WEM DAS LAND GEHÖRT

Foto: Nis Melbye

Das Neujahrsfest der guatemaltekischen Maya Ch’orti am 19. Februar mussten José Mendez Torres und Melvin Alvarez Garcia dieses Jahr in Untersuchungshaft verbringen. Sie sind Autoritäten der indigenen Gemeinschaft Corozal Arriba im Grenzgebiet zu Honduras. Die beiden sowie mittlerweile fünf weitere Personen befinden sich in Untersuchungshaft, da sie zu den insgesamt 17 Personen gehören, denen die örtliche Staatsanwaltschaft vorwirft, für die Tötung eines Eindringlings verantwortlich zu sein. Ein Termin für die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeklagten wurde zuletzt auf Ende Mai 2018 verschoben.

Dem Strafverfahren liegt ein lokaler Landkonflikt zwischen der indigenen Gemeinschaft Corozal Arriba und einer Großgrundbesitzerin zugrunde. Die Ch’orti aus Corozal Arriba gehören zu einer der vielen Maya-Ethnien in Guatemala. Viele von ihnen sind in der Organisation COMUNDICH (Coordinadora de Asociaciones y Comunidades para el Desarrollo Integral del pueblo Ch’orti), einem Zusammenschluss von 48 indigenen Gemeinschaften organisiert. Gemeinsam versuchen sie, die traditionell von ihren Vorfahren genutzten Territorien zurückzuerlangen. Denn nach der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, dem „Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Staaten“, stehen der indigenen Bevölkerung die Eigentums- und Besitzrechte an den Territorien zu, die sie traditionell nutzen.

Indigene Autoritäten aus Corozal Arriba befinden sich seit einem Jahr in Haft.

„Die Ch’orti haben einen Prozess der Wiederaneignung ihrer kulturellen Identität begonnen“, erklärt Rodimiro Lantan, Direktor von COMUNDICH, den Kampf der Ch’orti. „Sie haben einen Prozess eingeleitet, der sie dazu bringt, ihre Geschichte und ihr Gedächtnis wieder zu erlangen. Sie haben erkannt, dass sie die legitimen Eigentümer ihrer Territorien sind. Angesichts dieses Bewusstseins haben die indigenen Völker damit begonnen, die wenigen Räume die ihnen die Demokratie in Guatemala bietet, zu nutzen, um ihre Rechte einzufordern“, so Lantan.

Corozal Arriba erreichte unter ihrem Bürgermeister Mendez bereits am 6. Juni des vergangenen Jahres ihre Anerkennung als indigene Gemeinschaft im Sinne der ILO-Konvention 169 sowie die Anerkennung ihrer Landrechte. Da die der indigenen Gemeinschaft zustehenden Territorien auch Gebiete der Finca Marsella erfasste, die bis dahin der Großgrundbesitzerin Vilma Esperanza Chew Casasola zugeordnet waren, entwickelte sich ein Konflikt um die Territorien.

An dem Tag, an dem die Gemeinde La Union die Landrechte von Corozal Arriba anerkannte, erschienen fünf bewaffnete Personen in Corozal Arriba. Sie erschossen drei Bauern der Gemeinschaft, die mit Instandhaltungsarbeiten beschäftigt waren. Bei der Abwehr des Angriffes wurde unter bisher nicht abschließend bekannten Umständen einer der Angreifer namens Zuñiga getötet. Dieser wurde, nach dem Mord an den drei Bauern durch einen Schuss und Schnittverletzungen mittels einer Stichwaffe getötet. Bereits im Februar 2017 erließ das zuständige Strafgericht in Zacapa insgesamt 17 Haftbefehle gegen Mitglieder von Corozal Arriba. Auch wenn der genaue Tathergang noch nicht geklärt ist, erscheint es mehr als fraglich, dass alle 17 Beschuldigten daran beteiligt waren.

Auch der Grund für das Erscheinen der fünf bewaffneten Personen in Corozal Arriba, bei denen es sich um private Sicherheitskräfte der Finca Marsella handeln soll, ist bisher nicht abschließend geklärt. Mitglieder der Gemeinschaft gehen davon aus, dass die drei Morde eine Reaktion auf das Abkommen mit der Gemeinde La Union war, in dem die Rechte der Gemeinschaft von Corozal Arriba anerkannt werden. Sie vermuten, dass die Morde von der Großgrundbesitzerin Vilma Esperanza Chew Casasola angeordnet wurden. Dies begründen sie mit der Tatsache, dass diese bereits zuvor im Jahre 2012 drei Mitglieder der gleichen Gemeinschaft wegen unrechtmäßiger Landnahme anzeigte, um durch eine Strafverfolgung die Kontrolle über das umstrittene Territorium zu erlangen.

Foto: Tullio Tognio

Die ersten beiden Haftbefehle hinsichtlich des getöten Angreifers Zuñiga wurden am 19. Mai 2017 gegen José Mendez Torres, den Bürgermeister von Corozal Arriba, und Melvin Alvarez Garcia, den Schatzmeister der Gemeinde, ausgeführt, als sie ein Treffen indigener Autoritäten verließen. Bis Februar 2018 vollstreckte die Polizei noch fünf weitere Haftbefehle gegen Mitglieder der Gemeinschaft. Der Prozessbeginn wurde, nachdem er zunächst für Oktober 2017 angesetzt war, auf Ende Mai 2018 verschoben, womit sich die ersten Festgenommenen bereits seit einem Jahr in Haft befinden. „Wie will der Staat uns Gerechtigkeit zukommen lassen, wenn er uns nicht erreicht? Die gleichen staatlichen Autoritäten, die uns schützen sollten, werden unter dem Tisch von den Großgrundbesitzern bezahlt, um die indigenen Bauern, die ihr Land verteidigen, einzusperren,“ beschreibt Mendez Torres während eines Besuchs in der Haftanstalt in Zacapa die Zusammenarbeit zwischen Großgrundbesitzer*innen und staatlichen Autoritäten.

In dem Fall der drei getöteten Bauern aus Corozal Arriba zeige die Strafverfolgungsbehörden hingegen weniger Eifer. Zwar wurden mittlerweile ebenfalls einige Haftbefehle, etwa gegen die Großgrundbesitzerin Chew Casasola, erlassen, von diesen wurde jedoch bislang kein einziger vollstreckt.

Auf eine Beschwerde der Witwen der getöteten Bauern wegen fehlender Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaft, ordnete die eigene Disziplinarabteilung Ende 2017 die vorübergehende Suspendierung des ermittelnden Staatsanwaltes an. Die Suspendierung für fünf Tage begründete sie damit, dass er über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr überhaupt keine Ermittlungstätigkeiten veranlasst hatte. Ein weiterer zuvor mit dem Fall befasster Staatsanwalt arbeitet unterdessen als Rechtsanwalt der Beschuldigten Chew Casasola. „Alles, was wir wollen, ist Gerechtigkeit für unsere getöteten Ehemänner“, äußerte sich Dorcas, eine der Witwen, zu dem Fall. Bis heute sind die Bewohner*innen immer wieder Bedrohungen ausgesetzt. So erschienen sowohl im Dezember 2016, als auch im Dezember 2017 bewaffnete Personen und bedrohten die Mitglieder der indigenen Gemeinschaft.

Durch Organisierung erhalten indigene Gemeinschaften Zugang zur Justiz.

In Corozal Arriba wird der Kampf der indigenen Gemeinschaften um ihre territorialen Rechte kriminalisiert. Die Maßnahmen, die sich hier gegen die indigenen Autoritäten richten, schwächen die Strukturen der Gemeinschaften. „Die Logik dieser Kriminalisierung hat ihren Ursprung in der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei, die die indigenen Völker Guatemalas schon seit Beginn der Kolonialisierung erleiden. Die aktuelle Kriminalisierung ist eine Fortsetzung dieser Sklaverei, auch wenn sie sich in ihrer Erscheinungsform, nicht aber in ihrer Natur, verändert hat“, mit diesen Worten beschriebt Lantan die Wurzeln der Kriminalisierung der Ch’orti.

Erst durch Organisationen wie COMUNDICH erhalten die indigenen Gemeinschaften einen Zugang zum Justizsystem, um ihre Rechte durchzusetzen. Mit der Verleihung des Alice Zachmann Preises für Menschenrechtsverteidiger*innen an Elodia Castillo Vasquez, Präsidentin von COMUNDICH, wurde die Bedeutung der Arbeit von COMUNDICH nun auch erstmals international im Dezember 2017 in Washington anerkannt.

Dieses Neujahrsfest der Ch’orti am 19. Februar begann mit einer traditionellen Zeremonie zum Sonnenaufgang in der Aldea Guayabo. Daran schloss sich eine Veranstaltung an, bei welcher den neuen indigenen Autoritäten von sieben Gemeinschaften ihre Landtitel feierlich überreicht wurden. Auch der Alice Zachmann Preis, der jährlich von der guatemaltekischen Kommission für Menschenrechte in den Vereinigten Staaten verliehen wird, wurde anlässlich des Neujahrsfestes noch einmal symbolisch vor der Gemeinschaft der Ch’orti überreicht. Elodia Castillo Vasquez erzählt in ihrer Rede von dem langen Weg der Wiederaneignung der Territorien, dem Kampf der indigenen Frauen und der Kriminalisierung der Ch’orti. Dabei erwähnt sie auch die fehlenden Mitglieder der Gemeinschaft: „Einige von uns können leider nicht hier sein. Denn sie wurden Opfer der gegen uns gerichteten Kriminalisierung. Wir müssen daher noch enger zusammenhalten, um uns gegen die Kriminalisierung durch die Grußgrundbesitzer und den Staat zu wehren.“

Auch die Familien der Inhaftierten sind anwesend. Beim gemeinsamen Essen am Ende des Neujahrsfest, sagte Rosa, José Mendez Torres’ Frau: „Ich hoffe, dass mein Mann bald wieder bei uns zu Haue ist und wieder an diesen Veranstaltungen teilnehmen kann.“

AUF DEM RÜCKEN DER BESTIE

Was ist exakt 1,58 Meter lang und schwarz weiß? Nein, es handelt sich nicht um ein südamerikanisches Tier, das sich in den Wäldern des Amazonas tummelt – es ist eine Besonderheit ganz anderer Art. Von einem Buch soll hier die Rede sein.
Beinahe mystisch mutet das in schwarzes Leinen gebundene Buch an. Öffnet man es, faltet sich ein exakt 1,58 Meter langes Wimmelbild und ein Text auf der linken Seite wie eine Ziehharmonika auseinander. Zu sehen sind kleine Männer und Frauen, die auf dem Feld arbeiten. Tiere zwischen Bäumen und kleine Häuser, die sich aneinander reihen. Weiter unten ein Zug, Zäune, Hunde, Polizeiautos und Menschen, die sich vor bewaffneten Männern verstecken. Es sind Flüchtende, die nicht sicher sein können, was sie auf der anderen Seite erwartet.
Jedes Jahr treten viele Mexikaner*innen eine gefährliche Reise an: Die Überquerung der Grenze zu den USA. Diesem Thema widmen sich José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro in ihrem Buch Migrar. Weggehen. Der Erste sprachlich, der Zweite in Zeichnungen.
Auf beiden Ebenen nehmen sie ihre Leser*innen mit auf die gefährliche Reise eines Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter nach Los Angeles flüchtet. Sie sind auf der Suche nach dem Vater, der schon früher dorthin gegangen war und plötzlich aufhörte, Geld in das kleine mexikanische Heimatdorf zu schicken. Die Flucht gestaltet sich nicht einfach: Sie müssen auf den Rücken der Bestie springen, wie sie den Zug Richtung USA in Mexiko oft nennen. Außerdem gibt es Hunde, die nach ihnen schnappen und dunkle Erdlöcher, in denen sie sich verstecken müssen.
Das Buch ist ein Meisterwerk auf beiden Ebenen. Auf der einen Seite ist da der junge Ich-Erzähler, der klug und kindlich zugleich seine Erlebnisse und Ängste schildert. Auf der anderen Seite gibt es die Zeichnung, die aus der Vogelperspektive die Geschichte vieler flüchtender Menschen zeigt. Der Illustrator José Martínez Pedro schafft es, altaztekischen Zeichenstil mit aktueller Thematik zu verbinden und schafft damit ein einzigartiges Werk.

