Ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung

Das Ambiente im gefüllten Saal des Nationaltheaters ist angespannt. Als „geeigneten Tag, um über schwierige Themen zu sprechen“ bezeichnet Carlos Batzín, Minister für Kultur und Sport, die Eröffnung des Filmfestivals „Erinnerung. Wahrheit. Gerechtigkeit.“ am 18. April 2013. Doch an diesem Tag wollen die Worte nicht ganz zur Realität passen. Wenige Stunden zuvor hatte die Richterin Carol Patricia Flores geurteilt, der Prozess wegen Völkermords gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt sowie seinen Geheimdienstchef Mauricio Rodríguez Sánchez müsse auf den Stand des 23. Novembers 2011 zurückgesetzt werden (siehe LN 467). Ein spezieller Tag also für den Start eines Festivals „gegen das Vergessen“, wie es Initiator Uli Stelzner in seiner Eröffnungsrede benennt. Als sich Batzín schließlich als Repräsentant des aktuellen Präsidenten und Ex-Generals Otto Pérez Molina darstellt, kocht der Unmut des Tages über. „Genocida“ („Volksmörder“), schallt es ihm von den 2.000 Plätzen entgegen. Der Minister muss sein Grußwort unterbrechen.
Schon Tage zuvor waren die kostenlosen Eintrittskarten für die Eröffnung des Dokumentarfilmfestivals komplett vergriffen. Die internationale Premiere des US-amerikanischen Films Goldfever zog die Hauptstädter_innen an. Doch neben ihnen sitzen im Saal auch über 100 Einwohner_innen von San Miguel Ixtahuacán, Protagonist_innen des Films über die Folgen der offenen Tagebaumine „Mina Marli“ und den Protest der Gemeinde gegen den kanadischen Betreiber, die Goldcorp Inc. Die Produzent_innen von Goldfever hatten ihre Anreise organisiert. Unter diesen Umständen einen Film zu zeigen, der die Repression der Gemeinde durch die Minenbetreiber und die Komplizenschaft des guatemaltekischen Staates klar darstellt, wäre für sich schon ein bedeutendes Ereignis gewesen. Die Entscheidungen des Tages im Prozess gegen Ríos Montt gaben der Eröffnung aber noch eine ganz andere Dimension. „Mit Sicherheit die emotionalste Vorführung, die wir mit diesem Film je haben werden“, fasst JT Haines, einer der Produzenten, den Abend zusammen. Das Festival hat gerade erst angefangen.
Seit 2010 existiert die Veranstaltungsreihe, initiiert von dem deutschen Dokumentarfilmer Uli Stelzner. Immer schon waren die Filmvorführungen kontrovers – einen Ort für kritisches Kino in Guatemala zu schaffen, war anfangs nicht leicht. Mit Stelzners Film La Isla über das Archiv der Nationalpolizei und weiteren Dokumentationen über die Zeit der Militärdiktatur, inklusive Bildern Otto Pérez Molinas in Gefechtszonen, fand die erste Auflage des Festivals während der Wahlkampfzeit 2010 unter Sabotageakten und einer Bombendrohung statt (siehe LN 449, 456). „Für unsere Arbeit waren die Zeiten hier nie günstig“, erklärt Stelzner in einem Interview mit guatemaltekischen Videoaktivist_innen. Dennoch hat sich das Festival konsequent weiterentwickelt und vergrößert. Dieses Jahr stehen an zehn Tagen 28 Filme samt Diskussionsforen auf dem Programm – Eintritt frei.
Wieder ein gefüllter Saal: dieses Mal im alteingesessenen Cine Capitol im Zentrum der Stadt. Im Publikum sitzen Klassen verschiedener Schulen, öffentliche als auch private, auf der Leinwand Bilder aus der Zeit der Diktatur und des Archivs der Nationalpolizei. Im Rahmen der Kategorie „15+“, ausschließlich an Schüler_innen gerichtet, wird La Isla gezeigt. Während des gesamten Festivals sind wochentags die Vormittage den Schulen vorbehalten. „Die Jugendlichen wissen praktisch nichts über diese Zeit und in den Schulen wird ihnen darüber nichts beigebracht“, verdeutlicht Stelzner die Notwendigkeit der Kategorie. Das anschließende Diskussionsforum gibt ihm Recht. Ein Kommentar aus dem Publikum: „Ríos Montt wurde ja wegen Völkermords angeklagt – ich denke, das hätte man nicht tun sollen. Völkermord bedeutet ja die Auslöschung einer Rasse oder eines bestimmten Volkes, aber es existieren ja noch indigene Gemeinden, die immer noch leben…“ Viel Aufklärungsarbeit wartet an diesem Morgen auf die Moderator_innen des Forums. Dass die Schüler_innen an diesem Vormittag die Möglichkeit haben, sich näher mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, ist keinesfalls einfach zu erreichen. Den Vorstellungen geht eine intensive Überzeugungsarbeit voraus. „Die Verantwortlichen in den Schulen erschrecken sich, wenn sie die Themen der Filme sehen, zu denen wir einladen“, bemerkt Stelzner.
Mehr als 200.000 Opfer des internen Konfliktes von 1960 bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages 1996, der Genozid an der indigenen Bevölkerung der Ixil anfang der 1980er Jahre – in Guatemala über Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit zu sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Zwar herrscht seit 1996 offiziell „Frieden“, doch auch aktuell gibt es zahlreiche Konflikte im Land. Industrielle Megaprojekte, wie die „Mina Marli“ in San Miguel Ixtahuacán verursachen massive Umweltschäden und vertreiben die ansässigen Menschen von ihrem Land. Widerstand ist und bleibt gefährlich. Allein in der Zeit vom 28. Februar bis zum 17. März dieses Jahres, wurden laut dem Forum internationaler Nichtregierungsorganisationen in Guatemala (FONGI) insgesamt fünf Aktivist_innen ermordet, weitere entführt und gefoltert. Einer der Ermordeten ist der Regierungssekretär der indigenen Gemeinde Xinca, Exaltación Marcos Ucelo. Ihm war bei der Rückreise von der Befragung des Dorfes El Volcancito zu einem Minenprojekt in San Rafael de las Flores aufgelauert worden. Die Gemeinde hatte mit 99,2 Prozent gegen die Mine gestimmt.
„Was wollen wir? Gerechtigkeit! Wir alle sind? Ixil!“, tönt es am Nachmittag durch den Kinosaal des Cine Capitol. Gerade endete der ecuadorianische Film Con mi corazón en Yambo („Mit meinem Herz im Yambosee“) von María Fernanda Restrepo. Restrepo, deren zwei ältere Brüder 1988 von der Polizei entführt und ermordet wurden, dokumentiert in dem Film den Kampf ihrer Familie für Gerechtigkeit. Szenen zeigen das Aufeinandertreffen María Restrepos mit den mutmaßlichen Mördern ihrer Brüder, die ihre Taten bis heute abstreiten; andere ihren Vater, wie er jeden Mittwoch öffentlich protestiert. „Man weiß, wann der Kampf beginnt, aber nicht, wann er endet“, erzählt der heute fast 70jährige. Der Einblick in den unnachgiebigen Kampf der Familie bewegt das Publikum. Am Ende gibt es Standing Ovations für die anwesende Regisseurin, gefolgt von den Rufen nach Gerechtigkeit in Guatemala. Im anschließenden Gespräch mit Restrepo erzählt eine Frau unter Tränen von ihren Erfahrungen mit polizeilicher Repression in Guatemala. Der nächste Wortbeitrag ist der Aufruf zu einer Demonstration am nächsten Tag vor dem Verfassungsgericht für die Fortsetzung des Prozesses gegen Ríos Montt sowie in Erinnerung an Juan Gerardi. Der Bischof hatte den ersten Wahrheitsbericht „Guatemala: Nunca más“ koordiniert und war zwei Tage nach dessen Präsentation im April 1998 ermordet worden. María Restrepo begrüßt den Aufruf: „Wenn wir uns an die Angst gewöhnen, steht es sehr schlecht um unsere Gesellschaft.“
Con mi corazón en Yambo ist nicht der einzige Film, der emotionale Debatten im Kinosaal auslöst. Das Festival bietet neben den Eindrücken aus aller Welt die Möglichkeit, sich auszutauschen, gemeinsam zu protestieren, gemeinsam die Angst der guatemaltekischen Vergangenheit anzugreifen. Stets sind die Vorstellungen gut besucht, die Filme ziehen ein Publikum aller Altersklassen an. Neben der Kategorie „Visuelle Erinnerung Guatemala“ stehen Filme über „Krise und Migration“, „Erinnerung und Frau“, „Arabischer Frühling“ sowie „Weltpanorama“ auf dem Programm. Am Ende des Festivals haben mehr als 10.000 Zuschauer_innen die Filmvorstellungen besucht, der Andrang überstieg teils die Kapazitäten des Kinos. Für die Organisator_innen ein Zeichen der steigenden Wichtigkeit des Festivals und Ansporn, neue Herausforderungen anzugehen. So soll nächstes Jahr eventuell ein neuer Veranstaltungsort gesucht werden, um mehr Menschen das Kommen zu ermöglichen. Außerdem gibt es Pläne, die Filme auch außerhalb Guatemala-Stadts zu zeigen. Das Festival ins Inland Guatemalas zu bringen, bedeutet mehr als zuvor die Repression dort aufzuzeigen, wo sie sich am stärksten manifestiert. Bei der aktuellen Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Land ist dies keine leichte Aufgabe. Gleichzeitig ist diese Entwicklung aber auch Motivation: „Guatemala ist dabei sich wieder zu polarisieren. Grund dafür ist das Fehlen von Erinnerung, von Bewusstsein, im weiterem Sinne von Identität“, betont Uli Stelzner. Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit – immer wieder wird in den zehn Tagen des Festivals die Dimension dieser Begriffe deutlich. Nachdem ein Besucher den Anwesenden eines Diskussionsforums von der Entführung seines Vaters während seiner Kindheit erzählt hat, fügt er hinzu: „Die einzige Reparation dafür ist Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit kann es keine Versöhnung geben!“ In den letzten Tagen hat sich gezeigt, wie diese Frage in den höchsten Sphären des guatemaltekischen Staates behandelt wird: Zwar konnte das Verfahren fortgesetzt werden, doch nur neun Tage nach der Verurteilung Efraín Ríos Montts zu 80 Jahren Haft wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde das Verfahren am 20. Mai durch das Verfassungsgericht annulliert. Vor diesem Hintergrund ist die Konsolidierung eines kritischen Filmfestivals, das Räume für Debatten und gemeinsames Erinnern schafft, ein unermesslicher Erfolg.

// Blutig erkaufter Fortschritt

Sie sollen dem Fortschritt nicht im Weg stehen. „Die Regierung kann und wird nicht irrealen, ideologischen Projekten von Minderheiten zustimmen“, erklärte Gleisi Hoffmann, Kabinettschefin der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff, Anfang Mai. Die gemeinten Minderheiten sind Indigene, die „irreale, ideologische Forderung“ ist die Demarkierung ihrer Territorien. Statt der nationalen Stiftung für Indigene FUNAI soll nun die staatliche Forschungsbehörde für Landwirtschaft EMBRAPA die Demarkierung übernehmen. Ein besseres Beispiel für „den Bock zum Gärtner machen“ gibt es kaum. Die EMBRAPA ist die Behörde, welche die grüne Revolution nach Brasilien gebracht hat, mit der das Land zum landwirtschaftlichen Giganten wurde. Im Zweifel werden sie immer für die Landwirtschaft und gegen die Demarkation als indigenes Gebiet urteilen.
Die grüne Revolution in Brasilien gilt immer noch als Erfolgsgeschichte. Seit der Silvesternacht 1938, als der damalige Präsident Getúlio Vargas den „Marsch nach Westen“ ankündigte, wurden riesige Gebiete im brasilianischen Westen und Norden für die Landwirtschaft erschlossen. Heute ist Brasilien einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt und führend in der Entwicklung von neuen Agrartechnologien. Weltweit wollen andere Länder diese Entwicklung nachahmen.

Dass die grüne Revolution in Brasilien auch ihre Schattenseiten hatte, ist allgemein bekannt, doch welche Verbrechen genau begangen wurden, war kaum zu belegen. Dies hat sich nun geändert. Im April ist ein verloren geglaubter Bericht wieder aufgetaucht, der viele Verbrechen minuziös dokumentiert. Der Figueiredo-Report ist im Archiv des Indigenenmuseums in Rio de Janeiro wieder gefunden worden. Im Auftrag des Innenministers legte der Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia Ende der 1960er Jahre 16.000 km zurück und besuchte über 130 Stationen der damaligen „Indianerschutzbehörde“ SPI. Was er und seine Mitarbeiter_innen auf über 7.000 Seiten zusammentrugen, schockierte die Welt. Figueiredo sammelte Berichte von systematischer Folterung von Indigenen, durch Farmer oder Angestellte der SPI. Die Indigenen galten im brasilianischen wilden Westen und Norden nicht als vollwertige Menschen, sie wurden auf oft bestialische Art erniedrigt und versklavt.

Die Gewalt gegen Indigene war aber nicht nur Willkür, sondern auch zielgerichtet. Angestellte der SPI verkauften mit Strychnin vergifteten Zucker an Indigene und verteilten mit Pocken verseuchte Kleidung. Die Indigenen sollten nur schnell verschwinden, egal wie, egal wohin. Es sollte freies Land entstehen für die Landwirtschaft. Dass dabei ganze indigene Ethnien komplett verschwanden, wurde billigend in Kauf genommen.
Als der Report 1968 bekannt wurde, erregte er weltweit Aufsehen. Die SPI wurde aufgelöst und durch die FUNAI ersetzt. Doch bevor wirkliche Konsequenzen gezogen werden konnten, verschwand der Bericht. Angeblich fiel er einem Feuer zum Opfer; ein offenes Geheimnis, dass die damalige Militärdiktatur das Dokument verschwinden ließ. Die Expansion der Landwirtschaft ging ungestört weiter und auch die neue FUNAI legte den Farmern kaum Steine in den Weg.

Nun ist der Figueiredo-Report wieder da und gibt beredtes Zeugnis von dem Genozid, den das „grüne Wirtschaftswunder“ in Brasilien auch bedeutete. Notwendig ist, dass daraus juristische Konsequenzen gezogen werden. Dass Indigenen, die gewaltsam vertrieben wurden, ihr Land zurückgegeben wird. Dass die Verantwortlichen für den Genozid vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden, wie es in Guatemala – trotz aller aktuellen Rückschläge – mit dem Ex-Diktator Ríos Montt geschieht. Noch wichtiger wäre es, den Report zum Anlass zu nehmen, um in der Agrarpolitik umzudenken, und die Interessen von Menschen und Umwelt ins Zentrum zu stellen und nicht die Profite der Industrie. Von alledem passiert nichts in Brasilien. Doch die Erinnerung bleibt und der Figueiredo-Report zeigt, dass die Ordnung und der Fortschritt in der brasilianischen Flagge mit Blut erkauft wurden.

