Situation: „Häufig wissen die Menschen, die in Mexiko ankommen, nicht, dass sie das Recht haben, Asyl zu beantragen, und wenn sie davon erfahren, sind die 30 Tage meist schon abgelaufen und sie haben keinen Zugang mehr zum Verfahren”. In Panama wird der größte Teil der Antragsteller_innen aufgrund einer restriktiven Vorstufe der Zulässigkeitsprüfung gar nicht erst zum Asylverfahren zugelassen.
Die beiden Regionen, aus denen gegenwärtig die meisten Menschen vertrieben werden, sind Kolumbien und Zentralamerika. In Zentralamerika – insbesondere im ‚Norddreieck’ Honduras, Guatemala und El Salvador – ist es die zunehmende politische und gesellschaftliche Gewalt, die Menschen zur Flucht über internationale Grenzen drängt. In Honduras ist seit dem Staatsstreich 2009 die soziale Ungleichheit massiv angewachsen, das Land verfügt über die mit Abstand höchste Mordrate weltweit. In El Salvador und Guatemala finden Vertreibung und Gewalt, vor allem gegen bäuerliche und indigene Aktivist_innen, auch im Zuge von Konflikten um extraktive Industrie- und Megaprojekte, wie zum Beispiel Staudämme, statt. Die drei Staaten weisen auch die höchste Rate an Feminiziden, also geschlechtsbasierten Morden an Frauen, auf dem Kontinent auf.
So verzeichnet Mexiko seit einigen Jahren steigende Zahlen an Asylanträgen von Zentralamerikaner_innen. Jedoch hat die im Zuge des „Drogenkriegs” entfachte Gewalt seit 2006 in Mexiko mindestens 70.000 Menschen das Leben gekostet. Aufgrund der verbreiteten Korruption und Straflosigkeit können kriminelle Gruppen weitgehend risikolos Migrant_innen entführen, misshandeln und erpressen. Menschenrechtsverteidiger_innen, vor allem in den Herbergen entlang der Transitmigrationsrouten (siehe LN 475), werden bedroht.
In Kolumbien dauert der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt an. Neben weiterhin aktiven paramilitärischen Gruppen haben sich in den letzten Jahren andere bewaffnete Akteure ausgebreitet, die mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Zwar wurden im Rahmen der Friedensgespräche zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung erste Ergebnisse erzielt. Dies hat jedoch nicht zum Ende der Kampfhandlungen und der gewaltsamen Vertreibungen von Menschen geführt. Es ist unklar, inwieweit die Verhandlungen in Havanna überhaupt dazu beitragen werden, die Gewalt und die damit einhergehende Instabilität und Verletzlichkeit zu verringern, die Menschen zur Flucht innerhalb Kolumbiens oder über eine internationale Grenze, vor allem nach Ecuador, treiben.
Zusätzlich ist in den letzten Jahren auch die Zahl an Flüchtlingen und Migrant_innen aus Afrika und Asien in Lateinamerika gestiegen, teilweise als Reaktion auf die restriktive Migrationspolitik in Europa und Nordamerika. Nach einer Studie der Migrationsforscherin Luisa Feline Freier sind zum Beispiel viele Menschen aus dem Senegal nach Argentinien oder aus Pakistan nach Ecuador gekommen, um dort zu leben. Wie der Bericht der Cartagena-Initiative zeigt, stoßen Flüchtlinge aber auch in lateinamerikanischen Ländern auf eine restriktive Haltung. Und nicht nur was das Asylverfahren angeht.
Ein weiteres Problem, das vielen befragten Organisationen und Geflüchteten Sorge bereitet, ist die Frage der Dokumente, die Flüchtlingen und Asylsuchenden ausgestellt werden. So erweist sich zum Beispiel der Flüchtlingspass als mangelhaft, wenn es darum geht, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Kredit zu beantragen. Ein Flüchtling erzählt im Rahmen des Fokusgruppeninterviews in Venezuela: „Du musst meistens einen Venezolaner bitten, den Scheck auf seinen Namen ausstellen zu lassen, um ihn einlösen zu können, und für den Gefallen dann einen Anteil zahlen”. In Ecuador wurden Geflüchtete jahrelang in Einrichtungen des Sozial- und Bildungssystem abgewiesen, weil die Ziffernanzahl des Flüchtlingsdokuments nicht mit deren Computersystemen kompatibel war.
Auch bei der Arbeitssuche kommt es immer wieder zu Diskriminierungen, sei es aufgrund der Unkenntnis von Behördenmitarbeiter_innen und Arbeitgeber_innen über die Bedeutung des Flüchtlingsdokuments oder aufgrund von Fremdenfeindlichkeit. Im Gruppeninterview in Costa Rica erzählt ein Asylsuchender: „Obwohl wir eine Arbeitserlaubnis haben, verlangen sie die Aufenthaltspapiere. Die Leute erkennen das Dokument für Asylsuchende nicht als Arbeitserlaubnis an.” Noch prekärer ist die Situation, wenn Asylsuchende – wie in Guatemala, Panama, Mexiko oder der Dominikanischen Republik – rechtlich nicht arbeiten dürfen. Sie sind auf die Unterstützung sozialer Netzwerke oder informelle Arbeit angewiesen und damit in besonderem Maße von extremer Ausbeutung, Lohnbetrug und Übergriffen bedroht.
Was die ausgestellten Dokumente angeht, sticht Uruguay als positives Beispiel heraus: Flüchtlinge und Asylsuchende bekommen die gleichen Identitätsdokumente ausgestellt wie uruguayische Staatsbürger_innen. Damit wird Diskriminierungen beim Zugang zu Ressourcen unterschiedlicher Art entgegengewirkt. Im Gegensatz dazu fördert Belizes explizit homophobe Gesetzgebung die institutionelle Diskriminierung, indem sie sexuelle Beziehungen unter Männern mit einer Gefängnisstrafe belegt und homosexuellen Ausländer_innen die Einreise verbietet. Insgesamt sind von gesellschaftlicher und institutioneller Diskriminierung besonders diejenigen Geflüchteten betroffen, die zusätzlich wegen ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung, aus rassistischen oder anderen Gründen benachteiligt werden.
In der Dominikanischen Republik wurden 2010 per Entscheid des Verfassungsgerichts Tausende Nachkommen von Haitianer_innen, die zwischen 1929 und 2007 ins Land gekommen waren, zu Staatenlosen gemacht (siehe LN 474). Der massenhafte Entzug der Staatsangehörigkeit ist der bisherige Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierungen von Menschen aus Haiti in der Dominikanischen Republik. Ein Verbund von dominikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft beklagt: „Die Ausweisungen und Massenabschiebungen von haitianischen Migrant_innen und ihren Angehörigen sind weiterhin die zentrale Achse der Anwendung der Migrationspolitik des dominikanischen Staates”.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

„Jeder Protest läuft Gefahr, kriminalisiert zu werden“

Bei einer Veranstaltung hier in Deutschland sagten Sie, der private Besitz sei das Herz des guatemaltekischen Kapitalismus. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Landkonflikte in Guatemala?
Wenige Familien sind die großen Landbesitzer Guatemalas. Die politischen Parteien versuchen alles, um dieser Gruppe von Personen nicht zu widersprechen und die Gesetze schränken die Rechte der Landbesitzer kaum ein. In Guatemala spricht man deshalb auch vom „sakrosankten“ Privateigentum. Eine gerechte Verteilung des Landes ist unter diesen Umständen sehr schwierig, würde aber das Leben der Kleinbauern deutlich verbessern.