 

Vom Feldbauern zum Preisträger

Interview mit dem Kleinbauern und Buchillustratoren Javier Martínez Pedro

Warum haben Sie sich dazu entschieden, das Buch Migrar zu illustrieren?
Der Verlag lud mich dazu ein, dieses Buch zu machen. José Manuel Mateo stellte seinen Text zur Verfügung, in dem er über einen Jungen schreibt, der aus Mexiko in die USA flieht.
Sie leben in dem kleinen Dorf Xalitla in Mexiko. Wie kam der Verlag auf Sie ?
Der Sohn der Verlegerin kannte mich, da ich für ihn Zeichnungen gemacht hatte. Daher kam es, dass sie mich dazu einlud, eine Zeichnung zum Thema Migration anzufertigen. Natürlich spielte José Manuel Mateo eine Rolle, da sein Text ja die Basis für meine Zeichnungen war. Mir gefiel an der Idee vor allem, dass ich selbst Teile der Geschichte Migrar erlebt habe: Ich machte mich auch auf den Weg in die USA und überquerte die Grenze. Ich denke, mir ist das Buch einigermaßen gut gelungen. Das liegt bestimmt daran, dass in meinen Zeichnungen etwas von meinem Leben steckt.

Sie leben zum Teil vom Verkauf Ihrer Zeichnungen. Welche Themen stellen Sie dar?
Die Traditionen meines Dorfes. Dort widmen sich die Leute der Erde: Wir säen, wir ernten die Früchte, pflanzen Kürbisse und Wassermelonen. Die Hochzeiten, zum Beispiel, sind in meinem Dorf etwas ganz Besonderes. Die Menschen heiraten zur Musik des Windes, sie tanzen und es gibt Musiker, die auf der Trommel spielen. All das zeichnen wir, meine drei Söhne und ich.

Wo verkaufen Sie Ihre Zeichnungen?
Meistens auf der Straße. Manchmal klopfen wir aber auch an Türen und fragen: „Brauchen sie nicht eine Zeichnung?“ Ab und zu kaufen die Leute die Zeichnungen dann, oft aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist die Situation gerade sehr hart. Es gibt viel Konkurrenz und leider auch viele Leute, die unsere Arbeit nicht mehr schätzen.

Sie müssen ja wirklich viel Zeit mit Zeichnen verbringen!
Ha! Ja, viel Zeit. Ich fing auch schon mit zwölf Jahren damit an, jetzt bin ich 52!
Zurück zu Ihrem Buch. Haben Sie eine Lieblingsszene in dem Buch und wenn ja, welche?
Ja, zum Beispiel gefiel es mir, den Zug zu zeichnen. Das war nämlich auch nicht ganz einfach. Normalerweise machen wir ja eher schlichte, hm, sagen wir, einfachere Zeichnungen. Als sie zu mir sagten, ich solle das machen, meinte ich: Wie soll ich das tun? Ich zeichne normalerweise nicht einmal Autos. Das sind ja ganz moderne Dinge!

Das war bestimmt eine Herausforderung.
Ja. In Mexiko nennt man den Zug übrigens „die Bestie“, weil dieser Zug alle Leute mitnimmt, die beispielsweise von Guatemala oder El Salvador kommen, um die Grenze zu überqueren. Es gefiel mir, Leute auf das Dach des Zuges zu zeichnen, die sich festhalten oder versuchen aufzuspringen.

Sie zeichnen auf Baumrindenpapier. Warum ist dieses Papier so besonders?
Das Baumrindenpapier wird aus der Rinde des Amatl-Baumes gemacht. Deswegen gab man ihm auf Spanisch auch den Namen papel amate.Interessant ist auch, dass dieses Papier eigentlich braun ist und dann erst mit Chlor gebleicht wird.
Das Thema der Flucht aus Mexiko ist ein politisches. Würden Sie sich daher auch selbst als politischen Illustrator sehen?
Ich möchte den Menschen verständlich machen, was es heißt, sein Land zu verlassen. Auswandern bedeutet für uns, wo anders bessere Lebensbedingungen zu suchen. Wir nehmen viele Risiken auf uns. Manchmal misshandeln sie uns an der Grenze. Manche, die werden sogar umgebracht. Und genau deshalb möchte ich vor allem den Kindern eine wichtige Botschaft mitgeben: Sie sollten lernen und dafür kämpfen, etwas aus ihrem Leben zu machen. So müssen sie nicht irgendwann ihr Leben riskieren, um eine Grenze zu überqueren.

 

VERFOLGUNGSJAGD

„Er sah auf seine Hände. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Das stellt der Soldat León Almansa am Ende des Romans fest. Gleichermaßen könnte dieses Zitat die Erkenntnis mehrerer Protagonist*innen aus Antonio Ortuños Madrid, Mexiko sein. Gewalt und Brutalität ziehen sich durch den ganzen Roman. Ob aus Rache, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen oder im Kampf ums eigene Überleben, gnadenlos wird gejagt und vergolten.

Der Roman ist die Geschichte einer Familie aus der Sicht verschiedener Generationen, aus zwei Jahrhunderten und über zwei Kontinente hinweg erzählt. Dabei verknüpft Ortuño in beinahe filmisch anmutenden Szenen die Zusammenhänge. Vom spanischen Bürgerkrieg wird ins Jahr 1997 gesprungen, in welchem der Enkel des Anarchisten Yago, einst aus Madrid vor Franco geflüchtet, nun selbst zurück in das Land seiner Großeltern flieht. Omar wird nämlich vom Handlanger eines korrupten Gewerkschaftsbosses (Mariachito genannt) verfolgt, weil er als heimlicher Geliebter von Mariachitos Freundin, der sich obendrein auch noch am Tatort befand, fälschlicherweise für dessen Mord verantwortlich gemacht wird.

Madrid, Mexiko ist nicht nur eine einzelne spannende Verfolgungsjagd, sondern bietet gleich mehrere davon, und das auf verschiedenen Ebenen. Da ist beispielsweise die Cousine Omars, die ihm zur Flucht verhilft und in gewisser Hinsicht auch Fluchthelferin der Literatur ist. So verfolgt und beschafft sie Manuskripte über Kontinente hinweg, um sie an gut zahlende, geheimnisvolle Kund*innen zu verkaufen, deren Ziel es ist, dass selbige niemals an die Öffentlichkeit gelangen.

Obwohl Flucht und Verfolgung im Vordergrund des Geschehens stehen, erzählt Ortuños neuer Roman doch vor allem vom Ankommen und von der Identitätssuche in der Fremde. Madrid, Mexiko ist auch eine Geschichte verschiedener Versuche, dem Schicksal zu entkommen und eine Heimat zu finden, Migrations- und gesellschaftliche Konflikte mit eingeschlossen. „So viel Foucault, um am Ende in irgendeinem Scheißladen ein Tüllkleid zu kaufen; So viel Derrida, um dann für einen Bauern Tortillas zu backen.“ Die Worte Omars und seiner Kommilitonin, die mit einem Landwirt aus der Provinz, aus der sie stammt, verlobt ist, treffen es auf den Punkt. Ortuño zeichnet ein authentisches Bild der konservativen mexikanischen Gesellschaft und erzählt auch von der Rebellion gegen das eigene Schicksal.

Mögen die einzelnen Charaktere auch sehr unterschiedliche Biographien haben, die auf verschiedene Weisen miteinander verwoben sind – am Ende steht eine Nachricht klar und deutlich für alle Beteiligten. Die Menschen glichen sich seit Kain nur in einem: „Sie seien alle Verbrecher.“

 

LAUT GEGEN DAS SCHWEIGEN

Im Weltraum schwebende Babykatzenköpfe, ein regenbogenfarbenes Bällebad und die Virgen de Guadalupe auf einem Baseballcap – schon die äußere Gestaltung von Rebeca Lanes drittem Soloalbum Alma Mestiza spiegelt die Heterogenität der CD wider. Mit einer Mischung aus Old-School-Hip-Hop, Reggae-Rhythmen, jazzigen Klaviersamples und Cumbia nähert sich die Rapperin mit viel Lust und Mut politischen Themen einer großen Spannweite an. Auch wenn die Texte selten so bonbonbunt und grell wie das Cover sind, steht doch auch immer wieder der Spaß im Fokus, auch an der Rebellion. Selbst schon lange Aktivistin, weiß sie dabei auch sehr genau, wovon sie spricht.

Bis vor fünf Jahren organisierte Rebeca Lane noch selbst Musikveranstaltungen und begann dann eher zufällig ihre Karriere als aktive Rapperin, nachdem sie gebeten wurde, etwas Bühnenzeit zu füllen. Mittlerweile ist sie längst über die Grenzen Guatemalas bekannt und tourt dieses Jahr auch durch Spanien und Deutschland (siehe unten). Als Mitbegründerin der Initiative „Somos Guerreras“ („Wir sind Kriegerinnen“) reiste sie 2016 durch Mittelamerika und versuchte, Frauen* mit Hip-Hop und Breakdance zu empowern.

Praktischer Feminismus ist auch auf Alma Mestiza ein großes Thema. Ob im Song „Este cuerpo es mío“ oder in „Ni encerradas, ni con miedos“ pendeln die Texte dabei zwischen einer Einfühlung in von Geschlechtergewalt Betroffenen und einer Anklage und Kampfansage an die machistischen und patriarchalen Gesellschafts­strukturen. Rebeca Lane benennt die strukturelle Geschlechtergewalt in Guatemala, einem der Länder mit der höchsten Anzahl von Feminiziden und Gewalt an Frauen*, und ermutigt gleichzeitig Frauen* aus der Isolation und gewaltvollen Beziehungen auszubrechen. Aber auch die Lust am Leben und sich selbst feiern kommen nicht zu kurz, wie „Libre, atrevida y loca“, einer der tanzbarsten Songs des Albums, zeigt.

Ein weiteres großes Thema von Alma Mestiza ist die fehlende Geschichtsaufarbeitung Guatemalas. Zwanzig Jahre nach dem Ende des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs läuft die Aufklärung der vor allem an Teilen der indigenen Bevölkerung verübten Massaker nur langsam an. Statt einer Erinnerungskultur gibt es eine des Totschweigens. Dieser setzt Rebeca Lane eine laute Stimme entgegen, ruft die Namen von Verschwundenen in Erinnerung und prangert den gesellschaftlichen Rassismus an.

In diesem Zusammenhang stellt sie auch ihre eigene Identität und das Konzept von Identität im Allgemeinen zur Disposition. Als mestiza, wie sie sich selbst nennt, reflektiert sie zum Beispiel im titelgebenden Track *Alma Mestiza* einerseits das Erbe der Kolonisatoren, das sie notgedrungen in sich trägt und feiert andererseits die Mythologie und Kultur der Maya als etwas sehr Gegenwärtiges. Damit setzt Rebeca Lane auch einen klaren Kontrapunkt zum rassistischen Diskurs, in dem die „mestizische Mehrheitsgesellschaft“ indigene Kultur vielleicht folkloristisch feiert und historisiert, die Indigenen selbst aber an den Rand gedrängt werden.

