STRAFLOS IN DEN TOD

Am Morgen des 6. April Die Nebenklagevereinigung AJR fordert die Fortsetzung des Prozesses gegen Montt (Foto: Nils Melbye)

Mit dem Tod José Efraín Ríos Montt findet nun auch das gegen diesen laufende Strafverfahren sein vorzeitiges Ende. Sein Anwalt Jaime Hernández verkündete am Ostersonntag, „er starb heute in seinem Haus, mit der Liebe seiner Familie, mit seinem klaren und sauberen Gewissen, unschuldig und in Frieden, überzeugt davon, dass es in diesem Land nie Genozid gab und er im Hinblick auf alle Anklagepunkte unschuldig war.“

Ríos Montt wurde nach einem Militärputsch im März 1982 zum De-facto-Regierungschef ernannt und im August 1983 durch einen erneuten Putsch rivalisierender Militärs wegen vermeintlicher Unzurechnungsfähigkeit abgesetzt. Ríos Montts Herrschaft fiel mitten in einen 36-jährigen bewaffneten internen Konflikt zwischen der Regierung und der Guerilla URNG, der 1960 seinen Ausgang nahm und erst im Jahr 1996 mit einem Friedensvertrag endete.

Während des Konflikts starben bis zu 200.000 Menschen, 45.000 weitere verschwanden spurlos und bis zu zwei Millionen Menschen flohen vor den Auseinandersetzungen zwischen der Guerilla und dem guatemaltekischen Militär aus ihrer Heimat.

Ríos Montt führte als überzeugter Antikommunist einen erbitterten Krieg gegen die Guerilla sowie die sie vermeintlich unterstützende Zivilbevölkerung. Er erklärte seine Strategie der Aufstandsbekämpfung im Jahr 1982 vor Journa­list*innen in Anlehnung an ein Zitat Mao Zedongs: „Die Guerilla ist der Fisch. Das Volk ist das Meer. Wenn du den Fisch nicht fangen kannst, musst du das Meer trockenlegen“. Mit einer Politik der verbrannten Erde wurden über 400 Dörfer ausgelöscht und dem Erdboden gleich gemacht. So erwarb er sich auch den Beinamen des „Schlächters der Indios“.

Der Ex-Diktator wurde 1995 in den guatemaltekischen Kongress gewählt und sicherte sich somit zunächst seine Immunität. Im Jahr 2003 trat er sogar als Präsidentschaftskandidat der Partei Frente Republicano Guatemalteco (FRG) an, obwohl die guatemaltekische Verfassung ausdrücklich eine Kandidatur von Personen verbietet, die zuvor mittels eines Putsches an die Macht gelangt waren.

Als er im Januar 2012 seine Immunität verlor, eröffnete sich für die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, ihn wegen des Genozids an der Ixil-Bevölkerung zu verfolgen. Im Januar 2012 klagte die Staatsanwaltschaft Ríos Montt erstmals formell wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an und er wurde unter Hausarrest gestellt. Ein Jahr später begann das Verfahren gegen Ríos Montt und José Mauricio Rodríguez Sánchez, den ehemaligen General und Direktor des militärischen Geheimdienstes (G2), vor dem Hochsicherheitsgericht des Obersten Gerichtshofs.

Er erwarb sich den Beinamen des “Schlächters der Indios”.

Am 10. Mai 2013 verurteilte das Gericht Ríos Montt zu einer Haftstrafe von 80 Jahren, während es Rodríguez Sánchez freisprach. Die Justiz hielt die Schuld Ríos Montts wegen des Mordes an 1.771 indigenen Maya-Ixil für erwiesen. Das Urteil wurde jedoch nur zehn Tage später durch das guatemaltekische Verfassungsgericht aufgehoben.

Erst im Januar 2016 wurde das Genozidverfahren erneut aufgerollt. Die Anwälte Ríos Montts machten nunmehr die angeblich mangelnde Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten geltend und erreichten eine zunächst bis Oktober 2017 angesetzte Unterbrechung des Verfahrens. Später wurden beide Prozesse wieder aufgenommen, sowohl der von Montt als auch von Sánchez – wobei die Verhandlungen seitdem in getrennten Verfahren laufen. Das Verfahren gegen Ríos Montt, der aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes und einer vermeintlichen Demenz von seiner Anwesenheitspflicht befreit wurde, fand nun unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Am 6. April fand das Strafverfahren gegen Ríos Montt sein formelles Ende. Vor dem Beginn der Verhandlung hatten noch Vertreter der Nebenklagevereinigung AJR (Asociación para la Justicia y Reconciliación) auf einer Pressekonferenz vor dem Gerichtssaal gefordert, dass das Verfahren fortgeführt werde um die Verantwortung des verstorbenen an dem Genozid festzustellen. Aus ihrer Sicht gelte zudem die Verurteilung von Ríos Montt im Mai 2013 fort, denn das Urteil sei nur durch einen „juristischen Betrug“ wieder aufgehoben worden.

In der anschließenden Verhandlung wurde dann aber lediglich die Einstellung des Verfahrens wegen des Ablebens des Angeklagten durch das Gericht festgestellt. Der Anwalt von Rios Montt ließ es sich nicht nehmen, noch einmal festzustellen, dass „der ehrenwerte Herr José Efraín Ríos Montt als Unschuldiger gestorben ist und nie rechtskräftig wegen eines Genozids verurteilt wurde“.

Am Nachmittag wurde unterdessen der Prozess gegen den Mitangeklagten Rodríguez Sánchez fortgesetzt, in welchem ein Sachverständiger die Untersuchungen exhumierter Opfer erläuterte.

Ríos Montt ist auch noch nach seinem Tod umstritten. Für manche bleibt er ein nationaler Held. So befanden sich unter den etwa hundert bei seiner Beerdigung in Guatemala-Stadt anwesenden Personen auch mehrere Ex-Minister und ranghohe Militärs, die dem ehemaligen Diktator die letzte Ehre erwiesen. Die Anwesenden riefen: „Es lebe der General Ríos Montt“.

Für Andere, wie die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, ist die Aufarbeitung des Genozids noch nicht beendet, sie müsse von der Justiz fortgesetzt werden. Dass mit dem Tod von Ríos Montt die Aufarbeitung des Genozids nicht enden darf, fordert auch die Gruppe H.I.J.O.S., die sich am Nachmittag des Ostersonntags auf dem Platz der Verfassung in Guatemala-Stadt versammelte. Sie gedachten mit Fotos der Verschwundenen und mit Schildern auf denen, „Ja es gab einen Genozid“ stand, der Verbrechen der Militärregierungen während des bewaffneten Konflikts. Andere malten mit großen roten Lettern „Ríos Montt Genozid, das Volk vergisst nicht und es vergibt nicht“ auf den Platz.


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WIEDER EIN KORRUPTER DIEB

Protestcamp vor dem Verfassungsgericht Der Zivilgesellschaft ist Korruption ganz und gar nicht egal (Foto: Nis Melbye)

Angesichts des drohenden Strafverfahrens gegen Guatemalas Präsidenten Jimmy Morales, äußerte dieser in Bezug auf die Justiz: „Wenn jemand korrupte Taten begeht, sollen sie das Delikt verfolgen, nicht aber die Personen, denn die Justiz ist dazu da, Delikte zu verfolgen und nicht die Personen“. Kurz darauf reagierte er mit der Ausweisung des Leiters der internationalen Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG), Iván Vélasquez, welchen er zur unerwünschten Person erklärte. Die CICIG ist eine Institution der Vereinten Nationen, welche die Strafverfolgungsbehörden in Guatemala bei der Bekämpfung der Korruption und bei der Aufdeckung von Verstrickungen zwischen den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität unterstützt.

Dem “Pakt der Korrupten” wurde vor dem Kongress Paroli geboten.

Diese Institution hatte den Anstoß zu dem aktuellen Verfahren gegen Morales gegeben. Die Ausweisung von Vélasquez wurde zwar noch durch das guatemaltekische Verfassungsgericht gestoppt, die anschließende Erneuerung seines Visums wurde jedoch mit einer Note übergeben, in welcher er aufgefordert wurde, sich nicht in interne Angelegenheiten des guatemaltekischen Staates einzumischen. Eine Aufforderung, welche klar im Widerspruch zum Mandat der CICIG steht. Vélasquez ist in Guatemala ein Symbol für die Bekämpfung der Korruption. Unter keinem ihrer bisherigen Leiter war die CICIG so erfolgreich in der Aufdeckung von kriminellen Strukturen und Verstrickungen zwischen der organisierten Kriminalität und den politischen Eliten, wie unter dem Kolumbianer. Vélasquez war mit der in Guatemala vorhandenen Verstrickung von Militärs, Oligarchie und organisierter Kriminalität bereits aus seinem Heimatland bestens vertraut, wo er als Staatsanwalt ein Netzwerk von Kongressabgeordneten und Paramilitärs, auch bekannt als „Parapolítica“, aufdeckte. In diesem Verfahren wurden bereits etwa 50 Abgeordnete verurteilt, während weitere Verfahren gegen Abgeordnete noch anhängig sind.

Eine Aufhebung der Immunität von Morales wurde mit den Stimmen von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten abgewendet. Ein fraktionsübergreifendes Bündnis stimmte gegen die Aufhebung der Immunität des Staatspräsidenten. In den sozialen Netzwerken wird es als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet.

Um dem Strafverfahren gegen Morales und weiteren Verfahren gegen Abgeordnete die rechtliche Grundlage zu entziehen, beschloss der Kongress im September 2017 mit 107 Stimmen der insgesamt 158 Kongressabgeordneten eine „Reform“ des guatemaltekischen Strafgesetzbuches, nach welcher die entsprechenden Straftatbestände gleich ganz entfallen oder die Strafen für die Delikte auf eine Geldbuße reduziert werden. Nach massiven Protesten der Zivilgesellschaft – so blockierten Demonstranten im September 2017 über sieben Stunden den Kongress und hinderten die Abgeordneten am Verlassen des Gebäudes – und auf Druck inter­nationaler Akteur*innen nahm die Mehrheit der Abgeordneten jedoch wieder Abstand von der geplanten „Strafrechtsreform“.

Gegen mindestens 61 Kandidat*innen der letzten Kongresswahlen wurden Strafverfahren eingeleitet.

Im guatemaltekischen Kongress befindet sich Morales, der vor seinem Eintritt in die Politik noch als TV-Komiker tätig war und der als der am besten verdienende Staatspräsident Lateinamerikas gilt, in guter Gesellschaft, denn gegen mindestens 61 der bei den letzten Kongresswahlen angetretenen Kandidat*innen wurden seit der Wahl Strafverfahren eingeleitet.

Auch Morales’ Amtsvorgänger Otto Pérez Molina verabschiedete sich vorzeitig aus seinem Amt und wird in zwei Fällen wegen Zollbetrugs, Korruption und Steuerhinterziehung angeklagt. Seit seinem Rückritt Ende 2015 befindet er sich in Untersuchungshaft. Den Anstoß zu den Verfahren hatte ebenfalls die CICIG gegeben. Bereits im guatemaltekischen Bürgerkrieg während der Herrschaft von Efraín Rios Montt, der sich zurzeit erneut in einem Verfahren wegen Genozids verantworten muss, war Molina als Armeekommandant in der Region Ixil tätig und könnte somit für einen Großteil der in dieser Zeit dort verübten Massaker mitverantwortlich sein.

Dessen Amtsvorgänger Álvaro Colom Caballeros wiederum muss sich wegen der Bereicherung an dem Aufbau des „Transurbano“, dem Personennahverkehr mit Bussen in der Hauptstadt, verantworten. In seiner ersten Anhörung äußerte Colom, „die Staatsanwaltschaft und die CICIG sollten lieber die Maras verfolgen, als sich mit administrativen Kleinigkeiten aufzuhalten“.