Wie gehen die Landbesitzer_innen auf den Ländereien vor?
Derzeit erhöht sich der Anbau von Ölpalmen enorm. Dieser Anstieg wird von der Regierung gefördert und hat die Vertreibungen im gesamten Land verstärkt. Vor allem in sehr fruchtbaren Zonen wurden die Kleinbauern völlig im Stich gelassen. Derzeit gibt es über tausend akute Landkonflikte in Guatemala und nur wenige sind dabei, gelöst zu werden. Die UVOC (Verband der Bauernorganisationen von Verapaz) kümmert sich hauptsächlich um die Regionen Alta und Baja Verapaz sowie einen Teil von Izabal, da sich hier die Mehrheit der Landkonflikte abspielt. Die nördliche Region Alta Verapaz ist eines der ärmsten Gebiete Guatemalas. Hier gibt es die höchsten Raten von Unterernährung, Analphabetismus und vielem mehr. Gleichzeitig ist es mit Blick auf Ressourcen und fruchtbares Land eine der reichsten Zonen. Vor allem im Polochic-Tal gibt es genug Wasser für den Anbau von Ölpalmen.

Wie entstand die UVOC?
Die UVOC existiert seit 1982. Sie gründete sich also noch während des bewaffneten Konfliktes und kanalisierte anfangs die Bedürfnisse verschiedener Gemeinden. Sie organisierte zum Beispiel Kooperativen. Mit der Zeit professionalisierte sie sich und fing an zu den Landkonflikten zu arbeiten, da diese das schwierigste, zahlreichste und dringendste Problem sind. Wir haben verstanden, dass das Land essentiell für einen Kleinbauern ist. Die Produktion in seiner Parzelle war und ist sein Leben und seine Welt. Außerdem gehören die Erzeugnisse, wie zum Beispiel Mais, zu den Grundnahrungsmitteln in Guatemala.

Welche Tätigkeiten übernimmt die UVOC konkret?
Innerhalb der UVOC sind circa 100 Gemeinden organisiert, um sich gegenseitig beim Kampf um ihre Rechte zu unterstützen. Wir begleiten die Konflikte in den Regionen und bringen unsere Vorschläge zur Verbesserung und Regulierung der Landfrage ein. Dies tun wir über Institutionen wie das Agrarministerium oder den staatlichen Landfonds. Außerdem fördern wir die Beteiligung von und die Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen, um sicher zu stellen, dass unsere Forderungen auch gehört werden. Denn jeder Protest läuft Gefahr, kriminalisiert zu werden. Deshalb sind wir lokal und international tätig, um Menschenrechtsverletzungen – wie die Vertreibungen – anzuzeigen und im Zuge von Protesten angeklagten Kleinbauern Rechtsbeistand zu liefern. Wir klopfen bei allen Regierungsbüros an, die für eine Lösung nötig sein könnten.

Wie stehen die Chancen, bei Landvertreibungen auf gerichtlichem Wege gegen die Landbesitzer_innen vorzugehen?
Ich sehe das Problem, bei den lokalen Staatsanwaltschaften. In den meisten Fällen, wenn ein Landbesitzer Anklage wegen unrechtmäßiger Besetzung seines Landes erhebt, findet keine gewissenhafte Untersuchung des Falles statt. Wir haben mitbekommen, wie so etwas läuft: „Wie beweisen Sie, dass es Ihr Land ist?“ „Hier ist meine Besitzurkunde und der Registereintrag.“ „Wie beweisen Sie die Besetzung des Landes?“ „Hier ist ein Foto des Ortes.“ Mit dieser Information werden dann Haftbefehle gegen die Leiter der Kleinbauernorganisationen ausgestellt. Dabei wird nicht beachtet, dass viele der Kleinbauern seit Jahren auf den Ländern leben, aber keine Besitzurkunden haben, da sie in der Kolonialzeit als Knechte und später als Angestellte dort gearbeitet haben. Unter diesen Umständen kann nach geltenden Gesetzen auf keinen Fall von illegaler Besetzung gesprochen werden. Dennoch werden auf dieser Grundlage die Vertreibungen ganzer Gemeinden durchgeführt, bei denen es Tote und Verletzte gibt. Den Menschen wird alles genommen, ihre Häuser werden abgerissen oder verbrannt und ihre Ernte wird zerstört.
Das Problem müsste innerhalb der landeseigenen Institutionen beseitigt werden. Aber auch der Gerichtsprozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt wegen Völkermordes (siehe LN 468) zeigt uns sehr genau, dass die machtvollen Gruppen des Landes letztlich die Gerichte manipulieren. Und eben nicht nur den obersten Gerichtshof, sondern auch die untergeordneten Instanzen.

Würden Sie von einer systematischen Repression der Kleinbäuerinnen und -bauern durch den guatemaltekischen Staat sprechen?
Praktisch ja. Man kann dieses Vorgehen als systematische Repression bezeichnen, wenn man sich überlegt, wer alles bei einer Landvertreibung mitarbeitet: Die Nationalpolizei, die Staatsanwaltschaft, welche den Räumungsbefehl anfordert und ein Richter, der diesen Befehl ausstellt und sich keine Gedanken über die Konsequenzen macht. Und noch viel schlimmer: Wo bleibt das Ministerium für Landwirtschaft? Wie erfüllt es seine Pflicht? Gerade wenn es Landkonflikte gibt, sollte das Ministerium eine starke Rolle übernehmen.

Gab es Fälle von Repression gegen die UVOC und ihre Arbeit abseits der akut betroffenen Gemeinden?
Es gab und gibt sie konstant. Der Koordinator der UVOC, Carlos Morales, war Ziel von Verfolgung, Bedrohungen und Beleidigungen in den Regierungsbüros. Außerdem wurden sein Telefon und Handy überwacht. Dieses Risiko gehen alle ein, die sich offen für die Organisation einsetzen. Auch aus diesen Gründen war es für die UVOC nötig, sich international zu vernetzen. Wir unterhalten Beziehungen zu anderen Bewegungen mit ähnlichen Problemen und zu internationalen Organisationen. Außerdem erhalten wir über Peace Brigades International Begleitung in Guatemala.

Eine der zentralen Forderungen der UVOC ist die Verabschiedung eines „Integralen Gesetzes zur Landentwicklung“. Was würde dieses Gesetz bedeuten?
In seiner präsentierten Form zielt das Gesetz darauf ab, die Landprobleme zu lösen und vor allem Kleinbauern Ressourcen und vereinfachten Zugang zum Land ermöglichen. Sie sollen in der Lage sein, selber zu produzieren und Waren auf dem nationalen und internationalen Markt anzubieten. Genau genommen spricht man sogar von einer integralen Agrarreform, also einer Neuverteilung des Landes. Denn diese ist nötig. Ein großer Teil der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft und viele dieser Menschen haben kein Land, um Einnahmen für sich und ihre Familien zu erwirtschaften. Aber es gibt aus den politisch starken Lagern sehr viel Widerstand gegen das Gesetz. Und letztlich sind es die wirtschaftlich Mächtigen, die über den Kurs des Landes entscheiden.