Zwar könnte es manchmal ein bisschen weniger Reggaerythmen und Loungegedudel sein, doch machen die starken Texte und die klare Botschaft auch diesen Wermutstropfen wieder wett. Und mit ihrer musikalischen Offenheit ist Rebeca Lane, die im Übrigen fabelhaft rappen kann, vielleicht auch leichter für Menschen zugänglich, die Hip-Hop nicht zu ihrer Lieblings­musik zählen.

 

VON ZERQUETSCHTEN FLIEGEN UND MENSCHENBREI

„Bei der Jagd auf Fliegen sind die wichtigsten Fähigkeiten Schnelligkeit und Beweglichkeit. Wenn du schnell bist und fest zuschlägst, wird sich die Fliege in einen organischen Brei verwandeln, der nicht im Entferntesten mehr an ein Lebewesen erinnert. Man jagt Fliegen zum Spaß, das Amüsement rechtfertigt auf dieser Welt alles, aber man zerquetscht sie auch aus Ekel, da sie dort hinfliegen, wo sie nicht hinfliegen dürfen, und das ärgert uns.“ Die Fliegen-Analogie ist nicht die einzige, die in Antonio Ortuños Die Verbrannten zwischen der Tierwelt und den zentralamerikanischen Migrant*innen, die Mexiko durchqueren, aufgestellt wird. Sie sind Kakerlaken, die zerquetscht werden müssen, gescheuchtes Vieh auf der Reise zum Schlachthof, das anschließend durch den Fleischwolf gezwängt wird.

Irma, genannt La Negra, eine Sozialarbeiterin der Nationalkommission für Migration, wird nach einem Brandanschlag in das fiktive Santa Rita versetzt, ein unscheinbarer, fehlkonstruierter Ort an der Grenze zu Guatemala. Der Anschlag galt der örtlichen Herberge für Migrant*innen auf der Durchreise in die USA. Irma soll die Angehörigen und wenigen Überlebenden mit Infoblättern versorgen und ein standardisiertes geheucheltes Beileid aussprechen. Desillusioniert und verzweifelt ob der Untätigkeit ihrer Beamtenkollegen im Angesicht der immer neuen Angriffe und Massaker in der Herberge, versucht Irma gemeinsam mit dem Journalisten Joel Luna eines der überlebenden Opfer zu schützen: Yein, eine junge Frau, die auf eine fast schon mystische, epische Art als Racheengel stilisiert wird.

Santa Rita ist jedoch nur ein Teilaspekt des extrem vielstimmigen Romans. Seine größte Stärke sind die eingestreuten Kapitel, die den Bewusstseinsstrom des frustrierten und hasserfüllten Vaters  der Tochter Irmas wiedergeben. Gesellschaftsfähiger Rassismus und moralische Verkommenheit werden so denunziert.

Im Stile von Bolaños monumentalen Roman 2666 schildert Ortuño mit medizinischer Präzision unfassbare Gewaltszenen, die besonders darum Übelkeit verursachen, weil sie nicht fiktiv sind, und weil sie mehr als nur die Wertlosigkeit eines Menschenlebens bedeuten. Zentralamerikanische Migrant*innen werden zum Objekt der Macho-Gewaltfantasien, des Machtwahnsinns und der Machtdemonstration degradiert. Insofern erfüllen die „Verbrannten“ eine ganz besondere Funktion zum Erhalt des Systems, aus dessen Teufelskreis scheinbar kein Entkommen möglich ist. Das wichtigste Glied in der Kette ist dasjenige, das seinen Wert durch die eigene Austauschbarkeit erhält, durch die Logik der Massenware.

Eigentlich ist Die Verbrannten trotz der thrillerhaften Motive der Jagd und Rache, des latenten Spannungsaufbaus und eines furiosen Finales kein Krimi, sondern ein Bericht einer Gesellschaft, die bis ins letzte Glied korrumpiert ist und in der Vertrauen zu schenken immer ein Fehler ist.
Für Migrant*innen in Mexiko ist ein Entkommen aus der Hölle so gut wie unmöglich. Zwar beschreibt Ortuño Mexiko als „ein Land voller Opfer mit Tigerzähnen und -krallen“ – die Umkehrung von Opfer- und Täterrollen mag somit vereinzelt zu einer makabren Rehumanisierung der Opfer führen. Ihr Widerstand, wie auch der Irmas und des Journalisten, spielen jedoch innerhalb „der sieben Kreise der mexikanischen Hölle“ keine Rolle. Der Fleischwolf Mexiko mahlt immer weiter, seine Einzelteile sind genau so austauschbar wie die Menschen, die er verschlingt.

ABSTIEG EINES KOMIKERS

Foto: Codeca

Vor zwei Jahren hatte Guatemala genug von der Korruption und seiner politischen Klasse. Monate zuvor war Ex-Präsident Otto Pérez Molina quasi aus dem Amt ins Gefängnis befördert worden, das gleiche Schicksal hatte schon zuvor Vizepräsidentin Roxana Baldetti ereilt. Ein „unbelasteter“ Politikertyp sollte her, dazu ein Mensch, der „populär“ genug ist, um Wahlen gewinnen zu können. Ausgerechnet der reaktionärste Teil des politischen Spektrums ritt am erfolgreichsten auf dieser Anti-Establishment-Welle. Die von Ex-Militärs gegründete und von Radikal-Evangelikalen gestützte Front der Nationalen Konvergenz (FCN) hatte bei den Wahlen vier Jahre zuvor kein einziges Mandat gewinnen können. 2015 aber zog ihr Kandidat, der zotige Fernsehkomiker Jimmy Morales, mit Heilsversprechen an allen anderen vorbei.

In der Stichwahl entfielen mehr als zwei Drittel der abgegebenen und gültigen Stimmen auf den damals 46-Jährigen – das zweitbeste Wahlergebnis seit der Wiederherstellung der Demokratie 1985. Doch schon damals prophezeiten viele, dass es dem politisch völlig unerfahrenen Morales, dem dazu Selbstverliebtheit und machistische Züge zugeschrieben wurden, kaum gelingen würde, ausgerechnet mit seiner Machtbasis verbrecherisch gestriger Generäle aus Zeiten von Diktatur und Völkermord ein „neues Guatemala“ zu erschaffen, frei von Korruption, in dem es jeder und jedem bessergehen würde.

Es fing schon nicht gut an. Morales’ designierter Regierungsminister, Ex-Militär César Cabrera, musste eine Woche vor der Vereidigung des Präsidenten das Handtuch werfen, angeklagt wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur in den 1980er Jahren. Schon kurz nach Amtsantritt gab Kommunikationsministerin Sherry Ordóñez ihr Amt wegen Interessenskonflikten auf. Mittlerweile hat Guatemalas Oberster Rechnungshof Anzeigen gegen sieben der 14 Minister*innen wegen verschiedener strafrechtlich relevanter Vorgänge der Staatsanwaltschaft übergeben. Gegen Morales’ ehemaligen Sicherheitschef, den heutigen Kongressabgeordneten und Ex-Militär Armando Melgar Padilla, laufen Ermittlungen wegen seines unerklärlich großen Vermögens. Der Kongressabgeordnete, FCN-Gründer und Freund von Morales, Edgar Ovalle, ist seit März auf der Flucht, ebenfalls angeklagt wegen Beteiligung an Massakern während des bewaffneten Konflikts in den 1980er Jahren. Eineinhalb Jahre nach Beginn seiner Präsidentschaft sitzt Morales’ innerer Zirkel in Haft, ist auf der Flucht oder muss sich strafrechtliche Ermittlungen gefallen lassen.

Besonders dürften den Präsidenten aber die strafrechtlichen Ermittlungen gegen seinen Bruder Sammy treffen, ehemals sein engster Vertrauter und Berater, sowie jene gegen den eigenen Sohn, José Manuel. Seit September 2016 wird gegen beide in einem Fall von Betrug und Geldwäsche aus dem Jahr 2013 ermittelt. In drei Monaten könnte der Prozess beginnen, der gerade für den Bruder des Präsidenten böse enden könnte: Wird er der Geldwäsche schuldig gesprochen, könnten ihm zwischen sechs und zwanzig Jahre Haft blühen.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim entgegenschlägt.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales und seiner Regierung seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim und den folgenden Ermittlungen entgegenschlägt. In einem Saal des Heims war am 8. März ein Feuer ausgebrochen, bei dem 41 Mädchen starben und 15 verletzt wurden. Schnell ergaben die Ermittlungen, dass die Mädchen tags zuvor aus dem Heim ausgebrochen waren, nachdem sie monatelang Misshandlungen, sexuellen Missbrauch, ungeheuerliche hygienische Bedingungen und verdorbenes Essen erduldet hatten (siehe LN 514). Erste Anzeigen hatte es bereits im Jahr 2013 gegeben, also vier Jahre zuvor. Sicherheitskräfte hatten die 56 Jugendlichen zunächst eingefangen und dann stundenlang in einem Saal eingeschlossen. Als die Sicherheitskräfte sich auch nach Stunden weigerten, den Mädchen den Gang zur Toilette zu ermöglichen, zündeten diese eine Matratze an, um dadurch die Öffnung der Tür zu erzwingen. Die zuständigen Polizist*innen, so die Anklage, hätten aber die Tür nicht geöffnet und die Mädchen somit bewusst verbrennen lassen.

Der Fall Hogar Seguro („Sicheres Heim“) hatte noch im selben Monat zur Verhaftung des Direktors der präsidentiellen Wohlfahrtskommission, Carlos Antonio Rodas Mejía, und der dort für Kinderschutz zuständigen Vizedirektorin, Anahí Keller Zabala, geführt. Beide hatte Morales persönlich ernannt. Seit Mitte Juni sitzen zudem die Ombudsfrau für Kinderrechte, Gloria Patricia Castro Gutiérrez, der für Kinder und Jugendliche zuständige Oberstaatsanwalt Harold Augusto Flores Valenzuela und die Staatsanwältin für Fälle von Misshandlungen, Brenda Julissa Chamam Pacay, in Untersuchungshaft.

Auch Präsident Morales ging es nach dem Vorfall an den Kragen. Nicht nur wegen des Entsetzens, das dieses Verbrechen in weiten Teilen der Bevölkerung hervorrief, und weil der Ruf der staatlichen Institutionen Guatemalas ein weiteres Mal schwer beschädigt worden ist. Sondern auch, weil die Opposition im guatemaltekischen Kongress nach Enthüllungen einer direkten Einflussnahme des Präsidenten auf den Umgang mit der Affäre durch die Polizei die Aufhebung der Immunität des Präsidenten betrieb. Das Vorhaben scheiterte allerdings am 22. Juni vor dem Obersten Gerichtshof. Morales dürfte aufgeatmet haben.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen. Die personellen Änderungen im Finanzministerium, in der in Verruf geratenen Steuerbehörde und im Regierungs- und Gesundheitsministerium galten zumindest zum Zeitpunkt der Ernennungen als recht kluge Personalentscheidungen. Die Verlängerung des Mandats der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bis 2019 wurde gelobt. Aber anstatt die Erfolge dieser Minister*innen herauszustellen, fährt ihnen Morales allzu oft in die Parade: Dem Finanzminister wurde schon der Vorschlag einer Steuerreform untersagt, ohne die aber die versprochene Ausweitung von Bildungs- und Gesundheitsprogrammen nicht finanzierbar ist. Die Gesundheitsministerin ist mehrfach von Morales und der eigenen Partei vorgeführt worden. Dem Regierungsminister regiert Morales in interne Ministeriumsangelegenheiten hinein. Und den Chef der Steuerbehörde kritisierte Morales öffentlich wegen dessen Ermittlungen gegen Steuerhinterzieher*innen. So demontiert Morales seit 18 Monaten munter sein eigenes Bild eines angeblichen Saubermanns und versierten Staatslenkers.