Indessen erhält Präsident Morales unter anderem Unterstützung von Álvaro Arzú, dem Bürgermeister von Guatemala Stadt, der der guatemaltekischen Oligarchie angehört. Gegen ihn wird wegen Korruption und Veruntreuung ermittelt. Er hatte in der Zeit von 1996 bis 2000 das Amt des Staatspräsidenten inne. In diesen Zeitraum fällt auch der Mord an dem Bischof Juan Gerardi am 26. April 1998, mit welchem der Bürgermeister aufgrund neuer Beweise nun als Hintermann in Verbindung gebracht wird. Der Haupttäter Byron Lima, der Mitglied der Präsidentengarde (Estado Mayor Presidencial) war, baute nach seiner Verurteilung im Gefängnis ein kriminelles Netzwerk auf und wurde im Juli 2016 selbst bei einem Gefängnisaufstand getötet.

Bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit Morales vor Reservisten der guatemaltekischen Armee am 31. Januar 2018 brachte Arzú seine Ablehnung gegenüber den kritisch über die Korruption im Land berichtenden Journalist*innen zum Ausdruck und sagte, „wir müssen über die Köpfe der negativen Medien hinweg gehen“.

Da wundert es kaum, dass zwei Tage später auf dem Gelände der Finca Santo Domingo in Suchitepéquez die Journalisten Laurent Ángel Castillo Cifuentes und Luis Alfredo de León Miranda tot aufgefunden wurden. „Hier gibt es eine doppelte Verletzung von Rechten. Das Recht auf Leben der Person und das Recht auf Information, der Gesellschaft“ äußerte Edison Lanza, Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, zu dem Vorfall. Angesichts der geringen Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten in Guatemala von gerade einmal 1,6 % erscheint es wenig wahrscheinlich, dass der Tod der Journalisten aufgeklärt wird.

Auch die Justiz wird von der Korruption erfasst. In einem von der CICIG als „Manipulation der Justiz“ bezeichneten Fall wurde im Februar 2018 Rony López, der ehemalige Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität, festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, während der Ermittlungen zu einem anderen Mord an dem General José Armando Melgar Moreno eine parallele Ermittlung gegen unschuldige Personen durchgeführt zu haben. Er soll im Auftrag des Sohnes des ermordeten José Armando Melgar Moreno Zeugen und Beweise manipuliert haben, um die tatsächlich Verant­wortlichen zu schützen und die Verurteilung Unschuldiger zu erwirken.

Die Baufirma Odebrecht soll 17,9 Millionen US-Dollar Schmiergelder an guatemaltekische Politiker*innen gezahlt haben.

Wie die Korruption in Guatemala auch die Entwicklung behindert, zeigt sich an dem Fall der brasilianischen Baufirma Odebrecht. Diese soll 17,9 Millionen US-Dollar an Schmiergeldern über verschiedene Offshore-Firmen an guatemaltekische Politiker*innen gezahlt haben, um den Zuschlag für den Bau von 140 Kilometern der Autobahn Centroamericana mit einem Auftragsvolumen von 384,3 Millionen US-Dollar zu erhalten. Die Autobahn, für die Odebrecht 249,8 Millionen US-Dollar an Vorschuss kassierte und welche die südliche Küste Guatemalas mit Tecún Umán, einer Stadt an der Grenze zu Mexiko, verbinden sollte, wurde jedoch nur zu 30% fertig gestellt.

Viele der Strafverfahren gegen korrupte Politiker*innen kommen seit Jahren kaum voran. Eine der wesentlichen Ursachen ist der umfang­reiche Gebrauch von Verfassungsbeschwerden und anderen juristischen Hilfsmitteln durch die Verteidigung, mit dem Ziel, die Verfahren zu verschleppen. Begünstigt wird dies dadurch, dass die guatemaltekischen Gerichte häufig nicht innerhalb der vorgesehenen Fristen ihre Entscheidungen verkünden und bis zu 22 Monate in Verzug geraten. Mit den langen Verfahrensdauern der guatemaltekischen Justiz beschäftigte sich zuletzt auch der Bericht „Running out the Clock“ von Human Rights Watch.

Mehrere Berichte erwähnen, der auf Richter*innen und Staatsanwält*innen ausgeübte Druck, ihre Aufgaben parteiisch auszuführen, sei sehr hoch. So gaben bei einer Umfrage 35 Prozent der befragten Richter*innen an, sie hätten selbst unzulässige Beeinflussungen erfahren. Auch direkte Drohungen oder Gewalt werden als Mittel gegenüber Richter*innen eingesetzt. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission registrierte zwischen 2002 und 2012 insgesamt 640 Bedrohungen und Einschüchterungen, 24 Angriffe, 5 Entführungen und 11 Morde von Richter*innen in Guatemala.

Im Mai 2018 steht nun die Ernennung einer*s neuen Generalstaatsanwalts*anwältin an. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist muss zunächst die Bewerbungs-kommision aus den 39 Kandidat*innen eine Liste mit 6 Personen erstellen, aus welcher Präsident Morales im Mai den*die neue*n Generalstaatsanwalt*anwältin auswählt.

Die amtierende Generalstaatsanwältin Thelma Aldana steht nach Ablauf ihrer vierjährigen Amtszeit nicht erneut für das Amt zur Verfügung. Sie erklärte bezogen auf die Zusammenarbeit mit Morales: „Ich sehe in dem Präsidenten keinen Verbündeten gegen die Korruption“.
Mit der anstehenden Ernennung des*der Generalstaatsanwalts*anwältin entscheidet sich, ob es in Zukunft noch eine wirksame Bekämpfung der Korruption in Guatemala geben wird. Der Druck der noch recht schwachen Zivilgesellschaft und der großen guatemaltekischen Zeitungen auf Morales, einen integren Kandidaten auszuwählen, wächst zunehmend. Auch auf internationaler Ebene versuchen die Akteure die Auswahl zu beeinflussen. So äußerte der Botschafter der Vereinigten Staaten, Luis Arreaga, im Februar 2018 vor Student*innen der Universität Rafael Landívar in Guatemala Stadt „Wenn eine Gesellschaft die korrupten Praktiken als Normalität akzeptiert, wird es niemals möglich sein, eine Kultur des Rechtsstaats zu etablieren“. Der neue schwedische Botschafter Anders Kompass erklärte im Januar 2018 bezüglich der Korruption in Guatemala, „das Problem sind dysfunktionale öffentliche Institutionen, nicht die Menschen“, und wurde prompt vom guatemaltekischen Außenministerium einbestellt.

Mit der Wahl des neuen Kongresspräsidiums am 13. Januar 2018 unter dem Vorsitz von Álvaro Arzú Escobar, dem Sohn von Álvaro Arzú, stärkte unterdessen der sogenannte „Packt der Korrupten“ seine Position. Zwar musste die Wahl nach einem Urteil des Verfassungsgerichtes eine Woche später wiederholt werden, da die Wahl einiger Mitglieder des Präsidiums unzulässig war. Die Neuwahl brachte aber keine wesentlichen Änderungen mit sich.

Gegen die Wahl des neuen Präsidiums demonstrierten am darauffolgenden Sonntag einige hundert Menschen vor dem weiträumig abgesperrten Kongressgebäude, in dem Morales den Regierungsbericht seines zweiten Amtsjahres vorstellte. Bei einem Redebeitrag wurde der Regierung vorgeworfen: „Das einzige was Sie erreicht haben, ist sich zu bereichern und einen Pakt der Korrupten zu schließen!“ Bezüglich der öffentlichen Kritik an der Wahl des neuen Kongresspräsidenten äußerte Präsident Morales: „Die legitime republikanische Gewalt wird an den Urnen vom Volk gewählt, und diese Gewalt sollte von den Gewählten, nicht durch medialen oder faktischen Druck, ausgeübt werden“.
Die Demonstrant*innen setzten ihren Protest auch am folgenden Montag mit mehreren dezentralen Demonstrationszügen fort. Auch viele der sozialen Bewegungen, die gegen infrastrukturelle Megaprojekte oder um ihre Landrechte kämpfen, nehmen sich des Themas der Korruption an. Denn sie haben erkannt, dass sie eines der wesentlichen Hindernisse in der Durchsetzung ihrer Rechte ist. So erklärt eine Gruppe von campesinxs in Casillas, die sich gegen die Silbermine El Escobal in San Rafael Las Flores wehren:„Wir haben gute Gesetze in Guatemala. Diese Gesetze werden aber infolge der Korruption nicht gut angewendet“.

Der Kampf gegen die Korruption in Guatemala ist eine wesentliche Grundlage für die fehlende gerechte Entwicklung des Landes. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut und ein Viertel sogar in extremer Armut. Damit sich an dieser Tatsache langfristig etwas ändern kann, ist zunächst eine Eindämmung dieser Korruption erforderlich, denn sie behindert wichtige strukturelle Reformen, etwa im Bereich der Besteuerung und im Justizsystem.


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WEM DAS LAND GEHÖRT

Foto: Nis Melbye

Das Neujahrsfest der guatemaltekischen Maya Ch’orti am 19. Februar mussten José Mendez Torres und Melvin Alvarez Garcia dieses Jahr in Untersuchungshaft verbringen. Sie sind Autoritäten der indigenen Gemeinschaft Corozal Arriba im Grenzgebiet zu Honduras. Die beiden sowie mittlerweile fünf weitere Personen befinden sich in Untersuchungshaft, da sie zu den insgesamt 17 Personen gehören, denen die örtliche Staatsanwaltschaft vorwirft, für die Tötung eines Eindringlings verantwortlich zu sein. Ein Termin für die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeklagten wurde zuletzt auf Ende Mai 2018 verschoben.

Dem Strafverfahren liegt ein lokaler Landkonflikt zwischen der indigenen Gemeinschaft Corozal Arriba und einer Großgrundbesitzerin zugrunde. Die Ch’orti aus Corozal Arriba gehören zu einer der vielen Maya-Ethnien in Guatemala. Viele von ihnen sind in der Organisation COMUNDICH (Coordinadora de Asociaciones y Comunidades para el Desarrollo Integral del pueblo Ch’orti), einem Zusammenschluss von 48 indigenen Gemeinschaften organisiert. Gemeinsam versuchen sie, die traditionell von ihren Vorfahren genutzten Territorien zurückzuerlangen. Denn nach der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, dem „Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Staaten“, stehen der indigenen Bevölkerung die Eigentums- und Besitzrechte an den Territorien zu, die sie traditionell nutzen.

Indigene Autoritäten aus Corozal Arriba befinden sich seit einem Jahr in Haft.

„Die Ch’orti haben einen Prozess der Wiederaneignung ihrer kulturellen Identität begonnen“, erklärt Rodimiro Lantan, Direktor von COMUNDICH, den Kampf der Ch’orti. „Sie haben einen Prozess eingeleitet, der sie dazu bringt, ihre Geschichte und ihr Gedächtnis wieder zu erlangen. Sie haben erkannt, dass sie die legitimen Eigentümer ihrer Territorien sind. Angesichts dieses Bewusstseins haben die indigenen Völker damit begonnen, die wenigen Räume die ihnen die Demokratie in Guatemala bietet, zu nutzen, um ihre Rechte einzufordern“, so Lantan.