Welche anderen Möglichkeiten gibt es innerhalb Guatemalas, Ihre Ziele zu erreichen? Sie erwähnten den Landfonds…
Der Fonds wurde im Zusammenhang der Friedensverträge (zum Ende des bewaffneten Konfliktes 1996, Anm. d. Red.) als Kompromiss gegründet. Er ist mit der Aufgabe betraut, Landgüter zu kaufen und sie Kleinbauern zu vermachen, welche die Kosten dann über einen längeren Zeitraum und unter zumutbaren Bedingungen abbezahlen. Leider hat dieser Fonds kaum finanzielle Möglichkeiten, seine Aufgabe zu erfüllen. Ich hatte Zugang zu einigen Statistiken über den Fonds und daraus ging hervor, dass er 2012 zum Beispiel kein einziges Landgut gekauft hat. Außerdem wurde neben dem Fonds auch das Register von Katasterinformationen gegründet, aber es ist klar, dass dieses nicht vertrauenswürdig ist. Wenn man das Besitzregister anguckt, scheint es, als würde es in Guatemala noch sehr viel Land geben.
Außerdem fordern wir ein professionelleres Vorgehen vom Ministerium für Landwirtschaft. Oft haben wir uns durch Sitzungen und Arbeitsgruppen gekämpft, ohne einer Konfliktlösung näher zu kommen. Ich möchte mit all diesen Aussagen nicht ausdrücken, dass diese Institutionen nicht wichtig sind, weil sie nicht funktionieren. Im Gegenteil – sie sollten ausgebaut werden, damit sie auch den Bedürfnissen der Kleinbauern gerecht werden.

Infokasten:

Jorge Luis Morales
arbeitet als Anwalt für den Verband der Bauernorganisationen von Verapaz (UVOC). Die Organisation begleitet und unterstützt Gemeinden beim Kampf um das Recht für Zugang auf Land und vernetzt den Widerstand lokal und global.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Grün ist die Hoffnung

Die Welt richtete am vergangenen 10. Dezember die Augen auf Uruguay. Der Anlass war kein geringer: Der kleine südamerikanische Staat hatte beschlossen, das weltweit erste Land zu werden, das eine umfassende Regulierung zur Legalisierung von Cannabis vorantreibt. Am Ende der Sitzung stimmten die uruguayischen Senator_innen mit 16 zu 13 Stimmen für die Gesetzesvorlage.die die Regierung im Juni 2012 überraschend eingebracht hatte. Damit hat das Gesetz nun die letzte Hürde übersprungen.

Auch wenn die Details der Verordnung erst Anfang April bekannt gegeben werden sollen, sind die Grundlagen des neuen Modells bereits festgelegt. Die Konsument_innen haben künftig drei Möglichkeiten, um an Cannabis zu gelangen: Zum einen auf individuelle Weise, bei der der Besitz von bis zu sechs Pflanzen und eine jährliche Ernte von bis zu 480 Gramm erlaubt ist. Oder gemeinschaftlich, über die Teilhabe an einem Klub, der zwischen 15 und 45 Mitglieder haben kann. Ein Klub kann bis zu 99 Pflanzen besitzen, dabei darf die jährliche Gesamtmenge pro Mitglied nicht 480 Gramm überschreiten. Die dritte Möglichkeit ist der Erwerb von bis zu 40 Gramm pro Monat in einer der Apotheken, die dem Vertriebsnetz angehören. Die uruguayische Staatsbürgerschaft ist allerdings Pflicht für diese Privilegien.

Das Gesetz war nach einem diskussionsreichen Jahr inner- und außerhalb der Regierungspartei, der Allianz Breite Front (Frente Amplio/ FA), zustande gekommen. Anfangs beschränkte sich der Vorschlag der Regierung darauf, ein staatliches Monopol zu schaffen, dem die komplette Produktionskette unterliegen sollte. Dabei war zunächst keine Möglichkeit des Eigenanbaus vorgesehen. Schon seit Jahrzehnten jedoch wird das Recht auf persönlichen Konsum anerkannt, sodass auch im Abgeordnetenhaus Modelle zur Entkriminalisierung des Eigenanbaus diskutiert wurden. Nach einer intensiven Debatte mit reger gesellschaftlicher Beteiligung gewann das Projekt an Komplexität. Über alle möglichen Varianten des Zugangs wurde nachgedacht: „Die Anbauklubs haben zum Beispiel eine kooperativistische Vision. Hierbei beteiligt sich jeder je nach seinen finanziellen Möglichkeiten und seinem Wissen hinsichtlich der Pflanzen und der Anbaumethoden“, erklärt der Cannabisaktivist Julio Rey, Mitglied des kürzlich gegründeten Nationalen Verbandes der Hanfanbauer_innen Uruguays. Diese Organisation soll die uruguayischen Anbauer_innen vereinen, die sich als Kollektiv an der Produktion für das Apothekennetz beteiligen wollen. So soll eine Vision der sozialen Entwicklung und Umverteilung der Gewinne auf dem neuen grünen Markt eingeschlossen werden.

Für den Verkauf von Cannabis in den Apotheken wird der Staat über das Institut zur Regulierung und Kontrolle von Cannabis (IRCCa) Lizenzen an Produzent_innen vergeben, die unter staatlicher Aufsicht Marihuana anbauen. Der psychoaktive Wirkstoff THC wird in diesen Pflanzen auf einen niedrigen Standardgehalt festgesetzt. Statt auf ambulante Ausgabestationen setzt die Regierung auf Apotheken, da das bereits existierende Netz auf wirtschaftlichere und effizientere Weise die Probleme von Strukturen, Arbeitskräften, Software und Logistik lösen kann. „Letztlich sind es die Apotheken, die sowohl die legale Berechtigung haben, Drogen auszugeben, als auch geschultes Personal, um mit den Personen zu reden, die sie benutzen,“ argumentierte der FA-Abgeordnete Sebastián Sabini, der sehr stark an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt war. Die Konsument_innen, die ihre monatlichen 40 Gramm kaufen wollen, müssen sich als solche registrieren lassen. Dies war einer der umstrittensten Punkte: Während die Konsument_innenorganisationen argumentierten, dass die Registrierungen zur Verfolgung der Konsument_innen genutzt werden könnten, waren staatliche Stellen der Meinung, dass ohne diese Maßnahme eine Kontrolle der Legalität des Marihuanas unmöglich wäre. Man einigte sich schließlich auf die Schaffung eines „freiwilligen, verantwortungsbewussten Registers“ das – auch wenn die genauen Details bislang noch nicht festgelegt sind – die Identität der Konsument_innen schützen soll.

Die individuellen Anbauer_innen hingegen sollen ihre Pflanzen registrieren lassen und Samen anbauen, die durch das IRRCa geprüft sind. Für den Fall, dass jemand eine neue Sorte anbauen will, muss er die entsprechenden Samen dem Institut zur Prüfung vorlegen. Die Konsument_innen wiederum, die einen Klub gründen wollen, müssen eine Adresse für Anbau und Lagerung angeben; für den Fall, dass sie jemanden mit dem Anbau beauftragen wollen, muss sich diese Person vorschriftsmäßig registrieren lassen.