An Morales sind all die Affären und Skandale nicht spurlos vorübergegangen. Der ehemalige Komiker ist dünnhäutig geworden. In einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Jorge Ramos vom spanischsprachigen US-Fernsehsender Univision warf Morales der guatemaltekischen Justiz indirekt die Verletzung der verfassungsgemäßen und demokratischen Ordnung vor und relativierte die Geldwäschevorwürfe gegen seinen Bruder als Teil einer in Guatemala und ganz Lateinamerika verbreiteten und als normal empfundenen Korruption. Wenn dem so ist, dann ist beim selbst ernannten Kämpfer gegen die Korruption und vor kurzem noch strahlenden Wahlsieger jetzt auch ganz offiziell die Luft raus.

Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird das haben? Rücktrittsforderungen kommen nicht nur aus dem guatemaltekischen Kongress, auch die Massendemonstrationen in Guatemala-Stadt sind wieder zurück. Guatemalas Kleinbauern- und Indigenen-Organisation Codeca hat Mitte Juli bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr zum Generalstreik aufgerufen und landesweit Straßen blockiert. Auch die nationale Presse geht mit Morales und seinen Leuten durchaus hart ins Gericht. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass Jimmy Morales das gleiche Schicksal blüht wie seinem Vorgänger Otto Pérez Molina.

Denn gegen den Präsidenten selbst wird in keiner der genannten Affären ermittelt. Für Politikwissenschaftlerin Geidy de Mata, Professorin an der staatlichen autonomen Universität San Carlos (USAC) zeigen die Rücktritte und Verhaftungen, dass Präsident*innen ihr Personal nicht nach Befähigung auswählen, sondern über die Auswahl geleistete Gefälligkeiten honorieren würden. Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit würden dabei sowohl die Ernannten wie die Ernennenden charakterisieren. Dies ist in Guatemala aber nicht neu – und wird der Bogen nicht überspannt – auch nicht strafbar.

Guatemaltekische Leitartikel diskutieren zwar seit fast einem Jahr über die Möglichkeit eines nahenden Endes der Präsidentschaft von Jimmy Morales. Helen Mack, angesehene Menschenrechtlerin und Schwester der 1990 ermordeten Anthropologin Myrna Mack, prophezeite schon im Oktober letzten Jahres, dass Morales im Falle der Verhaftung seines Bruders und Sohnes zurücktreten würde. Eingetreten ist davon allerdings bislang nichts. Und nicht nur guatemaltekische Präsidenten halten traditionell so lang wie irgend möglich am Amt fest.

„DAS WAR KEIN UNFALL“

Am 7. März gegen Abend waren 50 Mädchen und Jungen aufgrund der miserablen Zustände aus dem Kinderheim in die nahe gelegenen Wälder geflohen. Die nationale Zivilpolizei (PNC) bringt sie auf direkte Anweisung des guatemaltekischen Präsidenten zurück und überwacht die Jugendlichen nach dem Fluchtversuch. Am frühen Morgen werden 52 Mädchen in einen Klassenraum gesperrt und weiterhin von der PNC überwacht, diese Maßnahme kann juristisch als institutionelle Entführung gewertet werden. Als die Mädchen trotz Bitten auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht heraus gelassen werden, beginnen Tumulte, bei denen einige Mädchen Matratzen im Klassenzimmer angezündet haben sollen. Das Feuer breitet sich schnell aus und noch immer wird den Mädchen die Befreiung aus dem Klassenzimmer verwehrt. Viele verbrennen vor den Augen der PNC. Diese soll die Kontrolle über das Einschließen der Mädchen gehabt haben, diese werden nicht heraus und die bald eintreffende Feuerwehr erst nach 40 Minuten herein gelassen. 19 Mädchen sterben in dem Feuer, die Zahl der in den Krankenhäusern Verstorbenen steigt innerhalb von drei Tagen auf 40 an.

Das 2006 zum Schutz der Kinder gegründete Heim ist eine staatliche Institution.

Das Kinderheim, welches im Jahre 2006 als Refugium zum Schutz von Minderjährigen gegründet wird, ist eine staatlich geführte Institution. Es beherbergt Kinder und Jugendliche von Null bis 18 Jahren, betroffen von Kindesmisshandlung, „leichten Behinderungen“, sexueller, psychischer und physischer Gewalt, Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und ohne familiäre Zufluchtsmöglichkeit.

Die räumlichen Kapazitäten der Herberge liegen bei 400-500 Kindern und Jugendlichen, zum Zeitpunkt des Brandes waren 807 Kinder und Jugendliche dort untergebracht. Einige Kinder wurden als Resultat sexuellen Missbrauchs – seitens der Lehrer*innen und Autoritäten der zuständigen Aufsichtsbehörde – innerhalb des Heims geboren. Bei der zuständigen staatlichen Wohlfahrtsbehörde (SBS) gingen immer wieder Anzeigen unter anderem wegen Prostitution, sexuellen Missbrauchs, körperlichen, psychischen, verbalen Miss­handlungen und fehlender medizinischer Versorgung innerhalb des Kinderheims ein. Zudem sollen Autoritäten der Behörde selbst an sexuellem Missbrauch beteiligt gewesen sein. Die Aufsichtsbehörde hat die Weiterreichung der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen verhindert und Namen sowie Details den zuständigen Behörden vorenthalten. Zwischen Januar und August 2014 waren 28 Anzeigen dokumentiert worden, es kam zu einzelnen juristischen Prozessen. Darunter war auch die Anzeige gegen den Maurer José Arias, der 2013 ein 17-jähriges Mädchen mit „kognitiven Defiziten“ in einem Klassenraum vergewaltigte und sich nun für acht Jahre in Haft befindet; oder gegen den Lehrer Edgar Rolando Dieguez Ispache, welcher mehrfach Kinder innerhalb seines Unterrichts demütigte und einzelne zu Oralverkehr zwang. Der Gerichtsprozess gegen ihn läuft seit 2016. Die meisten Anzeigen bleiben jedoch in der Investigationsphase stecken oder werden der Staats­anwaltschaft gar nicht erst übermittelt. Der nationale Adoptionsrat überprüfte das Heim trotz der Anzeigen nicht.

Dem Heim wird Kinderhandel vorgeworfen.

Am 11. März kommt es zu den ersten Massenprotesten in der Hauptstadt Guatemalas und vor den guatemaltekischen Botschaften verschiedener Länder. Auch hier findet der Verdacht auf ein Staatsverbrechen Ausdruck und die Aktivist*innen beginnen, über ein Netzwerk von Menschenhandel zu sprechen.
Die lokale Organisation „Kinder“ der Verschwundenen des Genozids („Hijos“) fordert in einem öffentlichen Schreiben Interventionen seitens nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen, unter anderem durch die Internationale Kommision gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) zur Tatortermittlung sowie die präventive Festnahme der Verantwortlichen unter dem Verdacht des Femizids.

Schon im November 2016 informierte die Ombudsstelle für Menschenrechte über möglichen Menschenhandel durch das Kinderheim. Eine anonyme Richterin erzählt in einem Interview mit dem Journalisten Francisco Goldman, dass 62 Kinder aus dem Heim verschwunden seien und dass sie glaube, diese seien noch vor dem Brand ermordet worden. Weiterhin berichtet sie über die Zwangsprostitution innerhalb des Kinderheims, auch wenn noch unklar sei, wer genau dahinter stecke.Der Journalist Camilo Villatoro bezeichnet die Tragödie des Kinderheims als „geplante Massenvernichtung um Zeuginnen und Betroffene eines möglichen kriminellen Netzwerks von Kinderhandel und Sexsklaverei zu eliminieren.“

Wegen der Vorfälle im Kinderheim sollen nun erneut die Untersuchungen bezüglich Kinderhandel aufgenommen werden. Aufgrund des Verschwindens vieler Mädchen existiere der Verdacht, dies sei zu Zwecken der Prostitution geschehen, sagt der Anwalt und Aktivist Alejandro Axpuac.

Der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales sowie der Sekretär des Büros für Gemeinwohl, Carlos Rodas, weisen alle Verantwortung und den Vorwurf eines Staatsverbrechens öffentlich zurück. Zwei Tage später, am 12. März, verstrickt sich Morales jedoch in seiner Argumentation während eines Interviews mit CNN. Er bejaht die Unfähigkeit der guatemaltekischen Instanzen und bestätigt den Vorwurf, die PNC habe auf seine Anordnung hin die Mädchen festgehalten. So bezeugt Morales, dass der Staat mit repressiven Mitteln agierte und die Sicherheit der Jugendlichen nicht priorisiert wurde.

Am 13. März werden drei leitetende Angestellte der SBS präventiv festgenommen. Die Anordnung kam von der Richterin Claudia Blandón Alegría unter dem Vorwurf von Mord, Nichterfüllung ihrer Aufgaben und Misshandlung von Minderjährigen.

Die Proteste in Guatemala halten an, einige Aktivist*innen fordern den Rücktritt des Präsidenten Morales. Es bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft.

 

„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.

EINSAMKEIT UND WAHNSINN

Wie lebt man in einer Region mit den weltweit höchsten Mordraten? Wie lebt man unter Drogenmafias, korrupter Polizei und kriminellen Politiker*innen? Diesen Fragen geht der salvadorianische Journalist Óscar Martínez in seinem kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch nach. Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika sind vierzehn Reportagen, die Martínez zwischen 2011 und 2015 verfasst hat. Er analysiert darin die Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten. Die einzelnen Geschichten nehmen dabei immer wieder aufeinander Bezug und zeichnen ein lebhaftes, tiefgründiges und kritisches Bild der Misere, mit besonderem Fokus auf El Salvador, Guatemala und Honduras.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil,„Einsamkeit“, handelt von den „Regionen, aus denen sich die Regierungen verabschiedet oder in denen sie sich mit dem Organisierten Verbrechen arrangiert haben“, so Martínez in der Einleitung. Eine dieser Reportagen erzählt vom guatemaltekischen Departamento Petén. Hier haben sich Drogenbarone illegal und zum Teil in Naturschutzgebieten riesige Anwesen errichtet, während der Staat dies aus Angst toleriert oder aus Komplizenschaft schützt. Gleichzeitig werden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Verweis auf den Naturschutz vom selben Staat verjagt und so entweder in die Arme eben jener Drogenbanden getrieben. Oder in die Arme der Agroindustrie, die in diesen Naturschutzgebieten Palmöl anbaut. Trotz der unerträglichen Zustände gelingt es Martínez nicht zynisch zu werden, sondern so lange weiter zu recherchieren, bis die Geschichten mit all ihren Aspekten erzählt sind. Die Gewalt ist bei Martínez nie monokausal, nie ohne Kontext und immer ist mehr als ein Akteur involviert.
Der zweite Teil des Buchs heißt „Wahnsinn“. In diesem Teil möchte der Autor mit eigenen Worten „die Sinnlosigkeit, die extreme Gewalt, in der uns die Einsamkeit versinken lässt“ beschreiben. Eine der Reportagen handelt vom jahrelangen verzweifelten Kampf eines Gerichtsmediziners, der Leichen aus einem Brunnen bergen möchte. Er will damit Beweise gegen mareros, Mitglieder von Banden, sammeln um ihre Verurteilung zu erreichen. Der Protagonist erhält dabei von keiner staatlichen Stelle ernsthafte Unterstützung. Am Ende muss er aufgeben und die Mörder werden aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Dieser Wahnsinn sei symptomatisch für ein ganzes Land, schreibt Martínez über El Salvador.
Der dritte Teil des Buchs trägt den Titel „Flucht“ und „berichtet von denen, die dem Wahnsinn entfliehen wollen“, wie es in der Einleitung heißt. Die Reportagen handeln von Fluchtversuchen in die USA, von Menschenschmuggler*innen oder von dem Ex-marero namens El Niño, der Kronzeuge in vielen Prozessen gegen die Mara Salvatrucha und  gegen kriminelle Polizist*innen ist. Es ist die „Geschichte eines Mannes, von dem auch ich wusste, dass man ihn ermorden würde“. Martínez betont, dass El Niño selbst ein Mörder war. Er hätte als Kronzeuge aber auch unter dem Schutz des Staates stehen müssen, um im Kampf gegen Gewalt bei der Aufklärung zu helfen.
Martínez klagt auf vielfältige Weise an und gibt nur selten Grund zur Hoffnung. Vor allem versucht er aber die Komplexität zentralamerikanischer Gewalt zu verstehen und zu vermitteln. Die Empathie, die er seinen Gesprächspartner*innen und Protagonist*innen entgegenzubringen weiß, machen seine Erzählungen eindrucksvoll. Die Gewalt in Zentralamerika erhält in Martínez‘ Reportagen Gesichter, die man beim Lesen zwar nicht zu mögen, aber in ihrem Handeln zu verstehen beginnt. Zu einer eindrucksvollen Lektüre trägt schließlich auch die exzellente Übersetzung von Hans-Joachim Hartstein bei.