Corozal Arriba erreichte unter ihrem Bürgermeister Mendez bereits am 6. Juni des vergangenen Jahres ihre Anerkennung als indigene Gemeinschaft im Sinne der ILO-Konvention 169 sowie die Anerkennung ihrer Landrechte. Da die der indigenen Gemeinschaft zustehenden Territorien auch Gebiete der Finca Marsella erfasste, die bis dahin der Großgrundbesitzerin Vilma Esperanza Chew Casasola zugeordnet waren, entwickelte sich ein Konflikt um die Territorien.

An dem Tag, an dem die Gemeinde La Union die Landrechte von Corozal Arriba anerkannte, erschienen fünf bewaffnete Personen in Corozal Arriba. Sie erschossen drei Bauern der Gemeinschaft, die mit Instandhaltungsarbeiten beschäftigt waren. Bei der Abwehr des Angriffes wurde unter bisher nicht abschließend bekannten Umständen einer der Angreifer namens Zuñiga getötet. Dieser wurde, nach dem Mord an den drei Bauern durch einen Schuss und Schnittverletzungen mittels einer Stichwaffe getötet. Bereits im Februar 2017 erließ das zuständige Strafgericht in Zacapa insgesamt 17 Haftbefehle gegen Mitglieder von Corozal Arriba. Auch wenn der genaue Tathergang noch nicht geklärt ist, erscheint es mehr als fraglich, dass alle 17 Beschuldigten daran beteiligt waren.

Auch der Grund für das Erscheinen der fünf bewaffneten Personen in Corozal Arriba, bei denen es sich um private Sicherheitskräfte der Finca Marsella handeln soll, ist bisher nicht abschließend geklärt. Mitglieder der Gemeinschaft gehen davon aus, dass die drei Morde eine Reaktion auf das Abkommen mit der Gemeinde La Union war, in dem die Rechte der Gemeinschaft von Corozal Arriba anerkannt werden. Sie vermuten, dass die Morde von der Großgrundbesitzerin Vilma Esperanza Chew Casasola angeordnet wurden. Dies begründen sie mit der Tatsache, dass diese bereits zuvor im Jahre 2012 drei Mitglieder der gleichen Gemeinschaft wegen unrechtmäßiger Landnahme anzeigte, um durch eine Strafverfolgung die Kontrolle über das umstrittene Territorium zu erlangen.

Foto: Tullio Tognio

Die ersten beiden Haftbefehle hinsichtlich des getöten Angreifers Zuñiga wurden am 19. Mai 2017 gegen José Mendez Torres, den Bürgermeister von Corozal Arriba, und Melvin Alvarez Garcia, den Schatzmeister der Gemeinde, ausgeführt, als sie ein Treffen indigener Autoritäten verließen. Bis Februar 2018 vollstreckte die Polizei noch fünf weitere Haftbefehle gegen Mitglieder der Gemeinschaft. Der Prozessbeginn wurde, nachdem er zunächst für Oktober 2017 angesetzt war, auf Ende Mai 2018 verschoben, womit sich die ersten Festgenommenen bereits seit einem Jahr in Haft befinden. „Wie will der Staat uns Gerechtigkeit zukommen lassen, wenn er uns nicht erreicht? Die gleichen staatlichen Autoritäten, die uns schützen sollten, werden unter dem Tisch von den Großgrundbesitzern bezahlt, um die indigenen Bauern, die ihr Land verteidigen, einzusperren,“ beschreibt Mendez Torres während eines Besuchs in der Haftanstalt in Zacapa die Zusammenarbeit zwischen Großgrundbesitzer*innen und staatlichen Autoritäten.

In dem Fall der drei getöteten Bauern aus Corozal Arriba zeige die Strafverfolgungsbehörden hingegen weniger Eifer. Zwar wurden mittlerweile ebenfalls einige Haftbefehle, etwa gegen die Großgrundbesitzerin Chew Casasola, erlassen, von diesen wurde jedoch bislang kein einziger vollstreckt.

Auf eine Beschwerde der Witwen der getöteten Bauern wegen fehlender Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaft, ordnete die eigene Disziplinarabteilung Ende 2017 die vorübergehende Suspendierung des ermittelnden Staatsanwaltes an. Die Suspendierung für fünf Tage begründete sie damit, dass er über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr überhaupt keine Ermittlungstätigkeiten veranlasst hatte. Ein weiterer zuvor mit dem Fall befasster Staatsanwalt arbeitet unterdessen als Rechtsanwalt der Beschuldigten Chew Casasola. „Alles, was wir wollen, ist Gerechtigkeit für unsere getöteten Ehemänner“, äußerte sich Dorcas, eine der Witwen, zu dem Fall. Bis heute sind die Bewohner*innen immer wieder Bedrohungen ausgesetzt. So erschienen sowohl im Dezember 2016, als auch im Dezember 2017 bewaffnete Personen und bedrohten die Mitglieder der indigenen Gemeinschaft.

Durch Organisierung erhalten indigene Gemeinschaften Zugang zur Justiz.

In Corozal Arriba wird der Kampf der indigenen Gemeinschaften um ihre territorialen Rechte kriminalisiert. Die Maßnahmen, die sich hier gegen die indigenen Autoritäten richten, schwächen die Strukturen der Gemeinschaften. „Die Logik dieser Kriminalisierung hat ihren Ursprung in der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei, die die indigenen Völker Guatemalas schon seit Beginn der Kolonialisierung erleiden. Die aktuelle Kriminalisierung ist eine Fortsetzung dieser Sklaverei, auch wenn sie sich in ihrer Erscheinungsform, nicht aber in ihrer Natur, verändert hat“, mit diesen Worten beschriebt Lantan die Wurzeln der Kriminalisierung der Ch’orti.

Erst durch Organisationen wie COMUNDICH erhalten die indigenen Gemeinschaften einen Zugang zum Justizsystem, um ihre Rechte durchzusetzen. Mit der Verleihung des Alice Zachmann Preises für Menschenrechtsverteidiger*innen an Elodia Castillo Vasquez, Präsidentin von COMUNDICH, wurde die Bedeutung der Arbeit von COMUNDICH nun auch erstmals international im Dezember 2017 in Washington anerkannt.

Dieses Neujahrsfest der Ch’orti am 19. Februar begann mit einer traditionellen Zeremonie zum Sonnenaufgang in der Aldea Guayabo. Daran schloss sich eine Veranstaltung an, bei welcher den neuen indigenen Autoritäten von sieben Gemeinschaften ihre Landtitel feierlich überreicht wurden. Auch der Alice Zachmann Preis, der jährlich von der guatemaltekischen Kommission für Menschenrechte in den Vereinigten Staaten verliehen wird, wurde anlässlich des Neujahrsfestes noch einmal symbolisch vor der Gemeinschaft der Ch’orti überreicht. Elodia Castillo Vasquez erzählt in ihrer Rede von dem langen Weg der Wiederaneignung der Territorien, dem Kampf der indigenen Frauen und der Kriminalisierung der Ch’orti. Dabei erwähnt sie auch die fehlenden Mitglieder der Gemeinschaft: „Einige von uns können leider nicht hier sein. Denn sie wurden Opfer der gegen uns gerichteten Kriminalisierung. Wir müssen daher noch enger zusammenhalten, um uns gegen die Kriminalisierung durch die Grußgrundbesitzer und den Staat zu wehren.“

Auch die Familien der Inhaftierten sind anwesend. Beim gemeinsamen Essen am Ende des Neujahrsfest, sagte Rosa, José Mendez Torres’ Frau: „Ich hoffe, dass mein Mann bald wieder bei uns zu Haue ist und wieder an diesen Veranstaltungen teilnehmen kann.“


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AUF DEM RÜCKEN DER BESTIE

Was ist exakt 1,58 Meter lang und schwarz weiß? Nein, es handelt sich nicht um ein südamerikanisches Tier, das sich in den Wäldern des Amazonas tummelt – es ist eine Besonderheit ganz anderer Art. Von einem Buch soll hier die Rede sein.
Beinahe mystisch mutet das in schwarzes Leinen gebundene Buch an. Öffnet man es, faltet sich ein exakt 1,58 Meter langes Wimmelbild und ein Text auf der linken Seite wie eine Ziehharmonika auseinander. Zu sehen sind kleine Männer und Frauen, die auf dem Feld arbeiten. Tiere zwischen Bäumen und kleine Häuser, die sich aneinander reihen. Weiter unten ein Zug, Zäune, Hunde, Polizeiautos und Menschen, die sich vor bewaffneten Männern verstecken. Es sind Flüchtende, die nicht sicher sein können, was sie auf der anderen Seite erwartet.
Jedes Jahr treten viele Mexikaner*innen eine gefährliche Reise an: Die Überquerung der Grenze zu den USA. Diesem Thema widmen sich José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro in ihrem Buch Migrar. Weggehen. Der Erste sprachlich, der Zweite in Zeichnungen.
Auf beiden Ebenen nehmen sie ihre Leser*innen mit auf die gefährliche Reise eines Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter nach Los Angeles flüchtet. Sie sind auf der Suche nach dem Vater, der schon früher dorthin gegangen war und plötzlich aufhörte, Geld in das kleine mexikanische Heimatdorf zu schicken. Die Flucht gestaltet sich nicht einfach: Sie müssen auf den Rücken der Bestie springen, wie sie den Zug Richtung USA in Mexiko oft nennen. Außerdem gibt es Hunde, die nach ihnen schnappen und dunkle Erdlöcher, in denen sie sich verstecken müssen.
Das Buch ist ein Meisterwerk auf beiden Ebenen. Auf der einen Seite ist da der junge Ich-Erzähler, der klug und kindlich zugleich seine Erlebnisse und Ängste schildert. Auf der anderen Seite gibt es die Zeichnung, die aus der Vogelperspektive die Geschichte vieler flüchtender Menschen zeigt. Der Illustrator José Martínez Pedro schafft es, altaztekischen Zeichenstil mit aktueller Thematik zu verbinden und schafft damit ein einzigartiges Werk.

 

Vom Feldbauern zum Preisträger

Interview mit dem Kleinbauern und Buchillustratoren Javier Martínez Pedro

Warum haben Sie sich dazu entschieden, das Buch Migrar zu illustrieren?
Der Verlag lud mich dazu ein, dieses Buch zu machen. José Manuel Mateo stellte seinen Text zur Verfügung, in dem er über einen Jungen schreibt, der aus Mexiko in die USA flieht.
Sie leben in dem kleinen Dorf Xalitla in Mexiko. Wie kam der Verlag auf Sie ?
Der Sohn der Verlegerin kannte mich, da ich für ihn Zeichnungen gemacht hatte. Daher kam es, dass sie mich dazu einlud, eine Zeichnung zum Thema Migration anzufertigen. Natürlich spielte José Manuel Mateo eine Rolle, da sein Text ja die Basis für meine Zeichnungen war. Mir gefiel an der Idee vor allem, dass ich selbst Teile der Geschichte Migrar erlebt habe: Ich machte mich auch auf den Weg in die USA und überquerte die Grenze. Ich denke, mir ist das Buch einigermaßen gut gelungen. Das liegt bestimmt daran, dass in meinen Zeichnungen etwas von meinem Leben steckt.

Sie leben zum Teil vom Verkauf Ihrer Zeichnungen. Welche Themen stellen Sie dar?
Die Traditionen meines Dorfes. Dort widmen sich die Leute der Erde: Wir säen, wir ernten die Früchte, pflanzen Kürbisse und Wassermelonen. Die Hochzeiten, zum Beispiel, sind in meinem Dorf etwas ganz Besonderes. Die Menschen heiraten zur Musik des Windes, sie tanzen und es gibt Musiker, die auf der Trommel spielen. All das zeichnen wir, meine drei Söhne und ich.