Zusätzlich zu den Kontrollen wird der uruguayische Staat aus den Steuereinnahmen von Verkauf und Produktion des Cannabis Präventionskampagnen finanzieren, die von den Bildungsbehörden durchgeführt werden sollen. Alle Kampagnen werden der Prämisse folgen, mögliche Schäden zu begrenzen. Damit einher geht das Ende der bisherigen Logik der kompletten Abstinenz, die die Anzahl der Konsument_innen nicht verringern konnte. Zudem sollen den Konsument_innen ambulante Gesundheitszentren zur Verfügung stehen. Immer noch weit entfernt von einer wirklichen liberalen Drogenpolitik, weist der uruguayische Weg spezifische Verbote auf. Darunter fallen der Verkauf an unter 18-jährige und kommerzielle Werbung für Cannabis. Auch das Führen eines Fahrzeugs oder die Bedienung von Maschinen unter Marihuanaeinfluss soll bestraft werden. Streng genommen hat Uruguay Marihuana gar nicht legalisiert. In der parlamentarischen Debatte wiesen die Abgeordneten der Regierungspartei FA ausdrücklich darauf hin, dass die neue Gesetzgebung darauf abzielt, dem Staat zu erlauben, einen Markt innerhalb eines regionalen Rahmens zu schaffen, in dem weiterhin eine prohibitionistische Politik vorherrscht. Im Kern folgt die Strategie einer Logik geteilter Märkte, wie sie bereits in anderen Ländern erprobt wurde. Aber – und das ist der revolutionäre Aspekt des uruguayischen Vorschlags – wird eine Entkriminalisierung der Konsument_innen und Produzent_innen angestrebt. Das Recht auf persönlichen Konsum wird nun vollständig anerkannt, indem die Beschaffung von Marihuana auf legale Weise ermöglicht wird. Aus rechtlicher Sicht wird in Uruguay so eine juristische Inkohärenz beendet: Wenn der Konsum als Recht verstanden wird, können Besitz und Erwerb nicht verboten sein.

Pedro Bordaberry, Senator der oppositionellen Colorado Partei, bot den internationalen Medien ein Highlight der Gesetzesdebatte, indem er versuchte, die Anerkennung von Rechten als liberale Wirtschaftspolitik auszugeben:„Früher haben sie mit Che für die Verteilung von Land demonstriert, heute marschieren sie mit Rockefeller und Soros für Marihuana.“ (Die US-amerikanischen milliardenschweren Investoren David Rockefeller und George Soros gelten als Unterstützer der Marihuana-Liberalisierungskampagne, Anm. d. Red.) Der übereifrige Protektionismus der Opposition erlaubte den Senator_innen der FA sich einem Punkt zuzuwenden, den auch viele Sympathisant_innen der Pflanze mit Argwohn betrachten. „Das ist kein weiches Gesetz zur Legalisierung“, schaltete sich Ernesto Agassi von der FA ein, „sondern ein Gesetz, das ermöglicht, die kommerziellen Märkte zu kontrollieren.“ Derselben Linie folgte der regierungsnahe Senator Luis Gallo, der nachdrücklich darauf hinwies, wie wichtig es sei, das neue Gesetz als Zwischenlösung von totalem Verbot und Legalisierung zu verstehen. Senator Roberto Conde, ebenfalls von der FA, versicherte hingegen, dass man in Uruguay nicht die Schaffung eines Marktes anstrebe. Vielmehr versuche die Regierung durch die Gestattung von Eigenanbau das Recht auf Selbstversorgung zu unterstützen. In diesem Sinne sei der Verkauf eine Ergänzung, um das Recht auf regulierten Zugang zu Cannabis außerhalb der ganzen illegalen Struktur zu gewährleisten.

Um die Tragweite des neuen Gesetzes zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf den Status quo: Illegale Drogen haben in den letzten Jahrzehnten einen enormen internationalen Markt geschaffen. In dem Handelssystem aus Produktions- und Konsumländern hat es Lateinamerika am Schlimmsten getroffen. Aus Gründen, die klimatische, politische und ökonomische Aspekte umfassen, ist die Region zum Hauptpol von pflanzlichen Drogen geworden. Der Drogenhandel, speziell im Fall des Kokains, hat ganze Länder in tiefe Krisen geführt und bedroht deren staatliche Souveränität. Die illegalen Netze aus Produktion und Vertrieb verwenden einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen zur Zahlung „illegaler Steuern“. Im Falle von Mexiko und Kolumbien haben sie es gar geschafft, staatliche Strukturen zu korrumpieren und kooptieren sowie ganze Landesteile zu kontrollieren. Die Existenz dieser kriminellen Netze rechtfertigt gleichzeitig die Durchsetzung von Drogengesetzen, die – besonders in Ländern, die geopolitisch für die USA von Relevanz sind – bereits oft zur Intervention von ausländischen Geheimdiensten und Militärs führten. Außerdem machten die USA ihre ökonomische Hilfe von der Ausweitung prohibitionistischer Politik abhängig. Auch in Ländern ohne eigene Produktion oder mit geringer Bedeutung für den internationalen Drogenmarkt war die Bilanz der Drogenpolitik negativ: Einhergehend mit dem Krieg gegen die Drogen konstruierte man eine juristische Logik, die die Abhängigen mit Kriminellen gleichsetzte und den Konsum und/ oder den Besitz von Drogen für den persönlichen Gebrauch bestrafte. Dies förderte eine repressive Strategie, die den gleichen Sicherheitskräften, die während den Diktaturen für die interne Repression zuständig waren, erlaubte, ihre Aufmerksamkeit nun auf die Kriminalisierung von Drogenkonsument_innen und mulas zu konzentrieren. Die mulas (Drogenkuriere) sind in ihrer Mehrheit Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die dazu benutzt werden, die Grenzen mit dem Körper voller Kokainpäckchen zu überqueren. Das Resultat waren überfüllte Gefängnisse, eine überlastete Justiz und eine Gefährdung der Gesundheit der Konsument_innen. Ursache war eine Logik, die die Entwicklung eines spezifischen Gesundheitssystems für Verbraucher_innen mit problematischem Konsum unmöglich machte, da der Staat die Konsument_innen als Teil des organisierten Verbrechens betrachtete. Derweil sind die Behörden der Staaten selbst an mit dem Handel zusammenhängenden Straftaten sowie dem Verkauf der illegalen Drogen beteiligt.

Uruguay gehört zu der Gruppe von Ländern, die nicht selbst produzieren, und folgte bis dato derselben prohibitionistischen Strategie. Daher kann die Entscheidung, den Markt für Marihuana zu regulieren, als Teil einer verantwortlichen und souveränen Politik verstanden werden. In Uruguay beinhaltet dieser 70 Prozent der Drogenkonsument_innen. „Die weltweite Drogenproblematik hat eine Dimension erreicht, die die Bühnen der multilateralen Diplomatie überschreitet“ bekräftigte der Senator Roberto Conde während der Gesetzesdebatte. „Unser Land hat die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die seine Gesellschaft beschützen und verbessern; es hat kein Recht diese aufzuschieben und so neue Generationen in der Hoffnung auf einen größeren internationalen Konsens in Gefahr zu bringen.“