Eine „sehr lateinamerikanische“ Berlinale

Auf der diesjährigen Berlinale werde man wohl mehr Spanisch als Deutsch sprechen, witzelte Festivaldirektor Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz für ausländische Medien und bezog sich damit auf die starke Präsenz Lateinamerikas beim internationalen Filmfestival. Über 50 Filme und Produktionen mit lateinamerikanischer Beteiligung werden in den verschiedenen Sektionen der Berlinale 2015 zu sehen sein, davon vier im Wettbewerb um den goldenen Bären. Die diesjährige Berlinale sei eine „sehr lateinamerikanische“, titelte daher auch die kolumbianische Presse. Und nicht nur im Filmprogramm, auch in der Jury ist Lateinamerika mit der Peruanerin Claudia Llosa hochkarätig repräsentiert, die 2006 mit ihrem Film La teta asustada den Goldenen Bären und 2012 mit dem Kurzfilm Loxoro den Teddy Award gewann.

Im Wettbewerb werden in diesem Jahr vier lateinamerikanische Filme präsentiert. Die französisch-chilenisch-spanische Produktion El botón de nácar des Regisseurs Patricio Guzmán ist ein intensiver Dokumentarfilm, der an eines der schlimmsten Kapitel der Pinochet-Diktatur erinnert, an die Verschwundenen, die über dem offenen Meer aus Flugzeugen geworfen wurden. Der Film verbindet die Verbrechen der Diktatur mit der Auslöschung der indigenen Ethnien während der Kolonialisierung und spielt auf die Perfektionierung des gleichen kriminellen Instinkts durch das Pinochet-Regime an. Ein weiterer chilenischer Film im Wettbewerb ist El Club des Regisseurs Pablo Larraín, der sich mit dem Thema Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auseinandersetzt. In einem Glaubenskonvent an der chilenischen Küste werden schwere Vorwürfe gegen einen Priester erhoben, der sich diesen durch Selbstmord entzieht. Die darauf folgenden Ermittlungen bringen unbarmherzig Widersprüche in der katholischen Kirche zum Vorschein.

Der britische Regisseur Peter Greenaway zeigt mit Eisenstein in Guanajuato eine britisch-mexikanische Produktion über die Reise des legendären sowjetischen Meisterregisseurs Sergej Eisenstein nach Mexiko, der dort über eine Filmproduktion verhandelte. Der vierte lateinamerikanische Film im Wettbewerb, Ixcanul Volcano von Jayro Bustamante, ist das Debüt Guatemalas im Wettstreit um den Goldenen Bären. Er handelt von María, einem 17-jährigen Maya-Mädchen, das am Fuß eines aktiven Vulkans in Guatemala lebt, auf seine arrangierte Heirat wartet und selbst nach Möglichkeiten sucht, dieser zu entfliehen.

Das Hauptprogramm der Sektion Panorama, die sich dem Arthouse- und Autorenkino widmet, eröffnet am 5. Februar die brasilianische Produktion Sangue Azul von Lirio Ferreira. Auf einem Inselparadies in der Südsee, gefilmt auf der Insel Fernando de Noronha vor der Küste des Bundestaats Pernambuco, werden Bruder und Schwester von der Mutter getrennt. Der 9-jährige Pedro wird von Kaleb, einem Zirkusbetreiber, Richtung Festland mitgenommen. Als er 20 Jahre später als erwachsener Mann mit dem Zirkus zurückkehrt, wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert. In der Reihe Panorama Special, die unabhängige Produktionen der US-amerikanischen Major-Studios zeigt, eröffnet am 6. Februar 600 Millas, das Erstlingswerk des Mexikaners Gabriel Ripstein, in dem ein blutjunger Waffenschieber zwischen Texas und Mexiko einen amerikanischen Sicherheitsagenten in die Finger bekommt. Diesen wieder loszuwerden, wird das Abenteuer seines Lebens.

Insgesamt ist Lateinamerika im Panorama-Programm stark vertreten: Neben dem chilenischen Regisseur Sebastián Silva, der seinen in Brooklyn spielenden Film Nasty Baby präsentiert, stellen Brasilien, mit Ausência von Chico Teixeira und Que horas ela volta? von Anna Muylaert, und Argentinien, mit Mariposa Marco Berger und El incendio von Juan Schnitman, ihre jüngsten Werke über die Untiefen menschlicher Beziehungen vor.

Auch in der Sektion Forum, dessen risikofreudige Filmauswahl sich im Grenzbereich von Kunst und Kino bewegt, bildet das junge lateinamerikanische Kino einen geografischen Schwerpunkt. Es setzt sich vordergründig mit institutioneller, politischer und familiärer Gewalt auseinander und porträtiert Menschen, die auf gesellschaftliche Umbrüche individuelle Antworten suchen. Zudem wird als Special Screening Cuatro contra el mundo von Alejandro Galindos in einer restaurierten Fassung gezeigt. Der historische Film von 1950 gilt als Prototyp des mexikanischen Film noir. Zum regulären Forumprogramm gehört der in Argentinien entstandene Spielfilm Mar der Chilenin Dominga Sotomayor, der aus der vordergründig privaten Geschichte eines jungen Paars, das im Urlaub vom Auftauchen der Mutter gestört wird, ein komplexes Gesellschaftsbild entwickelt. Der chilenische Spielfilm La mujer de barro von Sergio Castro San Martín begleitet die wortkarge María zurück an den Arbeitsort, an dem sie einst Schlimmes erlebt hat. Als sich die Geschichte zu wiederholen scheint, nimmt sie ihr Schicksal in die Hand.

Aus drei eindringlich inszenierten Episoden besteht Violencia, das Regiedebüt des Kolumbianers Jorge Forero. Ein angeketteter Gefangener mitten im Dschungel, ein Jugendlicher auf der Suche nach Beschäftigung, ein hochrangiger Offizier bei einer Miliz: ein Tag, drei Männer, drei Schauplätze. Das Bindeglied zwischen ihnen ist die allgegenwärtige Gewalt in Kolumbien. Der mexikanische Regisseur Joshua Gil erzählt in La maldad von einem alten Mann, der noch große Pläne hat. Seine Entschlossenheit führt ihn in die Stadt, wo Forderungen nach politischer Veränderung immer lauter werden.

Neben der in dieser Ausgabe rezensierten avantgardistischen Satire Brasil S/A von Marcelo Pedros wird das ebenfalls aus Brasilien stammenden Regiedebüt Beira-Mar von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher gezeigt. Ein junger Mann reist ins Ferienhaus der Familie am Meer, um eine heikle Erbangelegenheit zu klären. Behutsam erzählt der brasilianische Film von einem langen Winterwochenende, erwachender Sexualität und neuer Intimität. Der Film wird als Cross-Section-Vorführung auch im Generation Programm, der Kinder- und Jugendsektion der Berlinale, als Teil einer Auswahl von Coming-of-Age-Filmen gezeigt.

Generation zeigt außerdem zwei lateinamerikanische Filme: Den in dieser LN-Ausgabe besprochenen mexikanisch-guatemaltekischen La casa más grande del mundo von Ana V. Bojórquez und Lucía Carreras und den argentinischen El Gurí, der wie viele Filme der diesjährigen Ausgabe dieser Reihe von einem jungen Menschen handelt, der auf seinem Weg zum Erwachsenwerden eine (zu) große Verantwortung übernehmen muss.

Über die Sonderreihe NATIVe, die sich dieses Jahr explizit das indigene Kino Lateinamerikas als Fokus genommen hat, berichten wir auf den folgenden Seiten gesondert und stellen drei Filme dieser Reihe vor. Genug spannende Gelegenheiten also, sich auf der diesjährigen Berlinale mit dem lateinamerikanischen Kino zu beschäftigen.