„Er war ein schlechter Mensch“

Ein recht betagter Massenmörder stirbt während der Verbüßung einer Haftstrafe an Altersschwäche in einem Gefängnis in Buenos Aires. So what? – möchte man fragen. Der ehemalige Militärdiktator Jorge Rafael Videla verschied am 17. Mai 2013 im Alter von 87 Jahren in der Haftanstalt von Marcos Paz. Auch nach seinem Tod vermag diese Person außer höchster Verachtung kaum menschliche Gefühle bei mir zu wecken.
Das Ereignis seines Todes hingegen hat uns, die wir uns seit langem mit der diktatorischen Vergangenheit Argentiniens beschäftigen, bewegt. Er war nach dem Tod von Emilio Massera und Orlando Agosti das letzte lebende Mitglied der Militärjunta, die am 24. März 1976 die Macht ergriff und auf unvorstellbar brutale Weise ausübte. Doch nie war er als Person so bekannt und verhasst wie sein chilenischer Verbrecherkollege Augusto Pinochet, dessen hässliches Gesicht weltweit für die Epoche der Militärdiktaturen im Süden Amerikas stand. Pinochet stürzte den Präsidenten Salvador Allende, die Hoffnung der demokratischen Sozialisten auf der ganzen Welt; der erste Militärputsch in der Geschichte Chiles und die unmittelbar einsetzende Repression, die Verhaftung von Regimegegner_innen, die Bilder von den Straßen Santiagos und aus dem Nationalstadion fanden weltweite Aufmerksamkeit. Auch als es dann viele Jahre später möglich wurde, die Diktatoren vor Gericht zu stellen, wurde Pinochet das Symbol dafür – dieses Mal ein Symbol für den menschenrechtlichen Aufbruch – als er am 16. Oktober 1998 in London verhaftet wurde. Beim Tode Pinochets wurde dann allerdings kritisch von vielen Medien vermerkt, dass er nie für seine Verbrechen verurteilt worden war.
Das war entschieden anders bei Videla: Zwar waren die Verbrechen seiner Junta in der Welt weniger bekannt, doch relativ bald nach der 1983 erfolgten Wahl von Raúl Alfonsín zum Präsidenten veröffentlichte die CONADEP-Wahrheitskommission unter Leitung des Schriftsellers Ernesto Sabado ihren Bericht „Nie Wieder“ (Nunca Más). Die argentinischen Militärs hatten ein das ganze Land abdeckendes System geheimer Haft- und Folterlager installiert und ließen 30.000 Menschen verschwinden. Vor einem zivilen Bundesgericht in Buenos Aires fand ein Strafprozess gegen neun ehemalige Mitglieder der Militärjunta statt, unter ihnen Videla. Am 5. Dezember 1985 wurden Videla und Massera zu lebenslanger Haft verurteilt, das Oberste Gericht Argentiniens bestätigte diese Strafe am 30. Dezember 1986. Wenig später begann aufgrund des massiven Drucks der nach wie vor starken Militärs die Zeit der Straflosigkeit der Diktaturverbrechen mit den beiden Gesetzen zum „Schlusspunkt“ (24. Dezember 1986) und über den „erzwungenen Gehorsam“ (8. Juni 1987). 1990 begnadigte Präsident Carlos Menem Videla und die anderen verurteilten Militärs. Der Junta-Prozess und sein Nachspiel wurde zum Teil heftig kritisiert. So bezeichnete der Strafrechtsprofessor Marcelo Sancinetti ihn als „Vortäuschung einer effektiven Strafverfolgung“ und reklamierte, dass die Regierung Alfonsín keine allgemeine Verantwortung der Streitkräfte für die Menschenrechtsverletzungen feststellen, sondern lediglich einer Gruppe von Männern die gesamte Schuld zuschieben wollte.
Doch es blieb nicht bei diesem gescheiterten Versuch der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen Videlas und seiner Waffenbrüder. Die Madres de Plaza de Mayo und andere Angehörigen-Gruppen skandalisierten über zwei Jahrzehnte die fehlende Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und gingen auch juristisch gegen das Ausbleiben einer umfassenden Sanktionierung der Verbrechen der Militärs vor. So nutzten die Opfer und ihre Anwälte eine rechtliche Lücke in den Amnestiegesetzen und Videla wurde 1998 vorübergehend erneut inhaftiert und später unter Hausarrest gestellt – wegen des systematischen Raubes von Kindern von Oppositionellen während der Diktatur. Zur gleichen Zeit strengten Familienangehörige und Überlebende der Folterhaft zahlreiche Strafanzeigen in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland an, um von Europa aus die Straflosigkeit zu bekämpfen.
In Deutschland fand sich 1998 ein Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen, unter anderem das FDCL, unter dem Namen „Koalition gegen Straflosigkeit. Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen“ zusammen und betrieb – erstmalig im Bundesgebiet – Strafverfahren gegen knapp 90 ehemalige argentinische Militärs. In den beiden bekanntesten Fällen der ermordeten deutschen Staatsbürger Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank ergingen zunächst Haftbefehle des Amtsgericht Nürnberg wegen Mordes in mittelbarer Täterschaft kraft Organisationsherrschaft – einer juristischen Kategorie, die es ermöglichte das strafrechtliche Unrecht nicht nur den unmittelbaren Tätern, sondern den höchsten Verantwortlichen des Unrechtssystems zuzurechnen. Die Bundesregierung beantragte 2004 offiziell die Auslieferung Videlas und Masseras für die Morde. Auch wenn die Auslieferung in letzter Instanz von den Gerichten Argentiniens abgelehnt wurde, trug der von Europa erzeugte Druck neben den unaufhörlichen Bemühungen der argentinischen Menschenrechtsbewegung maßgeblich dazu bei, dass unter Präsident Nestor Kirchner die Straflosigkeitsgesetze aufgehoben wurden. Damit wurde ab 2005/2006 der Weg frei für eine Welle von hunderten Strafverfahren gegen die Hauptverantwortlichen der Militärdiktaturen.
Jorge Rafael Videla musste deswegen seine letzten Lebensjahre als Angeklagter vor Gericht, meistens unter Hausarrest und zuletzt in Haft verbringen. Das Großverfahren wegen systematischen Kindesraubes endete im Juli 2012 mit einer Verurteilung zu fünfzig Jahren Haft durch das Bundesgericht in Buenos Aires – sicherlich bei allen Verdiensten ein großes Manko der argentinischen Justiz, dass es so lange gedauert hat, bis das Urteil erging.
Zuletzt stand Videla in einem weiteren Großverfahren wegen der im Rahmen der Operation Condor verübten Straftaten vor Gericht. Nicht nur in diesem Prozess bedauerten es die Nebenkläger_innen und ihre Anwälte, dass der Angeklagte verstarb, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommen konnte. Auch die Familie Käsemann ist durch den Tod Videlas betroffen, hatte sie sich doch als Nebenklägerin in einem Prozess wegen der Ermordung von Elisabeth Käsemann gemeldet und war vom Gericht zugelassen worden. Doch kam es bis jetzt zu keiner mündlichen Verhandlung.
Videla selbst hatte sich bis zum Schluss als politischen Gefangenen gesehen und vollkommen uneinsichtig gezeigt. In mehreren Erklärungen vor Gericht und in Interviews rechtfertigte er die Verbrechen unter seiner Herrschaft. Der Kampf gegen die Subversion habe die Beseitigung auch einer großen Anzahl von Menschen notwendig gemacht. Wusste er sich in den ersten Monaten seiner Junta noch einig mit vielen westlichen Regierungen, denen die antikommunistische Ideologie des kalten Krieges und die Bekämpfung sozialrevolutionärer, aber auch demokratisch-sozialistischer Bewegungen über die Bewahrung von Demokratie und Menschenrechten ging, hatte er zuletzt keine Unterstützung mehr erfahren. Zu seinem Tode erschienen allenfalls persönliche Anzeigen, politische Rechtfertigungen der massiven Menschenrechtsverletzungen waren jedoch in einer breiteren Öffentlichkeit nicht zu vernehmen.
Dies ist auch ein kleiner Erfolg der zahlreichen juristischen Verfahren. Durch die Berichterstattung über die Prozesse wurde das Thema auf der Tagesordnung gehalten, natürlich auch weil die Regierungen Kirchner sich politischen Rückenwind davon versprachen. Wichtige Sektoren der argentinischen Gesellschaft wie Schriftsteller, Künstler und Filmemacher, Teile der Universitäten und Gewerkschaften griffen die in den Gerichten produzierten Fakten auf und verarbeiteten sie – ein bis heute andauernder Prozess. Schon seit Jahren diskutieren Autor_innen und Menschenrechtsorganisationen die Schuld aller beziehungsweise großer Teile der argentinischen Gesellschaft. Nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern von der zivil-militärischen Diktatur wird gesprochen, um die – auch strafrechtliche – Verantwortung von zivilen Akteuren wie Beamt_innen und Justizangehörigen und weiter Bereiche der Wirtschaft zu betonen. Wichtige Strafverfahren gegen Manager_innen des argentinischen Agro-Unternehmens Ledesma und die Eigner_innen der Minas Aguilar in der Nordprovinz Jujuy wurden eröffnet; im März 2013 mussten frühere Manager_innen von Ford vor Gericht erscheinen. Währenddessen hoffen die Angehörigen der 16 verschwundene Gewerkschafter_innen bei Mercedes Benz in der Provinz Buenos Aires auf einen positiven Ausgang ihrer Entschädigungsklagen vor einem kalifornischen Gericht. Videla und die Seinen haben der revolutionären wie der reformistischen Linken in Argentinien eine fürchterliche Niederlage zugefügt, das Leben tausender Menschen zerstört und die politische und soziale Basis für das lange herrschende neoliberale Modell geschaffen. Doch ihr Vorhaben, die Linke nicht nur physisch zu vernichten, sondern die Erinnerung an die Verschwundenen und ihre politischen Projekte wenn möglich für Generationen auszulöschen, ist nicht geglückt. Die groß angelegte Aufarbeitung der Vergangenheit in und außerhalb von Gerichten hat die argentinische Gesellschaft immunisiert gegen repressive Regimes – eine zivilisatorische Errungenschaft, um die in Guatemala, Honduras und Kolumbien bis heute meist erfolglos gerungen wird.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) – www.ecchr.eu

Weit ab von der Realität

Wie kam es zu der Konzeption des Katasterprojekts, wie es in Guatemala durchgeführt wird, und wer war hauptsächlich dafür verantwortlich?
Die Zeit, in der das Projekt geschaffen wurde, war die Zeit der guatemaltekischen Demokratisierung nach der Unterzeichnung der Friedensverträge. Es gab eine Menge Energie für viele verschiedene Initiativen. Die Friedensverträge sprachen von Landverteilung, der Schaffung besserer Vermarktungsmöglichkeiten für Kleinbauern, der Veröffentlichung von Informationen zur Landfrage und von historischen Forderungen. Insgesamt ging es um die Schaffung von Gerechtigkeit im Agrarsektor. Was jedoch die Weltbank in diesem Moment präsentierte, war ein stark simplifiziertes technisches Modell. Ich glaube, das schlimmste Erbe dieses Projekts ist die Verkehrung der Idee einer Agrarreform im Sinne einer gerechteren Verteilung des Lands an diejenigen, die es bearbeiten. Diese Idee wurde in eine rein technische Angelegenheit der korrekten Messung von Koordinaten mit dem GPS verkehrt, eine völlig entpolitisierte Sache. Und so wurde all die Energie umgelenkt, die so viele Leute in die Umsetzung der Forderungen aus den Friedensverträgen gesetzt hatten. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden besessen davon, das Modell der Weltbank entweder auszuführen oder zu kritisieren, während alle anderen Pläne verloren gingen.

Wie reagierte die Weltbank, als Sie den Vorschlag einer Evaluierung machten?
Ich habe mich oft gefragt, warum die Bank sich gerade in diesem Moment zu einer Evaluierung bereit erklärte. Ich glaube, sie hoffte dadurch ihre Beziehungen zur guatemaltekischen Regierung verbessern und die zweite Phase des Projekts zurück auf die Spur bringen zu können. Die Bank hört sehr genau zu, wenn es um Anschuldigungen der Vertreibung indigener Bevölkerungsgruppen geht. Das liegt daran, dass es seit den 1970er Jahren eine lange Geschichte sehr effektiver Advocacy-Arbeit indigener Organisationen gibt. Auch wir hatten ihnen schon seit Jahren unsere Veröffentlichungen geschickt, und sie waren sich der Kritik bewusst.

Was kann der Auslöser für die damalige Reaktion auf die schon jahrelang geübte Kritik gewesen sein?
Es war wohl auch unser Dokumentarfilm über die Vertreibung der Q’eqchi’es, insbesondere über die durch Ölpalmenplantagen vertriebenen Gemeinden, der die Bankmanager berührte. Es gibt eine seltsame Dynamik in der Weltbank mit diesen Leuten, die nur in ihren Schuhschachteln arbeiten, auf ihren Missionen in Hauptstädte fliegen, in teuren Hotels absteigen und einfach vergessen haben, worum es wirklich geht. Sie sind völlig von der Realität losgelöst, und deswegen treffen sie schlechte Entscheidungen. Wir Aktivisten können ihnen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, indem wir sie über unsere Dokumentationsarbeit wieder in Verbindung bringen mit den Konsequenzen ihrer Handlungen in der Realität.

Wenn Sie sagen, dass es notwendig ist, Lobby-Arbeit zur Verhinderung einer dritten oder vierten Phase des Projekts zu machen, dann klingt das ein bisschen danach, als hätten Sie keine Hoffnung, dass die guatemaltekische Regierung tatsächlich ihre Land- und Agrarpolitik verändern wollte?
Angesichts der sehr mageren Ergebnisse des Projekts im Petén müsste sich die guatemaltekische Regierung fragen: Ist dieser Kredit, den wir eines Tages zurückzahlen müssen, tatsächlich seinen Preis wert? Ich glaube, es gibt auch innerhalb der Weltbank eine Diskussion darüber, ob der augenblickliche Ansatz wirklich effektiv ist. Ich habe das Gefühl, dass es keine dritte und vierte Projektphase geben könnte. Aber das ist etwas, was wir als Aktivisten weiter mit den Weltbankmanagern in Washington diskutieren müssen. Es gibt da ein delikates Machtverhältnis. Die Weltbank muss sicherstellen, dass die guatemaltekische Regierung weiterhin Kredite für irgendetwas bekommt – seien es Landprojekte oder andere – denn die Weltbank ist schließlich und endlich eine Bank. Und auch wenn sie versteht, dass Projekte in Schwierigkeiten sind, ist die Bank oft nicht dazu bereit, die jeweiligen Regierungen zu kritisieren und die notwendigen Reformen von ihnen zu verlangen, weil sie von ihnen als Kunden abhängig ist.

Wo sehen Sie denn die Möglichkeit für einen Wandel?
Es ist notwendig, dass die Guatemalteken Druck ausüben auf ihre Regierung, denn sie haben der Bank gegenüber viel mehr Macht als sie glauben. Die Bank wird auf ihre Kunden hören – wenn diese sich als solche verstehen – aber die Länder denken oft „Oh, die Weltbank… die schicken uns ganz tolle internationale Berater und wir müssen auf sie hören“. Aber tatsächlich müssen sie das nicht, die guatemaltekische Regierung könnte diese Kredite ablehnen, aufhören ihre Bevölkerung zu verschulden und bessere Beratung einfordern, bessere Projekte.

Infokasten:

Liza Grandia

ist US-amerikanische Ethnologin und lebte lange Jahre in Guatemala. Sie arbeitet seit den 1990er Jahren zu Themen im Kontext der indigenen Bevölkerung Guatemalas und des Naturschutzes, wobei sie sich intensiv mit der Migrationsgeschichte und neuerlichen Vertreibung der Maya-Ethnie der Q’eqchi‘ durch die Landkonzentration im Petén beschäftigt hat. Dazu veröffentlichte sie unter Anderem das Buch Tz‘aptz‘ooq‘eb‘: El Despojo Recurrente al Pueblo Q‘eqchi‘. Sie ist jetzt Professorin an der UC Davis in Kalifornien und war Hauptinitiatorin sowie Koordinatorin der Evaluierung des Katasterprojekts der Weltbank in Guatemala.

Ein Schritt vor – zehn zurück?