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Chef des Internationalen Suchtstoffkontrollrats, Raymond Yans, diskreditierte die Entscheidung Uruguays als „Piraten-Attitüde“. Derweil tauschten sich Minister_innen, Drogenbeauftragte und Kanzler_innen aus Brasilien, Bolivien, Argentinien, Ecuador und Guatemala über ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen aus, aber in allen Fällen erkannten sie den souveränen Charakter der Entscheidung an. Die Umsicht derjenigen, die mit der Maßnahme nicht einverstanden sind, und die offene Unterstützung derjenigen, die diesen Schritt als notwendige Aktion verstehen, zeugen davon, dass in Uruguay derzeit eine neue regionale Diskussion angestoßen wird. Es reicht die Tatsache, dass nun eine Möglichkeit besteht, die bis vor kurzem undenkbar schien: dass ein Staat den Krieg gegen die Drogen beenden kann und eine Alternative sucht, die tatsächlich gerecht, human und effektiv ist.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Den Rassismus nicht vergessen

Im schattigen Inneren der großen Versammlungsstätte steigt im Licht einzelner Sonnenstrahlen, die durch das Dach fallen, der Rauch des heiligen Holzes palo santo auf. Es wird neben verschiedenen Früchten und Blumen, die in einem Kreis angeordnet sind, als Opfergabe dageboten. Das indigene Reservat San María de Piendamó im südwestlichen Departamento Cauca, Heimat verschiedener indigener Gruppen, ist heute stolzer Gastgeber für über 1.000 indigene Frauen. Vier Jahre nach dem ersten kontinentalen Treffen in Peru sind sie nun für das zweite Treffen angereist, bevor direkt im Anschluss das allgemeine Gipfeltreffen der indigenen Gemeinschaften des Kontinents beginnt. In den nächsten zwei Tagen wird es um die Verteidigung ihrer Rechte als indigene Frauen und als indigene Gemeinschaften gehen. Auf der Tagesordnung stehen außerdem die vom globalen Norden aufgezwungenen Entwicklungsmodelle, der vor allem von internationalen Firmen betriebene Extraktivismus, der die Lebensgrundlage und die Menschenrechte der indigenen Völker bedroht, sowie die Gewalt, die indigene Frauen auf verschiedene Weise erfahren: in Form von Rassismus, Diskriminierung und sozialer Ungleichheit.
Einzelne Grüppchen indigener Frauen sitzen verstreut auf den Plastikstühlen. Auf der Bühne hängt das Plakat für den ersten Teil des kontinentalen Gipfeltreffens der indigenen Völker: „Zwe­ites Gipfeltreffen der indigenen Frauen Ab­ya Yalas“. Der Name kommt aus der indigenen Sprache Kuna und bedeutet Lateinamerika. Einige Frauen sind sichtlich erschöpft von der langen Reise, aber motiviert und entschlossen. Sie sind aus verschiedenen Teilen des Kontinents angereist: Mexiko, Guatemala, dem benachbarten Panama, Venezuela und Ecuador, Bolivien, Peru, Chile sowie aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens.
Inzwischen ist es heißer geworden, immer mehr Frauen versammeln sich unter dem kühlen Dach, um den einführenden Vorträgen zu lauschen. Ein wichtiges Thema, das direkt zu Beginn Eingang findet, ist der Friedensprozess in Kolumbien, von dem die indigenen Gemeinschaften ausgeschlossen sind. Sie sind den bewaffneten Akteuren aufgrund ihrer häufig strategisch gelegenen und rohstoffreichen Territorien besonders ausgeliefert. Vor allem die Frauen werden Opfer von Vertreibungen und Vergewaltigungen. „Wir Frauen sind vom Krieg stärker betroffen und von den Verhandlungen in Havanna ausgeschlossen. Ohne Frauen gibt es keinen Frieden“, sagt Toribia Lero von der Koordination indigener Organisationen der Andenregion (CAOI) und fügt hinzu: „Wir wollen nicht, dass unsere Körper weiterhin Kriegsbeute sind.“
Angesichts einer neuen Welle von Extraktivismus und den damit verbundenen Vertreibungen wird das Recht der Frauen auf ein Leben frei von Gewalt, wie es die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) vorsieht, stark eingeschränkt. Deshalb, so Raquel Yrigoyen aus Peru, müssen der Kampf der Indigenen um das Recht auf Selbstbestimmung und der Kampf der Frauen für ein Leben ohne Gewalt Hand in Hand gehen.
Die Gewalt, die indigene Frauen erfahren, ist ein zentrales Thema des Gipfels. Manuela Ochoa von der Nationalen Organisation Indigener Kolumbiens (ONIC) spricht über die Diskriminierung, die indigene Frauen außerhalb, aber auch innerhalb der Gemeinden erfahren. Hierzu zählen sowohl diskrimierende politische Richtlinien als auch Gewalt im familiären Rahmen. Ein zentrales Problem sei der Zugang zum Rechtssystem. Kommunikationsbarrieren aufgrund von unterschiedlichen Sprachen stellen dabei eine besondere Hürde dar.
Dennoch betont Manuela Ochoa, dass sie nicht Opfer, sondern aktiv Handelnde sind: „Wir sind nicht die armen indigenen Frauen“, sagt sie. „Ohne uns geht es nicht!“ Wie für sie ein Leben frei von Gewalt aussehen würde? „In Harmonie leben und sich wohlfühlen“. Dafür sind Mechanismen für die Konfliktlösung sowohl auf staatlicher als auch auf familärer Ebene notwendig. Diese sind jedoch bis jetzt weder vom Staat noch von den indigenen Gemeinden selbst in Angriff genommen worden.
Während die Teilnehmerinnen aufmerksam lauschen, ziehen sie gekonnt Stich um Stich den Faden nach. Fast alle anwesenden Frauen häkeln an einer mochila, einer Tasche aus bunter oder naturfarbener Wolle. Das Häkeln ist nicht einfach eine traditionelle Tätigkeit. Die Muster sind Ausdruck indigener Weltanschauung und der Erfahrung jeder einzelnen Frau — einzigartig.
In der Arbeitsgruppe zu Frauenrechten am nächsten Tag steht schon bald fest, wo die Frauen verschiedener Länder ähnliche Probleme vorfinden. Ein Thema ist der fehlende Zugang zu Bildung, vor allem im Bereich der Weiterbildung. „Wir brauchen gut ausgebildete Frauen, die Politiker kennen unsere Probleme nicht und lassen uns nicht teilhaben“, so eine Teilnehmerin aus Bolivien. Der Vorschlag eines Weiterbildungsprogramms speziell für indigene Frauen wird mit breiter Zustimmung aufgenommen. Als wichtig wird auch das Recht auf eigene, selbstbestimmte Bildung herausgestellt.
Die politische Teilhabe ist ein weiteres zentrales Thema. „Das Recht auf politische Partizipation wird nicht wahrgenommen“, sagt eine Teilnehmerin aus Bolivien, und ihre Kollegin fügt hinzu: „Ohne eigene politische Vision werden wir immer diejenigen sein, die gehorchen. Auch wenn Frauen in der Politik mitmischen, sprechen sie nicht in unserem Namen, weil sie nicht unsere Perspektive haben“. Nichtsdestotrotz zeigt sie sich zuversichtlich: „Es gibt viele Hindernisse, aber wenn wir diese überwinden, werden wir unser Recht auf Teilhabe ausüben.“ Es gibt jedoch auch radikalere Stimmen, die glauben, dass die Partizipation der indigenen Frauen in den aktuellen politischen Rahmenbedingungen nicht gegeben ist. „Die Regierungsformen müssen geändert werden, denn sie sind kolonial, Frauen haben dort keinen Platz“, so eine Teilnehmerin aus Kolumbien.
Ein hochaktuelles Thema ist die sexuelle und reproduktive Gesundheit. Es fehlt an Aufklärung zu Themen wie HIV/Aids und Gebärmutterhalskrebs, Krankheiten, die unter anderem durch die Präsenz von multinationalen Firmen ihren Weg in indigene Gemeinden gefunden haben. Selbst wenn sie versichert sind, nehmen die Frauen die öffentlichen Gesundheitsdienste selten wahr. Angesichts dessen kommt die Forderung nach Krankenhäusern auf, welche die traditionelle Medizin anerkennen und indigene Frauen entsprechend ihrer Weltanschauung und Traditionen betreuen können.
Die Frage nach der Beziehung zu den Männern der indigenen Gemeinschaften durchzieht alle Diskussionen und Themenbereiche des Gipfels: Für die anwesenden Frauen ist klar, dass der Machismo sie lange Zeit zum Schweigen verurteilt hat: „Als Ehefrauen müssen wir bestimmte Aufgaben erfüllen, aber wir haben auch Rechte, nur üben wir diese nicht aus”, sagt eine kolumbianische Teilnehmerin. Eine andere Teilnehmerin kritisiert, dass es im Haushalt keine gemeinsame Verantwortung gibt und fragt: „Warum können die Männer nicht auch etwas machen, wenn die Frau müde ist?“ Von den Männern wird die politische Organisierung der Frauen häufig vorwurfsvoll als Spaltungsprozess der indigenen Gemeinschaft betrachtet. Unter den Frauen herrscht demgegenüber trotz aller Konflikte Einigkeit darüber, dass Frauen und Männer zusammenarbeiten müssen. So wird beschlossen, die Männer zum nächsten Gipfel der Frauen einzuladen: „Wir sprechen aus einer Position der Einheit heraus, nicht um Männer und Frauen zu spalten.”
Diese Aussage macht die Position vieler indigener Frauen im Hinblick auf den in der Regel als westlich wahrgenommenen Feminismus deutlich. In Ländern wie Bolivien, Mexiko und Guatemala haben sich dennoch verschiedene Strömungen von indigenen Feminismen herausgebildet. Auch auf dem Gipfel wird zum Teil mit „feministischen“ Begriffen wie Sexismus, Patriarchat und Ma­chismo umgegangen. So erklärt Carmen Blanco Valer aus Peru die Intersektionalität von Unterdrückungsmechanismen anhand verschiedener Fäden, die sich ineinander verflechten: Ethnizität, Geschlecht, soziale Klasse, Kolonialismus und sexuelle Orientierung. Je mehr Unterdrückungsmechanismen zusammenkommen, desto schwerer sei die Verflechtung aufzulösen. An dieser Stelle macht sie einen Aufruf an nicht-indigene Frauen, die häufig „den Rassismus vergessen“. Es sei wichtig, alle Machtstrukturen und ihre Implikationen anzuerkennen, nicht nur diejenigen, die sie als weiße Frauen betreffen.
Am folgenden Tag füllt sich das Gelände von La María Piendamó. Es sind viele weitere Teilnehmende für den Gipfel der indigenen Gemeinden angereist. Es ist auffällig, wie präsent die Männer auf dem Gipfel sind, die Atmosphäre ist eine andere als an den Vortagen. Die Teilnehmerinnen des Gipfels der Frauen haben sich unter die anderen gemischt. Sie werden ihre Arbeit in Form der neu gegründeten Kontinentalen Koordination der indigenen Frauen aus Abya Yala, einer Dachorganisation der regionalen Netzwerke, fortsetzen um so die Ergebnisse des Gipfels in eine Agenda zu übersetzen.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Pro Woche eine Frau