Wo verkaufen Sie Ihre Zeichnungen?
Meistens auf der Straße. Manchmal klopfen wir aber auch an Türen und fragen: „Brauchen sie nicht eine Zeichnung?“ Ab und zu kaufen die Leute die Zeichnungen dann, oft aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist die Situation gerade sehr hart. Es gibt viel Konkurrenz und leider auch viele Leute, die unsere Arbeit nicht mehr schätzen.

Sie müssen ja wirklich viel Zeit mit Zeichnen verbringen!
Ha! Ja, viel Zeit. Ich fing auch schon mit zwölf Jahren damit an, jetzt bin ich 52!
Zurück zu Ihrem Buch. Haben Sie eine Lieblingsszene in dem Buch und wenn ja, welche?
Ja, zum Beispiel gefiel es mir, den Zug zu zeichnen. Das war nämlich auch nicht ganz einfach. Normalerweise machen wir ja eher schlichte, hm, sagen wir, einfachere Zeichnungen. Als sie zu mir sagten, ich solle das machen, meinte ich: Wie soll ich das tun? Ich zeichne normalerweise nicht einmal Autos. Das sind ja ganz moderne Dinge!

Das war bestimmt eine Herausforderung.
Ja. In Mexiko nennt man den Zug übrigens „die Bestie“, weil dieser Zug alle Leute mitnimmt, die beispielsweise von Guatemala oder El Salvador kommen, um die Grenze zu überqueren. Es gefiel mir, Leute auf das Dach des Zuges zu zeichnen, die sich festhalten oder versuchen aufzuspringen.

Sie zeichnen auf Baumrindenpapier. Warum ist dieses Papier so besonders?
Das Baumrindenpapier wird aus der Rinde des Amatl-Baumes gemacht. Deswegen gab man ihm auf Spanisch auch den Namen papel amate.Interessant ist auch, dass dieses Papier eigentlich braun ist und dann erst mit Chlor gebleicht wird.
Das Thema der Flucht aus Mexiko ist ein politisches. Würden Sie sich daher auch selbst als politischen Illustrator sehen?
Ich möchte den Menschen verständlich machen, was es heißt, sein Land zu verlassen. Auswandern bedeutet für uns, wo anders bessere Lebensbedingungen zu suchen. Wir nehmen viele Risiken auf uns. Manchmal misshandeln sie uns an der Grenze. Manche, die werden sogar umgebracht. Und genau deshalb möchte ich vor allem den Kindern eine wichtige Botschaft mitgeben: Sie sollten lernen und dafür kämpfen, etwas aus ihrem Leben zu machen. So müssen sie nicht irgendwann ihr Leben riskieren, um eine Grenze zu überqueren.

 


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VERFOLGUNGSJAGD

„Er sah auf seine Hände. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Das stellt der Soldat León Almansa am Ende des Romans fest. Gleichermaßen könnte dieses Zitat die Erkenntnis mehrerer Protagonist*innen aus Antonio Ortuños Madrid, Mexiko sein. Gewalt und Brutalität ziehen sich durch den ganzen Roman. Ob aus Rache, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen oder im Kampf ums eigene Überleben, gnadenlos wird gejagt und vergolten.

Der Roman ist die Geschichte einer Familie aus der Sicht verschiedener Generationen, aus zwei Jahrhunderten und über zwei Kontinente hinweg erzählt. Dabei verknüpft Ortuño in beinahe filmisch anmutenden Szenen die Zusammenhänge. Vom spanischen Bürgerkrieg wird ins Jahr 1997 gesprungen, in welchem der Enkel des Anarchisten Yago, einst aus Madrid vor Franco geflüchtet, nun selbst zurück in das Land seiner Großeltern flieht. Omar wird nämlich vom Handlanger eines korrupten Gewerkschaftsbosses (Mariachito genannt) verfolgt, weil er als heimlicher Geliebter von Mariachitos Freundin, der sich obendrein auch noch am Tatort befand, fälschlicherweise für dessen Mord verantwortlich gemacht wird.

Madrid, Mexiko ist nicht nur eine einzelne spannende Verfolgungsjagd, sondern bietet gleich mehrere davon, und das auf verschiedenen Ebenen. Da ist beispielsweise die Cousine Omars, die ihm zur Flucht verhilft und in gewisser Hinsicht auch Fluchthelferin der Literatur ist. So verfolgt und beschafft sie Manuskripte über Kontinente hinweg, um sie an gut zahlende, geheimnisvolle Kund*innen zu verkaufen, deren Ziel es ist, dass selbige niemals an die Öffentlichkeit gelangen.

Obwohl Flucht und Verfolgung im Vordergrund des Geschehens stehen, erzählt Ortuños neuer Roman doch vor allem vom Ankommen und von der Identitätssuche in der Fremde. Madrid, Mexiko ist auch eine Geschichte verschiedener Versuche, dem Schicksal zu entkommen und eine Heimat zu finden, Migrations- und gesellschaftliche Konflikte mit eingeschlossen. „So viel Foucault, um am Ende in irgendeinem Scheißladen ein Tüllkleid zu kaufen; So viel Derrida, um dann für einen Bauern Tortillas zu backen.“ Die Worte Omars und seiner Kommilitonin, die mit einem Landwirt aus der Provinz, aus der sie stammt, verlobt ist, treffen es auf den Punkt. Ortuño zeichnet ein authentisches Bild der konservativen mexikanischen Gesellschaft und erzählt auch von der Rebellion gegen das eigene Schicksal.

Mögen die einzelnen Charaktere auch sehr unterschiedliche Biographien haben, die auf verschiedene Weisen miteinander verwoben sind – am Ende steht eine Nachricht klar und deutlich für alle Beteiligten. Die Menschen glichen sich seit Kain nur in einem: „Sie seien alle Verbrecher.“

 


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LAUT GEGEN DAS SCHWEIGEN

Im Weltraum schwebende Babykatzenköpfe, ein regenbogenfarbenes Bällebad und die Virgen de Guadalupe auf einem Baseballcap – schon die äußere Gestaltung von Rebeca Lanes drittem Soloalbum Alma Mestiza spiegelt die Heterogenität der CD wider. Mit einer Mischung aus Old-School-Hip-Hop, Reggae-Rhythmen, jazzigen Klaviersamples und Cumbia nähert sich die Rapperin mit viel Lust und Mut politischen Themen einer großen Spannweite an. Auch wenn die Texte selten so bonbonbunt und grell wie das Cover sind, steht doch auch immer wieder der Spaß im Fokus, auch an der Rebellion. Selbst schon lange Aktivistin, weiß sie dabei auch sehr genau, wovon sie spricht.

Bis vor fünf Jahren organisierte Rebeca Lane noch selbst Musikveranstaltungen und begann dann eher zufällig ihre Karriere als aktive Rapperin, nachdem sie gebeten wurde, etwas Bühnenzeit zu füllen. Mittlerweile ist sie längst über die Grenzen Guatemalas bekannt und tourt dieses Jahr auch durch Spanien und Deutschland (siehe unten). Als Mitbegründerin der Initiative „Somos Guerreras“ („Wir sind Kriegerinnen“) reiste sie 2016 durch Mittelamerika und versuchte, Frauen* mit Hip-Hop und Breakdance zu empowern.

Praktischer Feminismus ist auch auf Alma Mestiza ein großes Thema. Ob im Song „Este cuerpo es mío“ oder in „Ni encerradas, ni con miedos“ pendeln die Texte dabei zwischen einer Einfühlung in von Geschlechtergewalt Betroffenen und einer Anklage und Kampfansage an die machistischen und patriarchalen Gesellschafts­strukturen. Rebeca Lane benennt die strukturelle Geschlechtergewalt in Guatemala, einem der Länder mit der höchsten Anzahl von Feminiziden und Gewalt an Frauen*, und ermutigt gleichzeitig Frauen* aus der Isolation und gewaltvollen Beziehungen auszubrechen. Aber auch die Lust am Leben und sich selbst feiern kommen nicht zu kurz, wie „Libre, atrevida y loca“, einer der tanzbarsten Songs des Albums, zeigt.

Ein weiteres großes Thema von Alma Mestiza ist die fehlende Geschichtsaufarbeitung Guatemalas. Zwanzig Jahre nach dem Ende des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs läuft die Aufklärung der vor allem an Teilen der indigenen Bevölkerung verübten Massaker nur langsam an. Statt einer Erinnerungskultur gibt es eine des Totschweigens. Dieser setzt Rebeca Lane eine laute Stimme entgegen, ruft die Namen von Verschwundenen in Erinnerung und prangert den gesellschaftlichen Rassismus an.

In diesem Zusammenhang stellt sie auch ihre eigene Identität und das Konzept von Identität im Allgemeinen zur Disposition. Als mestiza, wie sie sich selbst nennt, reflektiert sie zum Beispiel im titelgebenden Track *Alma Mestiza* einerseits das Erbe der Kolonisatoren, das sie notgedrungen in sich trägt und feiert andererseits die Mythologie und Kultur der Maya als etwas sehr Gegenwärtiges. Damit setzt Rebeca Lane auch einen klaren Kontrapunkt zum rassistischen Diskurs, in dem die „mestizische Mehrheitsgesellschaft“ indigene Kultur vielleicht folkloristisch feiert und historisiert, die Indigenen selbst aber an den Rand gedrängt werden.

Zwar könnte es manchmal ein bisschen weniger Reggaerythmen und Loungegedudel sein, doch machen die starken Texte und die klare Botschaft auch diesen Wermutstropfen wieder wett. Und mit ihrer musikalischen Offenheit ist Rebeca Lane, die im Übrigen fabelhaft rappen kann, vielleicht auch leichter für Menschen zugänglich, die Hip-Hop nicht zu ihrer Lieblings­musik zählen.

 


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VON ZERQUETSCHTEN FLIEGEN UND MENSCHENBREI

„Bei der Jagd auf Fliegen sind die wichtigsten Fähigkeiten Schnelligkeit und Beweglichkeit. Wenn du schnell bist und fest zuschlägst, wird sich die Fliege in einen organischen Brei verwandeln, der nicht im Entferntesten mehr an ein Lebewesen erinnert. Man jagt Fliegen zum Spaß, das Amüsement rechtfertigt auf dieser Welt alles, aber man zerquetscht sie auch aus Ekel, da sie dort hinfliegen, wo sie nicht hinfliegen dürfen, und das ärgert uns.“ Die Fliegen-Analogie ist nicht die einzige, die in Antonio Ortuños Die Verbrannten zwischen der Tierwelt und den zentralamerikanischen Migrant*innen, die Mexiko durchqueren, aufgestellt wird. Sie sind Kakerlaken, die zerquetscht werden müssen, gescheuchtes Vieh auf der Reise zum Schlachthof, das anschließend durch den Fleischwolf gezwängt wird.

Irma, genannt La Negra, eine Sozialarbeiterin der Nationalkommission für Migration, wird nach einem Brandanschlag in das fiktive Santa Rita versetzt, ein unscheinbarer, fehlkonstruierter Ort an der Grenze zu Guatemala. Der Anschlag galt der örtlichen Herberge für Migrant*innen auf der Durchreise in die USA. Irma soll die Angehörigen und wenigen Überlebenden mit Infoblättern versorgen und ein standardisiertes geheucheltes Beileid aussprechen. Desillusioniert und verzweifelt ob der Untätigkeit ihrer Beamtenkollegen im Angesicht der immer neuen Angriffe und Massaker in der Herberge, versucht Irma gemeinsam mit dem Journalisten Joel Luna eines der überlebenden Opfer zu schützen: Yein, eine junge Frau, die auf eine fast schon mystische, epische Art als Racheengel stilisiert wird.