So vergnügt und entspannt wie in den letzten Aprilwochen hatte man Ríos Montt und seine Verteidigung schon lange nicht mehr gesehen: Der Prozess gegen den guatemaltekischen Ex-General und Diktator und seinen ehemaligen Geheimdienstchef Mauricio Rodríguez Sánchez war nach einem hoffnungsvollen Beginn heftig ins Stocken geraten. Montt und Sánchez sind wegen der Ermordung von 1.771 Angehörigen der Maya-Ethnie der Ixiles während Ríos Montts Regierungszeit angeklagt.
Am 18. April 2013 urteilte die Richterin Carol Patricia Flores, der bisherige Prozess müsse rückwirkend bis zum 23. November 2011 annulliert werden. Sie hatte dem Verfahren bis zu diesem Datum als Kontrollierende Richterin vorgesessen und war auf Antrag der Verteidigung des – mittlerweile aus Krankheitsgründen ausgeschiedenen – Ex-Generals López Fuentes durch den Richter Miguél Angel Gálvez ersetzt worden. Die Menschenrechtsorganisation Centro de Acción Legal de Derechos Humanos (CALDH) hatte damals gegen diese Ersetzung geklagt, die vor allem das Verfahren verlangsamen sollte. Gálvez hatte den Prozess jedoch mit großem Mut bis zur Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung weiter vorangetrieben. Als Flores am 23. März vom Verfassungsgerichthof (CC) als Kontrollierende Richterin bestätigt wurde, entschied sie, dass alle zwischenzeitlich von Gálvez getroffenen Entscheidungen unwirksam seien und das Verfahren ab dem Zeitpunkt ihrer Absetzung wiederholt werden müsse.
Staatsanwaltschaft und die zivilgesellschaftlichen Nebenkläger_innen legten sofort Rechtsmittel vor dem CC gegen diese Entscheidung von Flores ein, die kurz vor Prozessende zu einem äußerst sensiblen Zeitpunkt erfolgte. Die Annullierung des Verfahrens hätte nicht nur den Prozess um Längen zurückgeworfen, sondern auch die gesamte Beweisaufnahme mit den bis zu ihrer Aussage vor Gericht sorgfältig geschützten Zeug_innen der Anklage aufs Äußerste gefährdet, da diese noch einmal hätte wiederholt werden müssen. Bislang hat der CC nicht explizit über die Annullierung des Verfahrens entschieden, jedoch bereits festgestellt, dass eine Rücksetzung auf einen früheren Stand nicht zulässig wäre – was eine grundsätzliche Zustimmung zu dessen Fortsetzung bedeutet.
Die Verteidigung von Ríos Montt und Rodríguez Sánchez versucht seit Beginn des Prozesses, diesen platzen zu lassen oder zumindest seinen Fortgang aufzuhalten und die beteiligten Richter_innen zu delegitimieren und ablösen zu lassen. Bisher wurden schon mehr als 100 verschiedene Rechtsmittel mit diesen Zielen eingelegt. Entlastende Beweise hat sie dagegen bisher kaum vorlegen können. Am Tag des Beginns der Hauptverhandlung, dem 19. März, wechselte Ríos Montt seine bisherigen Anwälte César Calderon und Moises Galindo gegen Francisco García Gudiel aus. Dieser forderte zunächst Zeit für Aktenstudien und lehnte dann zwei der drei Richter_innen mit der Begründung ab, sie hegten eine persönliche Feindschaft gegen ihn als Anwalt und seien deswegen nicht für ihre Aufgabe in dem Prozess geeignet. Die vorsitzende Richterin Jazmín Barrios wies den Antrag zurück, verwies Gudiel des Saals und setzte die vorherigen Verteidiger wieder ein. Diese traten, nachdem sie vergeblich gegen ihre Benennung protestiert hatten, am 18. April in einen von ihnen so bezeichneten „friedlichen Widerstand“ und verließen die Verhandlung. Ríos Montt blieb darauf für den Rest des Tages ohne Verteidigung, weswegen seine Anwälte den Richter_innen die Verletzung seiner Rechte als Angeklagter vorwarfen. Am 19. April teilte ihm Jazmín Barrios einen Pflichtverteidiger zu. Anschließend ordnete der CC die Wiederzulassung von Gudiel als Verteidiger Ríos Montts und die Annullierung der vier Stunden des Prozesses am 18. April an, an denen dieser (wegen des „friedlichen Protests“ seiner Anwälte) keine Verteidigung hatte.
Nachdem das CC entschieden hatte, die Prozessakten an das Tribunal A zurückzugeben, eröffnete Jazmín Barrios das Verfahren gegen Ríos Montt und Rodríguez Sánchez von Neuem am 30. April. Sie brach die Verhandlung jedoch nach drei Stunden ab, um dem neu bestellten Pflichtverteidiger von Sánchez, der angegeben hatte, einen eigenen Anwalt nicht mehr zahlen zu können, Zeit zum Aktenstudium zu geben. Außerdem sollte den Entlastungszeugen der Verteidigung eine erneute Gelegenheit zur Aussage gegeben werden, die an diesem Tag nicht erschienen waren. Am 2. Mai, dem nächsten anberaumten Verhandlungstag, war die Vorführung der Zeugen durch die Polizei geplant, sie waren jedoch nicht auffindbar. Somit setzte Barrios eine letzte Frist bis zum 7. Mai, innerhalb derer ihre Aussage noch möglich ist.
Währenddessen versucht die Verteidigung Ríos Montts, über andere Gerichte und Institutionen Jazmín Barrios als vorsitzende Richterin absetzen zu lassen und sie einzuschüchtern. Gegen Barrios sind mindestens drei Anzeigen Gudiels bei verschiedenen Institutionen anhängig und eine Zivilklage über umgerechnet rund 575.000 Euro wegen der angeblichen Verweigerung der Rechte des Angeklagten auf angemessene Verteidigung; daneben liegen dem CC und dem Obersten Gerichtshof (CSJ) weitere Anträge der Angeklagten auf die Aussetzung des Prozesses und die Ablösung der Richter_innen vor. Obwohl das Verfahren gegen Ríos Montt und Rodríguez Sánchez fast abgeschlossen ist und zur Urteilsfindung lediglich die Aussagen von drei Entlastungszeugen der Angeklagten und die Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung fehlen, ist es im Augenblick sehr schwer abzusehen, wie sich die juristischen Auseinandersetzungen um den Prozess weiter entwickeln und ob dieser tatsächlich in einem Urteil enden wird, das den Opfern des guatemaltekischen Bürgerkriegs gerecht wird.
Gleichzeitig wächst außerhalb der Gerichte der Druck auf das Verfahren und seine Beteiligten, und vor allem die politische Rechte zeigt sich in bisher selten gesehener Einigkeit und Stärke. Die Stiftung gegen den Terrorismus startete vor einigen Woche eine Kampagne unter dem Titel „Die Farce des Genozids in Guatemala – Marxistische Konspiration von Seiten der katholischen Kirche“. Darin wird die Schuld am Bürgerkrieg einzig der Linken zugeschrieben, das Militär als Retter des Vaterlands und Opfer stilisiert und die juristische Aufarbeitung der guatemaltekischen Bürgerkriegsvergangenheit als eine vom Ausland finanzierte Verschwörung dargestellt. Die Stiftung wird geleitet von Ricardo Méndez Ruiz, der unter anderem versucht, Vertreter_innen der guatemaltekischen Linken wegen Menschenrechtsvergehen während des Bürgerkriegs anzuklagen. Diese Stiftung ließ in den Tagen nach dem 19. April in Bussen 800 Ixiles aus dem Departamento Quiché unter dem Vorwand in die Hauptstadt karren, dass sie „Projekte“ für ihre Dörfer erhalten würden. Dort mussten sie hinter Plakaten und Spruchbändern marschieren, auf denen in ihrem Namen das Ende des Prozesses gegen Ríos Montt gefordert wurde. Währenddessen sprach Méndez Ruiz offene Todesdrohungen gegen die am Prozess beteiligten Richter_innen und Vertreter_innen der Anklage für den Fall einer Verurteilung Ríos Montts aus.
Eine weitere Anzeigenkampagne unter dem Titel „Den Frieden verraten und Guatemala spalten“ in der ersten Aprilhälfte offenbarte eine sonderbare Allianz zwischen Personen, die der traditionellen Linken und Ex-Guerrilla auf der einen und der politischen Rechten auf der anderen Seite zugeordnet werden. In den Anzeigen wird davor gewarnt, mit der Anklage des Genozids tiefere Gräben in der Gesellschaft aufzureißen, anstatt einen Versöhnungsprozess zu fördern.
Ein Mitunterzeichner dieser Kampagne ist der guatemaltekische Soziologe Gustavo Porras, der während des Bürgerkriegs der Guerrillaorganisation Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) angehörte und für dieses an den Friedensverhandlungen beteiligt war. In einem Interview des Internet-Magazins Plaza Pública verneint er, dass in Guatemala ein Genozid im Sinne einer beabsichtigten Vernichtung bestimmter Ethnien stattgefunden habe. Für ihn waren die Massaker des Militärs während des Bürgerkriegs politisch und nicht ethnisch motiviert und trafen je nach Region nicht nur die indigene, sondern auch die mestizische Bevölkerung, während gleichzeitig Soldaten indigener Abstammung an den Massakern als Täter beteiligt waren. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob eine Anklage wegen Genozids juristisch haltbar sein wird oder ob eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschheit nicht erfolgversprechender wäre.
Währenddessen gerät auch der ehemalige General und jetzige Präsident Guatemalas Otto Pérez Molina ins Blickfeld des Prozesses. Er selbst hatte in einem Interview im Jahr 2002 davon gesprochen, dass er in den Jahren 1982 und 1983 Kommandeur der Truppen im Ixil-Dreieck gewesen sei. Schon in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1982 sprachen Regierungssoldaten in dieser Region davon, wie sie Folter, Exekutionen von Zivilisten und die Vernichtung ganzer Dörfer als Mittel der Kriegsführung nutzten. Ein ehemaliger Militärangehöriger und geschützter Zeuge der Anklage sagte nun im Prozess gegen Ríos Montt aus, dass Pérez Molina in dieser Zeit solche Aktionen befohlen habe. Pérez Molina bezeichnete die Aussage sofort als Lüge und versuchte, damit auch den gesamten Prozess zu disqualifizieren; gleichzeitig behauptete er nun, nicht wirklich Kommandant im gesamten Ixil-Dreieck, sondern nur in Nebaj gewesen zu sein. Dennoch mehren sich Anzeichen für eine stärkere Verstrickung des jetzigen Präsidenten in Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkrieges, als es diesem lieb sein kann.

Infokasten:

Morde an Umweltaktivisten im Petén: Urgent Action

Am 22. April wurden im Munizip Las Cruzes, Petén, fünf Mitglieder der Kleinbauernkooperative Cooperativa Centro Campesino Yaxchilán ermordet und ihre Leichen zum Teil verstümmelt und enthauptet. Die Kooperative nutzt organische Anbaumethoden und versucht gleichzeitig, die Tier- und Pflanzenwelt des umliegenden Waldes zu schützen. Es wird angenommen, dass die Morde mit Anzeigen der Kooperative gegen illegale Bergbau- und Abholzungsaktivitäten in der Gegend in Zusammenhang stehen. Die Menschenrechtsorganisation Frontline Defenders ruft zu einer Urgent Action auf, um die Sicherheit der weiteren Kooperativenmitglieder und die Strafverfolgung der Täter zu gewährleisten.
http://www.frontlinedefenders.org/node/22568/action

Widerstand gegen Zuckerbrot und Peitsche

Am 12. Dezember 2012 setzten Bewohner_innen der Gemeinde Arboleda, Nariño, drei Lieferwagen des kanadischen Bergbauunternehmens Gran Colombia Gold (GCG) in Brand. Seit diesem Ereignis sieht sich das Unternehmen dazu gezwungen, jeden weiteren Besuch in der Gemeinde vorher anzukündigen. Vorausgegangen sind dieser Entwicklung zwei Jahre erfolgloser Dialoge, mehrfacher Bedrohungen von Seiten des Unternehmens sowie andauernder Widerstand der lokalen Bevölkerung.
Arboleda befindet sich im südwestlichen Teil Kolumbiens, gelegen in den Höhen der westlichen Anden. Die Menschen dort leben von selbst angebauten Kartoffeln, Linsen, Yuca und Kaffee. „Dieses Fleckchen Erde gibt uns alles, was wir brauchen. Essen, Gemeinschaft und Ruhe“, sagt Silvia Rodriguez* (alle Namen mit * von der Autorin) verändert, eine Kleinbäuerin aus Arboleda. Seit über zwei Jahren ist es mit der Ruhe vorbei und Arboldea ist umkämpftes Territorium.
„Im Januar 2011 kam das Unternehmen. Zuerst sagten sie, dass sie hier Parks errichten wollen. Später versprachen sie uns Jobs und Sicherheit“ erinnert sich Martín Jiménez*. GCG besitzt Konzessionen für 43.000 Hektar Land in Kolumbien, davon 5993 Hektar im Gebiet des Gebirges Macizo, in dem sich auch Arboleda befindet. Dort installierten die Arbeiter an 21 unterschiedlichen Punkten Plattformen, von denen aus sie Bodenproben nahmen. Mit einem durchschnittlichen Goldgehalt von 2.35 g/t ist das Ergebnis im Vergleich zu anderen Minen eher bescheiden. Da der Goldpreis jedoch durch die globale Finanzkrise rapide angestiegen ist lohnt sich das Geschäft trotzdem. Zusätzlich profitieren Unternehmen wie GCG von Steuererlassen der kolumbianischen Regierung. Der Ausverkauf der Bodenschätze ist vor dem Hintergrund der von Präsident Juan Manuel Santos propagierten Entwicklungsstrategie zu sehen, in der Bergbau und Energie „Lokomotiven“ für Wachstum und Wohlstand sein sollen (siehe LN 459/ 460).
Zunächst waren die Bewohner_innen von Arboleda froh über das Erscheinen des Unternehmens. Sie hofften auf Arbeitsplätze und Wohlstand. Doch schnell mussten sie die zahlreichen sozialen und ökologischen Probleme des Bergbaus leidvoll erfahren. So hat sich der Wasserstand in der nahegelegenen Lagune La Marucha drastisch reduziert. Das könnte in einer Region, in der es außer den natürlichen Quellen keine Wasserversorgung gibt, zu existenziellen Problemen führen. Zudem tritt an den Stellen, an denen Probenahmen stattfanden Wasser aus, das gelblich verfärbt ist und säuerlich riecht. Kühe, die von diesem Wasser getrunken haben, sind später gestorben. Um diese Vorfälle aufzuklären wären Untersuchungen der Wasserqualität notwendig. Das Unternehmen weigert sich jedoch, diese zu finanzieren.
Neben den ökologischen Problemen entstanden für die Bewohner_innen eine Reihe sozialer Konflikte. Aufträge und Beschäftigungen wurden lediglich für kurze Perioden an die Arbeiter_innen vergeben. So sollte die Zahl der insgesamt Beschäftigen erhöht werden. Daraus entstand neben der Zustimmung für das Unternehmen auch ein verschärftes Abhängigkeitsverhältnis . Da sich in nahezu jeder Familie sowohl Befürworter_innen als auch Gegner_innen des Projekts fanden, kam es zur Zerrüttung sozialer Zusammenhänge.
Aus ihren Erfahrungen erwuchs für die Gegner_innen schnell die Einsicht sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Wichtig in diesem Zusammenhang waren auch die Erlebnisse aus anderen Regionen, die ebenfalls von Bergbauprojekten betroffen sind.
Das Comité de Integración del Macizo Colombiano (CIMA), eine Kleinbäuer_innenorganisation aus dem Gebiet des Macizo und seine nationale Dachorganisation der Coordinador Nacional Agrario (CNA) organisierten einen Austausch. Bei CNA handelt es sich um eine Basisorganisation, die aufbauend auf dem Prinzip der Solidarität und mit direkten Aktionen für einen fundamentalen Wandel des Agrarsektors kämpft.
Den Gegner_innen der Goldminen in Arboleda hat CIMA Dokumentarfilme aus Chile und Guatemala gezeigt, in denen sich die verheerenden sozialen und ökologischen Folgen von Bergbauprojekten zeigen. Darüber hinaus hat CIMA die Bevölkerung im Rahmen von politischen Bildungsveranstaltungen, die Bewegungswissen und Organisierungspraktiken vermitteln, unterstützt. Viele Bewohner_innen berichten zudem, dass für sie das persönliche Zusammentreffen mit Betroffenen aus anderen kolumbianischen Bundesländern von herausragender Bedeutung war. So erzählt Silvia von ihren Gesprächen mit anderen kolumbianischen Aktivist_innen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben: „Wenn ich früher die Gelegenheit gehabt hätte, diese Gespräche zu führen, dann hätte ich viel eher gewusst, mit welchen perfiden Strategien das Unternehmen versucht sich Zutritt zu unserem Territorium zu verschaffen.“
Der Einstellungswandel der Bevölkerung gegenüber der GCG und ihre beginnende Organisierung ist vom Unternehmen nicht unbemerkt geblieben. Seitdem hat der Bergbaukonzern seine Strategie verändert und agiert parallel mit Zuckerbrot und Peitsche. So zündeten Unbekannte im August 2011 auf drei Ländereien Installationen an, die für die Verarbeitung von Vollrohrzucker benötigt werden. Außerdem gab es mehrfach Todesdrohungen gegenüber Aktivist_innen und/ oder deren Familienmitgliedern. Seit Sommer 2011 wurden elf solcher Drohungen zur Anzeige gebracht, wobei die Großzahl der Betroffenen aus Angst nicht angezeigt haben. „Zuckerbrot“ gab es in Form von Geschenken: In der Schule wurden Notizhefte verteilt, auf denen zu lesen war „Der Bergbau ist mein Freund. Der Bergbau schafft Arbeit, hilft der Gemeinde und respektiert die Umwelt.“ Eine andere Form war die Bezahlung derjenigen, die an einer vom Unternehmen organisierten Demonstration in der regionalen Hauptstadt Pasto im September 2011 teilnahmen. Es ist der Versuch des Konzerns gegenüber der Öffentlichkeit, eine breite Zustimmung für den Abbau von Gold zu suggerieren, die real nicht existiert.
Vor diesem Hintergrund ist der andauernde Konflikt zu verstehen, der sich zwischen der Gemeinde und dem Unternehmen abspielt. So kam es Anfang Oktober 2011 in der örtlichen Schule zu Handgreiflichkeiten, bei denen ein Mädchen sowie eine ältere Frau durch Mitarbeiter des Unternehmens verletzt wurden. Dies führte zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen der Gemeinde und Arbeitern in deren Verlauf zwei Unterkünfte der Arbeiter abbrannten. Von Seiten des Unternehmens hieß es daraufhin, dass es sich um eine geplante Aktion gehandelt haben müsste. Diese Darstellung wurde von Medienseite durch den Hinweis ergänzt, dass die Gemeinde Hilfe von außen gehabt haben müsse. Für alle Beteiligten ist klar, dass damit die Guerilla gemeint ist. Es handelt sich offensichtlich um den Versuch, zivilen Widerstand zu kriminalisieren und in die Nähe der von der Regierung als Terroristen diffamierten Guerilla zu rücken. Damit könnte bereits präventiv der spätere Einsatz von staatlichen oder parastaatlichen bewaffneten Akteuren legitimiert werden. Tatsächlich waren in den Wochen nach diesem Vorfall Militärs in der Region präsent. Zeug_innen berichteten zudem über weitere bewaffnete Gruppen, deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte.
Es folgten im Frühjahr 2012 mehrere Runde Tische zwischen Gemeindemitgliedern und Vertretern der regionalen Regierung, in denen sich die Beteiligten gegen Großminenprojekte wie für das der GCG aussprachen. Da es jedoch weiterhin keine Verhandlungen zwischen den Bewohner_innen von Arboleda, der nationalen Regierung in Bogota und dem Unternehmen gibt, befürchten viele in Arboleda eine Eskalation, die in einer Militarisierung der Region und dem Versuch, die Bevölkerung zu vertreiben, münden könnte. Für die Bewohner_innen ist jedoch klar, dass sie sich einer solchen Politik widersetzen werden und bereit sind bis zum Letzten zu gehen um ihre Gemeinde, zu verteidigen.

In Guatemala ist alles möglich

Wie kommen Sie zu Ihrem Namen „Menschenrechtsanwalt”?
Seit 1997 arbeite ich mit Opfern von schweren Menschenrechtsverbrechen, die von Sicherheitskräften des Staates oder von ihnen befehligten Paramilitärs während des Bürgerkriegs angegriffen wurden. In mehreren Fällen, in denen uns der Zugang zur Justiz in Guatemala verwehrt wurde, wandten wir uns an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH). Dort erreichten wir Urteilssprüche, die wichtige Rückwirkungen auf Guatemala hatten. So gibt es heute Urteile guatemaltekischer Gerichtshöfe zu Massakern während des Bürgerkriegs, die wichtige Schritte im Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen darstellen.
Die Aufklärungsarbeit zu den verübten Verbrechen hatten wir schon viele Jahre vorher mit einer großen Anzahl von Exhumierungen der illegalen Massengräber eingeleitet. In den Jahren 2000 und 2001 wurden dann formell Klagen wegen Genozids bei der Staatsanwaltschaft vorgebracht. Doch ab 2000 begann die guatemaltekische Justiz große Rückschritte zu machen.

Wo liegen die Ursachen für diese Rückschritte?
Ich würde sagen, dass die Verantwortlichen der Verbrechen begannen, sich unsicher zu fühlen. Bevor die Genozidklage eingebracht wurde, gab es ja schon einige Prozesse gegen Militärs niedriger Ränge. Die Genozidklage geht nun gegen die obersten Befehlshaber. Und die haben Angst davor, dass durch ein Urteil genau die Geschehnisse bestätigt werden, welche die Verantwortlichen bis jetzt abgestritten hatten.

Wie äußert sich das?
Den Opfern wird nachgesagt, sie hätten diese Geschehnisse erfunden.
Im Jahr 2000 gab es insofern wichtige Fortschritte als Haftbefehle gegen 17 sogenannte Kaibiles ausgesprochen wurden, Angehörige einer berüchtigten Eliteeinheit des Militärs im Kampf gegen die guatemaltekische Guerilla.
Doch im gleichen Jahr wurde von der Verteidigung der Militärs eine Verfassungsbeschwerde eingelegt und gefordert, das Amnestiegesetz auf sie anzuwenden. Diese Beschwerde wurde erst 2009 abgelehnt. Ein Verfahren, das normalerweise maximal eineinhalb Monate brauchen würde!
In anderen Fällen wurde allerdings vom Verfassungsgerichtshof völlig perversen Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Im Jahr 2005 zum Beispiel verweigert dieser von der Audiencia Nacional in Spanien geforderte Auslieferungen. Und 2007 verbot dieser Gerichtshof, dass die Untersuchungskommission der spanischen Justiz unter der Anleitung des spanischen Richters Santiago Pedráz Zeugenaussagen von Überlebenden aufnimmt und die Angeklagten vernimmt.