In den 1990er Jahren erlangte Ciudad Juárez aufgrund der massenhaften Ermordung von jungen Frauen den traurigen Ruf, „Hauptstadt der Feminizide“ zu sein. Hat sich die Situation seitdem verändert?
Ich denke nicht. In den Gesetzen finden sich zwar viele Bestimmungen, die positiv klingen, aber sie finden keine Anwendung. Im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua gilt das Leben einer Kuh mehr als das Leben einer jungen Frau, denn für den Diebstahl einer Kuh werden bis zu 40 Jahre Freiheitsstrafe verhängt. Für den Mord an der Tochter unserer Mitstreiterin Julia bekam der Täter eine Freiheitsstrafe von neun Jahren. Davon hat er eineinhalb Jahre bereits abgesessen und bei guter Führung wird er in zwei Jahren entlassen. Die Suche nach Julias Tochter und die Durchsetzung unserer Forderung, die Identität der Leiche mit einem DNA-Test eindeutig nachzuweisen, hat dagegen vier Jahre gedauert.
Die Problematik verschlimmert sich, seitdem der Drogenkrieg gegen das Sinaloa-Kartell und das Juárez-Kartell begann. Heute verschwinden noch mehr junge Frauen als früher, ungefähr eine pro Woche. Wir wissen das, weil die Eltern der Verschwundenen unsere Hilfe suchen.

Sind die Morde an Frauen Ausdruck geschlechtsspezifischer Gewalt?
Ja, die Opfer werden ermordet, weil sie Frauen sind. Geschlechtsspezifische Gewalt wird manchmal auf den familiären und häuslichen Bereich reduziert. Ich denke, es ist wichtig, alle Lebensbereiche von Frauen in die Betrachtung einzuschließen. Die verschwundenen Mädchen und Frauen werden von Unbekannten vergewaltigt, gefoltert und anschließend wie Müll weggeworfen – in die Wüste, in Straßengräben, in Mülltonnen. Die Behörden behandeln die Opfer als Nummern, als statistische Größen. Als meine Tochter Alejandra 2001 ermordet wurde, war sie Nummer 285. Wegen solch schmerzhafter Erfahrungen mussten wir diesen Kampf beginnen, doch er interessiert die mexikanische Regierung nicht im Geringsten. Ich frage mich, wie viele weitere Frauen ermordet werden müssen, damit staatliche Akteure endlich anerkennen, dass geschlechtsspezifische Gewalt existiert.

Welche Rolle spielt das organisierte Verbrechen bei der Ermordung und dem Verschwinden der Frauen?
Früher fanden wir die Leichen der Frauen ein bis zwei Wochen nach ihrem Verschwinden. Die brasilianische Ethnologin Rita Laura Segato stellte die Theorie auf, dass die Frauenmorde als Initiationsritus zwischen Mitgliedern mafiöser Vereinigungen galten und mit ihrem Blut ein Pakt des gegenseitigen Schutzes geschlossen wurde. Aber heute tauchen die Leichen erst zwei bis drei Jahre nach dem Verschwinden der Frauen auf. Außerdem stimmt der Todeszeitpunkt, der durch die Autopsie festgestellt wird, nicht mit dem Datum des Verschwindens überein. Für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren weiß niemand, wo die Frauen sind und was mit ihnen passiert. Wir, die Mütter der Entführten und Ermordeten, glauben, dass sie zur Prostitution gezwungen werden. Tatsächlich ist der Fall einer jungen Frau bekannt, die in der Avenida Juárez als Prostituierte arbeitete und dort von einem Bekannten gesehen wurde. Als er mit ihr ins Gespräch kam, rissen zwei Männer die Frau fort. Zehn Monate später wurde ihre Leiche gefunden. Sie war aber bereits viel länger von zu Hause verschwunden. Einige nehmen auch an, dass ein Teil der entführten Mädchen und Frauen nach Tlaxcala und Mexiko-Stadt gebracht und dort zur Prostitution gezwungen werden. Dass eine Person gegen ihren Willen an einen anderen Ort gebracht wird, lässt darauf schließen, dass Mitarbeiter der Regierung in den Menschenraub verwickelt sind. Vor kurzem machte der Fall eines vierjährigen Mädchens Schlagzeilen. Es war verschwunden und tauchte in El Salvador wieder auf, das heißt jemand musste mit dem Kind die Grenzen zu Guatemala und El Salvador passieren – und kein Grenzbeamter will das bemerkt haben?