Santa Rita ist jedoch nur ein Teilaspekt des extrem vielstimmigen Romans. Seine größte Stärke sind die eingestreuten Kapitel, die den Bewusstseinsstrom des frustrierten und hasserfüllten Vaters  der Tochter Irmas wiedergeben. Gesellschaftsfähiger Rassismus und moralische Verkommenheit werden so denunziert.

Im Stile von Bolaños monumentalen Roman 2666 schildert Ortuño mit medizinischer Präzision unfassbare Gewaltszenen, die besonders darum Übelkeit verursachen, weil sie nicht fiktiv sind, und weil sie mehr als nur die Wertlosigkeit eines Menschenlebens bedeuten. Zentralamerikanische Migrant*innen werden zum Objekt der Macho-Gewaltfantasien, des Machtwahnsinns und der Machtdemonstration degradiert. Insofern erfüllen die „Verbrannten“ eine ganz besondere Funktion zum Erhalt des Systems, aus dessen Teufelskreis scheinbar kein Entkommen möglich ist. Das wichtigste Glied in der Kette ist dasjenige, das seinen Wert durch die eigene Austauschbarkeit erhält, durch die Logik der Massenware.

Eigentlich ist Die Verbrannten trotz der thrillerhaften Motive der Jagd und Rache, des latenten Spannungsaufbaus und eines furiosen Finales kein Krimi, sondern ein Bericht einer Gesellschaft, die bis ins letzte Glied korrumpiert ist und in der Vertrauen zu schenken immer ein Fehler ist.
Für Migrant*innen in Mexiko ist ein Entkommen aus der Hölle so gut wie unmöglich. Zwar beschreibt Ortuño Mexiko als „ein Land voller Opfer mit Tigerzähnen und -krallen“ – die Umkehrung von Opfer- und Täterrollen mag somit vereinzelt zu einer makabren Rehumanisierung der Opfer führen. Ihr Widerstand, wie auch der Irmas und des Journalisten, spielen jedoch innerhalb „der sieben Kreise der mexikanischen Hölle“ keine Rolle. Der Fleischwolf Mexiko mahlt immer weiter, seine Einzelteile sind genau so austauschbar wie die Menschen, die er verschlingt.


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ABSTIEG EINES KOMIKERS

Foto: Codeca

Vor zwei Jahren hatte Guatemala genug von der Korruption und seiner politischen Klasse. Monate zuvor war Ex-Präsident Otto Pérez Molina quasi aus dem Amt ins Gefängnis befördert worden, das gleiche Schicksal hatte schon zuvor Vizepräsidentin Roxana Baldetti ereilt. Ein „unbelasteter“ Politikertyp sollte her, dazu ein Mensch, der „populär“ genug ist, um Wahlen gewinnen zu können. Ausgerechnet der reaktionärste Teil des politischen Spektrums ritt am erfolgreichsten auf dieser Anti-Establishment-Welle. Die von Ex-Militärs gegründete und von Radikal-Evangelikalen gestützte Front der Nationalen Konvergenz (FCN) hatte bei den Wahlen vier Jahre zuvor kein einziges Mandat gewinnen können. 2015 aber zog ihr Kandidat, der zotige Fernsehkomiker Jimmy Morales, mit Heilsversprechen an allen anderen vorbei.

In der Stichwahl entfielen mehr als zwei Drittel der abgegebenen und gültigen Stimmen auf den damals 46-Jährigen – das zweitbeste Wahlergebnis seit der Wiederherstellung der Demokratie 1985. Doch schon damals prophezeiten viele, dass es dem politisch völlig unerfahrenen Morales, dem dazu Selbstverliebtheit und machistische Züge zugeschrieben wurden, kaum gelingen würde, ausgerechnet mit seiner Machtbasis verbrecherisch gestriger Generäle aus Zeiten von Diktatur und Völkermord ein „neues Guatemala“ zu erschaffen, frei von Korruption, in dem es jeder und jedem bessergehen würde.

Es fing schon nicht gut an. Morales’ designierter Regierungsminister, Ex-Militär César Cabrera, musste eine Woche vor der Vereidigung des Präsidenten das Handtuch werfen, angeklagt wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur in den 1980er Jahren. Schon kurz nach Amtsantritt gab Kommunikationsministerin Sherry Ordóñez ihr Amt wegen Interessenskonflikten auf. Mittlerweile hat Guatemalas Oberster Rechnungshof Anzeigen gegen sieben der 14 Minister*innen wegen verschiedener strafrechtlich relevanter Vorgänge der Staatsanwaltschaft übergeben. Gegen Morales’ ehemaligen Sicherheitschef, den heutigen Kongressabgeordneten und Ex-Militär Armando Melgar Padilla, laufen Ermittlungen wegen seines unerklärlich großen Vermögens. Der Kongressabgeordnete, FCN-Gründer und Freund von Morales, Edgar Ovalle, ist seit März auf der Flucht, ebenfalls angeklagt wegen Beteiligung an Massakern während des bewaffneten Konflikts in den 1980er Jahren. Eineinhalb Jahre nach Beginn seiner Präsidentschaft sitzt Morales’ innerer Zirkel in Haft, ist auf der Flucht oder muss sich strafrechtliche Ermittlungen gefallen lassen.

Besonders dürften den Präsidenten aber die strafrechtlichen Ermittlungen gegen seinen Bruder Sammy treffen, ehemals sein engster Vertrauter und Berater, sowie jene gegen den eigenen Sohn, José Manuel. Seit September 2016 wird gegen beide in einem Fall von Betrug und Geldwäsche aus dem Jahr 2013 ermittelt. In drei Monaten könnte der Prozess beginnen, der gerade für den Bruder des Präsidenten böse enden könnte: Wird er der Geldwäsche schuldig gesprochen, könnten ihm zwischen sechs und zwanzig Jahre Haft blühen.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim entgegenschlägt.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu der kollektiven Abscheu, die Morales und seiner Regierung seit dem Verbrennungstod von 41 Mädchen in einem staatlichen Heim und den folgenden Ermittlungen entgegenschlägt. In einem Saal des Heims war am 8. März ein Feuer ausgebrochen, bei dem 41 Mädchen starben und 15 verletzt wurden. Schnell ergaben die Ermittlungen, dass die Mädchen tags zuvor aus dem Heim ausgebrochen waren, nachdem sie monatelang Misshandlungen, sexuellen Missbrauch, ungeheuerliche hygienische Bedingungen und verdorbenes Essen erduldet hatten (siehe LN 514). Erste Anzeigen hatte es bereits im Jahr 2013 gegeben, also vier Jahre zuvor. Sicherheitskräfte hatten die 56 Jugendlichen zunächst eingefangen und dann stundenlang in einem Saal eingeschlossen. Als die Sicherheitskräfte sich auch nach Stunden weigerten, den Mädchen den Gang zur Toilette zu ermöglichen, zündeten diese eine Matratze an, um dadurch die Öffnung der Tür zu erzwingen. Die zuständigen Polizist*innen, so die Anklage, hätten aber die Tür nicht geöffnet und die Mädchen somit bewusst verbrennen lassen.

Der Fall Hogar Seguro („Sicheres Heim“) hatte noch im selben Monat zur Verhaftung des Direktors der präsidentiellen Wohlfahrtskommission, Carlos Antonio Rodas Mejía, und der dort für Kinderschutz zuständigen Vizedirektorin, Anahí Keller Zabala, geführt. Beide hatte Morales persönlich ernannt. Seit Mitte Juni sitzen zudem die Ombudsfrau für Kinderrechte, Gloria Patricia Castro Gutiérrez, der für Kinder und Jugendliche zuständige Oberstaatsanwalt Harold Augusto Flores Valenzuela und die Staatsanwältin für Fälle von Misshandlungen, Brenda Julissa Chamam Pacay, in Untersuchungshaft.

Auch Präsident Morales ging es nach dem Vorfall an den Kragen. Nicht nur wegen des Entsetzens, das dieses Verbrechen in weiten Teilen der Bevölkerung hervorrief, und weil der Ruf der staatlichen Institutionen Guatemalas ein weiteres Mal schwer beschädigt worden ist. Sondern auch, weil die Opposition im guatemaltekischen Kongress nach Enthüllungen einer direkten Einflussnahme des Präsidenten auf den Umgang mit der Affäre durch die Polizei die Aufhebung der Immunität des Präsidenten betrieb. Das Vorhaben scheiterte allerdings am 22. Juni vor dem Obersten Gerichtshof. Morales dürfte aufgeatmet haben.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen.

Dabei sei nicht alles so schlecht, sagen zumindest einige politische Analyst*innen. Die personellen Änderungen im Finanzministerium, in der in Verruf geratenen Steuerbehörde und im Regierungs- und Gesundheitsministerium galten zumindest zum Zeitpunkt der Ernennungen als recht kluge Personalentscheidungen. Die Verlängerung des Mandats der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bis 2019 wurde gelobt. Aber anstatt die Erfolge dieser Minister*innen herauszustellen, fährt ihnen Morales allzu oft in die Parade: Dem Finanzminister wurde schon der Vorschlag einer Steuerreform untersagt, ohne die aber die versprochene Ausweitung von Bildungs- und Gesundheitsprogrammen nicht finanzierbar ist. Die Gesundheitsministerin ist mehrfach von Morales und der eigenen Partei vorgeführt worden. Dem Regierungsminister regiert Morales in interne Ministeriumsangelegenheiten hinein. Und den Chef der Steuerbehörde kritisierte Morales öffentlich wegen dessen Ermittlungen gegen Steuerhinterzieher*innen. So demontiert Morales seit 18 Monaten munter sein eigenes Bild eines angeblichen Saubermanns und versierten Staatslenkers.

An Morales sind all die Affären und Skandale nicht spurlos vorübergegangen. Der ehemalige Komiker ist dünnhäutig geworden. In einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Jorge Ramos vom spanischsprachigen US-Fernsehsender Univision warf Morales der guatemaltekischen Justiz indirekt die Verletzung der verfassungsgemäßen und demokratischen Ordnung vor und relativierte die Geldwäschevorwürfe gegen seinen Bruder als Teil einer in Guatemala und ganz Lateinamerika verbreiteten und als normal empfundenen Korruption. Wenn dem so ist, dann ist beim selbst ernannten Kämpfer gegen die Korruption und vor kurzem noch strahlenden Wahlsieger jetzt auch ganz offiziell die Luft raus.

Die Frage ist: Welche Konsequenzen wird das haben? Rücktrittsforderungen kommen nicht nur aus dem guatemaltekischen Kongress, auch die Massendemonstrationen in Guatemala-Stadt sind wieder zurück. Guatemalas Kleinbauern- und Indigenen-Organisation Codeca hat Mitte Juli bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr zum Generalstreik aufgerufen und landesweit Straßen blockiert. Auch die nationale Presse geht mit Morales und seinen Leuten durchaus hart ins Gericht. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass Jimmy Morales das gleiche Schicksal blüht wie seinem Vorgänger Otto Pérez Molina.

Denn gegen den Präsidenten selbst wird in keiner der genannten Affären ermittelt. Für Politikwissenschaftlerin Geidy de Mata, Professorin an der staatlichen autonomen Universität San Carlos (USAC) zeigen die Rücktritte und Verhaftungen, dass Präsident*innen ihr Personal nicht nach Befähigung auswählen, sondern über die Auswahl geleistete Gefälligkeiten honorieren würden. Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit würden dabei sowohl die Ernannten wie die Ernennenden charakterisieren. Dies ist in Guatemala aber nicht neu – und wird der Bogen nicht überspannt – auch nicht strafbar.