Wie kommt es, dass ein spanischer Richter in Guatemala verübte Verbrechen untersuchen möchte und warum?
1999 reichte die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum Klage bei der Audiencia Española ein, zuerst wegen der gewaltsamen Beendigung der Besetzung der spanischen Botschaft im Jahr 1980 [durch guatemaltekisches Militär und Polizei, Anm. d. Red.], wo [neben 35 weiteren Personen, Anm. d. Red.] ihr Vater ermordet und verbrannt wurde. Dann erweiterte sie die Klage auf Völkermord. Dieser Fall basiert auf dem Prinzip der universellen Rechtssprechung, das Spanien in absoluter Form anerkannt und auch schon in anderen Fällen angewandt hatte. Die Audiencia Española hatte im Fall Guatemalas internationale Haftbefehle gegen mehrere guatemaltekische Militärs ausgesprochen, so auch gegen Efraín Ríos Montt und die obersten Befehlshaber seines Regimes.

Seit über zwölf Jahren wird schon an den Völkermordfällen gearbeitet. Wie kommt es, dass der Fall gegen Ríos Montt einen Sprung nach vorn macht, in einer Zeit in der Otto Pérez Molina in Guatemala regiert? Die wichtigsten Positionen in der Regierung wurden mit ehemaligen Militärs besetzt. Ein großer Widerspruch, oder?
Wir können das als Überschneidung verschiedener Prozesse sehen. Diese Fälle sind das Resultat eines konstanten und langwierigen Kampfes der Opfer. Es konnten mehrere Ziele erreicht werden.Aber parallel dazu gab es andere Vorgänge, die uns behilflich waren wie zum Beispiel bestimmte Veränderungen am Obersten Gerichtshof und in der Strafkammer. Hinzu kommen die Anstrengungen der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit der Vereinten Nationen (CICIG), die neue juristische Methoden einzuführen begann. Eine der wichtigsten Veränderungen war die Schaffung eines „Risikogerichts“. Ein weiterer wichtiger Faktor war, dass die Regierung von Álvaro Coloms einen Diskurs zugunsten der Kriegsopfer führte. Das ermöglichte wichtige Fortschritte in den Genozidfällen. Die über zehnjährige Arbeit in diesen Fällen begann 2011 aufzugehen: General Mario Fuentes López und General José Mauricio Sánchez wurden verhaftet. Und schlussendlich verlor Ríos Montt im Januar 2012 seine Immunität als Abgeordneter und stellte sich freiwillig dem „Risikogericht“, das ihn formell des Völkermordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit beschuldigte und unter Hausarrest stellte.
Dass es bei diesen Fällen ausgerechnet unter der Regierung von Otto Pérez Molina, der selbst Akteur im Krieg war, zu Verurteilungen kommen kann, sehe ich als sehr positiv für das Land.

Ríos Montt wurde in zwei Fällen des Völkermordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit beschuldigt: des Genozids gegen das Volk der Ixiles und des Massakers von Dos Erres. Seit mehreren Monaten ist eine Verfassungsbeschwerde in Diskussion, welche die Verteidigung von Ríos Montt einbrachte. Sie will die Anwendung des obsoleten Amnestiegesetzes erreichen. Warum hat sich das Verfassungsgericht noch nicht dazu geäußert?
Die Verteidigung der Militärs López Fuentes, Mauricio Sánchez und Ríos Montt besteht darauf, dass das Amnestiegesetz auf sie angewandt und sie somit aus ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit entlassen werden. Die Verteidigung von López Fuentes legte gegen die Ablehnung der Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 2009 Berufung ein und seitdem hüllt sich der Gerichtshof in Schweigen. Ich nehme an, weil die Justizbeamten enormem politischem Druck ausgesetzt werden.
Gleichzeitig versuchte die Verteidigung von Ríos Montt im Fall von Dos Erres das Nationale Versöhnungsgesetz anzuwenden, das mit der Unterzeichnung der Friedensverträge in Kraft trat und das Amnestiegesetz ersetzte. Das Nationale Versöhnungsgesetz setzt aber klar fest, dass diese Amnestie nicht bei Delikten von Völkermord, Folter, Verschwindenlassen von Personen angewandt werden kann.

Wenn das also technisch gesehen gar nicht möglich ist, warum besteht die Verteidigung dann darauf?
In erster Linie handelt es sich hier um eine Strategie zur Verzögerung und Behinderung des Prozesses. Man muss dabei in Betracht ziehen, dass sich die Politik in Sachen Menschenrechte in der aktuellen Regierungsperiode verändert hat. Die Verteidigung der ehemaligen Militärs setzt darauf, dass die Regierung sie bei der Ausübung von Druck gegen die Justiz unterstützt. Die Regierung versuchte zu Beginn des Jahres sogar, die Zuständigkeit des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (CIDH) für Fälle aus der Zeit des Bürgerkrieges in Frage zu stellen. Der Staat will damit vermeiden, die hohen Entschädigungssummen an die Opfer zu bezahlen, die der CIDH in Urteilen gegen den Staat festlegte. Es geht aber nicht nur um die Zahlungen, sondern auch um die offizielle Anerkennung der Verantwortlichkeit für diese Verbrechen durch den Staat.

Was bedeutet das für die aktuellen Fälle?
Wenn die Regierung mit ihrer Haltung durchkäme, würde das bedeuten, dass die von den Opfern und ihren Organisationen erreichten Fortschritte und Resultate um fünf Jahre zurückgeworfen würden. In die Zeit, wo jedwede Anstrengung der Opfer behindert und der Zugang zur Justiz verweigert wurde. Die Opfer wurden jedoch in diesem langen Prozess für Gerechtigkeit gestärkt und wissen heute gut über ihre Rechte Bescheid. Ich glaube, sie werden sich die Resultate ihrer Anstrengungen nicht so leicht nehmen lassen. Das ist alles etwas kompliziert und ich hoffe, dass es nicht zu Konfrontationen zwischen Bevölkerung und Staat kommen wird.

Angenommen der Verfassungsgerichtshof gäbe der Berufung zur Anwendung der Amnestie statt: Hätte das Konsequenzen für die Fälle der Menschenrechtsverbrechen während des Krieges, die gerade am Laufen sind?
Genau. Was sie damit erreichen wollen ist, dass die Angeklagten sämtlicher Prozesse dieser Art amnestiert werden und nicht nur diese, sondern auch jene, die bereits verurteilt wurden. Denn durch ein Wiederaufnahmeverfahren können auch bereits Verurteilte amnestiert werden.

Ist so etwas Ihrer persönlichen Meinung nach möglich?
In Guatemala ist alles möglich, auch wenn ich gern das Gegenteil glauben würde. Es ist für mich nicht vorhersagbar, was passieren wird.

Infokasten:

Edgar Pérez Archila

Edgar Pérez Archila ist Anwalt und vertritt seit 1997 Opfer von Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs in Guatemala bei ihren Bemühungen um die Anerkennung ihrer Rechte. Er hat dabei in dem schwierigen Umfeld Guatemalas schon mehrere Fälle schwerer Menschenrechtsverbrechen aus dieser Zeit vor Gericht bringen können und war wesentlich mit an der Aufarbeitung der Massaker von Río Negro, Tululche und Dos Erres beteiligt. Unter Anderem erreichte er im Jahr 2009 die erste Verurteilung für gewaltsames Verschwindenlassen vor einem guatemaltekischen Gericht. Wegen seiner Arbeit wurde er verschiedentlich bedroht, und Anfang 2012 ordnete der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof Schutzmaßnahmen für Edgar Pérez an. Im Jahr 2009 wurde er für ein Engagement mit dem Orden in Gedenken an Bischof Gerardi ausgezeichnet und ist dieses Jahr für den Menschenrechtspreis Premio Quetzal vorgeschlagen.

// DOSSIER: MEDIEN UND MACHT IN LATEINAMERIKA

 

(Download des gesamten Dossiers)

Cristina Fernández de Kirchner „begann die privaten Medien zu bekämpfen“, kritisierte die FAZ am 19. Februar 2013 in einem Porträt der argentinischen Präsidentin. Am selben Tag konnte die bekannte Bloggerin Yoani Sánchez aus Kuba nach Brasilien reisen und sorgte damit nicht nur für internationale Berichterstattung, sondern bei ihrer Ankunft auch für Demonstrationen in Recife. Nur einen Tag zuvor hatte die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen per Pressemitteilung den wiedergewählten ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa aufgefordert, „kritische Journalisten nicht länger zu diffamieren und restriktive Mediengesetze zurückzunehmen“. Das Verhältnis zwischen Medienkonzernen, Medienmacher*innen und staatlicher Macht in Lateinamerika scheint aktueller und brisanter denn je. Doch warum?

 

                   Streetart aus San José, Costa Rica  (Foto: Benjamin Keuffel)

 

Medien und Macht – in den meisten lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis zwischen der „Vierten Gewalt“ und dem Staat seit Jahrzehnten von großer Nähe zwischen den Medienkonzernen, von denen sich viele seit mehreren Generationen in der Hand einiger weniger Familien befinden, und den Mächtigen geprägt. Im medialen Alltag Lateinamerikas produzieren die großen Mediengesellschaften in unterschiedlichen Formaten immer dieselben Inhalte. Crossmedial werden beispielsweise die Themen und Protagonist*innen der Feierabendserien in eigenen Zeitschriften und Internetseiten, bei Talkshows und Veranstaltungen immer neu aufbereitet und an die Frau, den Mann oder das Kind gebracht. Und in fast allen Ländern wird die privatwirtschaftlich organisierte Berichterstattung nicht durch ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem ergänzt oder „ausgewogen“ gestaltet.

Ökonomisch und juristisch liegen die Wurzeln dieser Medienkonzentration meist in der Zeit der Militärdiktaturen. Roberto Marinho, Gründer des brasilianischen Medienimperiums Globo, sendete sein erstes TV-Programm zu Beginn der Diktatur. Am Ende der Militärherrschaft war seine Macht größer als die der Generäle. Von Tancredo Neves, dem ersten wieder demokratisch gewählten Präsidenten, ist die Aussage überliefert: „Ich lege mich mit dem Papst an, ich streite mich mit der katholischen Kirche, mit meiner Partei PMDB, mit aller Welt, aber ich streite mich nicht mit dem Doktor Roberto Marinho!“. Auch in Chile beruht das faktische Duopol in den Printmedien auf der guten Zusammenarbeit der beiden größten Medienkonzerne mit den Machthabern der Militärdiktatur. Und innerhalb des mexikanischen TV-Duopols ist die Marktmacht von Televisa untrennbar mit der 71-jährigen Herrschaft der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, verbunden.

Heute treffen mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor die politischen Entscheidungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was auch die Medienpolitik einschließt. Sie stoßen dabei auf ein Mediensystem, das nicht der ausgewogenen Berichterstattung und der Beachtung journalistischer Standards verpflichtet ist, sondern die politischen Interessen ihrer Eigentümer*innen vertritt. Auch Reporter ohne Grenzen kritisiert Brasilien in einem Bericht als „das Land der 30 Berlusconis“. Politische Reformen der Mediengesetzgebung im Sinne einer Demokratisierung von Frequenzen und Inhalten oder einer Einführung von öffentlich-rechtlichen Medien erzeugen aber erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne. Venezuela, Argentinien und Brasilien sind nur drei aktuelle Beispiele, in denen neue Mediengesetze von großen politischen Auseinandersetzungen begleitet wurden und werden.

Dabei sind die traditionellen Medienkonzerne eigenständige politische Akteure, die aktiv in innenpolitische Auseinandersetzungen eingreifen oder „ihre“ politischen Kandidat*innen lancieren. Hier sind die Wahlwerbung des mexikanischen Senders Televisa im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oder die Unterstützung des Putsches in Honduras durch Fernsehsender und Zeitungen im Jahr 2009 gute Beispiele.

In Deutschland wiederum ist – unter anderem durch die Zeitungskrise – die Zahl der Auslandskorrespondent*innen seit Jahren rückläufig und Beiträge lateinamerikanischer Medien werden oft unkritisch übernommen. Dieses Medien-Dossier der LN will deshalb über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen.
Denn so stark die geballte Medienmacht auch ist, so vielfältig sind auch die Versuche, die immer gleichen Botschaften der Medienkonzerne durch eigene zu ersetzen. Die „Empfänger*innen“ haben längst begonnen, das Menschenrecht auf Kommunikation einzufordern und kritische Fragen zu stellen: Warum spielen in meiner Lieblingsfernsehsendung eigentlich so wenige Menschen eine Rolle, die so aussehen wie ich? Und wenn, warum dann nur als Täter*innen oder Opfer von Gewalt? Warum kommt das, was in meinem Stadtteil mit tausenden von Bewohner*innen passiert, eigentlich nie in den Nachrichten vor? Warum erfahre ich so viel über das Leben der reichen und schönen Weißen, aber nichts, was mir im Alltag weiterhilft? Wieso haben wir als Indigene keine eigenen Medien in unserer Sprache, die uns die ILO-Konvention 169 garantiert?

Das Menschenrecht auf Kommunikation, das allen nicht nur das theoretische Recht auf Meinungsäußerung, sondern tatsächlichen Zugang zu Medien garantiert, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen sozialen Bewegungen gefordert. In Venezuela garantiert es die neue Verfassung von 1999, die eine Fülle von Neugründungen alternativer Medien auslöste. Viele Bewegungen befürworten auch den Aufbau öffentlich-rechtlicher Medien, auch wenn diese allein keine „Ausgewogenheit“ der Berichterstattung garantieren.

Ob in den Favelas der Maré in Rio de Janeiro, in ländlichen indigenen Gemeinden oder auf den Wänden des jamaikanischen Kingston – überall versuchen Menschen ihre eigene Sicht auf ihre Wirklichkeit auszudrücken und zu verbreiten. Die Ernsthaftigkeit und der Spaß, den sie dabei empfinden, vermitteln sich live on air, über Fotoausstellungen, Texte oder über coole Sprüche an rauen Wänden. Hilfreich ist dabei die zunehmende Verbreitung des Internets: Blogs und Internet- radios, selbst Internet-TV, sind kostengünstig zu produzieren und haben ein immer größeres Publikum – auch wenn in vielen Gegenden Radio-wellen oder bedrucktes Papier noch die meisten Menschen erreichen.

Dass kritischer Journalismus auch gefährlich ist, zeigt sich aktuell besonders in Mexiko und in Honduras. Im vergangenen Jahr wurden sechs mexikanische Journalist*innen ermordet, seit dem Jahr 2000 waren es mindestens 66, weitere zwölf werden vermisst. Und nach den Recherchen der Journalist*innen-Organisation Artikel 19 sind es nur in jedem zweiten Fall die Drogenkartelle, die mexikanische Journalist*innen bedrohen. In allen anderen Fällen sind es staatliche Stellen. Auch in Honduras wurden 2012 zwei Journalisten Opfer einer Ermordung, die in direktem Zusammenhang mit ihren Recherchen stand. In den vergangenen drei Jahren sind dort mindestens 29 Journalist*innen ermordet worden.

Aus der Fülle dieser Themen haben wir für dieses Dossier eine Auswahl von sechs Ländern getroffen: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile. Zu fünf der Länder thematisiert ein Beitrag das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Ergänzt wird dies durch ein Interview oder ein Feature über ein Projekt kritischer Gegenöffentlichkeit. Dabei war uns wichtig, dass die Beiträge möglichst unterschiedliche Medienformate vorstellen: Eine alternative Nachrichtenagentur in Mexiko, kommunales indigenes Radio in Honduras, Streetart in Jamaica, einen alternativen Fernsehsender in Venezuela, verschiedene Favela-Medien in Brasilien und ein Radioprojekt in Chile sollen ein möglichst vielfältiges Bild von lateinamerikanischer Gegenöffentlichkeit skizzieren.

Begleitet werden die Texte von Streetart-Fotos aus der Länderauswahl sowie aus Argentinien, Guatemala und Costa Rica. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fotograf*innen sowie das Goethe-Institut in Mexiko, das uns viele Fotos zur Verfügung stellte.

 

Information aus klarer Quelle

Euer Projekt nennt sich Autonome Nachrichtenagentur SubVersiones. Wie und wann entstand die Idee zur Gründung der Agentur?
Das Projekt entstand im Mai 2010. Einige der Gründungsmitglieder waren damals an der Universität, andere in verschiedene politische Projekte involviert, sowohl in indigenen Gemeinden als auch in urbanen Räumen. Die Agentur entstand letztlich in der gemeinsamen Berichterstattung über die Kämpfe des autonomen Munizips San Juan Copala (siehe LN 432 und 443). Wir unterstützten die Kommunikationskommission, welche nach dem Mord an Bety Cariño gebildet wurde. Außerdem halfen wir bei der Erstellung von Pressemitteilungen, verschickten Emails, entwickelten Websites und organisierten Pressekonferenzen. In bestimmten Situationen, wie der, als die „Friedenskarawane“ die Blockade in Copala durchbrechen wollte, koordinierten wir uns mit unabhängigen Medien, um eine kontinuierliche Berichterstattung zu liefern und so Schutz vor möglichen Angriffen zu haben. Diese Arbeit bündelten wir schließlich in einer gemeinsamen Organisation. Gleichzeitig sahen wir die Notwendigkeit, investigativ zu arbeiten, selber Informationsquelle zu sein und nicht bloß unüberprüfbare Daten zu wiederholen.