Sie halten es also für wahrscheinlich, dass Netzwerke des organisierten Menschenhandels in die Morde verwickelt sind?
Ich denke, dass hinter den Entführungen organisierte Täter stecken, denn einer allein kann eine junge Frau nicht entführen. Es sind mindestens zwei Personen notwendig: eine, die das Fahrzeug fährt und eine, die die Frau in das Auto zerrt. Meine Tochter war ein recht großes, sportliches Mädchen, sodass einer allein das kaum geschafft hätte. In der Untersuchung wurden die DNA-Spuren von drei Personen nachgewiesen. Die Entführungen dauern wenige Minuten, sodass niemand merkt, was passiert und das würde ein Einzeltäter nicht schaffen. Die Frauen verschwinden nicht nur nachts, sondern zu jeder Tageszeit und häufig in der Innenstadt, die voller Menschen ist.

Sie selbst wurden mehrmals bedroht und angegriffen und mussten Ciudad Juárez verlassen. Wie wirkt sich Ihre Arbeit auf Ihr persönliches Leben aus?
Die gravierendste Folge ist ohne Zweifel, dass ich nicht mehr in Ciudad Juárez leben kann. Das trifft vor allem meine Enkel, die ich aufziehe. Zu dem Schmerz nach dem Tod ihrer Mutter kommen Schwierigkeiten durch den Umzug. Die Kinder mussten ihr Zuhause, die Schule und den Freundeskreis wechseln. Gleichzeitig hat das dazu geführt, dass sie mein Engagement immer besser verstehen und es unterstützen. Meine Enkeltochter weiß mittlerweile, dass sie allein deswegen besonderer Gefahr ausgesetzt ist, weil sie eine Frau ist, nicht mehr nur deswegen, weil ich Aktivistin bin. Mein Enkelsohn weiß, dass er nicht wie andere Kinder zum Spielen nach draußen gehen kann. Nach den Angriffen auf unsere Familie ist das noch schwieriger geworden. Aber beide verstehen, dass ich dafür kämpfe, dass die Mörder ihrer Mutter gefasst werden, dass keine weiteren Frauen verschwinden und keine Mütter mehr Tränen vergießen müssen, wie ich es tue.

Wie setzen Sie Ihre Arbeit nach den Angriffen fort?
Früher halfen wir den Müttern vor Ort, indem wir Flugblätter und Aushänge erstellt und sie begleitet haben, wenn sie eine Vermisstenanzeige aufgaben. Das geht jetzt nicht mehr, aber ich verbreite die entsprechenden Informationen und unterstütze die Suche nun per Internet. Je nach Sicherheitslage reise ich nach Ciudad Juárez, um Mütter von Verschwundenen zu schulen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Viele von ihnen sind Analphabetinnen, vor allem aber sind sie verzweifelt und fragen sich, wo ihre Tochter sein mag und wie es ihr geht. In solchen Momenten ist es sehr schwierig, sich an einen Tisch zu setzen und ein konkretes Vorgehen zu überlegen. Oftmals organisieren die Frauen vor Ort Mahnwachen und protestieren vor der Staatsanwaltschaft, anstatt mit den Behörden zu sprechen oder Protokolle auszuwerten. Aus der Ferne können wir solche Aufgaben übernehmen und Druck auf die ermittelnden Behörden ausüben. Für unsere Arbeit ist es außerdem wichtig, die psychischen Folgen bei den Angehörigen stärker zu berücksichtigen. Oft sind es die Kinder, die am wenigsten Aufmerksamkeit erfahren. Deshalb bieten wir seit einiger Zeit das psychologische Betreuungsangebot Esperanza („Hoffnung“) für rund 50 Kinder von Ermordeten und Verschwundenen an, das meine Kollegin Marisela Ortiz von den USA aus organisiert.

Wie bekommen Sie Kontakt zu den Betroffenen?
Wenn wir von einem Fall hören, bieten wir den Angehörigen Hilfe an. Wir gehen zu den Beerdigungen und begleiten die Familien. In konkreten Fällen bieten unsere Anwältinnen und Anwälte auch direkten Rechtsbeistand an. Eine Schwierigkeit ist, dass die Regierungsbehörden die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Gruppen in Ciudad Juárez behindern. Wenn eine Mutter eine Vermisstenanzeige aufgibt, legt ihr die Polizei nahe, sich keiner unserer Organisationen anzuschließen. Sie argumentiert, das würde den Entführer nur unter Druck setzen und dazu führen, dass er die Tochter, sollte sie noch am Leben sein, ermordet.

Was war der bislang größte Erfolg Ihrer Arbeit?
Als wir die Tochter eines Kollegen wieder gefunden haben. Sie war entführt worden, jemand hatte sie gesehen und wir gründeten eine Suchtruppe. Wir konnten das Mädchen ihrem Vater lebendig zurückbringen. Natürlich ist sie traumatisiert und die Familie ist danach in eine andere Stadt gezogen, aber sie lebt. Unsere Arbeit wurde mit Preisen wie der Menschenrechtsmedaille der französischen Regierung und einer Auszeichnung durch Amnesty International anerkannt. Aber für mich war es der größte Erfolg, das Mädchen lebendig zu finden. Und an dem Tag, an dem der Mörder meiner Tochter überführt ist, werde ich sagen, dass es sich gelohnt hat, zu kämpfen.

Infokasten:

Feminizide in Mexiko

Der Begriff „Feminizid“ bezeichnet den Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. Feministische Akademiker_innen und Aktivist_innen verweisen mit dem Konzept auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen die Morde begangen werden. Da Feminizide keine isolierten Einzeltaten, sondern vielmehr Ausdruck struktureller Gewalt darstellen, leitet sich daraus eine Verantwortung von Gesellschaft und Staat ab (siehe auch LN-Dossier Nr. 3 „Frauenmorde in Zentralamerika und Mexiko“).
In Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua, Hauptstandort der Billiglohnindustrie und Anziehungspunkt für Migrant_innen, werden seit den 1990er Jahren besonders viele Feminizide registriert. Die Opfer werden nach dem gleichen Muster vergewaltigt, verstümmelt und umgebracht. Bei sinkender medialer Aufmerksamkeit stieg diese Form der extremen Gewaltanwendung an: Von den 1.441 Morden, die im Zeitraum 1993-2013 erfasst wurden, ereigneten sich 60 Prozent seit 2007.
Die Nichtregierungsorganisation Nuestras hijas de regreso a casa thematisiert die Feminizide in der Öffentlichkeit, fordert Aufklärung sowie das Ende der Straffreiheit für die Täter und unterstützt betroffene Familien. Norma Andrade, deren Tochter Alejandra 2001 ermordet wurde, gründete die Organisation zusammen mit Marisela Ortiz, der Lehrerin Alejandras. Beide können heute aufgrund von Morddrohungen und Anschlägen nicht mehr in Ciudad Juárez leben.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Schaffen wir zwei, drei, viele kanäle