Guatemaltekische Leitartikel diskutieren zwar seit fast einem Jahr über die Möglichkeit eines nahenden Endes der Präsidentschaft von Jimmy Morales. Helen Mack, angesehene Menschenrechtlerin und Schwester der 1990 ermordeten Anthropologin Myrna Mack, prophezeite schon im Oktober letzten Jahres, dass Morales im Falle der Verhaftung seines Bruders und Sohnes zurücktreten würde. Eingetreten ist davon allerdings bislang nichts. Und nicht nur guatemaltekische Präsidenten halten traditionell so lang wie irgend möglich am Amt fest.


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„DAS WAR KEIN UNFALL“

Am 7. März gegen Abend waren 50 Mädchen und Jungen aufgrund der miserablen Zustände aus dem Kinderheim in die nahe gelegenen Wälder geflohen. Die nationale Zivilpolizei (PNC) bringt sie auf direkte Anweisung des guatemaltekischen Präsidenten zurück und überwacht die Jugendlichen nach dem Fluchtversuch. Am frühen Morgen werden 52 Mädchen in einen Klassenraum gesperrt und weiterhin von der PNC überwacht, diese Maßnahme kann juristisch als institutionelle Entführung gewertet werden. Als die Mädchen trotz Bitten auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht heraus gelassen werden, beginnen Tumulte, bei denen einige Mädchen Matratzen im Klassenzimmer angezündet haben sollen. Das Feuer breitet sich schnell aus und noch immer wird den Mädchen die Befreiung aus dem Klassenzimmer verwehrt. Viele verbrennen vor den Augen der PNC. Diese soll die Kontrolle über das Einschließen der Mädchen gehabt haben, diese werden nicht heraus und die bald eintreffende Feuerwehr erst nach 40 Minuten herein gelassen. 19 Mädchen sterben in dem Feuer, die Zahl der in den Krankenhäusern Verstorbenen steigt innerhalb von drei Tagen auf 40 an.

Das 2006 zum Schutz der Kinder gegründete Heim ist eine staatliche Institution.

Das Kinderheim, welches im Jahre 2006 als Refugium zum Schutz von Minderjährigen gegründet wird, ist eine staatlich geführte Institution. Es beherbergt Kinder und Jugendliche von Null bis 18 Jahren, betroffen von Kindesmisshandlung, „leichten Behinderungen“, sexueller, psychischer und physischer Gewalt, Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und ohne familiäre Zufluchtsmöglichkeit.

Die räumlichen Kapazitäten der Herberge liegen bei 400-500 Kindern und Jugendlichen, zum Zeitpunkt des Brandes waren 807 Kinder und Jugendliche dort untergebracht. Einige Kinder wurden als Resultat sexuellen Missbrauchs – seitens der Lehrer*innen und Autoritäten der zuständigen Aufsichtsbehörde – innerhalb des Heims geboren. Bei der zuständigen staatlichen Wohlfahrtsbehörde (SBS) gingen immer wieder Anzeigen unter anderem wegen Prostitution, sexuellen Missbrauchs, körperlichen, psychischen, verbalen Miss­handlungen und fehlender medizinischer Versorgung innerhalb des Kinderheims ein. Zudem sollen Autoritäten der Behörde selbst an sexuellem Missbrauch beteiligt gewesen sein. Die Aufsichtsbehörde hat die Weiterreichung der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen verhindert und Namen sowie Details den zuständigen Behörden vorenthalten. Zwischen Januar und August 2014 waren 28 Anzeigen dokumentiert worden, es kam zu einzelnen juristischen Prozessen. Darunter war auch die Anzeige gegen den Maurer José Arias, der 2013 ein 17-jähriges Mädchen mit „kognitiven Defiziten“ in einem Klassenraum vergewaltigte und sich nun für acht Jahre in Haft befindet; oder gegen den Lehrer Edgar Rolando Dieguez Ispache, welcher mehrfach Kinder innerhalb seines Unterrichts demütigte und einzelne zu Oralverkehr zwang. Der Gerichtsprozess gegen ihn läuft seit 2016. Die meisten Anzeigen bleiben jedoch in der Investigationsphase stecken oder werden der Staats­anwaltschaft gar nicht erst übermittelt. Der nationale Adoptionsrat überprüfte das Heim trotz der Anzeigen nicht.

Dem Heim wird Kinderhandel vorgeworfen.

Am 11. März kommt es zu den ersten Massenprotesten in der Hauptstadt Guatemalas und vor den guatemaltekischen Botschaften verschiedener Länder. Auch hier findet der Verdacht auf ein Staatsverbrechen Ausdruck und die Aktivist*innen beginnen, über ein Netzwerk von Menschenhandel zu sprechen.
Die lokale Organisation „Kinder“ der Verschwundenen des Genozids („Hijos“) fordert in einem öffentlichen Schreiben Interventionen seitens nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen, unter anderem durch die Internationale Kommision gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) zur Tatortermittlung sowie die präventive Festnahme der Verantwortlichen unter dem Verdacht des Femizids.

Schon im November 2016 informierte die Ombudsstelle für Menschenrechte über möglichen Menschenhandel durch das Kinderheim. Eine anonyme Richterin erzählt in einem Interview mit dem Journalisten Francisco Goldman, dass 62 Kinder aus dem Heim verschwunden seien und dass sie glaube, diese seien noch vor dem Brand ermordet worden. Weiterhin berichtet sie über die Zwangsprostitution innerhalb des Kinderheims, auch wenn noch unklar sei, wer genau dahinter stecke.Der Journalist Camilo Villatoro bezeichnet die Tragödie des Kinderheims als „geplante Massenvernichtung um Zeuginnen und Betroffene eines möglichen kriminellen Netzwerks von Kinderhandel und Sexsklaverei zu eliminieren.“

Wegen der Vorfälle im Kinderheim sollen nun erneut die Untersuchungen bezüglich Kinderhandel aufgenommen werden. Aufgrund des Verschwindens vieler Mädchen existiere der Verdacht, dies sei zu Zwecken der Prostitution geschehen, sagt der Anwalt und Aktivist Alejandro Axpuac.

Der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales sowie der Sekretär des Büros für Gemeinwohl, Carlos Rodas, weisen alle Verantwortung und den Vorwurf eines Staatsverbrechens öffentlich zurück. Zwei Tage später, am 12. März, verstrickt sich Morales jedoch in seiner Argumentation während eines Interviews mit CNN. Er bejaht die Unfähigkeit der guatemaltekischen Instanzen und bestätigt den Vorwurf, die PNC habe auf seine Anordnung hin die Mädchen festgehalten. So bezeugt Morales, dass der Staat mit repressiven Mitteln agierte und die Sicherheit der Jugendlichen nicht priorisiert wurde.

Am 13. März werden drei leitetende Angestellte der SBS präventiv festgenommen. Die Anordnung kam von der Richterin Claudia Blandón Alegría unter dem Vorwurf von Mord, Nichterfüllung ihrer Aufgaben und Misshandlung von Minderjährigen.

Die Proteste in Guatemala halten an, einige Aktivist*innen fordern den Rücktritt des Präsidenten Morales. Es bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft.

 


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„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.


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EINSAMKEIT UND WAHNSINN

Wie lebt man in einer Region mit den weltweit höchsten Mordraten? Wie lebt man unter Drogenmafias, korrupter Polizei und kriminellen Politiker*innen? Diesen Fragen geht der salvadorianische Journalist Óscar Martínez in seinem kürzlich ins Deutsche übersetzte Buch nach. Eine Geschichte der Gewalt. Leben und Sterben in Zentralamerika sind vierzehn Reportagen, die Martínez zwischen 2011 und 2015 verfasst hat. Er analysiert darin die Gewalt in ihren unterschiedlichen Facetten. Die einzelnen Geschichten nehmen dabei immer wieder aufeinander Bezug und zeichnen ein lebhaftes, tiefgründiges und kritisches Bild der Misere, mit besonderem Fokus auf El Salvador, Guatemala und Honduras.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil,„Einsamkeit“, handelt von den „Regionen, aus denen sich die Regierungen verabschiedet oder in denen sie sich mit dem Organisierten Verbrechen arrangiert haben“, so Martínez in der Einleitung. Eine dieser Reportagen erzählt vom guatemaltekischen Departamento Petén. Hier haben sich Drogenbarone illegal und zum Teil in Naturschutzgebieten riesige Anwesen errichtet, während der Staat dies aus Angst toleriert oder aus Komplizenschaft schützt. Gleichzeitig werden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit Verweis auf den Naturschutz vom selben Staat verjagt und so entweder in die Arme eben jener Drogenbanden getrieben. Oder in die Arme der Agroindustrie, die in diesen Naturschutzgebieten Palmöl anbaut. Trotz der unerträglichen Zustände gelingt es Martínez nicht zynisch zu werden, sondern so lange weiter zu recherchieren, bis die Geschichten mit all ihren Aspekten erzählt sind. Die Gewalt ist bei Martínez nie monokausal, nie ohne Kontext und immer ist mehr als ein Akteur involviert.
Der zweite Teil des Buchs heißt „Wahnsinn“. In diesem Teil möchte der Autor mit eigenen Worten „die Sinnlosigkeit, die extreme Gewalt, in der uns die Einsamkeit versinken lässt“ beschreiben. Eine der Reportagen handelt vom jahrelangen verzweifelten Kampf eines Gerichtsmediziners, der Leichen aus einem Brunnen bergen möchte. Er will damit Beweise gegen mareros, Mitglieder von Banden, sammeln um ihre Verurteilung zu erreichen. Der Protagonist erhält dabei von keiner staatlichen Stelle ernsthafte Unterstützung. Am Ende muss er aufgeben und die Mörder werden aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Dieser Wahnsinn sei symptomatisch für ein ganzes Land, schreibt Martínez über El Salvador.
Der dritte Teil des Buchs trägt den Titel „Flucht“ und „berichtet von denen, die dem Wahnsinn entfliehen wollen“, wie es in der Einleitung heißt. Die Reportagen handeln von Fluchtversuchen in die USA, von Menschenschmuggler*innen oder von dem Ex-marero namens El Niño, der Kronzeuge in vielen Prozessen gegen die Mara Salvatrucha und  gegen kriminelle Polizist*innen ist. Es ist die „Geschichte eines Mannes, von dem auch ich wusste, dass man ihn ermorden würde“. Martínez betont, dass El Niño selbst ein Mörder war. Er hätte als Kronzeuge aber auch unter dem Schutz des Staates stehen müssen, um im Kampf gegen Gewalt bei der Aufklärung zu helfen.
Martínez klagt auf vielfältige Weise an und gibt nur selten Grund zur Hoffnung. Vor allem versucht er aber die Komplexität zentralamerikanischer Gewalt zu verstehen und zu vermitteln. Die Empathie, die er seinen Gesprächspartner*innen und Protagonist*innen entgegenzubringen weiß, machen seine Erzählungen eindrucksvoll. Die Gewalt in Zentralamerika erhält in Martínez‘ Reportagen Gesichter, die man beim Lesen zwar nicht zu mögen, aber in ihrem Handeln zu verstehen beginnt. Zu einer eindrucksvollen Lektüre trägt schließlich auch die exzellente Übersetzung von Hans-Joachim Hartstein bei.


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Eine „sehr lateinamerikanische“ Berlinale

Auf der diesjährigen Berlinale werde man wohl mehr Spanisch als Deutsch sprechen, witzelte Festivaldirektor Dieter Kosslick auf der Pressekonferenz für ausländische Medien und bezog sich damit auf die starke Präsenz Lateinamerikas beim internationalen Filmfestival. Über 50 Filme und Produktionen mit lateinamerikanischer Beteiligung werden in den verschiedenen Sektionen der Berlinale 2015 zu sehen sein, davon vier im Wettbewerb um den goldenen Bären. Die diesjährige Berlinale sei eine „sehr lateinamerikanische“, titelte daher auch die kolumbianische Presse. Und nicht nur im Filmprogramm, auch in der Jury ist Lateinamerika mit der Peruanerin Claudia Llosa hochkarätig repräsentiert, die 2006 mit ihrem Film La teta asustada den Goldenen Bären und 2012 mit dem Kurzfilm Loxoro den Teddy Award gewann.

Im Wettbewerb werden in diesem Jahr vier lateinamerikanische Filme präsentiert. Die französisch-chilenisch-spanische Produktion El botón de nácar des Regisseurs Patricio Guzmán ist ein intensiver Dokumentarfilm, der an eines der schlimmsten Kapitel der Pinochet-Diktatur erinnert, an die Verschwundenen, die über dem offenen Meer aus Flugzeugen geworfen wurden. Der Film verbindet die Verbrechen der Diktatur mit der Auslöschung der indigenen Ethnien während der Kolonialisierung und spielt auf die Perfektionierung des gleichen kriminellen Instinkts durch das Pinochet-Regime an. Ein weiterer chilenischer Film im Wettbewerb ist El Club des Regisseurs Pablo Larraín, der sich mit dem Thema Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auseinandersetzt. In einem Glaubenskonvent an der chilenischen Küste werden schwere Vorwürfe gegen einen Priester erhoben, der sich diesen durch Selbstmord entzieht. Die darauf folgenden Ermittlungen bringen unbarmherzig Widersprüche in der katholischen Kirche zum Vorschein.

Der britische Regisseur Peter Greenaway zeigt mit Eisenstein in Guanajuato eine britisch-mexikanische Produktion über die Reise des legendären sowjetischen Meisterregisseurs Sergej Eisenstein nach Mexiko, der dort über eine Filmproduktion verhandelte. Der vierte lateinamerikanische Film im Wettbewerb, Ixcanul Volcano von Jayro Bustamante, ist das Debüt Guatemalas im Wettstreit um den Goldenen Bären. Er handelt von María, einem 17-jährigen Maya-Mädchen, das am Fuß eines aktiven Vulkans in Guatemala lebt, auf seine arrangierte Heirat wartet und selbst nach Möglichkeiten sucht, dieser zu entfliehen.

Das Hauptprogramm der Sektion Panorama, die sich dem Arthouse- und Autorenkino widmet, eröffnet am 5. Februar die brasilianische Produktion Sangue Azul von Lirio Ferreira. Auf einem Inselparadies in der Südsee, gefilmt auf der Insel Fernando de Noronha vor der Küste des Bundestaats Pernambuco, werden Bruder und Schwester von der Mutter getrennt. Der 9-jährige Pedro wird von Kaleb, einem Zirkusbetreiber, Richtung Festland mitgenommen. Als er 20 Jahre später als erwachsener Mann mit dem Zirkus zurückkehrt, wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert. In der Reihe Panorama Special, die unabhängige Produktionen der US-amerikanischen Major-Studios zeigt, eröffnet am 6. Februar 600 Millas, das Erstlingswerk des Mexikaners Gabriel Ripstein, in dem ein blutjunger Waffenschieber zwischen Texas und Mexiko einen amerikanischen Sicherheitsagenten in die Finger bekommt. Diesen wieder loszuwerden, wird das Abenteuer seines Lebens.

Insgesamt ist Lateinamerika im Panorama-Programm stark vertreten: Neben dem chilenischen Regisseur Sebastián Silva, der seinen in Brooklyn spielenden Film Nasty Baby präsentiert, stellen Brasilien, mit Ausência von Chico Teixeira und Que horas ela volta? von Anna Muylaert, und Argentinien, mit Mariposa Marco Berger und El incendio von Juan Schnitman, ihre jüngsten Werke über die Untiefen menschlicher Beziehungen vor.

Auch in der Sektion Forum, dessen risikofreudige Filmauswahl sich im Grenzbereich von Kunst und Kino bewegt, bildet das junge lateinamerikanische Kino einen geografischen Schwerpunkt. Es setzt sich vordergründig mit institutioneller, politischer und familiärer Gewalt auseinander und porträtiert Menschen, die auf gesellschaftliche Umbrüche individuelle Antworten suchen. Zudem wird als Special Screening Cuatro contra el mundo von Alejandro Galindos in einer restaurierten Fassung gezeigt. Der historische Film von 1950 gilt als Prototyp des mexikanischen Film noir. Zum regulären Forumprogramm gehört der in Argentinien entstandene Spielfilm Mar der Chilenin Dominga Sotomayor, der aus der vordergründig privaten Geschichte eines jungen Paars, das im Urlaub vom Auftauchen der Mutter gestört wird, ein komplexes Gesellschaftsbild entwickelt. Der chilenische Spielfilm La mujer de barro von Sergio Castro San Martín begleitet die wortkarge María zurück an den Arbeitsort, an dem sie einst Schlimmes erlebt hat. Als sich die Geschichte zu wiederholen scheint, nimmt sie ihr Schicksal in die Hand.

Aus drei eindringlich inszenierten Episoden besteht Violencia, das Regiedebüt des Kolumbianers Jorge Forero. Ein angeketteter Gefangener mitten im Dschungel, ein Jugendlicher auf der Suche nach Beschäftigung, ein hochrangiger Offizier bei einer Miliz: ein Tag, drei Männer, drei Schauplätze. Das Bindeglied zwischen ihnen ist die allgegenwärtige Gewalt in Kolumbien. Der mexikanische Regisseur Joshua Gil erzählt in La maldad von einem alten Mann, der noch große Pläne hat. Seine Entschlossenheit führt ihn in die Stadt, wo Forderungen nach politischer Veränderung immer lauter werden.

Neben der in dieser Ausgabe rezensierten avantgardistischen Satire Brasil S/A von Marcelo Pedros wird das ebenfalls aus Brasilien stammenden Regiedebüt Beira-Mar von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher gezeigt. Ein junger Mann reist ins Ferienhaus der Familie am Meer, um eine heikle Erbangelegenheit zu klären. Behutsam erzählt der brasilianische Film von einem langen Winterwochenende, erwachender Sexualität und neuer Intimität. Der Film wird als Cross-Section-Vorführung auch im Generation Programm, der Kinder- und Jugendsektion der Berlinale, als Teil einer Auswahl von Coming-of-Age-Filmen gezeigt.

Generation zeigt außerdem zwei lateinamerikanische Filme: Den in dieser LN-Ausgabe besprochenen mexikanisch-guatemaltekischen La casa más grande del mundo von Ana V. Bojórquez und Lucía Carreras und den argentinischen El Gurí, der wie viele Filme der diesjährigen Ausgabe dieser Reihe von einem jungen Menschen handelt, der auf seinem Weg zum Erwachsenwerden eine (zu) große Verantwortung übernehmen muss.

Über die Sonderreihe NATIVe, die sich dieses Jahr explizit das indigene Kino Lateinamerikas als Fokus genommen hat, berichten wir auf den folgenden Seiten gesondert und stellen drei Filme dieser Reihe vor. Genug spannende Gelegenheiten also, sich auf der diesjährigen Berlinale mit dem lateinamerikanischen Kino zu beschäftigen.


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Kein Licht auf dem Land

Bis heute verfügen weite Teile der ländlichen, meist indigenen Bevölkerung Guatemalas über keinen Zugang zur Stromversorgung. Dabei waren die guatemaltekischen Regierungen in den letzten Jahren durchaus aktiv in der Energiepolitik. 2007 wurde das Elektrifizierungsgesetz reformiert, als Voraussetzung dafür, die nationale Energieinfrastruktur zu erweitern. Damit reagierte die Regierung vor allem auf die steigende Nachfrage der Industrie und des Bergbausektors. Im Jahr 2010 wurde das kolumbianische Unternehmen TRECSA beauftragt, die geplante Erweiterung des Stromnetzes in Guatemala zu realisieren.
Anfang 2013 zeigte sich jedoch, dass TRECSA mit dem Ausbau des Stromnetzes nicht wie geplant vorankam. Hauptgrund dafür war der Widerstand von betroffenen indigenen Gemeinden. Sie wehrten sich dagegen, ihr Land für den Stromnetzausbau zu verkaufen oder zu verpachten. Darauf reagierte die Regierung im März 2013 mit dem Erlass des Dekrets 145-2013: Das Programm zur Erweiterung des Stromnetzes und der ländlichen Stromversorgung wurde zur „nationalen Dringlichkeit“ erklärt. Sehr schnell kam von den indigenen Organisationen Kritik, dass die Bestimmungen des Dekrets effektiv das Recht auf Privatbesitz und kollektiven Besitz aushebeln würde. Tatsächlich beklagen sie, dass seit dem Erlass immer wieder Plünderungen und Übergriffe der Regierung und der Energieunternehmen auf kommunales Land und dessen natürliche Ressourcen stattfinden würden.
Besonders betroffen ist der Norden des Departements Quiché, wo das Militär in den 1980er Jahren zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübte. Hier sind mehrere Wasserkraftwerke und staatseigene Starkstromleitungen geplant, um den umliegenden Bergbaukonzernen, die für das Land Konzessionen erhalten haben, Strom für die Ausbeutung der Mineralien zu liefern. Diese Projekte dienen offiziell der Entwicklung der armen Gemeinden, doch davon ist bisher wenig zu sehen. Auf einem Treffen mit Repräsentant*innen der Firma TRECSA velangte daher ein junger Ixil Maya, dass sie der Gemeinde mehr als Almosen wie ein paar Wellbleche anbieten müssten, um das Wegerecht für ihre Starkstromleitungen durch ihr Land zu erhalten. So würden sie auch wirklich etwas zur Entwicklung beitragen und nicht nur davon reden. Tatsächlich spricht wenig dafür, dass die Gemeinden den zugesagten Strom von den Wasserkraftwerken und TRECSA, das ausschließlich für den Transport des Stroms zuständig ist, bekommen werden. Ein Beispiel für die unerfüllten Versprechen ist im Verwaltungsbezirk Chajul zu finden, in dessen Gebiet das Wasserkraftwerk Xacbal seit drei Jahren Strom erzeugt: Obwohl den naheliegenden Gemeinden Licht versprochen worden war, sind bis heute 80 Prozent von ihnen ohne Strom geblieben.
Die betroffenen Gemeinden in Quiché belassen es nicht bei passiven Forderungen. Unter dem Motto „Wenn das ganze Volk aufsteht, wird das Land erzittern“, haben sie sich organisiert, um sich über die Elektrifizierungspläne des Landes zu informieren und auszutauschen. In einer Versammlung konnten die Gemeinderepräsentant*innen ergründen, dass die Mehrheit der Gemeinden dem Unternehmen TRECSA kein Wegerecht erteilt oder Land verkauft hat. Zudem stellte sich heraus, dass es mehrere Einschüchterungs- und Verleumdungsversuche seitens des Unternehmens gegeben hatte, um die einzelnen Gemeinden zur Landvergabe zu bewegen. So hätten TRESCA-Repräsentant*innen gegenüber Einzelgemeinden fälschlicherweise behauptet, dass die Nachbargemeinden ihnen schon ein Wegerecht erteilt hätten und sie sich als einzige fehlende Gemeinde der nationalen Entwicklung und dem Wohlstand des Landes entgegenstellen würden. Einige andere Gemeinden hingegen sahen sich politisch und sozial gespalten, da sie Wegerechte erteilt hatten oder weil vereinzelt Land verkauft worden war. Verschiedene Bäuerinnen und Bauern sehen ihr Land für die Subsistenzwirtschaft in Gefahr: „Wo sollen wir unseren Mais pflanzen, wenn die Starkstromleitung genau durch unser Feld führt?“
Am 13. November 2013 reichten 27 Gemeinden aus elf Regionen eine Verfassungsklage gegen das Dekret 145-2013 ein, da es das Recht auf Privatbesitz und kollektiven Besitz aushebele. Auch sei das Dekret unter Umgehung des Parlaments ausschließlich vom Präsidenten und dem Ministerrat erlassen worden, was ein Verstoß gegen die in der Verfassung verankerten Prinzipien der Gewaltenteilung darstelle. Des Weiteren sei vor der Ausarbeitung des Dekrets die Konsultationspflicht gemäß der ILO-Konvention 169 verletzt worden, die von Guatemala 1996 ratifiziert wurde. Dieses besagt, dass die betroffenen indigenen Gemeinden durch geeignete Verfahren und insbesondere durch ihre repräsentativen Einrichtungen immer dann zu konsultieren sind, wenn gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie betreffen könnten, erwogen werden.
Immer mehr Teile der ländlichen Bevölkerung wehren sich gegen die Verletzung ihrer Grundrechte auf Information, Konsultation und Einbezug in die nationalen und lokalen Entwicklungspläne. Seit 2005 wurden in beinahe 80 Gemeinden Befragungen durchgeführt, um die Zustimmung der Bevölkerung zu Bergbau-, Strom- und anderen Megaprojekten zu erfassen. In den meisten Gemeinden haben über 90 Prozent der Bevölkerung die Durchführung solcher Megaprojekte abgelehnt.
Die gualtematekische Regierung zeigt allerdings kein Entgegenkommen. Im Gegenteil: Da der Stromnetzausbau aufgrund des Widerstands weiterhin nicht richtig vorankommt, wird derzeit im Parlament über die Vorlage zu einem Gesetz zum obligatorischen Nutzungsrecht beraten. Für den Ausbau des Stromnetzes würde das die Möglichkeit schaffen, Land, das sich im Privat- und Kollektivbesitz befindet, auch gegen den Willen seiner Besitzer*innen zu nutzen. Dies käme einer faktischen Enteignung und Verletzung der Gemeindeautonomie gleich.


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Wegweiser zur kulturellen Integration Mittelamerikas

Mittelamerika liegt da, wo Ramiro schaukelnd auf seinem Stuhl vor dem Fernseher sitzt und seine Vergangenheit vergisst. Eine Vergangenheit, die darin bestand, die sogenannten Subversiven zu töten. Jetzt ist in Ramiros Kopf nur noch nebliger, leerer Dunst. Schützt Vergessen vor Verantwortung? Mittelamerika liegt auch da, wo ein Präsident an der Zerrissenheit und Korruption in seinem Land verzweifelt. Die Vision: Er legt einen Dachgarten an und die ganze Hauptstadt tut es ihm nach. Lassen sich so die gegenwärtigen Probleme der korruptionszerfressenen Regierung lösen?
Für die Anthologie Zwischen Süd und Nord haben sich sechs mittelamerikanische Verlage zusammengeschlossen und unter der Leitung des bekannten nicaraguanischen Schriftstellers Sergio Ramírez Kurzgeschichten zusammengetragen. Es sind 26 kurze und eindringliche Geschichten aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica, Panama und – aufgrund der kulturellen Nähe – aus der Dominikanischen Republik.
Trotz der gemeinsamen Vergangenheit der Länder stehen einer engeren Kooperation, beispielsweise im Literaturbetrieb, Hindernisse wie absurde Zollschranken im Weg. Der Erzählband Zwischen Süd und Nord hat für Ramírez, einst hochrangiger sandinistischen Politiker, als eines der ersten Gemeinschaftsprojekte des Verlagszusammenschlusses GEICA hohen Stellenwert: Es soll einen Beitrag zur kulturellen Integration leisten. Die einzelnen Geschichten verknüpfen Fiktives mit aktuellen, drängenden Problemen. Dabei geht es nicht um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, sondern um das, was sie vereint. Im Vorwort beschreibt Ramírez, warum die Sammlung auf Spanisch Espejo roto („Zerbrochener Spiegel“) heißt: Am wichtigsten sei nicht die Poetik der Texte, sondern die Realität. Und die ist zerbrochen.
Die Erzählungen, kleinen Spiegelscherben gleich, schaffen ein einzigartiges Panorama der schmalen Länderbrücke, das sowohl die Fragilität ihrer Bewohner_innen als auch die sozialen und politischen Anormalitäten offenbart. Hinter den Geschichten verbergen sich Poet_innen, „literarische Geheimtipps“ und preisgekrönte Schriftsteller_innen der jüngeren Generation. Es gelingt ihnen die Lesenden mit lebendigen Figuren in die kurzen Handlungen zu locken. Dagegen ist auffallend, dass keine der letzten vier Geschichten aus der Dominikanischen Republik überzeugt. Die Inhalte sind eher flach und lassen sich nur schwer in Mittelamerika verorten, weshalb der Miteinbezug des Karibikstaates konstruiert wirkt. Darüber lässt sich jedoch bei der Vielfalt der Geschichten hinwegsehen. Insgesamt sind bei einer Anthologie, die in einer überraschenden Mischung verschiedenste Stile vereint, polarisierende Geschmacksurteile wohl unvermeidbar. Im Anhang können die Lesenden diejenigen Autor_innen suchen, die sie begeistert haben und stoßen auf spannende weitere Anthologien und literarische Blogs.
Für Ramírez ist und bleibt Literatur „ein Reflex der Wirklichkeit, die sich als eine Bühne zeigt, auf der sich Überraschendes ereignet.“ Es geht den Autor_innen um nicht weniger, als ihre verlorene Identität wiederzufinden. Literarische Verarbeitung ist sicher ein Mittel, um einzelne Scherben aufzulesen und ins Licht zu halten: Ein Scherbenmeer ist die von Gewalt durchzogene Vergangenheit Mittelamerikas, scharfkantige Scherben sind auch die Abgründe der Gegenwart. In Zwischen Süd und Nord werden im zusammengesetzten Spiegel die Risse sichtbar.


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Verhagelte Ernte

Monsanto ist der Gigant unter den Konzernen, die gentechnisch verändertes Saatgut produzieren. Das 1901 gegründete US-Agrarunternehmen mit Niederlassungen in 61 Ländern kontrolliert 80 Prozent des Markts, den Rest teilen sich Bayer, Syngenta und DuPont. Monsanto verkauft unter anderem Breitbandherbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat sowie transgene Maissorten und nutzt Biotechnologie zur Erzeugung gentechnisch veränderter Feldfrüchte.
Der enorme Einfluss Monsantos spiegelt sich auch in der legislativen Praxis wider, ganze Gesetze werden dem Großkonzern buchstäblich auf den Leib geschneidert und nach ihm benannt. So zuletzt in Guatemala, als am 26. Juni 2014 das „Ley Monsanto“ als Dekret 19-2014 im Amtsblattveröffentlicht wurde und somit in Kraft trat. Zuvor hatte der guatemaltekische Kongress der Gesetzesvorlage zugestimmt.
In der Folge kam es zu massiven Protesten von großen Teilen der Bevölkerung – mit Erfolg. Bereits Anfang September kippte der Kongress das Gesetz wieder; 117 der 158 guatemaltekischen Abgeordneten stimmten für eine Aufhebung des Gesetzes.
Die überwiegend kleinbäuerlich geprägte Gesellschaft Guatemalas hat allen Grund für ihre Ablehnung. Denn Monsanto nimmt genetische Änderungen an einheimischen Samen vor und meldet anschließend ein Patent für dieselben an. Auf Grundlage des „Ley Monsanto“ wäre der Konzern berechtigt, somit alljährlich Geld von guatemaltekischen Bauern und Bäuerinnen zu verlangen – auch wenn es sich nicht um Hybridsorten handelt und das Saatgut nicht jährlich neu gekauft werden muss, sondern vermehrt werden kann.
Gerechtfertigt wurde das nun gekippte Gesetz von Regierungsseite mit dem Schutz von Pflanzensorten. Dabei war die Verabschiedung des „Ley Monsanto“ mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen den USA, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik (DR-CAFTA) schlichtweg vertraglich festgelegt, es war gar eine Vorbedingung der US-Regierung für dessen Zustandekommnen.
DR-CAFTA nimmt niedrige Arbeits- und Umweltstandards billigend in Kauf und bedroht die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Zentralamerika vor allem mittels durch Subventionen verbilligte US-Exporte. Der „Schutz“ von Samen und Pflanzen schützt nicht die Interessen der Kleinbauern und -bäuerinnen. Gesetze wie das „Ley Monsanto“ flexibilisieren die Aussaatregistrierung und erlauben Konzernen, sich das Saatgut anzueignen.
Zudem gefährden oder verhindern derartige Beschlüsse durch die vertraglich festgelegte Ab­hängigkeit von Großunternehmen die Ernährungssouveränität der betroffenen Staaten. Durch die Kontrollmöglichkeiten der Konzerne werden Kleinbauern und -bäuerinnen abhängig von Monsanto und Co. Wer nicht zahlt, muss mit hohen Geld- oder sogar Freiheitsstrafen rechnen. Der Saatgutmarkt wird mehr und mehr monopolisiert, der Politik werden zunehmend Spielräume und Einflussmöglichkeiten entzogen.
Oder die amtierenden Politiker_innen übernehmen das gleich selbst, am besten, wenn sie die Bevölkerung abgelenkt glaubt: Nicht zufällig wurde das „Ley Monsanto“ in Guatemala während der Fußball-WM verabschiedet – Aufmerksamkeit erregte es trotzdem. Über soziale Netzwerke verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und brachte eine massive Protestwelle ins Rollen, wie es sie nicht nur in Guatemala auch schon während der Verhandlungen des CAFTA-Abkommens gegeben hatte.
Die Unterzeichnung des DR-CAFTA-Abkommens im Jahr 2005 ist eine Konsequenz des Scheiterns von FTAA. Unter diesem Namen hatten vornehmlich die USA versucht, ein Freihandelsabkommen voranzutreiben, das alle 34 Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika sowie in der Karibik (mit Ausnahme Kubas) umfassen sollte. DR-CAFTA verpflichtet die Staaten Mittelamerikas sowie die Dominikanische Republik, bis 2015 alle Importhürden für US-Waren abzubauen und garantiert US-Unternehmen so den uneingeschränkten Zugang zum mittelamerikanischen Markt. Umgekehrt erhalten Waren aus Zentralamerika besseren Zugang zum US-Markt.
DR-CAFTA reiht sich dabei ein in eine lange Liste bi- und multilateraler Freihandelsabkommen, die seit dem Patt innerhalb der Welthandelsorganisation WTO nach der Konferenz in Hongkong 2005 abgeschlossen wurden und werden. Aktuellste Beispiele dafür sind die jüngst abgeschlossenen Verhandlungen zu CETA zwischen der EU und Kanada sowie die derzeitigen Verhandlungen zu TTIP zwischen den USA und der EU.
Mit ihrer Ablehnung von rein kaptitalfreundlichen Gesetzen wie dem „Ley Monanto“ und Freihandelsabkommen zwischen ungleichen Partnern steht die guatemaltekische Bevölkerung nicht allein – im Gegenteil. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten gab und gibt es massiven Protest und Widerstand gegen die jeweilige nationale Variante des Monsanto-Gesetzes und entsprechenden Freihandelsabkommen. Mit der jetzigen Aufhebung des „Ley Monsanto“ in Guatemala – und dem damit verbundenen Vetragsbruch von DR-CAFTA – ist allerdings ein Präzedenzfall geschaffen worden, dessen Auswirkungen derzeit noch kaum abzuschätzen sind.


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