Wie sieht die Agentur heute aus? Wie viele Personen arbeiten dort und wie arbeitet ihr?
Wir sind im Redaktionskollektiv acht Personen, die sich regelmäßig treffen. Dazu kommen circa zwanzig weitere, die für die Agentur arbeiten. Die Idee ist, dass alle Mitglieder der Agentur fähig sind, zu schreiben, Geschehnisse in Foto und Video zu dokumentieren und hochwertige Radiobeiträge zu produzieren. Alle diese Beiträge publizieren wir auf unserer Website. So entsteht eine kleine „Armee“, die in vier verschiedenen Bereichen der Kommunikation arbeiten kann. Das gibt es in anderen Medien kaum.

Welche weiteren Unterschiede siehst du zwischen der autonomen Nachrichtenagentur und anderen klassischen und alternativen Medien?
Ich sehe in dieser Hinsicht zwei Dinge: zuerst den Anspruch, den wir an unsere Publikationen haben. Das heißt die Genauigkeit, mit der wir recherchieren, und die Qualität, mit der wir unsere Beiträge produzieren. Wir versuchen, überall hinzugehen und nicht über Dinge zu berichten, die wir nicht selbst gesehen oder recherchiert haben. Man soll uns ernst nehmen und nicht für einen einfachen Blog halten. Unsere Videos, Fotos und Texte produzieren wir grundsätzlich selbst. Das zweite ist unsere politische Position. Wir beziehen eine klare Stellung und machen sie deutlich, damit jeder Nutzer weiß, aus welcher Perspektive wir berichten – im Gegensatz zu vielen anderen Medien.

Welche Themen deckt die Agentur zurzeit hauptsächlich ab?
Wir liefern Berichterstattung zu verschiedenen sozialen Bewegungen in Mexiko wie der kommunitären Polizei in Cherán, nach wie vor zu den Autonomiebestrebungen in San Juan Copala, zum Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad („Bewegung für einen Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“) und einigen mehr. Gleichzeitig beginnen wir derzeit, uns systematischer mit Fragen der nationalen Politik sowie dem organisierten Verbrechen zu beschäftigen. Gleichzeitig berichten wir aber auch über Prozesse in Guatemala und Bolivien. Eine systematische Abdeckung von kulturellen Themen fehlt uns bislang leider. Letztlich haben wir viele Themen, würden aber gerne noch breiter berichten.

Wie aktuell ist eure Berichterstattung? Wie oft wird die Website aktualisiert?
Generell interessiert es uns nicht, mit anderen Medien zu konkurrieren und Nachrichten um der Anzahl willen zu veröffentlichen. Wenn wir eine Nachricht für fertig halten, publizieren wir sie. In der letzten Zeit haben wir allerdings täglich über die Geschehnisse nach dem 1. Dezember 2012 (Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten Peña Nieto, Anm. der Red.; siehe LN 463) berichtet. Allgemein denke ich, dass es mindestens eine neue Publikation am Tag gibt.

Neben der Website existieren auch Facebook- und Twitter-Accounts. Wie groß ist die Reichweite der Agentur zurzeit?
In Twitter sind wir derzeit erst am Anfang. Wir haben lediglich 382 Follower – diese stellen allerdings sehr gute Kontakte dar, die eine weitreichende Verbreitung unserer Arbeit möglich gemacht haben. Bei Facebook besitzen wir circa 5.000 Kontakte, unsere Website hat durchschnittlich 6.000 Besuche am Tag.

Gibt es Pläne, das Angebot auch in andere Mediengattungen zu diversifizieren?
Genau darin besteht eines unserer Probleme, oder besser gesagt, eine Herausforderung: Wir erreichen leider nach wie vor nicht alle Leute, die wir gerne erreichen würden. Wie also können wir mit unserer Berichterstattung auf die Straße gehen? Das Kernstück ist die Website, aber wir wollen auf längere Sicht eine Art Mitteilungsblatt oder Zeitung herausgeben, die Themen betrachtet, welche nicht auf der Website sind. Das ist eine große Herausforderung, aber in den letzten zwei Jahren konnten wir weitaus mehr vorankommen als jemals gedacht.

Hat die Agentur als alternatives Medium Verbindungen zu klassischen, kommerziellen Medien?
Ja, sehr gute sogar – vor allem mit den Leuten von Proceso, Contralínea und Animal Político. Wir konnten von ihnen viel lernen und unsere Arbeit verbessern. Inzwischen haben uns auch einige klassische Medien zitiert, gerade wenn wir über Themenfelder berichteten, in welchen sich diese kaum bewegen. Dies war bislang hauptsächlich bei drei Themen der Fall: unsere Anklage der Korruption und des Machtmissbrauchs durch die Polizei, bei Zollposten und Straßensperren im Nordwesten Chihuahuas, die Berichterstattung über die Situation in Cherán und gerade aktuell, die Berichte über die Demonstrationen am ersten Dezember 2012 in Mexiko-Stadt sowie die Situation der politischen Gefangenen danach – alles, was bis heute passiert ist. Wir können den medialen Diskurs also durchaus beeinflussen, wenn auch nicht immer.

Neben der reinen Berichterstattung ist die Agentur als Organisation auch in verschiedene Unterstützer_innen-Netzwerke, zum Beispiel für Cherán, eingebunden. Wie wichtig ist es für Euch, mehr als nur eine Informationsplattform zu sein?
Für uns ist ein wichtiger Aspekt der Kommunikation ganz klar die Vernetzung einer riesigen bestehenden Vielfalt an Organisationen, die sich mit journalistischen Erfahrungen, Kunst, Musik und sozialen Kämpfen beschäftigen. Unser Projekt hat drei Linien: Kommunikation, Vernetzung und Ausbildung – sowohl intern als auch extern. In den letzten zwei Jahren haben wir vor allem den Kommunikationsteil gefestigt und sind jetzt seit circa einem halben Jahr in der aktiven Vernetzung. Gleichzeitig sitzen wir in den Startlöchern des Bildungsprozesses, das heißt Mitgliedern und Interessierten unser Wissen über Kommunika­tionstechniken u. ä. weiter zu vermitteln.

Gibt es Erfahrungen mit Repression?
Eher Einschüchterung als Repression – für unsere Arbeit wurden wir mit dem Tod bedroht. In diesem Punkt kann ich öffentlich leider keine Details nennen. Aber ja, unsere Recherchen zur kommunitären und zivilen Sicherheit berühren nicht bloß die Interessen einiger Drogenkartelle, sondern auch die des mexikanischen Staates. Wir versuchen, die Verantwortlichen für Aktionen zu finden, welche Gewalt und Unsicherheit in den betreffenden Gebieten verursachen. Dies ist wichtig, da große Medien das nicht können, in den Gebieten hat man zu ihnen kein Vertrauen mehr, aber wir können von innen recherchieren. Ich spreche von den Bundesstaaten Michoacán und Guerrero. Es ist letztlich nicht möglich genau zu sagen, woher die Drohungen kommen, aber wir haben zwei natürliche Feinde: das organisierte Verbrechen und den mexikanischen Staat.

Welchen Schwierigkeiten muss sich die Nachrichtenagentur darüber hinaus entgegenstellen?
Das größte Problem ist sicherlich unsere prekäre Arbeitssituation, da wir keine finanziellen Mittel für all unsere Projekte haben. Ebenso können wir uns nicht voll auf die Agentur konzentrieren – wir alle brauchen eine weitere Arbeit, um Geld zu verdienen und uns für die Berichterstattung im Land bewegen zu können. Diese Situation müssen wir auf kurze bis mittlere Sicht ändern. Auf längere Sicht soll aus der Agentur dann eventuell eine Kooperative werden. Insgesamt müssen wir in den kommenden Jahren weiter wachsen und ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg.

Infokasten:

Heriberto Paredes Coronel

ist Journalist, Fotograf und Mitbegründer der Autonomen Nachrichtenagentur SubVersiones. Er arbeitete international für verschiedene Radiosender, gibt Fotografie-Workshops und ist derzeit Mitarbeiter bei Rompeviento Television sowie der Zeitschrift Variopinto.
http://www.agenciasubversiones.org/

„Ich kann mir Pessimismus gar nicht leisten“

Eines der großen Versprechen von Präsident Pérez Molina in seiner Wahlkampagne war die Verbesserung der Sicherheitssituation in Guatemala durch den Einsatz der Armee. Hat sich seitdem wirklich etwas geändert?
Ich denke, dass sich absolut gar nichts verändert hat, die Probleme bleiben genau die gleichen. Es müsste eine komplette Umbildung des Justizsystems und der Polizei geben. Die wenigen sichtbaren Fortschritte müssen vielmehr Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz angerechnet werden, die bestimmte Fälle vorangetrieben hat.
Die Regierung hat zwar mit diesem Betrug die Wahlen gewonnen, aber nichts gelöst. Die „harte Hand“ wurde vor allem auf die sozialen Bewegungen angewendet, auf die Demonstranten. Der Fall von Totonicapán (dort wurden im November 2012 sieben Demonstranten vom Militär erschossen, die Red.) ist schrecklich. Aber noch schrecklicher als die Vorfälle dort ist die Tatsache, dass der Präsident nicht sofort mindestens drei Minister entlassen hat. Oder auch die Informationspolitik der Regierung. Sie haben dauernd die Versionen gewechselt. Erst haben sie gesagt, dass Soldaten durch Machetenhiebe gestorben seien. Dann, dass sie sich durch Schüsse in die Luft verteidigt hätten. Und in der dritten Version, dass sie nur auf die Füße der Demonstranten geschossen hätten; und so weiter.

Wie kann dem Gewaltproblem begegnet werden?
Ich glaube jedenfalls nicht, dass es sich dadurch lösen wird, dass man Soldaten auf die Straße schickt. Vor Kurzem bin ich mit meinem kleinen Sohn in die Hauptstadt gefahren. Er sieht also die Colonias (abgeschlossene Wohnviertel der Wohlhabenderen, die Red.) mit ihren Gittertoren und bewaffneten Wachen und fragt mich: „Mama, warum gibt es so viele Gitter?“ Und ich sage: „Na ja, weil die Leute Angst haben, dass man ihre Sachen raubt.“ Und mein Sohn sagt: „Wäre es denn nicht einfacher, den Dieben Arbeit zu geben?“ Mhmmm – mein Sohn als Innenminister, wie wäre das? Wie ist es möglich, dass ein Kind so viel klarer sieht, was zu tun wäre?

Stimmt der Eindruck, dass es eine Veränderung in der Beziehung zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen gegeben hat? Im Sinne einer noch stärkeren Kriminalisierung des Protests als zuvor.
Es gab schon immer eine Kriminalisierung der sozialen Bewegungen. Vielleicht gibt es einen gewissen Fortschritt in der Hinsicht, dass sie dich früher – im Bürgerkrieg – direkt ermordet haben und jetzt kriminalisieren sie dich. Sie verunglimpfen dich oder stellen dich vor Gericht, die großen Unternehmen und Bergwerksbetreiber und diese Leute. Sie wissen, dass es nicht mehr ganz so einfach ist, dich umbringen zu lassen, und dass man ihnen auf die Spur kommen kann. Also zeigen sie dich an, beschuldigen dich des Terrorismus und versuchen, dich vollkommen in Misskredit zu bringen, indem sie sagen, dass du dich verkaufst, dass du Geld bekommst. In dieser Hinsicht hat sich die Art, wie sie angreifen, verfeinert; aber sie greifen weiter an.

Wie haben sich die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft verändert?
Ein Jahr nach dem Machtantritt von Otto Pérez Molina habe ich das Gefühl, dass sich die Gesellschaft weiter polarisiert hat. In den Neunzigern gab es dieses Motto: „Ja, wir haben Frieden und werden ein neues Land aufbauen“ und was weiß ich, aber heute stellen sich mir die Haare zu Berge bei den Kommentaren in der Presse. Da erscheint ein Foto von Rigoberta Menchú und die Kommentare in den Medien sind absolut rassistisch; so etwas gab es in den Neunzigern nicht. Diese Radikalisierung ist in den letzten Jahren sehr stark geworden und die Medien haben sich geöffnet für Leute wie Oberst Méndez Ruiz, der diese ganzen Prozesse gegen Vertreter der guatemaltekischen Linken wegen angeblicher Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen durch die Guerrilla angefangen hat.
Und dann diese pathetische Demonstration der militärischen Veteranenvereine vor Kurzem, wo Zury Ríos (Tochter des Ex-Diktators Ríos Montt und Präsidentschaftskandidatin der von ihm gegründeten rechtspopulistischen Partei FRG im Jahr 2011, die Red.) mitdemonstriert hat… Sie mit ihrem Plakat voraus und hintendran der Leibwächter mit ihrem Täschchen und Sonnenschirm! Und dann trauen die sich bei der Anzahl von toten Journalisten und Dichtern während des Krieges mit Plakaten aufzutreten, wo draufsteht: „Dank unserer Soldaten und nicht der Journalisten gibt es Meinungsfreiheit!“ Das ist eine schallende Ohrfeige für alle Toten und eine komplette Verleugnung der geschichtlichen Tatsachen.

Welche Position nehmen die sozialen Bewegungen Guatemalas ein?
Ich sehe sie nicht als eine sehr starke oder in sich einige Gruppe. Sie sind von Personen beherrscht, die seit Jahren Nutznießer der Gewerkschaften und Kooperativen sind. Die Lehrerorganisation zum Beispiel könnte so stark sein, aber mit einem Anführer wie Joviel Acevedo kann niemand irgendeine Sympathie mit ihr fühlen. Er ist ein totaler Gauner! Diese ganze Bewegung, die so bedeutend war für die Geschichte Guatemalas, für die Revolutionen, hat diesen Typen da sitzen! Und das macht sie für meine ganze Generation unglaubwürdig. Du willst dich mit diesen Leuten einfach nicht einlassen, du willst auf keine Demo gehen mit ihm an der Spitze. Ich würde mich schämen!

Manche meinen, dass ein Teil des Problems auch darin liegt, dass die Führungsebene vieler Organisationen noch aus dem Bürgerkrieg kommt und auch das Denken des Bürgerkriegs mitbringt. Gibt es auch deswegen so wenig Veränderung, weil kein Generationenwechsel stattgefunden hat?
Ja, klar, viele der Jungen, die sich in diesen sozialen Organisationen einbringen wollten, sind daran gescheitert, dass die Strukturen dort immer noch total hierarchisch und paternalistisch funktionieren. Da sind diese Leute, die glauben, sie wüssten, wie die Dinge zu funktionieren haben, und nicht zulassen, dass die Jungen sich einmischen, dass sie reden oder ihre Meinung sagen. Neulich habe ich mit einer Freundin gesprochen, die sich in der Politik engagieren wollte, und von der Partei bekam sie zu hören: „Ihr Jungen müsst jetzt erstmal Plakate kleben oder nach dem Treffen saubermachen.“ Und sie geben ihnen keinen Raum, wo sie sich wirklich ausdrücken können. Genauso machen es die NGOs oder die sozialen Bewegungen. Die NGOs haben normalerweise eine Führungsfigur, die Geld besorgt und die Projekte plant und kontrolliert. Alle anderen müssen gehorchen und sich anpassen. Deshalb können sich viele junge Leute auch nicht damit identifizieren, was da passiert. Im Gegenteil, sie fühlen sich benutzt. Und deswegen sind die Leute auch von der Parteipolitik so enttäuscht. Die Mehrheit will – so wie ich – nicht Politiker sein.

Gibt es denn Alternativen?
Ich wenigstens denke, dass die Vertretung der 48 Kantone von Totonicapán eines der hervorragendsten Beispiele für eine erfolgreiche Organisationsform ist. (Die 48 Kantone sind die traditionelle politischen Vertretung der Maya K‘iche‘ des Departamentos Totonicapán, die Red.) Das früheste Zeugnis von ihnen ist die Geschichte von Atanasio Tzul, der sich weigerte, den Spaniern Tribut zu zahlen, ein Schiff mit Gold belud, nach Spanien fuhr und dort das Land seines Volkes von der Krone kaufte. Diese von den Ahnen weitergegebene traditionelle Organisation funktioniert schon seit 300 Jahren perfekt. Und hier sehe ich viele junge Führungspersonen; augenblicklich wird sie zum ersten Mal von einer indigenen Frau geleitet, die erst 27 Jahre alt ist. Die 48 Kantone haben dabei eine unglaubliche politische Macht. Sie sind so gut organisiert, dass das ganze Volk sich beteiligt, wenn sie zu einem Marsch aufrufen. Deswegen war es auch ein großer Fehler von Pérez Molina, auf die Demonstranten schießen zu lassen. Er hat sich mit einer Organisation angelegt, die von allen anerkannt wird, die sich nicht verkauft und sehr große politische Stärke gezeigt hat. Hier habe ich Hoffnung. Totonicapán hat es im Laufe seiner Geschichte geschafft, sich nicht fragmentieren zu lassen – und das kann ein Beispiel sein.

Das alles klingt so, als hätte es nach der anfänglichen Hoffnung in der Zeit nach der Unterzeichnung der Friedensverträge eine ungeheure Enttäuschung in Guatemala gegeben, weil sich so wenig geändert hat. Was müsste im Land passieren, damit sich etwas zum Besseren verändert?
Ja, es gibt eine ganz klare Enttäuschung. Aber sie kommt auch daher, dass wir die ganze Zeit mit schrecklichen Nachrichten bombardiert werden und eine furchtbare Gewalt herrscht. Fast alle haben irgendeinen Menschen, den sie vor Kurzem betrauern mussten. Wir alle haben einen Bruder, einen Cousin, irgendjemanden, der ermordet wurde… und das macht uns vielleicht derartig enttäuscht.
Aber auf der anderen Seite fühle ich, dass es keinen Weg zurück gibt. Man darf sich nicht desillusionieren lassen, und da bin ich vielleicht etwas schizophren. In vielen Dingen bin ich sehr pessimistisch. Aber in anderen kann ich nicht pessimistisch sein, weil ich mir das gar nicht leisten kann. Die Dinge werden sich verändern und sie verändern sich schon; ich würde gern glauben, dass viele Leute genauso denken.

LucÍa Escobar
lebt heute mit ihrem Sohn in Antigua de Guatemala, wo sie an einer Sekundarschule unterrichtet und als Journalistin für verschiedene Radios und Zeitungen arbeitet. Dorthin musste sie im Jahr 2011 von ihrem vorherigen Wohnort Panajachel am Atitlán-See fliehen, weil sie selbst mit dem Tod bedroht wurde, nachdem sie in einem Artikel Misshandlungen und Morde denunziert hatte, die von den lokalen Autoritäten geduldete Bürgermilizen begangen hatten. Sie gehört mit 36 Jahren einer Altersgruppe an, die den Bürgerkrieg nur noch als Kinder und Jugendliche erlebte und auf gesellschaftliche Veränderungen und einen Generationenwechsel bei den gesellschaftlichen Entscheidungsträger_innen drängt.

„Erstes Massaker von Militärs in Friedenszeiten“

„Ich fordere Gerechtigkeit. Es kann nicht sein, es ist nicht fair. Warum haben sie meinen Ehemann massakriert?,“ schluchzt die in Schwarz gekleidete Quiché-Frau, umringt von ihren Kindern, ein Foto von ihrem ermordeten Mann in den Händen haltend. Auch die Heldenstatue auf dem zentralen Platz von Totonicapán ist in ein schwarzes Tuch gehüllt. Auf dem Sockel wurden Kränze, politische Botschaften und Zettel mit den Namen der Toten vom 4. Oktober hinterlassen. Tausende Einwohner_innen des vornehmlich von Maya-Quiché-Indígenas bewohnten Bundesstaates Totonicapán haben sich hier versammelt, um von den Toten Abschied zu nehmen. An eine Fassade hat jemand „Patriota Mörder“ gesprüht. Patriota ist der Name der Partei des amtierenden Präsidenten, dem Ex-General Otto Pérez Molina.
Am 4. Oktober hatten die Maya-Autoritäten der 48 Kantone von Totonicapán zur Blockade der Interamericana, einer der wichtigsten Verkehrsachsen des Landes aufgerufen. Die indigene Selbstorganisation ist eine der ältesten, politischen Maya-Organisationen des Landes. Sie genießt bis heute nicht nur starken Rückhalt in der lokalen Bevölkerung, sondern zählt auch zu den politisch durchsetzungsstärksten Indígena-Organsitationen in Guatemala. Immer wieder wehrte sie sich erfolgreich gegen Gesetzesentwürfe und Privatisierungsvorhaben der Zentralregierung.
An jenem Tag waren es drei Themen, die die Bevölkerung auf die Straße brachten: die Verlängerung der Lehrerausbildung von drei auf fünf Jahre sowie eine geplante Verfassungsreform, die in den Augen der indigenen Autoritäten die Selbstorganisation der indigenen Völker schwächen würde. Vor allem aber ging es um die hohen Strompreise der Elektrizitätsfirma Energuate.
Totonicapán zählt zu den ärmsten Bundesstaaten Guatemalas, doch zahlen seine Bewohner_innen einen der höchsten Stromtarife des Landes. „Viele arme Haushalte zahlen 100, 120 oder 150 Quetzales (circa zehn bis 15 Euro) für Strom im Monat, obgleich ihr Konsum minimal ist. In manchen Gemeinden zahlen Haushalte 30 Quetzales pro Monat für Straßenbeleuchtung, obwohl es dort gar keine Straßenbeleuchtung gibt“, erklärt die Sprecherin der Organisation, Andrea Ixchíu. Seit Beginn der Privatisierung vor über zehn Jahren haben sich die Bewohner_innen gegen die undurchsichtigen Stromrechnungen gewehrt, doch „nie haben sich Vertreter der Firma und Regierung mit uns an einen Tisch setzen wollen“, so Ixchíu weiter. Im Mai 2012 kaufte die britische Investmentfirma Actis die Mehrheitsanteile von Energuate, die 1,4 Millionen Personen in ländlichen Regionen mit Strom versorgt. Es kam zu erneuten Preiserhöhungen und Protesten. Anwohner_innen besetzten die lokale Niederlassung der Firma in Totonicapán und forderten die Annullierung eines Vertrags über Straßenbeleuchtung. Energuate erstattete Anzeige gegen mehrere Vorstandsmitglieder der Organisation wegen „Nötigung“ und „versuchter Entführung“. „Das hat die Leute hier sehr verärgert“, berichtet sie. „Deshalb gingen wir am 4. Oktober erneut auf die Straße.“
An jenem Tag waren 15.000 bis 20.000 Bewohner_innen dem Aufruf zur Straßenblockade gefolgt. Eine Delegation der Organisation war in die Hauptstadt gereist, um ihre Anliegen dem Präsidenten vorzutragen. „Wir hatten gerade alle zu Mittag gegessen, als uns die Nachricht erreichte, dass die Blockade ein Stück weiter von Sicherheitskräften attackiert worden sei. Kurz darauf tauchten drei Militärfahrzeuge vor uns auf“, erzählt ein älterer Mann aus seinem Krankenhausbett. Eine Kugel hat seine Hüfte durchschossen. Auch Domingo Julián Puac hat den Tag nur knapp überlebt. „Die Soldaten stiegen schnell aus. Erst schossen sie mit Trängengas und dann fielen Schüsse. Wir flohen ins Maisfeld, rannten hin und her. Die Soldaten machten wie Rambo: tatatatatata, ohne Pause,“ erzählt er. Insgesamt sechs Demonstranten wurden tödlich getroffen, 34 weitere verletzt, 14 davon erlitten Schussverletzungen. Eine Person wurde als vermisst gemeldet. Auf Seiten der Soldaten gab es laut offiziellen Angaben 13 Verletzte. Laut Untersuchungen der Staatsanwaltschaft starben alle sechs Personen durch Waffen der Armee. Insgesamt 108 Stück Munition hat die Behörde am Tatort sichergestellt. Inzwischen sind acht Soldat_innen und ein Oberst der extralegalen und versuchten extralegalen Hinrichtung angeklagt. Den Ermittlungen zur Folge agierte die sogenannte militärische Reserveeinheit der Bürgersicherheit zu keinem Moment unter ziviler Führung. Der Oberst widersetzte sich mehrfach den Anweisungen der Polizei, sich der Blockade nicht weiter zu nähern. Stattdessen befahl er seinen rund 70 Untergebenen auf 400 Meter vorzufahren und aus den Fahrzeugen zu steigen. Dann sollen DemonstrantInnen angefangen haben, die Soldaten und Fahrzeuge mit Steinen zu bewerfen. Daraufhin sollen die Militärs erst mit Tränengas und dann mit scharfer Munition auf die Zivilisten geschossen haben. Laut Ermittlungen soll sich der Oberst vor der Gewalteskalation vom Tatort entfernt haben, wodurch die Befehlskette unterbrochen worden sei. Für Ixchíu ist diese Darstellung wenig plausibel. „Soldaten handeln nicht allein, hier wird eine Befehlskette gedeckt,“ ist sie sich sicher. Auch die Staatsanwaltschaft und das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kommen zu der Schlussfolgerung, dass wichtige Elemente des Geschehens weiteren Untersuchungen bedürfen; „insbesondere die Unterbrechung der Befehlskette seitens des verantwortlichen Oberst.“
Die Vorfälle vom 4. Oktober haben derweil die Regierung Pérez Molina in die tiefste Krise seit Amtsantritt im Januar 2012 gestürzt. Internationale und einheimische Organisationen verurteilen die Militärgewalt scharf, fordern die lückenlose Aufklärung des „ersten von Militärs begangenen Massakers in Friedenszeiten“, so die Worte von Miguel Ángel Sandoval, eines der Unterzeichner der Friedensabkommen von 1996. Sie mahnen die Regierung an, den Einsatz der Armee in Aufgaben der öffentlichen Sicherheit, wie er von Pérez Molina verstärkt wurde, zu überdenken. Laut Carlos Sarti, Direktor der gemeinnützigen Stiftung Propaz, „liegt der Kern des Problems darin, dass die Regierung den sozialen Protest als Anliegen der öffentlichen Sicherheit betrachtet und nicht als ein demokratisch verbrieftes Bürgerrecht“. Für Sarti handelt es sich bei dem Massaker weder um einen Einzelfall noch um eine Rückkehr zu den Praktiken der Aufstandsbekämpfung der 1980er Jahre, wie manche soziale Organisationen meinen, sondern „um einen Ausdruck des militärischen Denkens in der Regierung“. In diesem Sinne sei „das Ereignis vorhersehbar gewesen“, so Sarti. „Wenn die Regierung seit Monaten, ja seit dem Wahlkampf, immer wieder betont, dass sie für Ordnung sorgen wird, dann dringt das auch zu den Soldaten durch; zumal das Militär ja dazu ausgebildet ist, einen Feind zu töten und nicht Demonstrationen aufzulösen“.
Menschenrechtsaktivist_innen führten die Vermutung an, dass es sich bei dem Akt um einen Versuch ultrarechter Kräfte innerhalb der Armee handeln könnte, die Regierung zu destabilisieren. Dabei verweisen sie auf das Massaker an zurückgekehrten Bürgerkriegsflüchtlingen in Xaman 1995, wo dies der Fall gewesen war. Außer Frage steht, dass Pérez Molina, selbst General und Ex-Geheimdienstchef, dem Beteiligung an Massakern in den 1980er Jahren nachgesagt wird, Schlüsselpositionen in seiner Regierung mit Gefolgsleuten aus seiner Zeit in Armee und Geheimdienst besetzt hat. Seine Ankündigung, zukünftig vom Einsatz der Armee bei sozialen Konflikten abzusehen, steht Sarti skeptisch gegenüber.
In den ersten Tagen nach dem Massaker hatte die Regierung die militärische Aggression geleugnet. Pérez Molinas erste Amtshandlung war eine Pressekonferenz Seite an Seite mit Verteidigungs- und Innenminister, dem Menschenrechts-Ombudsmann und den verletzten Soldaten, die in Krankenhauskleidung und teils in Rollstühlen vor laufenden Kameras berichteten, wie sie von den Demonstrant_innen attackiert worden waren. In einer Ansprache an die Nation, rief Pérez Molina die Führungspersonen der sozialen Protestbewegungen auf, „sich ihrer historischen Verantwortung des Respekts vor dem Gesetz und der Autorität anzunehmen und diese zu den leitenden Prinzipien ihrer Protestaktionen zu machen.“ Eine klare Verurteilung der Gewalt und eine offizielle Entschuldigung folgten hingegen nicht. Die Regierung habe „nicht den blassesten Schimmer, was es heißt, ein Land demokratisch zu regieren“, schrieb daraufhin Martín Rodríguez Pellecer, Direktor der Internetzeitschrift Plaza Pública. Etliche Kolumnist_innen werteten die Verletzungen des Passierrechts als Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit und sogar des Rechts auf Leben. Hohe Wogen schlugen die Äußerung von Außenminister Harold Caballeros gegenüber dem Diplomatenkorps. Auf die Bestürzung der ausländischen Vertretungen über die Toten erwiderte dieser: „Ich nehme schmerzhaft zur Kenntnis, dass in anderen Breitengraden acht Tote [zunächst war von acht Toten die Rede, Anm.d.R.] ein großes Ding sind und auch wenn das jetzt sehr unschön klingt, muss ich Ihnen sagen, dass wir hier täglich die doppelte Anzahl von Toten haben. Aus diesem Grund ist das nicht so viel Aufhebens wert, wie es vielleicht sein sollte.“ Caballeros hätte dies wohl kaum gesagt, wenn es sich bei den Toten um sechs gutbetuchte, hellhäutige Anwohner_innen der Hauptstadt gehandelt hätte, kommentierte ein Journalist die Aussage.
Erwartungsgemäß stellten sich auch die Unternehmerverbände CACIF, AnaCafé und das Agrobusiness hinter die Regierung. Sie hatten die Regierung seit Monaten aufgefordert, mit aller Härte gegen die von ihnen als „Terroristen“ bezeichneten Anführer_innen der Straßenblockaden vorzugehen, um die „öffentliche Ordnung“ und das Passierrecht aller zu garantieren. Laut einem Unternehmensbericht haben 20 Straßenblockaden im Jahr 2012 zu Umsatzeinbußen von rund 50 Millionen Euro geführt. Auch jetzt fordeten Unternehmen und ultrarechte Kreise die Staatsanwaltschaft auf, die Anführer_innen der Proteste festzunehmen.
Inzwischen hat sich Pérez Molina mit der Delegation der 48 Kantone von Totonicapán getroffen. Man sei in allen drei Themen zu ersten Vereinbarungen gelangt, heißt es seitens der Regierung. Derweil tauchte am 28. Oktober die Leiche des 49-jährigen Webers Domingo Puac aus Totonicapán in einem Fluss auf. Er galt seit dem 4. Oktober als vermisst. Sein Körper weise Spuren von Folter auf, so Familienangehörige und eine nationale Indígena-Organisation.

Alle Jahre wieder

Zum Weltuntergang am 21. Dezember dieses Jahres werden die Außerirdischen ihr irdisches Quartier im Berg des südfranzösischen Bugarach verlassen und die reisewilligen Menschen mit auf ihren Trip zu neuem Leben in die unendlichen Weiten des Weltenraums nehmen. Die Unterkünfte in dem Dorf sind bereits ausgebucht. Ein extremes Beispiel für die apokalyptische Stimmung, die die Esoterikszene seit geraumer Zeit umtreibt. Grundlage dafür ist die Vollendung eines großen Zyklus des Mayakalenders zur Wintersonnenwende 2012. Über den gesamten amerikanischen Doppelkontinent werden sich besonders an archäologischen Stätten Esoteriker_innen, aber auch indigene Gruppen einfinden und das Ende eines Zeitalters und die Geburt einer neuen Sonne feiern. Von den Tälern der Atacama-Wüste in Nordchile über Machu Pichu in Peru bis nach Teotihuacan in Zentralmexiko wird dieses Datum festlich mit Musik und Tänzen, Gebeten und Gesängen begangen werden. Weiß gekleidete Pilger_innen aus aller Welt werden sich in den Tagen um die Wintersonnenwende an ausgewählten energetischen Orten einfinden, um dort vor den Pyramiden allerlei Rituale zu vollziehen und sich mit kosmischer Energie aufzuladen. Die Hände gen Himmel ein paar Worte Maya zu rezitieren erhöht die Wahrscheinlichkeit erhört zu werden, von wem auch immer. Wenn tausende weißgekleideter Menschen vor der Pyramide des Kukulkan in Chichen Itza die Arme heben und das Mayawort für Sonne K’iin in einem langgezogenen Summen anstimmen, dann ist das eine Erfahrung, die unter die Haut geht. So geschehen zur Tag- und Nachtgleiche bereits Mitte der 90er Jahre. Zur letzten Jahrtausendwende hatte der Besucherstrom zu den Pyramidenstätten der vorspanischen Kulturen einen neuen Höhepunkt erreicht. Zur Wintersonnenwende dieses Jahres wird ein neuer Besucher_innenrekord erwartet.
In Chichen Itza Yukatan wird vor der Pyramide des Kukulkan am 21. Dezember 2012 die Rückkehr der gefiederten Schlange erwartet. Sie war als Kulturbringerin einer der wichtigsten Götter des vorspanischen Mittelamerikas, ein göttlicher Priesterfürst in Chichen Itza. Nachdem er entmachtet worden war entschwand er nach Osten übers Meer, nicht ohne vorher seine glorreiche Rückkehr anzukündigen. Und so tauchen in Yukatan zunehmend langhaarige und eigenwillig gekleidete Menschen auf, mehr oder weniger unter Einfluss von begehrten psychoaktiven Stoffen, die sich für eine Verkörperung dieses vorspanischen Gottes halten.
Maßgeblich beigetragen zum esoterischen Hype um die Maya hatte die Veröffentlichung des Buches Der Maya Faktor im Jahr 1987, in dem der Autor José Argüelles die klassischen Maya aus der Zeit zwischen 300 n. Chr. bis 900 n. Chr. als galaktische Maya bezeichnete und ihnen tiefe Einsichten in die jenseitige Welt zuschrieb. Seitdem hat das Interesse an den vorspanischen Kulturen zugenommen und jedes Jahr treffen sich mehr Menschen zu astronomisch relevanten Daten an vorspanischen Pyramiden, um Sonne, Mond und Sterne zu preisen.
Noch vor einigen Jahren war in Südmexiko von diesem Datum keine Rede und das Kalendersystem der vorspanischen Maya war der indigenen Bevölkerung fast gänzlich unbekannt. Das hat sich zunehmend geändert, und seitdem das Jahr 2012 begonnen hat, ist das Datum in aller Munde. Die Maya von Yukatan leben zwar nach dem gregorianischen Kalender, praktizieren aber eine rituelle Praxis, die auf vorspanische Wurzeln zurückgeht. Nun wird dieses Datum in ihre rituelle Praxis integriert, wie Don Antonio Ximenez Mukul, Maya-Priester aus Maní beschreibt: „Wir werden auf die Isla Mujers fahren und dort an der Karibikküste dieses Datum begehen und die Neue Sonne Tumben K‘iin begrüßen“. Er ist der indigene Priester der ökumenischen Gruppe (Grupo Ecumenico de Teologia India Mayense), der auch Maya aus Guatemala und Tzotzil- und Tzeltalmaya aus Chiapas angehören, wie auch befreiungstheologisch orientierte katholische Priester.
Im Kalendersystem der klassischen Maya sind mehrere Zyklen miteinander verknüpft: Das Sonnenjahr mit zirka 365 Tagen – Haab genannt – wurde in 18 Monate à 20 Tage und einen zusätzlichen Monat von fünf Tagen unterteilt. Erstaunlicherweise weist auch unsere gelebte Jahreszeit des Gregorianischen Kalenders einen Zeitraum am Ende des Jahres von fünf Tagen auf, der gemeinhin als „Zwischen den Jahren“ bezeichnet wird. Bei den Maya hatte dieser kurze Monat von fünf Tagen den Namen Uayeb und einen unglücksbringenden Charakter, so dass, wie in kolonialen Quellen beschrieben, die Maya-Bevölkerung in dieser Zeit ungern das Haus verließ. Neben dem Sonnenjahr der Maya gab es den Orakel- und Horoskopkalender Tsolk‘iin mit 260 Tagen. Tsol heißt auf Maya aufreihen, abzählen und K‘iin bedeutet Tag. In diesem Zyklus wurden 13 Ziffern mit 20 Tageszeichen kombiniert, so dass nach 260 Tagen die Ausgangskombination wieder erreicht wurde. Mit dem Geburtsdatum im Tsolk‘iin bestimmten die Priester in der vorspanischen Vergangenheit und bestimmen die heutigen Ajq‘ij die individuellen Eigenschaften eines Kindes. Das ist plausibel, wenn mit den 260 Tagen die Zeit einer Schwangerschaft vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zur Geburt beschrieben wird.
Neben den vorspanischen Büchern der Maya sind heute zahlreiche Kalenderdaten in Stein gehauen überliefert. In diesen Inschriften kombinierten die absolutistischen Gott-Könige der Maya weltliche und diesseitige Ereignisse mit kosmischen Daten. Die Geburt von Jaguar-Schlange II. aus Palenque wurde zu Legitimationszwecken mit der Konjunktion von Mond, Mars, Jupiter und Saturn assoziiert und so seine Abstammung von den himmlischen Göttern legitimiert. Dafür wurde das eigentliche Geburtsdatum in den Inschriften auf den Tag der Planetenkonjuktion verschoben. Diese Inschriften beginnen mit einem Zeitpunkt, der von einem mythischen Nulldatum aus berechnet wurde, entsprechend unserem „nach Christi Geburt“. Im Gregorianischen Kalender fällt das mythische Nulldatum der Maya auf den 13. oder 11. August 3114 vor Christus. Von diesem Nulldatum aus gerechnet endet am 21. oder 23. Dezember 2012 der 13te große Zyklus eines Baktun.
Bis heute ist nur eine in Stein gehauene Inschrift bekannt, die sich auf das Datum 21.12.2012 bezieht. Es ist das Monument Nr.6 aus der archäologischen Tempelstadt Tortuguero in Mexiko. Sie beschreibt die Ankunft einer königlichen oder göttlichen Person mit dem Titel Bolon Yokte‘ Ku‘. Leider – oder sollte man sagen glücklicherweise – ist der Teil mit den Informationen zur Person Bolon Yokte‘ Ku‘ so stark beschädigt, dass den esoterischen Interpretationen freier Lauf gelassen werden kann. Bolon ist die Mayazahl Neun, und neun Schichten hatte die Unterwelt der vorspanischen Maya. Kannten die Maya also neun apokalyptische Reiter?
„Die zahlreichen Hurrikans der letzten Zeit, so viele und so starke hat es früher nicht gegeben“, sagt Don Antonio etwas nachdenklich. In der ökumenischen Gruppe, der er angehört, schaffen die Mitglieder als Reaktion auf gesellschaftliche Marginalisierung und Umweltzerstörung ein Pan-Mayabewusstsein, eine spirituelle Antwort zur gnadenlosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

„Mexiko ist ein terroristischer Staat“

Sie beide haben am kürzlich verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen mitgearbeitet.
Antonio: Wir haben an dem Bericht mitgeschrieben, der der UNO-Arbeitsgruppe zum gewaltsamen Verschwindenlassen 2011 in Mexiko überreicht wurde. Unsere Organisation Accuddeh hatte die Aufgabe, das Gesetz zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern zu lektorieren, das Präsident Calderón vor kurzem veröffentlicht hat. Alejandro war an der Lobbyarbeit mit Abgeordneten und Senatoren für die Abstimmung über das Gesetz beteiligt.
Gleichzeitig haben wir versucht, weiterhin die sozialen Bewegungen zu begleiten.

Dennoch sprecht ihr recht provokativ von der Herausbildung eines „terroristischen Staates” in Mexiko. Inwieweit ist denn die Verletzung von Menschenrechten von staatlicher Seite systematisch?
Alejandro: Es gibt vor allem ein Wachstum des Paramilitarismus. Damit versucht der Staat, sich die Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen vom Leib zu halten. Dieses Phänomen ist sehr schwer nachzuweisen, denn es gibt kaum Zugang zu Informationen über die Kommunikation oder darüber, wo die Militärs oder die Bundespolizei zivile Kräfte trainieren, um Massaker oder Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger zu verüben. Wir beobachten aber in den letzten Jahren immer mehr Fälle, in denen der Staat Zivilisten beauftragt, gegen soziale Bewegungen oder Menschenrechtsorganisationen aktiv zu werden. Die paramilitärischen Gruppen beginnen, Gebiete und die Bevölkerung zu kontrollieren.
Was der mexikanische Staat organisierte Kriminalität nennt, nennen wir in der Mehrheit Paramilitarismus. Der Staat ist nicht schwach, gescheitert oder von Kriminellen infiltriert. Wir müssen das vielmehr als staatliche Politik verstehen.

Welche Interessen stehen dahinter?
Alejandro: Wir können vor allem eine Beziehung zwischen wirtschaftlichen Großprojekten und den Regionen feststellen, in denen die meisten Angriffe auf soziale Bewegungen stattfinden. Wir sind der Meinung, dass eine Aneignung, eine Vertreibung vom Territorium durch paramilitärische Gruppen stattfindet und manchmal sogar durch das Militär oder die Marine. Als nächstes folgt die Ansiedlung von Unternehmen, die Agrarprodukte – Avocado in Michoacán, Eukalyptus für den Holzabbau oder die Ölpalme für Biodiesel in Chiapas – in Monokulturen anbauen. Oder es geht um Bergbau: 300 Bergbauprojekte gibt es allein in den Bundesstaaten Oaxaca, Michoacán und Guerrero. Als letzte Phase sehen wir die Legalisierung dieser Vertreibungen.

Militärische und ökonomische Prozesse sind also Ihrer Meinung nach miteinander verknüpft?
Antonio: Ja. In Michoacán zum Beispiel gab es zuerst Militäroperationen. Die Militärs machen Hausdurchsuchungen nach Waffen, dann kommen paramilitärische Gruppen und beginnen eine Art Terrorsituation herzustellen. Wenn die Leute ihr Land nicht verkaufen wollen, töten sie sie. Und auf diesem Land, das die Menschen verteidigt haben, fängt eine Woche später die Avocado-Agrarindustrie an zu arbeiten.
Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen der Paramilitarisierung und der ökonomischen Produktion.

Konnten Sie diese Verbindung auch in anderen Fällen dokumentieren?
Antonio: Ja, im Juárez-Tal in der Nähe von Ciudad Juárez, im Fall Piedra Larga in Oaxaca und im Fall Chihuahua. In letzterem begann 2008 mit der Militäroperation Conjunto Chihuahua eine systematische Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern und die physische Auslöschung von Widerstand.

Wie beurteilen Sie die Menschenrechtssituation?
Antonio: Wir sehen einen Prozess der Einschränkung von Menschenrechten der Bevölkerung unter dem Vorwand des „inneren Feindes“ – des Drogenhandels. Der Drogenhändler kann irgendeine Person sein, die „eliminiert“, „neutralisiert“ wird. Das bedeutet, dass man ihm eine Kugel in den Kopf schießt.
Es werden Gesetze erschaffen, die die Ausübung der Menschenrechte einschränken. YoSoy#132 hat entdeckt, dass es auf öffentlichen Plätzen einiger Gemeinden des Bundesstaates Estado de México und in den öffentlichen Verkehrsmitteln von Mexiko-Stadt verboten ist, Flyer zu verteilen. Das ist eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße belegt ist. Es ist verboten, ein Plakat anzubringen. Man schränkt also das Recht auf Protest ein.

Welche Rolle spielen Polizei und Militär?
Antonio: Die institutionelle Militarisierung und die des sozialen Lebens sind ein weiteres Charakteristikum, auf dessen Basis wir sagen, dass in Mexiko ein terroristischer Staat aufgebaut wird. Es sind nicht nur 60.000 oder 50.000 Militärs in den Straßen, sondern Militär und Polizei beginnen, sich in eine soziale Kaste zu verwandeln. In der Präsidentschaft Calderóns wurde der Sold der Armee um 110 Prozent erhöht. Keinem Arbeiter hat man seinen Lohn in diesem Ausmaß erhöht. Es gibt ein Stipendienprogramm für Söhne von Militärs, von der Sekundarstufe bis zur Universität. In der Bundespolizei verdient man je nach Position zwischen 11.000 und 17.000 Pesos monatlich. Das sind sehr hohe Gehälter im Vergleich zum Mindestlohn, der bei 60 Pesos pro Tag liegt. Man schafft also nicht nur militärische Präsenz in den Straßen, sondern die Existenz als Militär oder Polizist wird zu einer Option, die eigene sozio-ökonomische Situation zu verbessern. Dazu kommt die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit. In 17 Bundesstaaten sind die Chefs der bundesstaatlichen Ministerien für öffentliche Sicherheit Militärs. Im Fall von Ciudad Juárez ist ein Militär sogar Chef der städtischen Polizei.

Gibt es in diesem Klima der Angst und der schwindenden Solidarität auch die umgekehrte Reaktion, dass die Menschen sich vermehrt organisieren?
Alejandro: Nein, im Gegenteil. Was wir in erster Linie beobachten ist, dass die Repression demobilisiert. Der Terror nimmt den Menschen den Mut, anzuzeigen was passiert. Ein aktuelles Beispiel ist, dass die Leute bei der Studierendenbewegung YoSoy#132, die viele Verletzungen der Menschenrechte dokumentiert hat, nicht wollen, dass ihre Namen veröffentlicht werden. Also erfährt niemand, was mit den jungen Leuten der Studierendenbewegung passiert. Der Terror hat ein gesellschaftliches Verstummen bewirkt und das wiederum zerbricht solidarische Bindungen. Das ist nichts Neues. Wenn man die Berichte der Nunca más Guatemala, der Nunca más Kolumbien liest, scheint es, als ob der mexikanische Staat Gebrauchsanweisungen zur Terrorisierung anwenden würde.
Das soll nicht heißen, dass keine Opferbewegungen entstünden oder Bewegungen, die sich beim Anblick davon, wie extrem die Terrorsituation ist, verteidigen. Auch wenn man sich die lateinamerikanische Geschichte ansieht, die Diktaturen in Chile, Argentinien, Guatemala, wird deutlich: Die politische Repression bewirkt eine beschleunigte Zersetzung des sozialen Gewebes. Ich habe Angst mit einer anderen Person zu sprechen, denn ich weiß nicht, ob sie zur Polizei gehört, ob sie mich anzeigen wird.

Sehen Sie eine politische Linke in Mexiko, die in der Lage, wäre diesen Prozess aufzuhalten? Da ist die Bewegung YoSoy#132, López Obrador hat sich von der PRD verabschiedet…
Alejandro: Wir sehen viel Unzufriedenheit aufgrund der Verstärkung der neoliberalen Politik. Wichtig ist aber auch das politische Bewusstsein darüber, wohin wir wollen. Wir müssen wenigstens damit anfangen, zu definieren, was wir nicht wollen, und dann etwas anderes machen als das. Ich glaube, dass Mexiko in dieser Phase ist. Wir müssen zur politischen Bildung zurückkehren, Theorie und politische Praxis zusammenzuführen. Es braucht einen neuen Schub einer sozialen Alternative, die aus der Bewegung selbst entsteht.
Auch wenn es der mexikanischen Linken nicht gefällt, es gibt in Mexiko nur einen Bezugspunkt, der auf nationaler Ebene eine große Masse, auch Jugendliche, verknüpft: López Obrador mit MORENA (Bewegung der nationalen Regeneration). YoSoy#132 ist eine andere Welle der Bewegung.
Antonio: Die große Herausforderung für die Linke in Mexiko ist nun, das Zersplitterte zu vereinen. Es gibt Opferbewegungen, die Friedensbewegung, die Kampagne gegen das gewaltsame Verschwindenlassen. Es gibt eine große Vielfalt. Aber was wir bisher nicht vermocht haben ist, uns untereinander zu vernetzen.

Was bedeutet die Verleihung des Aachener Friedenspreises für die Arbeit des Comité Cerezo?
Antonio: Die Anerkennung verleiht unserer Arbeit Legitimität. Das ist genau so wichtig wie die Anerkennung der Menschen in Mexiko. Der Aachener Friedenspreis macht uns etwas sichtbarer, in Mexiko, in Europa, und ermöglicht uns dadurch, mit den Fallbegleitungen fortzufahren. Er garantiert uns keinen Schutz, aber immerhin lässt er die politischen Kosten für den mexikanischen Staat steigen. In Mexiko wird die Aktivität von Menschenrechtsverteidigern kriminalisiert. Der Preis gibt uns die Möglichkeit zu sagen, dass unsere Arbeit rechtmäßig ist. Und das macht es dem mexikanischen Staat etwas schwerer, uns zu kriminalisieren.

Infokasten:

Comité Cerezo

Im September 2012 wurde die Arbeit des Comité Cerezo mit dem Aachener Friedenspreis gewürdigt. 2001 wurden Alejandro und Antonio Cerezo zusammen mit ihrem Bruder Héctor und Pablo Alvarado verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, an einem Sprengstoffanschlag in Mexiko-Stadt beteiligt gewesen zu sein. Während der Haft waren sie Folter ausgesetzt. Die Organisation Comité Cerezo gründete sich, um ihre Freiheit zu erwirken und weitete seine Arbeit dann auf die Verteidigung weiterer politischer Gefangener aus. Alejandro konnte das Gefängnis 2005 verlassen, seine Brüder 2009.
In den letzten Jahren sprechen soziale Bewegungen und Menschenrechtsverteidiger_innen von massiv verstärkter staatlicher Repression, gewaltsamen Vertreibungen und extralegalen Hinrichtungen. Angesichts dessen diversifizierte das Comité seine Arbeitsbereiche und machte sich in der mexikanischen Menschenrechtsarbeit durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, Morddrohungen gegen Menschenrechtsaktivist_innen, Hausfriedensbruch, Verfolgungen oder Abhörungen unverzichtbar. 2010 gründete das Comité die auf Schutz und Sicherheit von Aktivist_innen spezialisierte Organisation Accudeh.
Workshops für Bildungsmultiplikator_innen und die Stärkung von landesweiten wie lokalen Organisationsprozessen sind Teil der Arbeit, wie etwa die Weiterbildung der Menschenrechtskommission der Bewegung #YoSoy132. Für Aktivist_innen bietet das Comité Fortbildungen zu Menschenrechtsthemen, Dokumentation, Sicherheitsfragen und Erinnerungsarbeit an.
In den ersten fünf Monaten des Jahres 2012 dokumentierte das Comité etwa ein Menschenrechtsvergehen pro Tag, noch vor zwei Jahren durchschnittlich einen Angriff pro Woche. Der letzte Bericht des Comités spricht von 38 Fällen von durch staatliche Stellen oder paramilitärische Gruppen Verschwundenen aus dem Umfeld der Menschenrechtsbewegungen in ganz Mexiko zwischen Januar 2011 und Mai 2012. Im gleichen Zeitraum dokumentierte das Comité 29 extralegale Hinrichtungen. Auch das Comité selbst ist Zielscheibe von Aggressionen.
Sowohl am Arbeitsbereich zum „schmutzigen Krieg“, Straflosigkeit und Gewalt des Permanenten Völkertribunals wie an der Nationalen Kampagne gegen gewaltsames Verschwinden ist das Comité beteiligt.

Die Zone in Honduras

Am 3. September 2012 verkündete der honduranische Parlamentspräsident Juan Orlando Hernández die Unterzeichung eines Vertrages zwischen ausländischen Investor_innen und der Coalianza (Kommission für die Förderung von Öffentlich-Privaten Partnerschaften) zur Errichtung von drei Modell-Städten in Honduras. Er versicherte gleichzeitig, dass „die Sonderwirtschaftszonen auf unbewohntem Land errichtet werden“ und dass „es keine Landvertreibungen von sozialen Gruppen oder pobladores geben wird.“
Die afro-indigenen Garífuna sehen das anders. Sie leben in dem ‚unbewohnten‘ Gebiet, in dem die erste Sonderwirtschaftszone RED (Región Especial de Desarrollo) eingerichtet werden soll, die rund 2.000 Quadratkilometer umfasst. 24 Gemeinden sind von den Planungen betroffen und befürchten Landvertreibungen. Die Garífuna sind Nachfahren afrikanischer Sklavinnen und Sklaven, die seit dem 17. Jahrhundert an der Karibikküste von Belize, Guatemala, Nicaragua und Honduras leben. Von der UNESCO wurden die Garífuna-Gemeinden als Weltkulturerbe anerkannt. Für das Land an der Küste im Norden von Honduras erhielten die Garífuna vom nationalen Agrarinstitut (INA) Landtitel für die kollektive Nutzung des Gemeindelandes.
Bei ihrem Widerstand gegen die ciudades modelo geht es den Garífuna und indigenen Organisationen darum, den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen, des Wassers, der Wälder und des Landes zu verhindern und damit letztendlich auch um den Erhalt ihrer eigenen Existenz, die an das Land gebunden ist. Von der Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone befürchten sie die Verletzung ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte und der bürgerlichen Menschenrechte.
Für Parlamentspräsident Hernández ist der 3. September 2012 „ein ganz großer Moment in der Geschichte Honduras‘“. Er ist davon überzeugt, dass das an diesem Tag unterzeichnete Abkommen zwischen Carlos Pineda, dem Vorsitzenden von COALINAZA, und dem US-amerikanischen Investoren-Konsortium MKG Group ein wichtiger Schritt in eine prosperierende Zukunft sei und „Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden.“
Die MKG Group stellt die ersten 15 Millionen US-Dollar für die Infrastruktur der Modell-Stadt bereit. Zusätzliche vier Millionen US-Dollar erhält die honduranische Regierung aus Südkorea. „Wir erwarten zunächst kleine und mittlere Unternehmen – textilverarbeitende Fabriken, Call Center und Montagewerke, die Autoteile, Computer oder andere Exportprodukte für den amerikanischen Markt produzieren“, so Michael Strong, Vorsitzender der Investor_innengruppe. „Langfristig sollen aber tatsächliche Städte gebaut werden. Sobald es Arbeitsplätze gibt, soll eine vollständige Infrastruktur mit Wohnhäusern, Geschäften und Schulen geschaffen werden.“
Eine Verfassungsreform im Oktober 2011 hatte auch ausländischen Investor_innen die Möglichkeit eingeräumt, in den Sonderwirtschaftszonen Landbesitz zu erwerben und für 40 Jahre zu ‚verwalten‘. Die Investor_innen sind dann zuständig für Verwaltung, Haushaltsplanung, Rechtsprechung und Sicherheitsorgane. Sie handeln autonom und dürfen den Plänen nach sogar eigene Steuern erheben und eigenständig internationale Handels- und Investitionsverträge abschließen.
Die Idee stammt von Paul Romer, einem bekannten Vertreter der marktliberalen Chicagoer Schule. Andere neoliberale Investor_innen begrüßen die Initiative. Unter anderem bewirbt Patri Friedman, Enkel des neoliberalen Vordenkers und Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman, das Projekt ‚Future Cities‘ seit 2011 als soziales Projekt, das die Verbesserung der Lebensbedingungen der benachteiligten Bevölkerung in den Modell-Städten zum Ziel habe. Es ist der neoliberale Traum eines von staatlichen Regeln und Aufgaben ungehemmten Kapitalismus, von Stadtstaaten und der Selbstorganisation des Marktes, der in Honduras verwirklicht werden soll. Ob Arbeitsrechte, das Recht auf Bildung von Gewerkschaften, Mindestlöhne und ein Ausgleich zwischen Arm und Reich in diesem Modell berücksichtigt werden, bleibt stark anzuzweifeln.
Dass das Projekt nicht im Einklang mit einem großen Teil der Bevölkerung steht, belegen die rund 55 Verfassungsbeschwerden beim Obersten Gerichtshof. Anwält_innen, Vertreter_innen sozialer Bewegungen und Einzelpersonen haben sich dem Kampf der Garífuna-Organisation OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña) gegen die ciudades modelo angeschlossen und klagen auf Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, das die Einrichtung der RED ermöglicht hat.
„Diese Modellstädte sind Enklaven wie auch die Bananenplantagen und die Minen- und Holzgeschäfte Enklaven skrupelloser Ausländer sind, denen Honduras egal ist“, stellt Padre Fausto Milla, Menschenrechtsverteidiger und Angehöriger der alternativen Wahrheitskommission in Honduras, klar. Er betont, dass durch das Gesetz das Land den schlechten Freunden von Honduras übergeben würde. Die Kläger_innen befürchten den Machtverlust der Legislative und den Verlust der territorialen Souveränität. Einige Klagen richten sich auch direkt gegen Präsident Porfirio Lobo – ihm werden Landesverrat und Machtmissbrauch vorgeworfen.
Dass für Lobo, das Parlament und die Investor_innen auch in eigenen Kreisen der Rückhalt bröckelt, zeigt der Rückzug Paul Romers aus dem Projekt, den er in einem öffentlichen Brief an Lobo angekündigt hat. Die Unterzeichnung des jüngsten Abkommens fand ohne das Wissen der fünfköpfigen Kommission für Transparenz statt, die unter Romers Vorsitz die Regierbarkeit der Modell-Städte sicherstellen soll. „Ich weiß nicht, was die Leute meinen, wenn sie von ‚privaten Städten‘ sprechen. Aber wenn es darum gehen soll, dass es keine Institutionen oder Regierung gibt, dann befürchte ich, dass eine essentielle Voraussetzung für eine erfolgreiche Stadtbildung fehlen wird.“ schreibt Romer.
Für Selvin Lopez, Sprecher von OFRANEH, sind die jüngsten Bauarbeiten in Trujillo – ganz in der Nähe von Puerto Castillo – im Zusammenhang mit der geplanten ciudad modelo zu betrachten. Der Stadtteil Cristales wird momentan in ein barrio modelo (Modellstadtteil) umgewandelt. „Mit dem barrio modelo werden den Bewohner_innen zwar neue Wasser- und Abwasserleitungen und Neubauten anstelle baufälliger Häuser versprochen, wer aber dafür aufkommen soll, ist bislang ungewiss“, erklärt Lopez. Er befürchtet, dass diejenigen, die die dafür anfallenden Steuern nicht zahlen können, aus dem Modellstadtteil vertrieben werden. José Francisco Gomez von Radio Waruguma steuert bei: „Wir sind nicht gegen die Entwicklung von Trujillo, wir wollen nur, dass die Zuständigen uns erklären, was der Modellstadtteil kosten wird, und was wir verlieren werden. Wir sind besorgt, weil man uns nicht die ganze Wahrheit sagt.“

Invasion der Zäune

„La vaca no es mala, es malacita – die Kuh ist nicht böse, sie ist nur ein bisschen durchtrieben“, sagt einer der beiden Kontrahenten am Ende der Diskussion und alle müssen lachen. Wir sind auf einer Versammlung der Garífuna-Gemeinde Triunfo de la Cruz an der honduranischen Karibikküste. Zwischen Wiesen und Bäumen, ein bisschen entfernt von den nächsten Häusern, haben sich fast fünfzig Frauen, Männer und Kinder unter einem schattenspendenden, offenen Holzbau versammelt, um die anstehenden Probleme in der Gemeinde zu besprechen. Gerade haben wir eine Menge über einen Streit zwischen zwei Nachbarn gehört, über ihre beiden Ehefrauen, die sich nicht ausstehen können, und die durchtriebene Kuh, die nicht angebunden ist und immer an der falschen Stelle grast. Der Streit scheint für das erste beigelegt, zusammen wurde eine Lösung gefunden.
„Es ist wichtig, auch diese kleinen Konflikte gemeinsam zu regeln“, sagt Alfredo López von der Garífuna-Organisation OFRANEH nach der Versammlung. Er lebt selbst in Triunfo und weiß, dass aus kleinen Streitigkeiten große Konflikte werden können, die die Gemeinschaft schwächen. Dabei ist der Anlass des Treffens sehr ernst: Wenige Tage zuvor wurden drei Männer aus Triunfo am frühen Abend von einer Gruppe Maskierter entführt. Die Entführer trugen Uniformen der Eliteeinheit der nationalen Polizei und waren mit großkalibrigen Waffen ausgerüstet. Die Opfer wurden in nur zwei Kilometern Entfernung brutal ermordet, auf eines von ihnen wurden fünfundzwanzig Schüsse abgegeben. Alle drei hatten eine wichtige Rolle in Triunfo, zwei von ihnen gehörten die beiden einzigen Billardcafés, dem dritten Ermordeten ein kleiner Laden.
Es ist das erste Mal, dass das organisierte Verbrechen in dieser Form in Triunfo zuschlägt und die Gemeinde weiß nicht genau, worum es bei diesen drei Morden geht. Um Schutzgelderpressung wird vermutet. Unklar ist auch, wie sie darauf reagieren können. Soll ein Alarmsystem eingerichtet werden? Sollen sie sich bewaffnen, um sich im Notfall verteidigen zu können?
Klar wird jedenfalls, dass die Polizei nicht daran interessiert ist, die Morde aufzuklären, sie hat keine Ermittlungen eingeleitet. Noch klarer sind die Folgen der Morde: Die Menschen haben Angst, sie gehen lieber nicht mehr aus dem Haus, sobald es dunkel wird, sie haben weniger Kontakt zueinander. Wer wird es wagen, wieder einen Billardsalon zu eröffnen, in dem man sich treffen kann?
Triunfo de la Cruz ist eine von vielen Garífuna-Gemeinden an der Karibikküste Mittelamerikas. In Belize, Nicaragua, Guatemala und Honduras haben ehemalige Sklavinnen und Sklaven im 17. Jahrhundert Dörfer gegründet, in denen ihre Nachkommen bis heute leben und sich eine eigene Sprache, Kultur und gemeinschaftlichen Landbesitz bewahrt haben. Die UNESCO hat die Garífuna-Gemeinden zum Weltkulturerbe erklärt, die ILO-Konvention 169 soll ihre Landrechte schützen. 1994 wurde die Konvention von der honduranischen Regierung ratifiziert. Doch die früher entlegenen und wenig lukrativen Gebiete der Garífuna werden ökonomisch immer interessanter, zum Beispiel für den Bau von Beach-Resorts oder sogenannten Charter-Cities (siehe vorangehender Artikel). Die kollektiven Landrechte der Garífuna werden häufig verletzt, ihr Gemeindeland ohne Einhaltung ihres Konsultationsrechts an Dritte veräußert oder von einflussreichen Persönlichkeiten und Unternehmen einfach besetzt.
„Zu einer Garífuna-Gemeinde gehören eigentlich keine Zäune“, erklärt mir Alfredo López, als wir am Ende des Tages auf seinem Hof stehen. Richtig, das ist mir auch schon aufgefallen. Die niedrigen Holzhäuser stehen mehr oder weniger dicht beieinander, zwischen ihnen verlaufen sandige Pfade, die mir das unbehagliche Gefühl geben, gerade unwissentlich durch einen fremden Vorgarten zu laufen. Er lacht, als ich ihm das erzähle. „Wir wissen schon, wo das Grundstück der anderen anfängt und wo es aufhört. Aber viel wichtiger ist, dass wir uns um unsere Nachbarn kümmern. Zu unserer Kultur gehört es, die Nachbarn morgens zu grüßen, wenn wir unseren Hof fegen, wir fragen sie, wie es ihnen geht. Wenn ich sie nicht treffe, dann gehe ich zu ihnen, um zu sehen, ob sie krank sind oder Hilfe brauchen. Allerdings gibt es auch bei uns in den letzten Jahren immer mehr Zäune und nach diesen Morden werden es sicher noch mehr werden.“ Was er mir an diesem Abend nicht erzählt: Nach dem Putsch 2009 wurde ein Brandanschlag auf das Gebäude des Garífuna Radiosenders Coco Dulce verübt, in dem er arbeitet. Und vor einem Jahr ein weiterer Brandanschlag auf das Haus, in dem er mit seiner Familie lebt. Nur durch Zufall wurde niemand dabei verletzt.
Am nächsten Morgen verlassen wir Triunfo in Richtung des nahegelegenen Nationalparks Punta Izopo. Wir wollen uns aus der Nähe ansehen, wo die Garífuna-Gemeinde von Landkonflikten betroffen ist und um welche Gebiete es dabei geht. Überraschend schnell zeigt sich das Problem. Sobald die Bebauung von Triunfo weniger dicht wird, gibt es einzelne Häuser, die sich Menschen von außerhalb ohne Zustimmung der Gemeinde angeeignet haben und damit die gemeinschaftlichen Landrechte verletzen. Kaum zehn Minuten außerhalb des Ortskerns von Triunfo beginnt dann eine offensichtlich neu gebaute Mauer, die mit einer Höhe von 40 Zentimetern eher harmlos wirkt. Allerdings lassen die alle vier Meter eingelassenen Pfosten den Schluss zu, dass sie noch sehr viel höher werden soll. Und sie ist lang, sehr lang. Gebaut wurde sie von privaten Investoren aus San Pedro Sula, denen die Stadtverwaltung der nahegelegenen Kleinstadt Tela widerrechtlich Landtitel erteilt hat. So wurden mehrere Quadratkilometer Land und Wald direkt an der Küste „eingemauert“ und der gemeinschaftlichen Nutzung entzogen.
„Dies ist alles Land, das zu Triunfo de la Cruz und damit unserer Garífuna-Gemeinde gehört“, erklärt uns Alfredo López. „Mit dieser Mauer haben sie die Wege, die bereits von unseren Vorfahren angelegt wurden, unterbrochen und uns vom direkten Zugang zum Meer abgeschnitten.“ Auf der zum Meer gelegenen Seite hat die Gemeinde die Mauer daher schon einmal in einem Akt des zivilen Widerstandes niedergerissen. Doch auf der anderen Seite ist sie dafür zu lang und wir müssen mit dem Wagen um sie herum fahren.
Wenige hundert Meter danach beginnt auf der mauerlosen Seite der Straße ein Zaun. „Dieses Grundstück ‚gehört‘ einem Abgeordneten in Tegucigalpa mit sehr viel Einfluss“, erläutert Alfredo López weiter. Auch dieser Zaun ist sehr, sehr lang. Es ist ein ganzer Wald, den der Abgeordnete Oswaldo Ramos Soto von der Nationalen Partei für sich beansprucht. Um dieses Land führt die Garífuna-Gemeinde eine gerichtliche Auseinandersetzung, die sie möglicherweise auch gewinnen kann. Allerdings wird es Jahre dauern, bis das Gericht zu einer Entscheidung kommt. Solange kann der Abgeordnete in Ruhe Ideen entwickeln, was er mit dem Waldstück anfangen möchte. Zum Beispiel ein Beach-Resort bauen, in direkter Nähe des Nationalparks Punta Izopo oder möglicherweise sogar Ökotourismus anbieten.
Mangels eines anderen Weges parken wir schließlich am Ufer des Flusses, den wir zu Fuß durchqueren. Stellenweise geht uns dabei das Wasser bis zur Brust. Kein Problem für uns mit unseren Rucksäcken, aber ein echter Zugang zum Nationalpark ist das natürlich nicht. Anschließend laufen wir zwei Kilometer über den Strand in Richtung des sogenannten núcleo, des besonders geschützten Bereiches des Nationalparks. Als wir dort ankommen, sehen wir als erstes ein großzügiges Wohnhaus mit mehreren kleinen Gästehäusern direkt am Fluss. Üppiger grüner Rasen umgibt die Anlage, die natürlich eingezäunt ist. Am Strand warnt ein großes Schild „Privat! Keine Tiere zugelassen!“ Hinter Schild und Zaun grasen friedlich zwei Reitpferde, sie sind offensichtlich nicht gemeint.
„Dieses Haus gehört Miguel Facussé“, sagt Alfredo López. Facussé ist einer der führenden Unternehmer in Honduras, der ein ganzes Palmölimperium in der Region Bajo Aguán aufgebaut hat. Er und seine Unternehmen sind im ganzen Land in zahlreiche Landkonflikte verwickelt. Auch eine der größeren Tageszeitungen des Landes gehört seiner Familie. „Wenn Facussé ‚zu Hause ist‘, dann bewachen schwerbewaffnete Männer den Strand und den Zugang zum Nationalpark. Niemand darf das Haus passieren, auch die Fischer nicht.“
Der Nationalpark Punta Izopo, dessen Einrichtung die Garífunas von Triunfo de la Cruz nach langem Zögern zugestimmt hatten, wird von einer Stiftung namens PROLANSATE verwaltet. Die Stiftung ist unter anderem für das Umwelt-Monitoring des Baus des riesigen Beach & Golf-Resorts Los Micos verantwortlich. Bis 2010 hat sie Subventionen der EU erhalten. Offensichtlich duldet PROLANSATE, dass einer der großen Wirtschaftsbosse des Landes in dem besonders geschützten Bereich des Nationalparks Punta Izopo ein Privathaus gebaut hat und dies regelmäßig nutzt.
Nur ein paar Schritte weiter wird klar, warum dieser Standort für Facussé möglicherweise so interessant ist. Auf einem breiten Pfad gelangen wir vom Strand zu einer leicht erhöhten Landspitze mit einer gut gepflegten Rasenfläche, die wie ein privates Fußballfeld wirkt. Nur Tore und weiße Markierungen fehlen. Am Rand steht ein kleiner Rundbau, der Schutz vor Regen bieten kann. „Die Fischer sehen hier häufig Lichter, besonders nachts“, sagt Alfredo. „Wir nehmen an, dass dies ein illegaler Hubschrauberlandplatz ist. Aber wem sollen die Fischer davon erzählen, ohne ihr Leben zu riskieren?“ Links der Landspitze hat vor einigen Jahren das Meer mehrere Quadratkilometer Küste verschlungen. Das Wasser ist hier besonders flach und ruhig, ein kleines Schiff könnte in der Nähe des Hauses von Facussé ankern und entladen werden, indem man zu Fuß durch das Wasser geht. Auf der anderen Seite der Felsen beginnt dagegen das offene Meer. Als Drogenumschlagplatz wäre dieser Ort optimal geeignet – das leuchtet sofort ein.
Jenseits der Landspitze – auch auf dieser Seite gehen wir über einen unbewachsenen, breiten Weg – liegen mehrere Quadratkilometer Land, die ebenfalls zur Garífuna-Gemeinde von Triunfo gehörten. Einige Grundstücke wurden von Angehörigen der Garífuna „offiziell verkauft“ und Alfredo López sieht nur sehr wenige Chancen diese zurückzufordern. Am Strand liegt ein altes Kanu voller Löcher und er zeigt uns, wie die Fischer mit Gummi versucht haben, seine Lebensdauer zu verlängern: „Die Einrichtung des Nationalparks hat für uns Garífunas bisher nur Nachteile gebracht. Früher haben die Fischer aus dem Wald die großen Bäume geholt, die wir brauchen, um unsere traditionellen Kanus zu bauen. Heute ist auch das Schlagen von einzelnen Bäumen nicht mehr erlaubt. Die Bestimmungen des Naturschutzes erlauben die nachhaltige Nutzung des Waldes nicht mehr, die wir seit Generationen praktizieren. Das ist für uns besonders schwierig, weil der Fischfang eine der ganz wenigen Einkommens- und Nahrungsquellen in Triunfo de la Cruz ist.“
Als wir über den Strand zurückkehren – und nun mit einem deutlich unguten Gefühl an dem Haus von Miguel Facussé vorbeigehen – fährt ein großer Geländewagen der Oberklasse mit verdunkelten Scheiben an uns vorüber. „Die sieht man hier jetzt immer öfter“, sagt Alfredo und seine Miene verdüstert sich. „Doch wir sind entschlossen, für unsere Rechte zu kämpfen. Dieses Land gehört uns, den Garífunas, seit vielen, vielen Generationen.“

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