Kein Licht auf dem Land

Bis heute verfügen weite Teile der ländlichen, meist indigenen Bevölkerung Guatemalas über keinen Zugang zur Stromversorgung. Dabei waren die guatemaltekischen Regierungen in den letzten Jahren durchaus aktiv in der Energiepolitik. 2007 wurde das Elektrifizierungsgesetz reformiert, als Voraussetzung dafür, die nationale Energieinfrastruktur zu erweitern. Damit reagierte die Regierung vor allem auf die steigende Nachfrage der Industrie und des Bergbausektors. Im Jahr 2010 wurde das kolumbianische Unternehmen TRECSA beauftragt, die geplante Erweiterung des Stromnetzes in Guatemala zu realisieren.
Anfang 2013 zeigte sich jedoch, dass TRECSA mit dem Ausbau des Stromnetzes nicht wie geplant vorankam. Hauptgrund dafür war der Widerstand von betroffenen indigenen Gemeinden. Sie wehrten sich dagegen, ihr Land für den Stromnetzausbau zu verkaufen oder zu verpachten. Darauf reagierte die Regierung im März 2013 mit dem Erlass des Dekrets 145-2013: Das Programm zur Erweiterung des Stromnetzes und der ländlichen Stromversorgung wurde zur „nationalen Dringlichkeit“ erklärt. Sehr schnell kam von den indigenen Organisationen Kritik, dass die Bestimmungen des Dekrets effektiv das Recht auf Privatbesitz und kollektiven Besitz aushebeln würde. Tatsächlich beklagen sie, dass seit dem Erlass immer wieder Plünderungen und Übergriffe der Regierung und der Energieunternehmen auf kommunales Land und dessen natürliche Ressourcen stattfinden würden.
Besonders betroffen ist der Norden des Departements Quiché, wo das Militär in den 1980er Jahren zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübte. Hier sind mehrere Wasserkraftwerke und staatseigene Starkstromleitungen geplant, um den umliegenden Bergbaukonzernen, die für das Land Konzessionen erhalten haben, Strom für die Ausbeutung der Mineralien zu liefern. Diese Projekte dienen offiziell der Entwicklung der armen Gemeinden, doch davon ist bisher wenig zu sehen. Auf einem Treffen mit Repräsentant*innen der Firma TRECSA velangte daher ein junger Ixil Maya, dass sie der Gemeinde mehr als Almosen wie ein paar Wellbleche anbieten müssten, um das Wegerecht für ihre Starkstromleitungen durch ihr Land zu erhalten. So würden sie auch wirklich etwas zur Entwicklung beitragen und nicht nur davon reden. Tatsächlich spricht wenig dafür, dass die Gemeinden den zugesagten Strom von den Wasserkraftwerken und TRECSA, das ausschließlich für den Transport des Stroms zuständig ist, bekommen werden. Ein Beispiel für die unerfüllten Versprechen ist im Verwaltungsbezirk Chajul zu finden, in dessen Gebiet das Wasserkraftwerk Xacbal seit drei Jahren Strom erzeugt: Obwohl den naheliegenden Gemeinden Licht versprochen worden war, sind bis heute 80 Prozent von ihnen ohne Strom geblieben.
Die betroffenen Gemeinden in Quiché belassen es nicht bei passiven Forderungen. Unter dem Motto „Wenn das ganze Volk aufsteht, wird das Land erzittern“, haben sie sich organisiert, um sich über die Elektrifizierungspläne des Landes zu informieren und auszutauschen. In einer Versammlung konnten die Gemeinderepräsentant*innen ergründen, dass die Mehrheit der Gemeinden dem Unternehmen TRECSA kein Wegerecht erteilt oder Land verkauft hat. Zudem stellte sich heraus, dass es mehrere Einschüchterungs- und Verleumdungsversuche seitens des Unternehmens gegeben hatte, um die einzelnen Gemeinden zur Landvergabe zu bewegen. So hätten TRESCA-Repräsentant*innen gegenüber Einzelgemeinden fälschlicherweise behauptet, dass die Nachbargemeinden ihnen schon ein Wegerecht erteilt hätten und sie sich als einzige fehlende Gemeinde der nationalen Entwicklung und dem Wohlstand des Landes entgegenstellen würden. Einige andere Gemeinden hingegen sahen sich politisch und sozial gespalten, da sie Wegerechte erteilt hatten oder weil vereinzelt Land verkauft worden war. Verschiedene Bäuerinnen und Bauern sehen ihr Land für die Subsistenzwirtschaft in Gefahr: „Wo sollen wir unseren Mais pflanzen, wenn die Starkstromleitung genau durch unser Feld führt?“
Am 13. November 2013 reichten 27 Gemeinden aus elf Regionen eine Verfassungsklage gegen das Dekret 145-2013 ein, da es das Recht auf Privatbesitz und kollektiven Besitz aushebele. Auch sei das Dekret unter Umgehung des Parlaments ausschließlich vom Präsidenten und dem Ministerrat erlassen worden, was ein Verstoß gegen die in der Verfassung verankerten Prinzipien der Gewaltenteilung darstelle. Des Weiteren sei vor der Ausarbeitung des Dekrets die Konsultationspflicht gemäß der ILO-Konvention 169 verletzt worden, die von Guatemala 1996 ratifiziert wurde. Dieses besagt, dass die betroffenen indigenen Gemeinden durch geeignete Verfahren und insbesondere durch ihre repräsentativen Einrichtungen immer dann zu konsultieren sind, wenn gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie betreffen könnten, erwogen werden.
Immer mehr Teile der ländlichen Bevölkerung wehren sich gegen die Verletzung ihrer Grundrechte auf Information, Konsultation und Einbezug in die nationalen und lokalen Entwicklungspläne. Seit 2005 wurden in beinahe 80 Gemeinden Befragungen durchgeführt, um die Zustimmung der Bevölkerung zu Bergbau-, Strom- und anderen Megaprojekten zu erfassen. In den meisten Gemeinden haben über 90 Prozent der Bevölkerung die Durchführung solcher Megaprojekte abgelehnt.
Die gualtematekische Regierung zeigt allerdings kein Entgegenkommen. Im Gegenteil: Da der Stromnetzausbau aufgrund des Widerstands weiterhin nicht richtig vorankommt, wird derzeit im Parlament über die Vorlage zu einem Gesetz zum obligatorischen Nutzungsrecht beraten. Für den Ausbau des Stromnetzes würde das die Möglichkeit schaffen, Land, das sich im Privat- und Kollektivbesitz befindet, auch gegen den Willen seiner Besitzer*innen zu nutzen. Dies käme einer faktischen Enteignung und Verletzung der Gemeindeautonomie gleich.

Wegweiser zur kulturellen Integration Mittelamerikas

Mittelamerika liegt da, wo Ramiro schaukelnd auf seinem Stuhl vor dem Fernseher sitzt und seine Vergangenheit vergisst. Eine Vergangenheit, die darin bestand, die sogenannten Subversiven zu töten. Jetzt ist in Ramiros Kopf nur noch nebliger, leerer Dunst. Schützt Vergessen vor Verantwortung? Mittelamerika liegt auch da, wo ein Präsident an der Zerrissenheit und Korruption in seinem Land verzweifelt. Die Vision: Er legt einen Dachgarten an und die ganze Hauptstadt tut es ihm nach. Lassen sich so die gegenwärtigen Probleme der korruptionszerfressenen Regierung lösen?
Für die Anthologie Zwischen Süd und Nord haben sich sechs mittelamerikanische Verlage zusammengeschlossen und unter der Leitung des bekannten nicaraguanischen Schriftstellers Sergio Ramírez Kurzgeschichten zusammengetragen. Es sind 26 kurze und eindringliche Geschichten aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica, Panama und – aufgrund der kulturellen Nähe – aus der Dominikanischen Republik.
Trotz der gemeinsamen Vergangenheit der Länder stehen einer engeren Kooperation, beispielsweise im Literaturbetrieb, Hindernisse wie absurde Zollschranken im Weg. Der Erzählband Zwischen Süd und Nord hat für Ramírez, einst hochrangiger sandinistischen Politiker, als eines der ersten Gemeinschaftsprojekte des Verlagszusammenschlusses GEICA hohen Stellenwert: Es soll einen Beitrag zur kulturellen Integration leisten. Die einzelnen Geschichten verknüpfen Fiktives mit aktuellen, drängenden Problemen. Dabei geht es nicht um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, sondern um das, was sie vereint. Im Vorwort beschreibt Ramírez, warum die Sammlung auf Spanisch Espejo roto („Zerbrochener Spiegel“) heißt: Am wichtigsten sei nicht die Poetik der Texte, sondern die Realität. Und die ist zerbrochen.
Die Erzählungen, kleinen Spiegelscherben gleich, schaffen ein einzigartiges Panorama der schmalen Länderbrücke, das sowohl die Fragilität ihrer Bewohner_innen als auch die sozialen und politischen Anormalitäten offenbart. Hinter den Geschichten verbergen sich Poet_innen, „literarische Geheimtipps“ und preisgekrönte Schriftsteller_innen der jüngeren Generation. Es gelingt ihnen die Lesenden mit lebendigen Figuren in die kurzen Handlungen zu locken. Dagegen ist auffallend, dass keine der letzten vier Geschichten aus der Dominikanischen Republik überzeugt. Die Inhalte sind eher flach und lassen sich nur schwer in Mittelamerika verorten, weshalb der Miteinbezug des Karibikstaates konstruiert wirkt. Darüber lässt sich jedoch bei der Vielfalt der Geschichten hinwegsehen. Insgesamt sind bei einer Anthologie, die in einer überraschenden Mischung verschiedenste Stile vereint, polarisierende Geschmacksurteile wohl unvermeidbar. Im Anhang können die Lesenden diejenigen Autor_innen suchen, die sie begeistert haben und stoßen auf spannende weitere Anthologien und literarische Blogs.
Für Ramírez ist und bleibt Literatur „ein Reflex der Wirklichkeit, die sich als eine Bühne zeigt, auf der sich Überraschendes ereignet.“ Es geht den Autor_innen um nicht weniger, als ihre verlorene Identität wiederzufinden. Literarische Verarbeitung ist sicher ein Mittel, um einzelne Scherben aufzulesen und ins Licht zu halten: Ein Scherbenmeer ist die von Gewalt durchzogene Vergangenheit Mittelamerikas, scharfkantige Scherben sind auch die Abgründe der Gegenwart. In Zwischen Süd und Nord werden im zusammengesetzten Spiegel die Risse sichtbar.

Verhagelte Ernte

Monsanto ist der Gigant unter den Konzernen, die gentechnisch verändertes Saatgut produzieren. Das 1901 gegründete US-Agrarunternehmen mit Niederlassungen in 61 Ländern kontrolliert 80 Prozent des Markts, den Rest teilen sich Bayer, Syngenta und DuPont. Monsanto verkauft unter anderem Breitbandherbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat sowie transgene Maissorten und nutzt Biotechnologie zur Erzeugung gentechnisch veränderter Feldfrüchte.
Der enorme Einfluss Monsantos spiegelt sich auch in der legislativen Praxis wider, ganze Gesetze werden dem Großkonzern buchstäblich auf den Leib geschneidert und nach ihm benannt. So zuletzt in Guatemala, als am 26. Juni 2014 das „Ley Monsanto“ als Dekret 19-2014 im Amtsblattveröffentlicht wurde und somit in Kraft trat. Zuvor hatte der guatemaltekische Kongress der Gesetzesvorlage zugestimmt.
In der Folge kam es zu massiven Protesten von großen Teilen der Bevölkerung – mit Erfolg. Bereits Anfang September kippte der Kongress das Gesetz wieder; 117 der 158 guatemaltekischen Abgeordneten stimmten für eine Aufhebung des Gesetzes.
Die überwiegend kleinbäuerlich geprägte Gesellschaft Guatemalas hat allen Grund für ihre Ablehnung. Denn Monsanto nimmt genetische Änderungen an einheimischen Samen vor und meldet anschließend ein Patent für dieselben an. Auf Grundlage des „Ley Monsanto“ wäre der Konzern berechtigt, somit alljährlich Geld von guatemaltekischen Bauern und Bäuerinnen zu verlangen – auch wenn es sich nicht um Hybridsorten handelt und das Saatgut nicht jährlich neu gekauft werden muss, sondern vermehrt werden kann.
Gerechtfertigt wurde das nun gekippte Gesetz von Regierungsseite mit dem Schutz von Pflanzensorten. Dabei war die Verabschiedung des „Ley Monsanto“ mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen den USA, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik (DR-CAFTA) schlichtweg vertraglich festgelegt, es war gar eine Vorbedingung der US-Regierung für dessen Zustandekommnen.
DR-CAFTA nimmt niedrige Arbeits- und Umweltstandards billigend in Kauf und bedroht die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Zentralamerika vor allem mittels durch Subventionen verbilligte US-Exporte. Der „Schutz“ von Samen und Pflanzen schützt nicht die Interessen der Kleinbauern und -bäuerinnen. Gesetze wie das „Ley Monsanto“ flexibilisieren die Aussaatregistrierung und erlauben Konzernen, sich das Saatgut anzueignen.
Zudem gefährden oder verhindern derartige Beschlüsse durch die vertraglich festgelegte Ab­hängigkeit von Großunternehmen die Ernährungssouveränität der betroffenen Staaten. Durch die Kontrollmöglichkeiten der Konzerne werden Kleinbauern und -bäuerinnen abhängig von Monsanto und Co. Wer nicht zahlt, muss mit hohen Geld- oder sogar Freiheitsstrafen rechnen. Der Saatgutmarkt wird mehr und mehr monopolisiert, der Politik werden zunehmend Spielräume und Einflussmöglichkeiten entzogen.
Oder die amtierenden Politiker_innen übernehmen das gleich selbst, am besten, wenn sie die Bevölkerung abgelenkt glaubt: Nicht zufällig wurde das „Ley Monsanto“ in Guatemala während der Fußball-WM verabschiedet – Aufmerksamkeit erregte es trotzdem. Über soziale Netzwerke verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und brachte eine massive Protestwelle ins Rollen, wie es sie nicht nur in Guatemala auch schon während der Verhandlungen des CAFTA-Abkommens gegeben hatte.
Die Unterzeichnung des DR-CAFTA-Abkommens im Jahr 2005 ist eine Konsequenz des Scheiterns von FTAA. Unter diesem Namen hatten vornehmlich die USA versucht, ein Freihandelsabkommen voranzutreiben, das alle 34 Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika sowie in der Karibik (mit Ausnahme Kubas) umfassen sollte. DR-CAFTA verpflichtet die Staaten Mittelamerikas sowie die Dominikanische Republik, bis 2015 alle Importhürden für US-Waren abzubauen und garantiert US-Unternehmen so den uneingeschränkten Zugang zum mittelamerikanischen Markt. Umgekehrt erhalten Waren aus Zentralamerika besseren Zugang zum US-Markt.
DR-CAFTA reiht sich dabei ein in eine lange Liste bi- und multilateraler Freihandelsabkommen, die seit dem Patt innerhalb der Welthandelsorganisation WTO nach der Konferenz in Hongkong 2005 abgeschlossen wurden und werden. Aktuellste Beispiele dafür sind die jüngst abgeschlossenen Verhandlungen zu CETA zwischen der EU und Kanada sowie die derzeitigen Verhandlungen zu TTIP zwischen den USA und der EU.
Mit ihrer Ablehnung von rein kaptitalfreundlichen Gesetzen wie dem „Ley Monanto“ und Freihandelsabkommen zwischen ungleichen Partnern steht die guatemaltekische Bevölkerung nicht allein – im Gegenteil. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten gab und gibt es massiven Protest und Widerstand gegen die jeweilige nationale Variante des Monsanto-Gesetzes und entsprechenden Freihandelsabkommen. Mit der jetzigen Aufhebung des „Ley Monsanto“ in Guatemala – und dem damit verbundenen Vetragsbruch von DR-CAFTA – ist allerdings ein Präzedenzfall geschaffen worden, dessen Auswirkungen derzeit noch kaum abzuschätzen sind.

Nach dem Frühling

Das Anwaltsbüro, für das Sie in Guatemala arbeiten, vertritt die Opfer auch weiterhin. Welche Hoffnungen setzen Sie in diesen neuen Prozess?
Die Bedingungen für einen fairen Prozess haben sich stark verschlechtert. Das System ist fest entschlossen, die Justiz zu kontrollieren und unabhängige Richter nicht mehr zuzulassen. Es besteht das Risiko, dass der Prozess zu einem Schauprozess wird. Damit stecken wir und die Opfer in einem echten Dilemma. Wenn sie nicht teilnehmen, ist die Anklage ohne Frage geschwächt, da der Prozess auf jeden Fall stattfindet; doch wenn sie teilnehmen, könnte das als Zustimmung zur betrügerischen Annullierung des Urteils interpretiert werden.

Wie verhält sich die Justiz?
Auf den Richtern lastet sehr viel Druck. Auf Yassmin Barríos, die Richterin, die das Urteil gegen Ríos Montt gesprochen hat, war zu Beginn des letzten Prozesses ein Attentat geplant, das erst in letzter Sekunde aufflog und verhindert werden konnte. Nach der Urteilssprechung wurde sie zeitweise vom Dienst suspendiert und ist heftigsten Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Es braucht viel Mut, um diesem Druck standzuhalten.

Bestehen überhaupt Chancen für einen fairen, transparenten Prozessverlauf?
Wir können schwer einschätzen, wie sich das neue Gericht in dem Fall verhalten wird, aber wir machen uns keine großen Hoffnungen. Deshalb haben wir Ende 2013 Klage bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eingereicht und hoffen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Entscheidung des Verfassungsgerichtes gegen das Urteil für ungültig erklärt. Allerdings wird dieser Prozess noch Jahre dauern.

Zusammen mit Kolleg_innen, Menschenrechtsgruppen und den Opfern haben Sie bereits Ende der 1990er Jahre begonnen, Vergehen der Militärs während des Bürgerkriegs aufzuarbeiten und damit den Prozess gegen Ríos Montt vorzubereiten. Warum haben Sie sich damals entschieden, Strafverfahren in Guatemala einzuleiten und nicht in Spanien wie beispielsweise Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchú?
Unser Ziel war nie, nur die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nach den Friedensverträgen wollten wir mit den Prozessen, die wir führten, immer auch Debatten in der Gesellschaft anstoßen und eine funktionierende Justiz aufbauen. Das geht nur in Guatemala selbst. Dabei nutzen wir die internationalen Prozesse und Ermittlungen, um Druck im eigenen Land aufzubauen.

Wie werden in der Gesellschaft und in den Medien die Bürgerkriegsverbrechen debattiert?
In bestimmten Sektoren der Bevölkerung wurde damals noch geleugnet, dass es überhaupt Massaker gegeben habe. Präsident Arzú hatte sich Ende der 1990er Jahre noch geweigert, den Bericht der UN-Wahrheitskommission über die Verbrechen während des Bürgerkrieges öffentlich entgegenzunehmen. Dass heute selbst die Militärs zugeben, Massaker verübt zu haben, ist deshalb ein wichtiger Erfolg. Auch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die rund um den Ríos-Montt-Prozess geführt wurden, empfand ich als heilsam. Natürlich waren sie extrem kontrovers, aber in diesem Moment hat sich die Gesellschaft intensiv mit der eigenen Geschichte, der Gewalt und dem Rassismus, die Guatemala weiterhin so sehr prägen, auseinandergesetzt.

Was bedeutet das Urteil für die Opfer?
Das dürfen wir trotz aller Rückschläge nicht unterschätzen. Während des Prozesses sagten über 100 Zeugen vor laufenden Kameras aus. Man muss sich vorstellen, was es für sie heißt, in diesem Gericht in Anwesenheit des ehemaligen Diktators auszusagen. Sie konnten ihre Geschichte erzählen und wurden gehört. Danach gibt es kein Zurück mehr. Dennoch hat sich unsere Vorstellung, dass wir mit jedem Prozess kleine Risse in die Mauer der Straflosigkeit schlagen und der Völkermordprozess sozusagen der letzte Schlag ist, mit dem das System zusammenbricht, als Illusion erwiesen. Der Kampf ist noch nicht vorbei.

Wie meinen Sie das? Was ist seither passiert?
Nach der Verkündung des Völkermordurteils haben sich die traditionellen und die neuen ökonomischen Eliten in nie zuvor gekannter Einigkeit mit den militärisch-politischen Eliten zusammengeschlossen und zum Ziel gesetzt, die Justiz wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz, unter deren Leitung die Staatsanwaltschaft zwischen 2010 und 2013 die Aufklärungsrate tödlicher Delikte von zwei auf 35 Prozent erhöhen konnte, hatte es gewagt, Ermittlungen auch gegen Bankenbesitzer und das organisierte Verbrechen durchzuführen. Der Völkermordprozess war am Ende nur der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Seitdem wurde nicht nur die Generalstaatsanwältin frühzeitig aus dem Amt entlassen und der Druck auf die Richter erheblich erhöht, die sich mit Fällen organisierten Verbrechens und der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen. Auch die Internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG), die die Bekämpfung der illegalen und klandestinen Strukturen im Staatsapparat zur Aufgabe hat, scheint der Regierung zu gefährlich zu werden; ihr Mandat soll nicht mehr verlängert werden.

Die Bedingungen für die Durchsetzung einer unabhängigen Justiz und der Menschenrechte verschlechtern sich also?
Ja, wir beobachten im Moment verschärfte Repressionen, Kriminalisierungen und Angriffe auf Aktivisten der indigenen und Kleinbauernbewegungen, die ihr Land verteidigen und sich gegen agroindustrielle, Bergbau- und Energieprojekte zur Wehr setzen. Es geht also nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen der Gegenwart, die ein funktionierender Rechtsstaat und eine unabhängige Justiz in Guatemala vereiteln könnten. Im Moment arbeiten meine Kollegen und ich vor allem daran, Akten zu scannen und die Beweise in unseren aktuellen Prozessen zu sichern. Wir befürchten, dass der Druck weiter zunehmen wird. Deshalb bin ich auch nach Deutschland gekommen, um direkte Kontakte mit deutschen Juristen und Politikern zu knüpfen, die uns im Ernstfall unterstützen könnten. In den letzten Jahren haben wir in Guatemala eine Art juristischen Frühling erlebt, aber der Sommer lässt auf sich warten.

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Michael Mörth

Der deutsche Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger lebt seit knapp 20 Jahren in Guatemala. In den 1990er Jahren beteiligte er sich an der Erstellung des Wahrheitsberichtes der katholischen Kirche, arbeitete in verschiedenen Menschenrechtsorganisationen und war später Mitarbeiter der Kommission der Vereinten Nationen gegen die Straffreiheit in Guatemala. Mit Unterstützung von medico international ist er aktuell als rechtlicher Berater der Internationalen Jurist_innenkommission für das Bufete Jurídico de Derechos Humanos tätig. Das Anwaltsbüro führt die meisten der Prozesse gegen ehemalige Militärs in Guatemala und vertritt auch im Prozess gegen Ríos Montt die Opfer in der Nebenklage.

Wo ist mein Kind?

„Dieses Mädchen dort drüben gleicht meiner Tochter, ja, sie gleicht ihr wirklich sehr… ob sie es wohl ist?“, fragte sich María Eugenia Barrera, während sie auf ein Mädchen zeigte, das etwa zwanzig Meter entfernt am Boden saß. Um den Hals von María Eugenia Barrera hing eine Fotografie, groß wie ein Blatt Papier. Darauf zu sehen war das Gesicht einer lächelnden jungen Frau, ihrer siebzehnjährigen Tochter Clementina Lagos Barrera, die am 9. November des Jahres 2003 ihr Haus im nicaraguanischen Chinandega verließ und nie mehr zurückkehrte. Die vorerst letzte Spur von Clementina Lagos führte zu Menschenhändler_innen und Netzen der Zwangsprostitution in Tapachula, Chiapas.
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich ist, sie gleicht meiner Tochter aufs Haar, nur die Nase ist anders…“, fügte María Eugenia, mehr zu sich selbst, hinzu. Es war ein Sonntagmorgen, der 28. Oktober 2012. Auf den Treppen vor der Basilika der Jungfrau von Guadalupe, im Norden von Mexiko-Stadt gelegen, ruhte sich María Eugenia Barrera aus, zusammen mit etwa zehn weiteren Frauen aus Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador. Diese Frauen waren Teil einer 38-köpfigen Gruppe von Zentralamerikaner_innen, deren Angehörige in Mexiko verschwunden sind. In zwei Reisebussen hatte die Gruppe auf der Suche nach ihren Kindern, Geschwistern oder Ehemännern bereits drei Viertel des Landes durchquert. Wie María Eugenia Barrera trugen auch diese Frauen vergrößerte Fotografien ihrer Angehörigen um den Hals. An 23 Orten im ganzen Land machten die Busse halt, und jedes Mal stiegen die Frauen aus, in ihre Landesflaggen gehüllt, zeigten die Fotografien ihrer vermissten Angehörigen und riefen gemeinsam: „Lebend gingen sie – lebend wollen wir sie wiedersehen!“ Im nun achten Jahr in Folge hat die Caravana de Madres de Centroamericanos Desaparecidos en Tránsito por México („Karawane von Müttern verschwundener Zentralamerikaner_innen auf dem Weg durch Mexiko“) zwischen dem 15. Oktober und dem 3. November Mexiko von Guatemala her kommend durchquert, diesmal bis in nördliche Städte wie Reynosa, Monterrey, Saltillo und San Luis Potosí. Dank der Karawane haben fünf der 38 Mütter ihre vermissten Angehörigen gefunden. Einige Mütter konnten wenigstens neue Spuren ausfindig machen, die meisten aber gingen wieder, wie sie gekommen waren: mit leeren Händen.
Nach einigen Minuten der Unentschlossenheit fasste sich María Eugenia Barrera ein Herz und ging zu diesem Mädchen, das ihrer Tochter so stark glich, allerdings nicht alleine. Eine junge Mexikanerin begleitete sie und schilderte die letztlich enttäuschend verlaufene Begegnung folgendermaßen: „Auf dem Weg zu ihr blieb María Eugenia hinter mir und hielt die ihr um den Hals hängende Fotografie mit beiden Händen fest. Das Mädchen hatte ein Kleinkind in den Armen, vollständig in Weiß gekleidet, ganz so, als wäre es eben erst getauft worden. Ich entschuldigte mich für die Störung und sagte ihr, dass María Eugenia ihre Tochter vor einigen Jahren aus den Augen verloren hätte und sie in ihr eine große Ähnlichkeit sehen würde. Das Mädchen sagte ihren Namen, versuchte zu lächeln und schüttelte den Kopf. María Eugenia akzeptierte, dass es sich nicht um ihre Tochter handelte, wir bedankten uns trotzdem und gingen. Das Mädchen sah uns an, eher traurig denn unbehaglich. Ihre Versuche zu lächeln, wollten nicht gelingen“.
María Eugenias Tochter Clementina Lagos Barrera hatte ihr Heim im Viertel Rafaela Herrera in Chinandega in der Nacht des 9. November 2003 verlassen. Sie war 17 Jahre alt und Mutter von elfmonatigen Zwillingsmädchen, die aus der Vergewaltigung durch einen Nachbarn resultierten. Ihre Mutter María Eugenia hatte den Mann ins Gefängnis gebracht und ihr mit dem Gleichen gedroht, falls sie eine Abtreibung vornehmen ließe. „Hier sind deine Töchter. Wenn du sie schon so gerne magst, dann zieh du sie groß!“, warf Clementina ihrer Mutter nach der Geburt an den Kopf und überließ ihr die Säuglinge. Am Nachmittag ihres Verschwindens erreichten Clementina zwei Telefonanrufe. In einem wurde ihr ein Geschäft unbekannter Natur angeboten. Als es dunkel wurde, war sie schon weg.
María Eugenia folgte den Spuren, die sie zur Hand hatte. Sie fand heraus, dass ihre Tochter in der Hauptstadt Managua gesehen worden war. Sie bezahlte zwei Polizisten, die sie zu einem getarnten Lokal führten, welches nach außen die Fassade einer Anwaltskanzlei vorspiegelte. Aber sie kamen zu spät und fanden nur leere, verlassene Räume vor. Die Nachbarn versicherten ihnen jedoch, dass dort wirklich junge Frauen festgehalten wurden und eine davon derjenigen auf María Eugenias Foto stark geglichen hätte. „Dies ist wohl ein Fall von Menschenhandel. An Ihrer Stelle würde ich in El Salvador weitersuchen“, sagte einer der Polizisten. María Eugenia Barrera verkaufte ihr Haus und mit dem Erlös setzte sie die Suche nach Clementina fort. Mit dem Foto ihrer Tochter um den Hals durchstreifte sie Straßen und Parks und befragte die Leute. Ein Mann sprach sie an: „Ich habe dieses Mädchen schon gesehen, und zwar im Nachtklub El 2 de Oros. Sie bot sich dort an, ich lud sie auf ein Bier ein und tanzte Reggaeton mit ihr. Leider hatte ich die 50 Dollar nicht, um mit ihr aufs Zimmer zu gehen.“ María Eugenia selbst war damals erst 33 Jahre alt und verfügte noch über einen gut erhaltenen Körper. Dazu war sie groß gewachsen und hellhaarig, womit sie für die Arbeit im Nachtklub El 2 de Oros attraktiv genug war. Durch die Anstellung als Tänzerin und Prostituierte erhoffte sie sich, ihre Tochter dort zu finden. „Schön zurechtgemacht und dazu noch nachts lassen sich die Jahre gut kaschieren“, sagte ihr die Bordellchefin aus Nicaragua. Drei Tage später merkte María Eugenia jedoch, dass sich ihre Tochter nicht mehr dort, sondern vielleicht in einem anderen Nachtklub derselben Mafia aufhielt und flüchtete aus dem Etablissement. Nach wenigen Tagen wurde sie von drei Männern aufgespürt und als Rache für die Flucht aus dem Nachtklub geschlagen und vergewaltigt – aber am Leben gelassen. Ihre Suche führte María Eugenia anschließend nach Guatemala, wo Leute vor einem weiteren Nachtklub Clementina auf dem Foto erneut erkannten. „Ja, sie war hier, ist aber mit einem Mexikaner fortgegangen“, sagten sie María Eugenia, „sie wollte in Tecún-Umán über die Grenze, trug jedoch keine Papiere bei sich“.
Auf der Suche nach ihrer Tochter trennte sich María Eugenia von ihrem Mann, der nicht der Vater von Clementina war, und heiratete einen Salvadorianer. Während Jahren verband sie die Suche nach neuen Spuren mit ihrem Lebensunterhalt, der Herstellung und dem Verkauf von dulces de leche, Süßspeisen aus Milch, Zucker und Vanille. Im Jahr 2011 erhielt sie einen Platz in der Karawane Paso a Paso hacia la Paz („Schritt für Schritt zum Frieden“), der siebten Karawane von Müttern von Verschwundenen, die durch Mexiko zog und dabei am 13. November in Tapachula haltmachte. Dort traf María Eugenia zwei Frauen, die neue Hoffnung aufkommen ließen, als sie ihr sagten, dass eine ihrer Tochter sehr ähnlich sehende junge Frau im Viertel 5 de febrero in einem Haus mit auffälliger, roter Tür wohnen würde. María Eugenia machte sich sofort auf den Weg dorthin und klopfte an die Tür. Ein gewalttätiger und aufgebrachter Mann mit hellem Haar und von großer Statur öffnete ihr, stritt aber jede Verbindung mit Clementina ab und drohte María Eugenia mit einer Anzeige. „Ich möchte sie ja gar nicht mitnehmen, ich werde das Leben respektieren, das Clementina jetzt führt, nur sehen möchte ich sie“, bat die Mutter. „Ich werde Sie wegen Verleumdung und Beleidigung gerichtlich belangen“, erwiderte der Mann und schlug die Tür zu. Ein Jahr später – María Eugenia Barrera hatte sich auf der Suche nach ihrer Tochter zum zweiten Mal einer Karawane angeschlossen, die auch in Tapachula haltmachte – fragte sie die Leute erneut nach Clementina. Wieder wurde sie erkannt, niemand konnte aber Genaues sagen. María Eugenia verließ den Ort mit dem Gefühl, dass ihre Tochter noch am Leben war.
Auf den Treppen vor der Basilika der Jungfrau von Guadalupe sitzend, ließ eine alte Frau die Zeit verstreichen. Am Morgen hatte man ihr, Teodora Ñaméndiz, die Neuigkeit überbracht, dass ihr seit 32 Jahren vermisster Sohn Dionisio Francisco Cordero Ñaméndiz am Leben und am Hafen von Veracruz gesehen worden sei. Er führe ein einfaches Leben als Fliesenleger und Familienvater. In etwas mehr als 24 Stunden würde Teodora Ñaméndiz ihren Sohn wiedersehen, in Tierra Blanca im Bundesstaat Veracruz, wo die Karawane ihren nächsten Halt einlegen würde. Die Spur von Francisco hatte sich drei Jahrzehnte zuvor verloren nachdem er einen ersten und einzigen Brief an seine Familie geschickt hatte, mit Stempel aus Veracruz. Seitdem schrieb er nicht mehr und rief auch nicht an. Seine Geschwister nahmen an, dass er nicht mehr am Leben wäre. Der Brief, den seine Mutter aufbewahrte, war für Rubén Figueroa ein erster Hinweis auf der Suche nach Francisco. Rubén Figueroa ist als Mitglied der Menschenrechtsbewegung Movimiento Migrante Mesoamericano auf das Wiederfinden von verschwundenen Migrant_innen in Mexiko spezialisierten. Franciscos Adresse in Veracruz stimmte nicht mehr, doch ehemalige Nachbar_innen versuchten weiterzuhelfen. Aus falschen Spuren wurden verheißungsvolle Fährten, bis Rubén Figueroa in Veracruz schließlich einen Mann namens Francisco aufspürte, der mit ausländischem Akzent sprach. Dieser wähnte sich zuerst als Opfer eines Erpressungsversuchs, bis Rubén Figueroa ihn bei seinem zweiten Namen Dionisio nannte. Diesen hatte Francisco während der ganzen Zeit in Mexiko nie benutzt, weder seine Frau noch seine Kinder kannten den Namen, ja er war sogar aus seinen neuen mexikanischen Papieren verschwunden. Stunden später sagte Dionisio Francisco: „Ich dachte, meine Mutter sei schon vor Jahren gestorben, weil die Briefe, die ich schickte, immer zurückkamen. Ich hörte schließlich auf damit, auch weil ich nicht immer das Gleiche schreiben wollte.“ Schon den ganzen Morgen über hatte Teodora Ñaméndiz auf der Treppe der Basilika versucht, sich das Wiedersehen mit ihrem Sohn in verschiedenen Weisen vorzustellen. Manchmal dachte sie, dass sie ihm die Ohren langziehen und ihn fragen würde, warum er sich denn so lange nicht gemeldet hätte. Dann wiederum äußerte sie sich gnädiger, sie würde ihm sagen, sie fühle sich jetzt als glücklichste Frau der Welt, Gott und der Karawane sei Dank. Beim Wiedersehen 24 Stunden später tat sie dann beides, umringt von einem Dutzend Fotograf_innen konfrontierte sie ihren Sohn mit milden Vorwürfen und umarmte ihn lange.
Dionisio Francisco Cordero Ñaméndiz war früher ein einfacher Bauer in Chinandega. Mit 19 Jahren schloss er sich der Armee an, kämpfte gegen die Rebellen der „Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront“, welche schließlich als Sieger aus dem Kampf hervorgingen. Verletzt und verängstigt flüchtete er auf einem Boot nach El Salvador und setzte die Reise in Richtung Norden fort, bis er sich in Veracruz niederließ und jenen Brief an seine Mutter schrieb. Er wusste damals lediglich, dass sie schwer krank war. Als dann seine Briefe von der Post immer wieder zurückgeschickt wurden, gab er auf und hielt seine Mutter für tot. Francisco Cordero versprach, sie in spätestens 18 Monaten in Chinandega zu besuchen, wenn sein jüngerer Sohn die Schule abgeschlossen und er etwas Geld gespart hätte. Seine Mutter indessen würde schon vorher nach Chinandega zurückreisen und ihre Arbeit wieder aufnehmen, nämlich frescos zuzubereiten, Erfrischungsgetränke verschiedenster Fruchtaromen, die sie vor ihrem Haus für fünf Córdobas oder umgerechnet 20 Cents verkauft.

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Dieser Text ist ein Auszug aus der Reportage ¿Dónde está mi hijo?, die im Dezember 2012 in der Zeitschrift Gatopardo abgedruckt wurde. Die Reportage wurde 2013 mit dem Walter-Reuter-Medienpreis ausgezeichnet, den die Deutsche Botschaft, das Goethe-Institut, die deutsch-mexikanische Handelskammer sowie die deutschen politischen Stiftungen in Mexiko an mexikanische Journalist_innen vergeben.

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