Im August nächsten Jahres feiert der Panamakanal hundertsten Geburtstag. Das Meisterwerk der Ingenieurkunst ist mittlerweile in die Jahre gekommen, die Schiffe sind viel zu groß für die engen Schleusen geworden. So wird der Kanal seit Jahren für zwischen fünf und acht Milliarden US-Dollar für die Post-Panamax-Klasse fit gemacht. Auf diesen Megacontainerschiffen werden dann dreimal mehr Container Platz finden als auf den Kähnen, die heute den Wasserweg passieren. 2015 soll es so weit sein. Aber der Panamakanal wird dann möglicherweise nicht mehr konkurrenzlos sein.
Knapp einen Monat nachdem das nicaraguanische Parlament grünes Licht für den Bau eines interozeanischen Kanals gegeben hatte, erklärte auch die honduranische Regierung Anfang Juli ihre Absicht, einen „Schienenkorridor“ zu bauen, der das ganze Land zwischen den beiden Weltmeeren durchqueren soll. Und Guatemalas Präsident, Otto Pérez Molina, erklärte Mitte Juli einen solchen „trockenen Kanal“, wie eine Schienen- oder Straßenverbindung dort genannt wird, gar zum „nationalen Interesse“.
Die Bereitwilligkeit, mit der die zentralamerikanischen Regierungen plötzlich Projekte forcieren, die seit Jahren einen Dornröschenschlaf gehalten haben, zeigt, mit welchem Eigensinn die drei zentralamerikanischen Länder auf die potenziellen Gewinne des interozeanischen Handels schielen, ein Markt, den bislang weitgehend Panama dominiert. Doch die historische Passage zwischen den beiden Ozeanen ist seit Jahren gesättigt. Auch wenn die aktuellen Ausbauarbeiten abgeschlossen sind, wird der Panamakanal ein Nadelöhr bleiben. Ein teures dazu, die happigen Gebühren, die Panama für die Querung verlangt, gelten als wichtiges Argument für die Wirtschaftlichkeit der Konkurrenzprojekte.
Nicaragua hat bereits eine Betriebslizenz für 100 Jahre an die chinesische HKND-Gruppe vergeben, die im Gegenzug dafür den Bau übernehmen soll. Präsident Daniel Ortega versichert, dass das Projekt von pharaonischen Ausmaßen – mit 40 Milliarden US-Dollar sollen die Kosten mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes betragen – in zehn Jahren abgeschlossen sein und das Land aus der Armut führen werde. Bislang steht vor allem zwischen Atlantik und Nicaragua-See noch keine Route fest, vier Alternativen werden diskutiert. Chinesische Aussagen, nach denen sich der Kanal vom Karibikhafen Bluefields in Richtung Nicaragua-See durchs Land fressen soll, dementierte die Regierung Ortega. Die Opposition verurteilt das Projekt als „Nebelwand“, um den Aufmerksamkeitsfokus auf den angeblichen Zerfall des Chavismus in Venezuela zu trüben. Dessen Kooperation mit Nicaragua brandmarkt sie seit Jahren als „Treibstoff für das Ortega-Regime“.
Das Kanalgesetz sei unausgewogen und nicht verfassungskonform, sagt der Soziologe und Ökonom Oscar René Vargas. Nicaragua bekomme nur ein Prozent der Kanalaktien, wofür es aber 40.000 Quadratkilometer seines Hoheitsgebietes opfern müsse. Umweltschützer_innen wie auch das hydrologische Institut an der Autonomen Universität des Landes hatten sich bereits im Vorfeld besorgt gezeigt, dass Bau und Betrieb einer Passage für riesige Containerschiffe den Nicaragua-See als größtes Süßwasserreservoir der Region zerstören würde. Denn mit durchschnittlich 13 Metern Wassertiefe müsse dieser relativ flache See für die Schifffahrt viele Meter tief ausgebaggert werden.
Die Projekte der Nachbarn muten nicht minder wagemutig, oder wahnwitzig, an: Honduras` Präsident Porfirio Lobo unterzeichnete Anfang Juli eine Absichtserklärung mit der China Harbour Engineering Company für ein Projekt, das sage und schreibe zehn parallele Eisenbahnlinien durch das Land bauen und danach betreiben will und von dem die Regierung sich und vor allem dem Wahlvolk satte 200.000 Arbeitsplätze verspricht. Im Vergleich zu der 600 Kilometer langen Trasse wäre der Panamakanal mit gerade mal 80 Kilometern eine Kurzstrecke. Zwanzig Milliarden US-Dollar soll der Bau kosten, der auch eine Raffinerie, eine Öl-Pipeline und eine Werft beinhalten soll. Allerdings soll erst einmal eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden, frühestens in 15 Jahren könnten Container durchs Land rollen.
Guatemalas Träume wirken mit einer vierspurigen Autobahn plus Eisenbahnlinie und Pipeline zwischen Karibik und Pazifik noch verhältnismäßig bescheiden. In viereinhalb Stunden sollen die Container die 372 Kilometer breite Landenge queren können. Zwei Großhäfen sollen mit einer Kapazität ausgestattet werden, die das Handling von gleichzeitig sechs Riesenschiffen mit je 20.000 Containern erlauben würden.
Mit dem Bau des mindestens zwölf Milliarden Dollar teuren Projekts soll bereits Ende diesen Jahres begonnen werden. Mehrere zehntausend Arbeitsplätze versprechen sich die 46 Anliegergemeinden, die das Projekt unterstützen. Präsident Pérez Molina wirbt denn auch für ein Projekt, das „aus einem Land auf dem Weg zur Entwicklung ein Land machen würde, das den Weg zur Entwicklung anderer Länder“ weisen würde. Diese Aussage kann man auch negativ interpretieren, wie es unter anderem der Lateinamerikanische Rat von 200 evangelischen und evangelikalen Kirchen tut: Das Projekt bringe den ländlichen Gemeinden keinerlei Nutzen, sondern vor allem Umweltschäden, außerdem müssten 3.500 Bäuerinnen- und Bauernfamilien enteignet werden.
Der costa-ricanische Geograph Óscar Granados weist auf die geopolitische Bedeutung der Kanalbaupläne hin. Sie seien ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Monroe-Doktrin, mit der sich die USA europäischen Einfluss auf den Kontinent verbaten und Washington in der Folge als Hegemon über Lateinamerika definierten, ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt habe und dass nun China die Kontrolle über Zentralamerika an sich ziehe. Laut Evan Ellis, Autor des Buches China in Lateinamerika, habe China ein strategisches Interesse daran, sich für den Rohstoffhunger seiner Unternehmen neue Transportoptionen zu eröffnen. Europa will da nicht ganz am Rande stehen, die Pläne in Guatemala werden mit europäischem Kapital finanziert. Wie allerdings in Zukunft vier Querungen durch den Isthmus ausgelastet werden sollen, können selbst größte Optimist_innen nicht beantworten. Zumal aufgrund des Klimawandels in Zukunft die Nordost- und Nordwestpassagen zunehmend eisfrei und schiffbar sein werden.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren