„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Zeitschrift der Widerspenstigen

Der Hip-Hop-Laden ToxikA in der dritten Avenida auf der Höhe der 12. Straße offeriert im Vorderraum von Spraycans über Sticker, Poster und original-verzierten T-Shirts und Mützen alles, was das Herz des Graffiti-Fans begehrt. Dahinter wohnt Kunti, die den Laden vor ein paar Jahren eröffnet hat in einem mittelgroßen Zimmer. Eine Matratze, ein Sofa, ein Computer, aus dem Hiphop tönt, und eine Ecke, die als Lager für den Laden fungiert, das ist das Reich der Fünfundzwanzigjährigen, die als eine der Pionierinnen der weiblichen Streetartszene Guatemalas gilt.
„Ich habe angefangen zu taggen, meine Kunst war damals also noch sehr einfach, aber ich war von Anfang an auf der Straße, also im nicht legalen Ambiente, und das hat mir damals schon Respekt verschafft“, sagt Kunti, deren Künstlername Tuti ist. Seither hat der Austausch mit nationalen und internationalen Künstler_innen ihr Leben und ihre Kunst bereichert. Chuck aus Nicaragua war hier, Blu aus Italien, Stingfish aus Kolumbien, die Crew des Illegal Squat aus Mexiko-Stadt, und Grafiteras wie Aisha aus Kanada oder Rank aus Acapulco. Ich habe viel von diesem Austausch gelernt, meinen Tag geändert, zu sprayen begonnen, bin thematisch und stilistisch komplexer geworden.“
Guatemalas Grafiteros und Grafiteras schöpfen aus einer reichen Vielfalt von Themen und Kulturen, die zumindest in Zentralamerika ihresgleichen sucht. Die jüngere Geschichte Guatemalas, die 35-jährige Militärdiktatur werde nach wie vor von politisch Aktiven thematisiert, zum Beispiel durch die „Hijos“, eine Organisation der Kinder von Diktaturopfern, die regelmäßig mittels Parolen und Murales im öffentlichen Raum fordern, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und so die Erinnerung an das dunkelste Kapitel der guatemaltekischen Geschichte wachhalten. Da gibt es die christliche „En Diós Confiamos“-Crew, die Tauben, Kreuze und Bibelsprüche an Vorstadtwänden anbringt. Da sind neuerdings auch die Jugendlichen unter dem Regenbogen, die der stetig wachsenden schwulen Bewegung mittels farbenfrohen Stencils Ausdruck verleihen. Und 180 Grad davon weg sind die Maras, die gefürchteten Jugendbanden Zentralamerikas, die mittels Graffitis ihre Territorien abstecken.
Gerade die Maras haben den ersten Grafiteros das Leben am Anfang schwer gemacht. Nicht sie selbst, sondern ihr Ruf und die Polizei, die noch vor wenigen Jahren in jedem sprayenden und taggenden Jugendlichen einen Staatsfeind sah. SOFT hat diese Erfahrung zu Beginn seiner Karriere vor acht Jahren zur Genüge gemacht. Die Zone Sechs, wo SOFT aufwuchs, gilt zwar nicht als Hotspot der Kriminalität, wie die Limonada in der Zone Fünf oder die Barrios weiter draußen. Aber die „Bullen“ hätten überall Jagd auf Jugendliche gemacht, die nicht so aussahen oder sich so benehmen wollten, wie es sich angeblich gehört. Nachts sprayen war nach den ersten heftigen Erfahrungen mit der Polizei, mit gezückten Waffen, derben Sprüchen und körperlichen Übergriffen nicht mehr das Wahre. „Bei Nacht hat man uns für Mara gehalten, am Tag für Anstreicher, das war dann doch entspannter“, grinst SOFT.
SOFT kommt im Gegensatz zu vielen Grafiteros nicht aus der Mittelschicht, sondern aus dem Barrio. Er arbeitet auf einem Parkplatz, in der Zone 1, das Büro ist gleichzeitig Treffpunkt der Crew. Der dunkle Nebenraum ist komplett bemalt und besprayt, eine Mischung aus Lagerraum für Graffitiutensilien, Atelier und Pennplatz. „Ich mag es, in der Nähe zu malen, wo ich wohne, damit ich meine Werke täglich sehen kann! Ich will den Leuten zeigen, dass das Leben vielfältig ist und dass man sich nur umschauen muss, um interessante Sachen zu sehen, zum Beispiel ein Graffiti, zum Beispiel Gesichter.“ Ein Werk, nur einen Steinwurf vom Parkplatz entfernt, drückt das aus: „Menschen haben mehrere Gesichter. Einige haben zwei Gesichter, wie ein großes Monster. Andere ändern ihren Ausdruck nach Stimmungslage und Uhrzeit. Ich zeige die Stadt mit ihren Gesichtern, die sonnendurchfluteten Straßen, die Berge, die die Stadt umgeben. Die Stadt inspiriert mich, sie erzeugt in mir Bilder und diese Bilder versuche ich, auf die Wände zu bringen.“
Eine Strategie, beim Stadtverschönern die Polizei in Schach zu Halten, sei das gezielte Mitnehmen von Frauen, berichtet Kunti, die sich darüber auch ihren Platz in den einstigen Männerclubs gesichert hätten. Vor allem nachts sind die Streifen meist nur mit Männern besetzt und die dürfen Frauen nicht durchsuchen. Kommt die Polizei, schnallen sich die Frauen im Team die Ausrüstung um. Überhaupt müsse man wissen, was die Polizei darf und was nicht. „Festnehmen dürfen sie dich schon mal gar nicht, Sprayen und Taggen ist eine Ordnungswidrigkeit und allenfalls eine Sachbeschädigung“, erklärt Kunti. Dennoch kann es unangenehm sein, von der Polizei zur Aufnahme von Personalien mitgenommen zu werden und war es auch für ARIS, als sie zum ersten Mal mit auf die Wache musste: „Ich wusste damals nicht, wie das abgeht und die Leute hier haben ja traditionell Angst, vom Staat mitgenommen zu werden. Mir war da auch ganz schön mulmig. Aber im Endeffekt passiert nichts, du kriegst nicht mal ne Anzeige, weil das der Polizei viel zu viel Arbeit ist!“
ARIS sprayt und malt, was sie persönlich bewegt. Meistens sind das Köpfe von Personen, die oder deren Tun ihr viel bedeuten. „Nicht alle wissen, wen ich da gerade darstelle, aber diejenigen, die es wissen, erkennen auch, warum“, sagt die 20jährige, die ein bisschen die nächste Generation von Frauen in der Szene repräsentiert. Eine der Persönlichkeiten, die sich dank ARIS oft auf Häuserwänden des Zentrums wiederfinden, ist die uruguayisch-argentinische Sängerin Alika, ursprünglich Teil des Hiphop-Duos Actitud María Marta. Was als recht einseitige Idol-Fan-Beziehung begann, ist heute eine Freundschaft, seit Alika auf Tour in Guatemala auf ihr Konterfei gestoßen ist. Heute hängt handsigniertes Alika-Material in ARIS‘ winzigem Zimmer im hinteren Bereich des Hiphopladens, während ARIS‘ Original-Stencil mittlerweile in Argentinien ist. ARIS ist sichtbar stolz, dass ihr Werk, ihr Ansatz, bekannte und unbekannte starke Frauen in die guatemaltekische Öffentlichkeit zu tragen, im Stande ist, etwas zu bewegen.
Kunti dagegen malt keine Idole. Politisch sei ihr Werk aber dennoch. Wann immer Frauenevents in Guatemala stattfinden, ist Kunti dabei und sprayt mit anderen Frauen zum gegebenen Anlass: „Wir kommen ja aus einer Kultur des Machismus und das wird bis heute auch in unserer Szene reproduziert“, meinen Kunti und ARIS. „Wir müssen uns auch heute noch oft unseren Platz erkämpfen, wenn eine Crew zum Sprayen losziehen will. Wir seien zu langsam, oder zu schwach, wenn die Bullen kommen.“ Die Ideologie, dass Frauen es nicht können, die gebe es immer noch. Als Antwort darauf gründeten Grafiteras ihre eigenen Crews, temporär zumeist auf Festivals, wie beim ersten „hiphop feminino“ 2011 in Guatemala-Stadt, für das die Stadtverwaltung sogar eine lange Mauer am Rande der Zone Eins zur Verfügung stellte. Das überrascht in einer bis heute sehr autoritären Gesellschaft, wo Mann es gewohnt ist „widerspenstige“ oder „auffällige“ Menschen, vor allem Jugendliche und Frauen, zu verfolgen, statt zu fördern.
Wieder fällt der Blick zurück auf die gewalttätige Geschichte Guatemalas. Kunti und SOFT sind noch in der Diktatur geboren, ihre Eltern haben die Schrecknisse hautnah miterlebt. Jährlich über 5.000 Mordopfer und die Antwort des Staates
auf soziale Proteste zeigen, dass die Vergangenheit noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft. Die politische Graffiti-Szene nimmt das auf, nutzt Bilder aus der Diktaturzeit für aktuellen Protest. Das Auge, das Ohr und das Schwein zum Beispiel: „Das ‚Auge‘ sah etwas, das ‚Ohr‘ hörte etwas und das wurde dann den Spitzeln der Militärpolizei weitergetragen, den ‚Schweinen‘, wie sie hier hießen. Genau diese drei Elemente finden sich in politischen Graffities wieder, zum Beispiel während brutaler Polizeieinsätze während der Proteste gegen das Freihandelsabkommen im Jahr 2005.
Das Ereignis hat Kunti zusätzlich politisiert und drei Jahre später erlebte die damals 21jährige auf dem Amerikanischen Sozialforum ihre vielleicht schönste Erfahrung. Das Forum, 2008 an der staatlichen Universität San Carlos (USAC) durchgeführt, brachte soziale Bewegungen und Künstler_innen aus ganz Amerika zusammen. Die USAC als intellektuelles Zentrum Guatemalas war dazu während der Diktatur ein Zentrum des Widerstandes: „Hier mit meiner Kunst präsent zu sein, neben Murales von so bedeutenden Künstlern und Diktaturgegnern wie Ramírez Amaya, das ist einfach großartig!“
Die Stadt mag zwar seit kurzem öffentlich Räume zur Verschönerung freigeben, unautorisiertes Sprayen wird aber nach wie vor verteufelt, vor allem von den Medien, die wie auch andernorts von Verschandelung sprechen und die Politik vor sich her treiben. Kuntis Antwort darauf fällt klar aus: „Natürlich ist die illegalisierte Kunst weniger ausgefeilt, als genehmigte Events. Soll die Stadt doch einfach mehr Räume zur Verfügung stellen. Aber die klopfen sich selbst auf die Schultern, wenn wir Grafiteros auf deren Events sprayen und verteufeln dieselben Leute, wenn wir illegal unterwegs sind.“ SOFT sieht das anders, er will keine genehmigten Flächen. Für den Mittzwanziger und mittlerweile alten Hasen der Streetartszene ist die Essenz des Graffitis das Pfeifen auf eine Autorisierung. „Wer autorisiert, bestimmt die Regeln, damit geht das verloren, was mir am Wichtigsten ist. Es ist meine Stadt, sie gehört nicht nur denen, die Besitz oder Macht haben!“
Auch wenn nicht alle Künstler_innen eine politische Botschaft hätten, meint ARIS, so „macht dich die Tatsache, dass dein Werk im öffentlich Raum steht, zu einem Kommunizierer.“ Gerade Kinder und Jugendliche nähmen Graffities mit großem Interesse wahr, wiesen Eltern und Freunde darauf hin, machten Handyfotos von Werken, tauschten diese über das Internet aus und multiplizierten so die Botschaften. Und so sehen ARIS und SOFT Graffitis nicht nur als Ausdruck einer neuen Jugendkultur, sondern in guter guatemaltekischer Tradition: „Die Wände zu bemalen war ja immer schon die Zeitschrift des Volkes, der Ausgeschlossenen und der Widerständigen.“ Und Kunti meint: „Wir haben uns als Grafiteros in den letzten Jahren Räume eröffnet und ich glaube, wir haben einen kleinen Anteil daran, dass unsere Gesellschaft langsam offener wird.“

Bei dem Text handelt es sich um einen gekürzten Vorabdruck aus dem Buch zur Ausstellung:
Goethe-Institut Mexiko // de mi barrio a tu barrio // Gudberg Verlag // Hamburg 2012 // 19,90 Euro, zur Ausstellungseröffnung ermäßigt 15 Euro // 240 Seiten

Kasten:

de mi barrio a tu barrio
Mit der Street-Art-Tournee knüpft das Goethe-Institut Mexiko als Veranstalter an den weltbekannten Muralismo und viele andere Spielarten der Wandgestaltung im öffentlichen Raum an.
Vom 27. Juli bis 18. August wird Jim Avignon das Projekt zusammen mit Holger Beier in der Berliner neurotitan Galerie als multimediale Ausstellung präsentieren. Fotos und Video-Arbeiten sowie Originale beteiligter Künstler_innen werden von den künstlerischen, politischen und zwischenmenschlichen Facetten der Tour, sowie von einer eindrucksvollen Reise erzählen.
Präsentiert wird außerdem das Buch zur Tournee, das die bereisten Orte sowie die beteiligten Künstler_innen und deren Arbeiten vorstellt. Begleitend wird das Central-Kino eine Filmreihe mit Beiträgen aus Zentralamerika und der Karibik zeigen. Und wie es die Tradition will, wird es eine rauschende Eröffnungsparty geben.

Ort : neurotitan shop & gallery im Haus Schwarzenberg, Rosenthalerstraße 39, 10178 Berlin
Weitere Infos : http://www.neurotitan.de/Galerie/Archiv/2012/120727_demibairro.html

Späte Gerechtigkeit?

Am Mittwoch, dem 23. Mai, demonstrieren vor dem Obersten Gerichtshof Guatemalas rund 300 Angehörige der indigenen Bevölkerungsmehrheit des kleinen, zentralamerikanischen Landes. Sie fordern Gerechtigkeit für die Gräueltaten, die während der Militärdiktatur von Soldaten und Milizen an Maya-Gemeinden begangen wurden. Auch Juana Sánchez Tom aus der kleinen Gemeinde San Juan Cotzál in der Hochlandprovinz Quiché ist heute hier. Sie schildert den Angriff des Militärs auf ihr Dorf vor fast genau dreißig Jahren: „Am 19. April 1982 sind Soldaten in unser Dorf eingefallen. Sie haben mich in die Kirche verschleppt und mich und viele Frauen mehr dort vergewaltigt.“ Viele Dorfbewohner_innen, Familienangehörige wie Nachbar_innen, seien an diesem Tag massakriert oder verschleppt worden. Die Soldaten hätten die gesamte Ernte und viele Häuser niedergebrannt. Juana muss auch nach dreißig Jahren noch mit den Tränen ringen: „Warum haben sie das getan? Wir hatten keine Waffen, wir waren arm, wie hatten gar nichts. Wir sind doch nur einfache Bauern.“
Anfang der 1980er Jahre überzogen die Militärs das Land mit einer Politik der verbrannten Erde. Die Armee löschte ganze Maya-Dörfer im Hochland Guatemalas aus, weil sie die Indigenen verdächtigten, die Guerilla zu unterstützen. Anhand von Juana Sánchez‘ Dorf San Juan Cotzál, zwei Nachbargemeinden im sogenannten Ixil-Dreieck im Departamento Quiché, sowie an einem weiteren Massaker in der Gemeinde Dos Erres, im nördlichen Departamento Petén, versucht die Staatsanwaltschaft, dem ehemaligen Staatschef Ríos Montt den Tatbestand des Völkermordes nachzuweisen.
Bereits Ende Januar hatte die Richterin Carol Patricia Flores die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen der Massaker in Quiché angeordnet und den Ex-General unter Hausarrest gestellt. Auch für das Massaker in Dos Erres sieht sich Ríos Montt nun mit einer Strafverfolgung konfrontiert, eine Untersuchungshaft bleibt ihm aber gegen Zahlung von weiteren 50.000 Euro Kaution erspart.
Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum CALDH, das die Hinterbliebenen als Nebenkläger vertritt, fasst die Begründung der Anklage zusammen. Ríos Montt habe als Präsident der Republik und oberster Armeechef die Verantwortung für die sogenannte „Aufstandsbekämpfungspolitik“ gehabt. Dokumente und Aussagen von ehemaligen Offizieren belegen, dass Ríos Montt über die Truppenbewegungen informiert war und die blutigen Offensiven „Victoria `82“ und „Firmeza `83“ mitentworfen habe. Ríos Montt sei somit einer der Erfinder dieser Politik, in deren Folge all jene Massaker begangen wurden.
Die juristische Aufbereitung des guatemaltekischen Völkermordes hat erst in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht. 2011 sind mit den Generälen López Fuentes und Rodríguez Sánchez zwei hochrangige Vertreter der damaligen Militärjunta verhaftet worden und müssen sich vor Gericht verantworten, mit General Mendoza Garcia ist ein weiterer flüchtig. Fünf Angehörige der Streitkräfte und der Sondereinheit Kaibiles, die für das Massaker in Dos Erres verantwortlich waren, sind in der Vergangenheit zu je 6.000 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Diese astronomische Höhe der Strafe ist symbolisch, da das guatemaltekische Recht verbietet, einen Menschen für länger als 50 Jahre hinter Gitter zu setzen. Efraín Ríos Montt genoss dagegen als Abgeordneter und sogar Kongresspräsident über ein Jahrzehnt lang Immunität. Erst jetzt, nach dem Ende seiner politischen Laufbahn, ist eine Verfolgung des ehemaligen Regierungschefs möglich.
Doch bis zu rechtskräftigen Verurteilungen ist es noch ein weiter Weg. Die Verteidigung der Generäle Ríos Montt, López Fuentes und Rodríguez Sánchez sorgt mit Verfassungsbeschwerden und Befangenheitsanträge immer wieder für Verzögerungen des Prozessauftakts. Nur zwei Richter_innen befassen sich in Guatemala überhaupt mit Anklagen dieser Schwere. Die erste Richterin konnten die Verteidiger_innen bereits ausbooten, der aktuelle Richter, Miguel Ángel Gálvez, ist ebenfalls schon in das Visier der Verteidigung geraten. Bis zur Bestellung eines neuen Richters wäre der Prozessbeginn für unbestimmte Zeit vertagt worden. Doch der Befangenheitsantrag der Verteidigung wurde zurückgewiesen.
Bereits im Januar hatten Menschenrechtsorganisationen und Opfervereinigungen die Verfahrenseröffnung gegen Ríos Montt gefeiert. Nery Rodenas, Direktor des erzbischöflichen Büros für Menschenrechte Guatemalas, lobte damals Richterin Flores für ihre „mutige Entscheidung“, die nun die Möglichkeit eröffne, Befehlsketten und Verantwortlichkeiten für die Verbrechen der Diktatur zu klären. Dies zeige, dass niemand über dem Gesetz stehe. Der Strafrechtler Oswaldo Samayoa vom Institut für Vergleichende Studien in der Kriminalwissenschaft (ICCPG) kritisierte hingegen die Entscheidung der Richterin, Ríos Montt nur unter Hausarrest zu stellen. Für eine Anklage dieser Schwere sehe das guatemaltekische Strafrecht ausschließlich Untersuchungshaft vor, zumal bei Ríos Montt Fluchtgefahr bestehe und er seine politischen Kontakte zur Strafvereitelung nutzen könnte.
Beobachter_innen gehen davon aus, dass die Verteidigung für den nun wahrscheinlichen Fall, dass es zu einem Prozess kommt, versuchen wird, dem Genozidvorwurf zu entgegnen, dass es gar keinen Völkermord in Guatemala gegeben habe. Ríos Montts Anwält_innen räumen zwar ein, dass es während der Militärdiktatur Massaker an Zivilist_innen gegeben hätte, argumentieren aber, dass Anzahl und Schwere dieser Verbrechen in der „Regierungszeit“ ihres Mandanten abgenommen hätten. Zudem wäre die militärisch-politische Linie, in deren Folge die Massaker in Guatemala begangen wurden, bereits im Jahr 1965 ins Leben gerufen worden. Deshalb sei es unzulässig, den Mandanten als Verantwortlichen dieser Doktrin zur Rechenschaft zu ziehen. Auch Ríos Montt selbst versucht seine 16-monatige, blutige Herrschaft in ein für ihn günstigeres Licht zu rücken. Sein Putsch gegen den damaligen Junta-Chef Fernando Romeo Lucas García sei unter anderem mit dem Ziel erfolgt, die Schreckensherrschaft abzumildern und eine Art „Nationbuilding“ in Guatemala zu initiieren – Ríos Montt als erster Friedensgeneral, diese Theorie müssen Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen als Verhöhnung empfinden.
Auch die Untersuchungsberichte über den bewaffneten Konflikt in Guatemala sprechen hinsichtlich Ríos Montt eine deutliche Sprache: Der Abschlussbericht der UNO-Kommission für geschichtliche Aufklärung (CEH) aus dem Jahr 1999 weist rund die Hälfte aller Menschenrechtsverbrechen der 36-jährigen Militärdiktatur der Regierungszeit Ríos Montt zu. Gemäß des UNO-Berichtes ist der guatemaltekische Staat durch Armee und Paramilitärs für über 80 Prozent aller während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verantwortlich.
Dennoch ist die Strategie der Verteidigung, im Prozessfall den Völkermordvorwurf an sich auszuhebeln, nicht ohne mächtige Fürsprecher_innen. Guatemalas neuer Präsident, Otto Pérez Molina, erneuerte seine Behauptung, in Guatemala habe es keinen Völkermord gegeben, sondern (nur) einen bewaffneten internen Konflikt. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública erklärte Pérez Molina im vergangenen Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerilla-Armee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben.
Diese Einschätzungen stammen noch aus der Zeit des Wahlkampfes. Wie sich der Präsident Otto Pérez Molina im Prozessfalle verhalten wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Immerhin hatte der Staatschef angekündigt, die unter seinem Vorgänger Alvaro Colom eingesetzte und sehr engagierte Oberstaatsanwältin Claudia Paz y Paz im Amt zu belassen. Francisco Soto vom Menschenrechtszentrum erwartet vom Präsidenten Neutralität, wie es die guatemaltekischen Verfassung gebiete: „Der Fall Ríos Montt ist wie jeder andere Strafrechtsfall Sache der Gerichte und wir erwarten, dass der Präsident die Gewaltenteilung und die Justiz in Guatemala respektiert.
Die internationale Gemeinschaft spielt in den Bemühungen, Ríos Montt den Prozess zu machen, ebenfalls eine Rolle. Auch wenn die UNO-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) keinen Einfluss auf die Ermittlungen und den Prozess hat, so trage die von der Kommission betriebene Stärkung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft und Justiz doch Früchte. Die Schaffung der Position von Sonderrichter_innen, die sich speziell mit Verfahren dieser Schwere beschäftigen, gehe beispielsweise auf die CICIG zurück. Für Ríos Montts Verteidigung hingegen würden vor allem „die internationalen Gemeinschaft und jene, die von der Armut Guatemalas leben würden, ihn (Ríos Montt, Anm. d. Autors) im Gefängnis sehen“ wollen.
Ein Schuldspruch wäre laut Francisco Soto ein wichtiges Signal. Zum einen würde den Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren. Zum anderen bedeute eine Verurteilung eine deutliche Stärkung der guatemaltekischen Justiz und einen wichtigen Erfolg gegen die notorische Straflosigkeit in Guatemala. Nur wenn die Justiz in der Lage sei, solche Verbrechen zu verfolgen, könne es eine Garantie geben, dass sich Derartiges niemals wiederhole. Ein Schuldspruch wäre darüber hinaus eine Warnung an die junge Generation von Offizieren, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, sollten sie jemals solche Verbrechen begehen. Und nicht zuletzt würde ein Prozess gegen Efraín Ríos Montt eine Botschaft an alle Guatemaltek_innen in hohen Positionen sein, dass sie nicht mehr damit rechnen können, bei von ihnen begangenen oder in Auftrag gegebenen Delikten und Verbrechen in Zukunft straffrei zu bleiben.

Verdrängtes ans Licht bringen

Der dunkle Saal im alteingesessenen Kino Capitol in der Fußgängerzone von Guatemala Stadt ist bis auf den letzten seiner 300 Plätze belegt. Über die Leinwand flimmert ein Schwarzweißfilm. Eine bulgarische Berglandschaft gibt mit einigen prominent platzierten Kunstpalmen die mittelamerika­nischen Kulissen. „Mit Männern wie Ihnen werden wir in null Komma nichts Guatemala befreien“, tönt es in deutscher Sprache. Nur manchmal fallen ein paar spanische Kraftausdrücke, die in den Untertiteln nicht übersetzt werden müssen.
In Das Grüne Ungeheuer, einem DDR-Klassiker von 1962 nach dem Roman von Wolfgang Schreyer, gerät der deutsche Hauptdarsteller durch widrige Umstände an die vorderste Front des Kalten Krieges in Mittelamerika. Mit ihm erlebt das bunt gemischte Publikum im Cine Capitol nun in fünf abenteuerlichen Kapiteln den CIA-gesteuerten Sturz des guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz mit. Dieser hatte mit seinen beherzten Landreformen „das grüne Ungeheuer“ – die allmächtige United Fruit Company – gegen sich aufgebracht.
„Guatemala sieht sich im Spiegel“, urteilte Kolumnist Raúl de la Horra, einer der Podiumsgäste auf dem Festival. „Die Reflektion der eigenen Geschichte ist es, was wir in diesem Land so dringend brauchen.“ Zwei Tage später zeigt ein Dokumentarfilm die BRD-Perspektive der 1960er Jahre auf Guatemala. In „Jungfrau, Marx und Huracán“ gehen die Filmemacher der Frage nach, „ob Moskaus Saat nun auch in Guatemala wächst“.
In der NDR-Reportage preisen Angehörige der guatemaltekischen Elite und deutsche Kaffee­plantagen­besitzer den Putsch gegen Arbenz als Befreiungsschlag. Ein 36 Jahre anhaltender Bürgerkrieg und der Genozid an der Maya-Bevölkerung werden folgen. 200.000 Menschen wurden dabei umgebracht; weitere 50.000 verschwanden gewaltsam. Der Bericht der UNO-Wahrheits­kommission stellte Ende der 1990er Jahre fest, dass 83 Prozent der Opfer Indigene waren und 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee verübt wurden.
„16 Jahre nach Abschluss der Friedensverträge herrscht vielerorts noch immer Schweigen über die blutige Vergangenheit“, konstatiert Uli Stelzner, ein deutscher Filmemacher, der das Internationale Filmfestival in Guatemala initiierte. „Im letzten Jahr wurden die ersten Strafverfahren gegen Militärs eröffnet. Die guatemaltekische Justiz hat angefangen, sich zu bewegen. Nun ist es von fundamentaler Bedeutung, Druck in der Öffentlichkeit aufzubauen, damit dieser Prozess nicht zum Erliegen kommt.“
Uli Stelzner dreht seit fast 20 Jahren sozialkritische Filme in Guatemala (siehe LN 449). Eine enge Kooperation zwischen deutschen und guatemaltekischen Filmschaffenden ist entstanden. Diese gehen der „unbedingten Notwendigkeit“ nach, mit Dokumentarfilmen ein nichtkommerzielles Kino in dem kleinen mittelamerikanischen Land zu schaffen. Für Uli Stelzner war es dabei stets wichtig, als Filmemacher in Dialog mit der Bevölkerung zu treten. Mobile Vorführungen führten ihn in entlegenste Dörfer, um Diskussionen in die kriegsgeschädigten Gemeinden zu tragen.
Sein aufwendigstes Filmprojekt jedoch verlangte nach einem größeren Rahmen. In La Isla – Archive einer Tragödie werden die Zuschauer in die fensterlosen Räume der gefürchteten Folterstätte der guatemaltekischen Polizei geführt (siehe LN 433/434). Das Gebäude in der Peripherie der guatemaltekischen Hauptstadt konnte nie verortet werden. Bis es im Jahr 2005 überraschend durch eine Explosion der Öffentlichkeit zugänglich wurde – und mit ihm das bislang geheime Polizeiarchiv. Vor weißgetünchten Wänden lagerten dort vergilbte Aktenberge, insgesamt 80.000 Dokumente. „Nun gab es auf einmal minutiös geführte Aufzeichnungen über politische Morde, extralegale Festnahmen und Folter während des Krieges“, berichtet Stelzner.
Die kommerziellen guatemaltekischen Medien hätten jedoch kein Interesse daran, die Menschen darüber zu informieren. Die heutige Regierung von Ex-General Otto Pérez Molina, der als junger Offizier in das Massaker im Nebaj-Ixil-Dreieck verstrickt war, noch viel weniger. In La Isla zeigt ihn Archivmaterial inmitten hingerichteter Bauern stehend. „Mit dem Dokumentar­film haben viele erst erfahren, dass sie nun die Möglichkeit haben, nach verschwundenen Familien­angehörigen zu forschen.“ La Isla gab 2010 den Auftakt zum ersten Internationalen Filmfestival in Guatemala. Trotz Bombendrohung und Sabotage strömten 6.000 Menschen in den Kulturpalast, Symbol der vergangenen Militärdiktaturen. „Bilder wurden gezeigt, die lange verdrängt wurden.“
Drei Jahre später hat sich das Filmfestival vergrößert. Zehn Tage lang wurden bis Mitte Mai 17 Filme aus Lateinamerika und Europa gezeigt. Ihre Auswahl hat sich aus der Diskussion der letzten Jahre ergeben: Denn neben der ausstehenden Aufarbeitung der Vergangenheit ist die indigene Mehrheitsbevölkerung in Guatemala heute erneut Repression und Verfolgung ausgesetzt. Diesmal sind es multinationale Unternehmen, die mit Industrie-, Minen- und Staudammprojekten in die Gemeinden eindringen und dabei vom Militär geschützt werden. Filme aus Peru, Kolumbien und Österreich drehen sich um den weltweiten Ressourcenboom, der immer wieder auch indigene Territorien betrifft.
Eine Frau aus dem Publikum erhebt sich, um eine Wortmeldung zu machen. Ihre bestickte Bluse und der gewebte Rock weisen sie als Bewohnerin des Departamentos Sacatepeque aus. „Die Realität holt uns im Kinosaal ein. Bilder, wie wir sie hier auf der Leinwand sehen, waren heute auf den Titelseiten der Zeitungen.“ Sie verweist auf den dieser Tage ausgebrochenen Konflikt in Santa Cruz Barillas, im Hochland Westguatemalas. Dort sprachen sich in einer Volksbefragung knapp 50.000 Indigene gegen wirtschaftliche Großprojekte aus. Laut der von Guatemala ratifizierten ILO-Konvention 169 über Indigene Rechte gilt diese als rechtsverbindlich. Der Bau eines Hydroelektrizitätswerkes wurde trotzdem weiterverfolgt; der dagegen aufwallende Protest schließlich mit dem Einsatz des Militärs und der gezielten Festnahme von Aktivist_innen beantwortet.
Auch in der Vorführung am nächsten Morgen, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Oberstufen­schulen der Hauptstadt läuft, haben die Schüler_innen von Barillas gehört. Was dort genau vor sich geht, weiß jedoch keiner so recht zu sagen. Die kanadische Filmemacherin Stephanie Boyd ermuntert die anwesenden Schüler_innen, selbst zur Digitalkamera oder zum Handy zu greifen und ihr Leben und die Realität in ihrem Land zu dokumentieren. Die Jugendlichen in Schuluniform grinsen ein wenig verlegen und rutschen auf den kaminroten Kinosesseln herum.
Doch Stephanie Boyd lässt nicht locker: „Werdet wie Chasquis, die Laufboten der Inkas, und tragt Informationen von der Küste ins Hochland und zurück.“ Sie erzählt den 17-jährigen, wie sie und ihr Kameramann sich autodidaktisch die Filmproduktion beibrachten. Spezialeffekte drehen die beiden in ihrer Küche. Die in Peru lebende junge Frau ist mit ihrer Doku „Operation Teufel – ein Bergbau­konzern greift an“ seit zwei Jahren weltweit auf Filmfestivals präsent. Mehr jedoch als die eigene Filmproduktion liegt ihr die Weitergabe von technischem Know-How an Aktivist_innen am Herzen. „Ein Land ohne Dokumentarfilme ist wie eine Familie ohne Fotoalbum“, zitiert sie Patricio Guzmán, der den Aufstieg Salvador Allendes in Chile und den Putsch des Militärs filmte.
Auch am Abend strömen interessierte Kinobesucher_innen wieder die Treppen des alten Filmpalasts hinauf. Student_innen, Angehörige indigener Organisationen, Pensionär_innen, Pressevertrete_innen und internationale Freiwillige durchqueren die Ladenzeilen, wo neben Pizza, Telefonkarten und Parfüm auch Waffen und Munition feilgeboten werden. Aus dem Erdgeschoss dringt der Lärm von Spielautomaten und Musikboxen herauf.
An einem Abend stellt der international renommierte Journalist Hollman Morris seinen Film „Impunity – Straflosigkeit für Massenmorde in Kolumbien“ vor. Für seine kontinuierliche investigative Berichterstattung im Drogenkrieg bekam er im letzten Jahr den Nürnberger Menschenrechtspreis verliehen. Seit Jahren dokumentiert Morris politische Morde, Vertreibungen – und die Verstrickungen der Regierung in Paramilitarismus und Drogenhandel. Nicht ohne persönliche Konsequenzen: Der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe diffamierte ihn als „Komplize des Terrors“, manipuliertes Filmmaterial machte ihn zum Sprecher der FARC-Guerilla und die USA verweigerten ihm 2010 unter Terrorismus-Vorwurf die Einreise.
Doch Morris ist überzeugt: „Die Geschichte muss aus Sicht der Opfer erzählt werden, nicht der Täter.“ Der Dokumentarfilm gäbe in Lateinamerika den zum Schweigen gebrachten eine Stimme, fährt er fort. „Er ermöglicht es darüber hinaus, die Opfer von Kriegen und Diktaturen nicht nur in ihrer menschlichen Tragödie darzustellen. Er zeigt sie als Subjekte mit ihren Schmerzen und Traumata, aber auch mit ihren Rechten und ihrer Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Das Filmfestival neigt sich seinem Ende zu. Menschen strömen aus dem Kino. Währenddessen steckt die Vergangenheitsaufarbeitung in Guatemala weiter in den Kinderschuhen.

Startschuss für den Eiertanz

Der Wahlkampf hat offiziell begonnen. In den Wochen um Ostern hatten sich die drei aussichtsreichsten Kandidat_innen für die Präsidentschaftswahlen Chiapas ausgesucht, um ihre Kampagnen zu starten. Enrique Peña Nieto, Kandidat der Allianz zwischen der Partei der Institutionellen Revolution PRI und der Grünen Ökologischen Partei Mexikos PVEM, versammelte seine Anhänger_innen in der PRI-Hochburg San Juan Chamula und später in Comitán, nahe der Grenze zu Guatemala. Josefina Vázquéz Mota, die für die Partei der Nationalen Aktion PAN antritt, wählte die Grenzstadt Tapachula aus, um für sich zu werben. Und Andrés Manuel López Obrador – auch AMLO genannt –, der zum zweiten Mal nach 2006 für die Wahlallianz zwischen der Partei der Demokratischen Revolution PRD, der Partei der Arbeit PT und der Bürgerbewegung MC ins Rennen geht, trat vor der Kathedrale im Herzen von San Cristóbal de Las Casas auf.
Während Vázquez Mota in Chiapas vor allem mit Unternehmer_innen sprach, war bei den Auftritten von Peña Nieto und AMLO mehrheitlich die indigene Wähler_innenschaft präsent. Dass beide sich dementsprechend für Respekt gegenüber den indigenen Traditionen und Gebräuchen aussprachen, verwunderte nicht wirklich. Lediglich López Obrador erwähnte in seiner Rede die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung EZLN, der er nach eigenen Worten „die Hand zur Versöhnung und Zusammenarbeit“ ausstrecke. Eine Antwort der Zapatist_innen ließ bisher auf sich warten. Wer für die Region nach Unterschieden in den Vorschlägen der Anwärter_innen auf das höchste mexikanische Amt suchte, wurde enttäuscht. Denn alle versprachen Investitionen in die Infrastruktur in Chiapas und mehr oder weniger ähnliche Maßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft, um den Lebensstandard der vor allem auf dem Land sehr armen und marginalisierten Bevölkerung zu verbessern.
Für die beiden derzeit wichtigsten Politikfelder in Mexiko, die Sicherheits- und die Wirtschaftspoliti gilt – mit ein paar Ausnahmen — dasselbe. Peña Nieto und AMLO haben angekündigt, die aktuelle Sicherheitsstrategie überprüfen zu wollen, bevor sie Änderungen daran vornehmen. Und Vázquez Mota sprach sich für die Fortführung der Politik von Calderón in diesem Bereich aus. Somit ist nicht zu erwarten, dass die mexikanische Armee und Marine bald von den Straßen in die Kasernen zurückkehren. Momentan haben sie Polizeiaufgaben übernommen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich die drei Kandidat_innen in ihren Wahlversprechen vor allem im Umgang mit dem staatlichen Ölunternehmen PEMEX. Die Kandidatin der PAN und der Kandidat der PRI sprachen sich für Investitionen aus der Privatwirtschaft in den Konzern aus. López Obrador dagegen erklärte, PEMEX würde unter einer von ihm geführten Regierung komplett in staatlicher Hand bleiben. Am erstaunlichsten in Bezug auf Wirtschaftsfragen ist, dass López Obrador auf den Unternehmer_innensektor zugegangen ist, obwohl dieser noch vor sechs Jahren eine öffentliche Kampagne gegen ihn geführt hatte. Anfang März traf er sich mit Vertreter_innen des mexikanischen Unternehmer_innenverbandes Coparmex, um ihnen seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu erläutern. Auch wenn die mexikanische Presse das Treffen als eher kühl beschrieb, erklärte López Obrador, man sei auf der Suche nach „Versöhnung, die die Umstände erfordern, denn um vorwärts zu kommen, braucht das Land Einigkeit“.
Über allen Fragen schwebt aber der Drogenkrieg. Zum einen ist da die Gewalt zwischen den verschiedenen Kartellen. Diese hat sich seit Beginn der Amtszeit von Felipe Calderón vor fast sechs Jahren aufgrund seines „Krieges gegen den Drogenhandel“ so sehr verstärkt, dass manche Beobachter_innen davon ausgehen, dass sie die Durchführung und den Ausgang der Wahlen mit beeinflussen wird. Wozu die Narcos fähig sind, haben sie im Juni 2010 bewiesen, als sie den PRI-Kandidaten für die Gouverneurswahl in Tamaulipas ermordeten. So hat der mexikanische Verteidigungsminister Guillermo Galván Galván im Februar erklärt, dass in manchen Regionen des Landes das organisierte Verbrechen „den Staat verdrängt hat“. Ob sich in diesen von Gewalt geplagten, vor allem im Norden des Landes gelegenen Gebieten der Gang zu den Urnen entsprechend demokratischen Kriterien durchführen lässt, kann man durchaus in Frage stellen. Andererseits wird schon seit einer Weile öffentlich über die Verbindungen von Teilen der politischen Klasse zu im Drogenhandel tätigen Kreisen diskutiert. Dabei geht es um personelle Verbindungen, aber auch um die Finanzierung von Wahlkampagnen, die normalerweise ohne Konsequenzen bleibt. Fälle wie der von Gregorio Sánchez, der 2010 als Kandidat der PRD für das Gouverneursamt in Quintana Roo durch Kronzeugen der Bestechung durch den Drogenhandel beschuldigt und daraufhin inhaftiert wurde, sind eher die Ausnahme. Die Bundeswahlbehörde IFE erklärte, es gebe Mechanismen, um die Herkunft von Spendengeldern an die Parteien und Kandidat_innen aufzuklären. Jedoch hat Mexiko im Vergleich zu anderen Ländern in der Region kaum eine umfassende Gesetzgebung gegen Geldwäsche. So bleiben Zweifel, ob die Kampagnen ausschließlich mit „sauberem” Geld finanziert werden.
Zwei Monate vor den Wahlen ist noch relativ unklar, wie sich die sozialen Bewegungen zu den Kandidat_innen positionieren. Die Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde, die sich im April 2011 um den Schriftsteller Javier Sicilia gebildet hatte und seitdem für einen Strategiewechsel in der Sicherheitspolitik kämpft, war in den letzten Wochen hauptsächlich mit internen Prozessen beschäftigt. Sie versteht sich vor allem als Sammelbecken für Familienangehörige von Opfern eben der Gewalt, die der Einsatz des Militärs in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens hervorgerufen hat. Daher kann man eine einheitliche Position zu den verschiedenen Präsidentschaftsanwärter_innen nicht unbedingt erwarten. Dennoch erklärte Sicilia jüngst, dass Peña Nieto „der Schlimmste von allen“ sei, da er „die Rückkehr zur Geringschätzung der Bürger“ und „eine Legalisierung des Verbrechens im weiteren Sinne“ bedeute. AMLO sei „der Beste“ und Josefina Vázquez Mota „eine gute Frau, eine ehrliche Frau“. Das Problem seien jedoch die Strukturen hinter den Kandidat_innen. Denn solange „nicht konsequent an der Transformation der staatlichen Strukturen gearbeitet wird“, werde Mexiko nicht aus dieser Krise der Korruption und Gewalt herauskommen.
In Chiapas, wo der Wahlkampf offiziell noch gar nicht begonnen hat, laufen dennoch die Kampagnen schon seit einiger Zeit auf Hochtouren. Vom Kandidaten mit den besten Aussichten auf das Gouverneursamt, Manuel Velasco Coello von der PVEM, kann sogar behauptet werden, dass er die letzten fünf Jahre bereits Werbung für sich gemacht hat. Der erst 32-jährige Senator hat in dieser Zeit fast jeden Tag eine bezahlte Anzeige in den Lokalzeitungen geschaltet. Diese kamen als ausschließlich positive Berichterstattung über seine politischen Aktivitäten und Meinung zu aktuellen Fragen daher. Als Anzeigen muss das für ‚normale‘ Zeitungsleser_innen nicht unbedingt ersichtlich sein, doch diese Methode ist eine mittlerweile gängige Praxis in den Printmedien. Selbst in der überregionalen linken Tageszeitung La Jornada hat sie Einzug gehalten, und auch die chiapanekische Regierung von Juan Sabines Guerrero hat sich ihrer ausführlich bedient.
„Güero“ Velasco, wie der junge Senator auch genannt wird, gilt als Sabines‘ Wunschkandidat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass letzterer zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigsten Medien des Bundesstaats mit Geschenken und Geld bedacht hat, um deren Berichterstattung zu beeinflussen und kritische Meldungen zu unterbinden. Insofern wäre die Medienkampagne von Velasco Coello gegen den Willen des amtierenden Gouverneurs gar nicht denkbar gewesen. Sabines hatte zwar versucht, seinen politischen Ziehsohn Yassir Vázquez bei der PRD als Kandidaten durchzusetzen, war damit aber gescheitert.
Dass der „Güero“ für die PVEM antritt und das mit Wohlwollen des amtierenden Gouverneurs, hat mit der chiapanekischen Eigenheit zu tun, dass hier die Parteizugehörigkeit eigentlich keine Rolle spielt. Sabines hatte bis kurz vor den Gouverneurswahlen 2006, für die er im Namen der PRD kandidierte, als Bürgermeister der chiapanekischen Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez ein Parteibuch der PRI. Ähnlich wie damals bestimmte diesmal maßgeblich der politische Zirkel der Bundeshauptstadt die Kandidat_innen-Kür der PRD. Die Wahl fiel auf María Elena Orantes. Die ehemalige PRI-Senatorin hatte vergeblich darauf gesetzt, von ihrer Partei nominiert zu werden. Die PRI ließ jedoch aufgrund der Allianz zwischen PRI und PVEM Velasco Coello den Vortritt. So trat Orantes kurz darauf aus jener Partei aus. Weitere potentielle Anwärter_innen der PRI oder solche, die sich Chancen ausgerechnet hatten, begnügten sich letztlich mit einer Kandidatur für den Senat bzw. das Bundesparlament. Bei der PAN ist noch nicht entschieden, wer im Wettkampf um die Stimmzettel antritt. Da die Partei abgesehen von einigen sehr wenigen Bastionen aber keine Basis in Chiapas hat, wäre ein Sieg der PAN bei den Gouverneurswahlen wohl eine große Überraschung. Sowohl Velasco Coello als auch María Elena Orantes waren bei den eingangs erwähnten Veranstaltungen „ihrer“ Präsidentschaftskandidat_innen anwesend, durften aber aufgrund rechtlicher Bestimmungen keine Wahlwerbung in eigener Sache betreiben.
Doch wofür steht nun eigentlich Manuel Velasco? Abgesehen von allgemeinen Versprechen wie z.B. mehr Unterstützung für alleinstehende Mütter war von ihm bisher nicht viel zu hören. Wahrscheinlich ist aber, dass er die Politik von Juan Sabines fortsetzt, der vor allem Infrastrukturprojekte und den Ausbau des Tourismus-Sektors sowie die Entstehung von so genannten „Ländlichen Städten” gefördert hat. Dies meist ohne Rücksicht auf die Interessen der lokalen Bevölkerung; Protest und Widerstand wurde in den letzten Jahren entweder kooptiert oder unterdrückt. Die verschlechterte Situation von Menschenrechtsverteidiger_innen im Bundesstaat ist dafür nicht das einzige Zeichen, wenn auch das deutlichste. Insofern ist nach den Wahlen in Chiapas keine große Veränderung der Politik zu erwarten, die Frage ist eher, ob es schlimmer oder nicht ganz so schlimm wird wie unter dem amtierenden Gouverneur wird.
Bei den Präsidentschaftskandidat_innen führt derzeit Peña Nieto die Umfragen vor Vázquez Mota an, an dritter Stelle kommt López Obrador. Viele Beobachter_innen gehen davon aus, dass PRI-Kandidat tatsächlich der nächste Präsident wird. Obwohl eine Rückkehr zum alten PRI-Regime, das im Jahr 2000 nach 70 Jahren die Macht abgeben musste, unwahrscheinlich ist, kann man doch einen populistischen und zugleich autoritären Regierungsstil erwarten, wie er bei Peña Nieto in seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Mexiko zu sehen war. Absehbar ist zudem die Fortsetzung einer neoliberalen Politik, wie sie schon unter den Regierungen ab 1982 praktiziert wurde, als mit der Privatisierung von Staatsbetrieben begonnen wurde und Mexiko den Vorgaben supranationaler Institutionen wie dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank zu folgen begann. Wie lange aber die mexikanische Gesellschaft die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Folge dieser Politik – die Militarisierung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens – sowie die Repression von Protesten und Widerstand aushalten wird, ist fraglich.

Leben in Zeiten der Cholera

Miville Mirlande sitzt erschöpft auf den Stufen eines kleinen Hauses, am Rande der staubigen Straße nach Mirebalais. Sie hat sich ihren Zopf über die Nase gezogen, er teilt ihr Gesicht in zwei Hälften. Miville gehört zu den ersten Opfern der Choleraepidemie in Haiti. „Am Anfang hatte ich Durchfall und Erbrechen“, sagt sie. „Als es ganz schlimm wurde, bin ich zur Behandlung nach Mirebalais gekommen.“
Mehr als 100 Jahre ist es her, dass der letzte Cholerafall in Haiti aufgetreten ist – die Krankheit galt als ausgerottet. Die Wucht, mit der sie jetzt wiederkommt, ist umso stärker. Unzureichender Zugang zu sauberem Trinkwasser, eine chronisch unterentwickelte Infrastruktur und mangelnde Bildung über Hygiene bieten einen fruchtbaren Nährboden für die Ausbreitung der Krankheit, die innerhalb von einem Jahr schon mehr als 7.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Von Port-au-Prince aus schlängelt sich die Straße nach Mirebalais zwei Stunden lang durch die bergige Landschaft. Die Stadt gilt als der Ursprungsort der Choleraepidemie. Hier, 163 Meter über dem Meeresspiegel, fließt der Artibonite vorbei, der längste und wichtigste Fluss Haitis. Durch ihn hat sich die Seuche im ganzen Land verteilt. An einer der vielen Straßenbiegungen liegt ganz unauffällig das ehemalige Camp der nepalesischen Einheit der MINUSTAH, der Friedensmission der UNO. Hier könnte der Ursprung des neuesten haitianischen Unglücks liegen. Eine Analyse der Cholerabakterien hat hohe Übereinstimmungen mit einem in Südasien heimischen Bakterium ergeben. Dort ist die Cholera seit langem verbreitet.
Anwalt Mario Joseph sitzt zwischen Telefonen und Aktenstapeln in seinem Büro, die Klimaanlage brummt. Er arbeitet für das Bureau des Avocats Internationaux, eine Anwaltskanzlei deren Schwerpunkt auf der Verteidigung von Menschenrechten liegt. Joseph und seine Kolleg_innen sind überzeugt, dass die nepalesische Einheit der MINUSTAH für den Ausbruch der Cholera verantwortlich ist. Gemeinsam haben sie mit Opfern gesprochen, Unterschriften gesammelt und eine Petition gegen die UNO mit weitreichenden Forderungen eingereicht. „Für die, die erfolgreich behandelt werden konnten, verlangen wir 5.000 US-Dollar Wiedergutmachung. Und für die Familien der Opfer, die gestorben sind, fordern wir 10.000 US-Dollar“, sagt Joseph. Dazu kämen massive Investitionen in die Verbesserung der Trinkwassersituation sowie: eine offizielle Entschuldigung der UNO.
Die Anschuldigung birgt Zündstoff, denn es wäre nicht das erste Mal, dass die MINUSTAH im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen auftaucht. Erst vor wenigen Monaten trat der Kommandeur der uruguayischen Einheit zurück, als ein Video an die Öffentlichkeit gelangte, das die Vergewaltigung eines 18-jährigen Haitianers durch MINUSTAH-Soldaten zeigte. Die haitianische Bevölkerung reagierte in den vergangenen Wochen immer wieder mit Protesten und Demonstrationen gegen die MINUSTAH. Mit steigenden Infektionszahlen von Cholerapatient_innen wurden diese entsprechend intensiver. Der UNO ist die Explosivität der Situation bewusst, trotzdem oder gerade deshalb hält sie sich mit genauen Aussagen zum Fall um die Cholera zurück.
Das Hauptquartier der MINUSTAH erscheint riesig und wird schwer bewacht. Kurz hinter dem Flughafen von Port-au-Prince erstreckt es sich hinter kilometerlangen weißen Schutzwällen. Auf betonierten Straßen rollen Panzer, kein Baum, der Schatten spendet. Seit 2004 sind hier rund 7000 Blauhelme stationiert, sie kommen aus so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien, Jordanien, Guatemala, Kanada, Korea, den Philippinen und eben Nepal. Ein Hubschrauber im Landeanflug weht der Pressesprecherin der MINUSTAH, Sylvie Van Den Wildenberg, ihre Notizen aus der Hand und zerzaust ihre Haare. Auf den Papieren reihen sich Zahlen aneinander, die den Erfolg der UN-Mission untermalen. „Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, dieses Land stand kurz vor dem Bürgerkrieg“, sagt sie. „Wenn die MINUSTAH nicht hier wäre, würden wir täglich neue Gewalttaten riskieren.“ Van Den Wildenberg spricht charismatisch und engagiert, nur beim Thema Cholera muss sie mehrfach neu ansetzen. „Es gibt die Wahrnehmung in Haiti, dass die MINUSTAH die Cholera eingeschleppt hat. Es wäre schrecklich, wenn das stimmt. Allerdings haben wir direkt nach dem Ausbruch der Seuche alle unsere Soldaten untersucht. Keiner wurde positiv getestet.“
Trotzdem beauftragte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon bereits Ende 2010 ein unabhängiges Forscher_innengremium mit einer gründlichen Untersuchung der Ursachen. Van Den Wildenberg fasst die Ergebnisse so zusammen: „Die Choleraepidemie in Haiti ist aus einem Aufeinandertreffen von Umständen entstanden. Der Ausbruch kann nicht auf die Handlung einer einzelnen Person zurückgeführt werden.“ Bei einem Blick in die Originalversion des Berichts ist allerdings auch zu lesen: „Die MINUSTAH beschäftigt eine externe Firma mit der Beseitigung der Fäkalien. Die sanitären Anlagen im MINUSTAH-Camp in Mirebalais waren nicht ausreichend, um eine Kontamination des Artibonite mit Fäkalien zu verhindern.“
Für die Anwält_innen des Bureau des Avocats Internationaux ist damit die Schuldfrage geklärt. Sie fordern die UNO auf, sich öffentlich ihrer Verantwortung zu stellen. „Wir wollen die nepalesischen Soldaten nicht hinter Gitter bringen. Nepal ist ein Land, das fast genauso arm ist wie Haiti. Darum geht es uns gar nicht. Es geht uns darum, die Vereinten Nationen dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Fehler und ihren Leichtsinn zu korrigieren,“ sagt Mario Joseph. Rechtlich berufen er und seine Kolleg_innen sich auf ein Versäumnis der UNO, das noch viel weiter zurück reicht, als der Ausbruch der Cholera.
Als die MINUSTAH 2004 ihr Mandat in Haiti aufnahm, versank das Land gerade in blutigem Chaos durch den Streit zwischen Anhänger_innen und Gegner_innen des damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Straßenschlachten, Waffengewalt und Tote waren an der Tagesordnung – die Blauhelme sollten das richten. Die UNO unterzeichnete damals gemeinsam mit dem haitianischen Staat ein Abkommen, das die Regeln des Einsatzes beschreibt. Den MINUSTAH-Truppen wird darin unter anderem absolute Immunität garantiert. Als Ausgleich war die Bildung einer Kommission vorgesehen, um mögliche Probleme zwischen der Bevölkerung und der MINUSTAH zu verhandeln. Laut Mario Joseph ist diese permanente Beschwerdekommission niemals zum Einsatz gekommen. Die Berufung auf dieses Versäumnis ist eine der Grundlagen für die angedrohte Klage des Bureau des Avocats Internationaux.
Im Hauptquartier der UNO verscheucht Sylvie Van Den Wildenberg ungeduldig neugierige Blauhelme, die aus einem Panzer heraus Fotos machen. Die Frage, ob und, wenn ja, wie die UNO Verantwortung übernehmen würde, ist ihr sichtlich unangenehm. „Was ist mit Aids? Was ist mit der Vogelgrippe? Hat in der Geschichte der Menschheit, jemals jemand die Forderung gestellt, die Person, die eine Epidemie ins Land gebracht hat, dafür verantwortlich zu machen?“, fragt sie.
Für Miville Mirlande könnte die Frage entscheidend sein. Nach einer ersten erfolgreichen Cholerabehandlung wurde sie erneut krank. Diesmal war sie hochschwanger. Mirlande musste ihr letztes Geld zusammenkratzen und in ein privates Krankenhaus gehen. Sie und ihr Kind haben auch die zweite Behandlung überlebt. Aber ohne weitere Rücklagen hat sie Angst vor einer weiteren Infektion. Auch kann sie nicht mehr so viel arbeiten wie vorher. „Ich habe nicht mehr dieselbe Energie wie vor der Krankheit“, sagt sie.
Doch dass die Vereinten Nationen ihr den geforderten Schadensersatz zahlt, erscheint wenig realistisch. Schon vor dem Erdbeben lebten 67 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar pro Tag. Eine Zahlung von 10.000 US-Dollar entspräche also mehr als 13 durchschnittlichen Jahresgehältern. Für die UNO stellt die Petition des Bureau des Avocats Internationaux außerdem eine schwierige Grundsatzfrage dar. Ihr Ausgang könnte schnell wegweisend für ähnliche Fälle in anderen Ländern sein. Bislang üben sich die Anwält_innen der UNO in New York jedoch in Zurückhaltung, eine offizielle Antwort gibt es nicht.

Schattenmacht der Kartelle

Diesem Bild des narcotráfico in Mexiko begegnet das im Verlag Assoziation A erschienene Buch NarcoZones – Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika entschieden. Bereits im Vorwort wird deutlich, dass die Sicht auf die Kartelle als klassische „Drogenmafia“ zu kurz greift und der Handel mit Rauschmitteln nur noch einen Teil ihrer Gewinne der Organisationen ausmacht. So ist der Drogenkrieg zum Ringen um Kontrolle und Macht auf den Gebieten des Drogen-, Waffen-, Menschen- sowie Raubkopienhandels geworden, verbunden mit weiteren illegalen sowie legalen Geschäften, in denen die Kartelle als transnationale Unternehmen operieren.
Der Band versammelt eine Vielzahl von Autor_innen und Herausgeber_innen und bietet dem Leser eine hintergründige, kritische und perspektivenreiche Analyse der Geschichte und des Handelns der Drogenkartelle sowie deren Auswirkungen auf Kultur und Lebensweise der Menschen in der Region. Der Fokus der Interviews, Reportagen und Aufsätze liegt nicht nur auf Mexiko, sondern beinhaltet ebenso Guatemala und Brasilien. Auch die transnationalen Netzwerke der Kartelle sind dargestellt. Analysen der Situation und mögliche Lösungsansätze treffen auf Fallbeispiele und persönliche Schicksale.
Immer wieder entlarvt das Buch schonungslos das derzeitige Handeln der Politik und des Militärs gegenüber der Kriminalität als ineffektiv. Effektiv hingegen ist der bewaffnete Kampf bei der Schaffung neuer Gewaltökonomien. Die großflächige Zerstörung von Kokafeldern in Kolumbien im Rahmen des „Plan Colombia“ unter Führung der USA beispielsweise kriminalisiert Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die sich oft ohne Lebensgrundlage wiederfinden. Die großen Profiteure des Drogengeschäftes tastet das Programm nicht an.
Zugleich baut die Militarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften durch staatliche und private Sicherheitskräfte demokratische Elemente weiter ab. Korruption und Straflosigkeit sind an der Tagesordnung, gewaltsames Vorgehen gegen Oppositionelle und Zivilbevölkerung sind die Folge. Am sichtbarsten ist dieser Prozess zurzeit sicherlich in Mexiko, wo der Krieg gegen die Kartelle seit 2006 rund 60.000 Opfer forderte. In gleichem Maße gibt es eine hohe Rate an verschwundenen Personen. Kaum ein Todesfall wird von den Behörden aufgeklärt. Das Militär selbst hingegen gilt als derzeit größter Aggressor gegen die Zivilbevölkerung. So zeigt das Buch als Erfolge präsentierte Verhaftungen und Erschießungen von Drogenbossen und -dealern als PR-Aktionen, während „die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen des Geschäfts völlig intakt“ bleiben.
Ein roter Faden, der sich durch alle Analysen zieht, ist die Korruption in demokratischen Institutionen in den untersuchten Ländern. Die Beiträge des Buches verdeutlichen: Wo Wahlkämpfe durch Kartelle finanziert werden, Polizisten erst durch illegale Zusatzverdienste ihre Familien ernähren können und das Geld der Kartelle die Wirtschaft stützt, ist die militärische Bekämpfung dieser aussichtslos. Gleichzeitig brauchen die Kartelle stabile Ökonomien, wie z.B. Deutschland, um ihre gewaschenen Gewinne sicher anzulegen. Ein sinnvoller Kampf gegen das Verbrechen muss demnach nicht lediglich in Lateinamerika erfolgen, sondern weltweit. Aufmerksamkeit bekommt dieses Problem jedoch kaum. Dass dies hier doch geschieht, ist ein wichtiges Verdienst des Buches.
Neben der Kritik an der bestehenden angebotsorientierten, also auf die Vernichtung der Drogen produktion zielenden militärischen Bekämpfung des Drogenhandels, bieten viele Autor_innen denn auch andere Lösungsansätze an. Dazu gehören die Säuberung der Parteien und Institutionen von korrupten Funktionär_innen genauso wie die Schaffung einer sozial ausgeglicheneren Gesellschaft. Solange kriminelle Organisationen die einzigen sind, die in Armenvierteln für Infrastruktur und Verdienstmöglichkeiten sorgen, haben die Kartelle eine fast unerschöpfliche Quelle, um ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Der ethnographische Bericht über das Selbstverständnis eines Drogenchefs in einer brasilianischen Favela zeigt diese Funktion der lokalen Gruppierungen sehr plastisch. So hat dieser beispielsweise den Bau eines Schwimmbads organisiert. In Mexiko ist es die Família Michoacana, die in ihrem Territorium für Recht und Ordnung sorgt, jedenfalls nach ihrem Rechtsverständnis.
Der im Titel des Buches verwendete Begriff „NarcoZones“ beschreibt nicht ausschließlich die von Kartellen kontrollierten transnationalen Gebiete, sondern auch die sozialen und kulturellen Folgen des narcotráfico. In diesem Zusammenhang enthält das Buch mehrere Kolumnen von Alfredo Molano Bozano aus Kolumbien, der die Realität seines Landes aus Sicht der Zivilbevölkerung schildert. Ebenso sind Beiträge zu öffentlichen Diskursen in Mexiko und Verwertungsformen des Drogenkonfliktes innerhalb der erzählenden Literatur Lateinamerikas vorhanden. Gerade diese Beiträge machen den Leser_innen die gesamtgesellschaftliche Dimension des narcotráfico bewusst und ein genaueres Verständnis der Geschehnisse möglich. Erst so wird eine Beschäftigung mit dem Thema jenseits von Opferzahlen und Gewinnstrategien der Kartelle möglich und die Bedeutung des Drogengeschäftes für den Alltag der Bevölkerung in Lateinamerika erfassbar.
Der zivile Widerstand dieser Bevölkerung gegen den gewaltsamen Alltag ist ein weiterer Bestandteil der sorgfältig ausgewählten Beiträge des Buches. Berichte behandeln beispielsweise die Einrichtung sicherer Häuser für Migrant_innen, die von Verschleppung bedroht sind. Kunstaktionen bis hin zu den großen Karawanen durch Mexiko unter dem Motto „Estamos hasta la madre“ – „Wir haben die Schnauze voll“ lassen die Zivilbevölkerung der betroffenen Regionen nicht länger als inaktive Opfer wirken. Sie zeigen, dass die Missstände nicht mehr länger hingenommen werden.Vielleicht sind ihre Anstrengungen einen Schritt zur Lösung der Probleme.
Die Lektüre des Buches lässt den weiten Weg dorthin jedoch erschreckend klar werden. Zu tief sind die Vermengungen von staatlichen und privaten Institutionen und den narcos. Zu wenig nachhaltige und mutige Lösungsversuche gibt es seitens der Politik. Die eindrucksvoll geschriebenen und gut recherchierten Beiträge des Buches zeigen, dass die als „Politik der harten Hand“ bezeichnete Strategie der Drogenbekämpfung ein Händeschütteln zwischen Politikern, Eliten und Profiteuren des Drogengeschäfts bleibt.

Anne Huffschmid / Wolf-Dieter Vogel / Nana Heidhues / Michael Krämer / Christiana Schulte (Hg.) // NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika // Assoziation A // Berlin 2012 // 272 Seiten // 18 Euro // www.assoziation-a.de

Im Netz des Verbrechens

Sandra López ist ein Teenager, als sie zum ersten Mal mit einigen Mitgliedern der Mara Salvatrucha in Kontakt gerät. Sie lebt mit ihrer Familie in Palencia, einem Vorort von Guatemala Stadt, besucht die Schule, verbringt die Nachmittage mit Freund_innen. Alles scheint ziemlich normal. Auch als sie gegen ihre Mutter rebelliert, sich mit Jungs trifft und anfängt Alkohol zu trinken, zeigt sich den Leser_innen zunächst das Bild einer jungen Frau, wie sie überall auf der Welt zu finden ist. Doch dann lernt Sandra ein Mitglied der Jugendbande Mara Salvatrucha kennen. Fortan wird ihr Leben immer mehr von den Machenschaften der Maras bestimmt. Gewalt und Angst bestimmen ihren Alltag, während sie in ihrer Familie mit aller Kraft ein Stück Normalität aufrecht zu erhalten versucht. Die Lage eskaliert, als Sandras Mutter Bernarda der Bande zum Opfer fällt – Auslöser für Sandra nun selbst den Kampf gegen die Mara aufzunehmen. Die Beschreibung von Sandras Leben liest sich ergreifend und die Insidersicht auf das Leben in der Mara Salvatrucha ist durch Sandras enge Verstrickungen und sehr persönlichen Kontakte zu den Mitgliedern der Gang außergewöhnlich. Aufatmen lassen nur die Passagen über Alltägliches, die sie immer wieder in ihre Beschreibungen einbaut. Nicht zuletzt hierdurch wird dem Leser bewusst, wie sehr Sandra und ihre Familie auch ohne die Mara schon zu kämpfen hatten – um Geld, um Arbeit und um Harmonie. Dennoch wird deutlich, dass die Familie trotz der Bedrohung ihr Leben so gut es geht in normalen Zügen fortzuführen versucht.
Andreas Böhm, der selbst seit vielen Jahren in Guatemala lebt, zeichnet nach, was in Guatemala und anderen zentralamerikanischen Ländern längst zum Alltag gehört: Eine Realität der Angst und des Schreckens, in der viele Jugendliche die Zugehörigkeit zu einer Gang als einzigen Ausweg aus ihrer prekären Lebenssituation ansehen. Die Mara Salvatrucha, die als eine der gefährlichsten Banden der Welt gilt, treibt vor allem in El Salvador, Guatemala und den USA ihr Unwesen. Unzählige Überfälle, Schutzgelderpressungen und Morde gehen auf ihr Konto. In Guatemala profitieren ihre Mitglieder von einem korrupten Staat, der nach wie vor von einem jahrzehntelangen und erst 1996 beendeten Bürgerkrieg gezeichnet ist. Diese Situation macht es fast unmöglich, sich gegen die Mara Salvatrucha zur Wehr zu setzen und nur wenige wagen es, offen über die Verhältnisse in ihrem Land zu berichten. Umso wichtiger ist es, dass Menschen wie Andreas Böhm und Sandra López den Mut haben, diese Ereignisse zu veröffentlichen.
Bisher ist die biografische Erzählung nur auf Deutsch erschienen. Doch, wie Andreas Boueke in seinem Vorwort zu Teuflische Schatten anmerkt, bleibt zu hoffen, dass Sandras Biografie irgendwann den Weg nach Guatemala finden und die Menschen in ihrer Hoffnung bestärken wird, dass sich der gefährliche Kampf gegen die Mara Salvatrucha lohnt.

Andreas Böhm // Teuflische Schatten // Horlemann Verlag // Berlin 2011 // 298 Seiten // 19,90 Euro //
www.horlemann.info

„Finito“ Gold

Bereits vor gut einem Jahr konnte Costa Ricas Anti-Bergbau-Bewegung jubeln. Ende November 2010 hatte das Oberste Verwaltungsgericht des zentralamerikanischen Landes die Konzession der kanadischen Firma Infinito Gold für ein Bergbauprojekt in Las Crucitas, im Norden des Landes annulliert (siehe LN 438). Damit scheiterten die zu diesem Zeitpunkt fast 20 Jahre andauernden Bemühungen des Unternehmens, in der ökologisch wertvollen Region Gold im Tagebau zu schürfen, am Widerstand der lokalen Gemeinden und von Umweltorganisationen. Angesichts der bereits bei der Erschließung des Gebietes angerichteten Schäden sorgte sich das Gericht um die reichhaltige Biodiversität und um die großen Grundwasserspeicher der Region. Zudem prangerte es die vielen Ungereimtheiten im vorangegangenen Genehmigungsverfahren an.
Der kanadische Konzern hatte zuvor die Lizenz zum Goldschürfen in Las Crucitas für zehn Jahre vom costaricanischen Staat erworben und sich seine Pläne im Jahr 2008 zudem durch ein Dekret des damaligen Präsidenten Oscar Arias absichern lassen. Dieses Dekret erklärte die Goldmine zu einem Projekt von öffentlichem Interesse und nationalem Nutzen und räumte dem Unternehmen das Recht ein, Wälder abzuholzen, das per Verfassung lediglich Infrastrukturprojekten wie Straßen oder Flughäfen zugesprochen werden kann.
85.000 Unzen Gold wollte Infinto Gold jährlich aus der Landschaft waschen, damit einen Verkaufswert von geschätzten 800 Millionen US-Dollar erlösen, wovon der Staat über Förderabgaben immerhin rund 90 Millionen kassiert hätte.
Auf eine Klage der Umweltorganisationen APREFLOFAS und Frente Norte por la Vida hin war schließlich das Gerichtsverfahren gegen das Unternehmen und den Staat eröffnet worden. Ein Verfahren, das durch Protestaktionen bis hin zu Hungerstreiks hohe öffentliche Wellen schlug. Expert_innen bemängelten die von dem Unternehmen vorgelegten Umweltverträglichkeitsstudien. Die Studie über die Artenvielfalt der Region erwähnte lediglich Spezies, die auch in anderen Regionen Costa Ricas vorkommen, verschwieg aber, dass einzigartige Mangrovenwälder und Moore dem Megaprojekt zum Opfer fallen würden.
Entsprechende Angaben über den für das Auswaschen des Goldes notwendigen Chemikalieneinsatz blieben ebenso undeutlich wie Studien zum Boden- und Gewässerschutz. Das Gericht schloss sich Ende 2010 der Argumentation der Bergbaugegner_innen an und entzog Infitito Gold die Förderlizenz.
Gegen dieses Urteil war das Unternehmen wie erwartet in Berufung gegangen. Dabei zeigte sich die Bergbaulobby in der Wahl ihrer Mittel keineswegs zimperlich: Im Berufungsverfahren gelangte zwei Wochen vor der Urteilsverkündung ein – für die Bergbaugegner_innen günstiger – Urteilsentwurf an die Öffentlichkeit. Seitdem versuchte die Bergbaulobby, den ganzen Prozess zu kippen, die Richter_innen wegen Befangenheit auszubooten. Viele der dann nachrückenden Richter_innen wären pikanterweise Bergbaubefürworter_innen gewesen – oder, wie es die Aktivistin Rosío Carranza ausdrückt, auf der Lohnliste von Infinito Gold. Doch diese Taktik, die mit einem Respekt vor rechtsstaatlichen Verfahren nur schwer vereinbar ist, ging am Ende nicht auf. Am 30. November 2011 bestätigte das Oberste Berufungsgericht nicht nur den Entzug der Förderlizenz. Auch ein Ermittlungsverfahren gegen Ex-Präsident und Friedensnobelpreisträger Oscar Arias steht nun im Raum. Geklärt werden soll, ob sich Arias in seinem Dekret aus dem Jahre 2008 tatsächlich nur auf ein angebliches nationales Interesse der Goldförderung berief, oder ob jenes Dekret möglicherweise erkauft worden ist.
Andernorts in Zentralamerika jedoch machen transnationale Bergbauunternehmen weiterhin Druck und blühende Geschäfte – und verursachen verheerende Umweltschäden. Zum Auslaugen von Gold und Silber aus ihren Erzen werden Cyanidsalze verwendet, die in der Praxis meist ungehindert in Oberflächengewässer gelangen, die Böden verseuchen und erhebliche Gesundheitsgefahren für die örtliche Bevölkerung darstellen. Zu den Gesundheitsschäden, die in Gemeinden in der Nähe von Goldminen unter freiem Himmel beobachtet wurden, zählen Anämie, Knochenschwund, Lungenkrebs, Hauterkrankungen, Atemlähmung, Seh- und Gedächtnisstörungen sowie Niereninsuffizienz.
Auch das soziale Gefüge und die Landwirtschaft der Region werde durch den Bergbau schwer beschädigt, erklärt Dr. Gian Carlo Delgado von der Nationalen Universität Mexikos (UNAM): „Die vergifteten Böden sind unbrauchbar für Landwirtschaft und Viehhaltung, die Gemeinden verlieren ihre Lebensgrundlage und was droht, sind Geisterstädte.“ Zudem ist der Wasserverbrauch der Minen enorm: Sechs Millionen Liter Wasser soll die Mine El Dorado in El Salvador an einem einzigen Tag verbrauchen, soviel wie eine Familie im Dorf nebenan in 20 Jahren nicht benötigt. So kommt neben der Vergiftung auch Wassermangel hinzu. Die Folge: In der Nähe der rund dreißig Minen El Salvadors wandern die Menschen in Scharen ab. José Antonio Mejía, Sprecher einer Bürgerinitiative, spricht schon von einem Niveau von Vertreibung wie zu Zeiten des Bürgerkrieges.
Die Bergbaulobby ist stark, die Gesetzgebung oft löchrig, die Genehmigungsbehörden korrupt, die Regierungen – gelinde gesagt – oft ohne erkennbare Distanz zu starken Lobbygruppen. Der Widerstand gegen Bergbauprojekte, wie in Honduras, Guatemala, El Salvador oder Panamá, wird von Medien, Politik und Unternehmen satanisiert oder unterdrückt.
In Honduras haben sich die Gewichte dabei seit dem Putsch von 2009 noch einmal deutlich zu Gunsten der Transnationalen und zu Ungunsten der betroffenen Gemeinden verschoben. In Guatemala wird befürchtet, dass der zukünftige Präsident und Ex-General Otto Pérez Molina Bergbauprojekte noch autoritärer durchsetzen wird. In El Salvador hat Präsident Mauricio Funes zwar angekündigt, keine neuen Konzessionen zu genehmigen, in bestehenden zeigt sich aber nach wie vor, wie rabiat die zumeist kanadischen Unternehmen mit Kritik und Widerstand umgehen: Mindestens vier Aktivist_innen sind in den letzten Jahren ermordet worden, kritische lokale Journalist_innen werden regelmäßig bedroht.
Und der Widerstand gegen die Goldminen wird inzwischen durch Freihandelsverträge erschwert: Das Freihandelsabkommen CAFTA zwischen den USA und Zentralamerika räumt internationalen Konzernen umfangreiche Rechte und Garantien ein. Die Kontrollmöglichkeiten der Staaten sind hingegen, selbst wenn sie diese ausüben wollten, beschnitten: Als die damalige rechte ARENA-Regierung unter dem Druck der sozialen Bewegungen im Jahr 2006 zwei Bergbauunternehmen die Lizenzen entzog, verklagten die Unternehmen Pacific Rim und Commerce Group den salvadorianischen Staat auf insgesamt hundert Millionen US-Dollar Entschädigung. Auch wenn das Schiedsgericht für Streitfälle innerhalb des CAFTA-Abkommens die Klage im März dieses Jahres zurückwies, zeigt der Fall, welch enormes Drohpotenzial die Konzerne gegenüber den Staaten aufbauen können.
Mit dem höchstrichterlichen Urteil in Sachen Las Crucitas sind umweltzerstörerische Bergbauprojekte auch in Costa Rica nicht vom Tisch. Zwar hatte der Kongress Ende 2010 angesichts der Proteste für einen Gesetzesentwurf votiert, der neue Projekte von Tagebau für Metalle in Costa Rica verbietet. Das neue Gesetz tastet jedoch nicht bereits bestehende Lizenzen an. Und so konzentrieren sich die Bemühungen der Konzerne mittlerweile auf die Wiedereröffnung vorübergehend stillgelegter Minen und auf die Steigerung der Förderung in bestehenden. Auch die Erkundung von Öllagerstätten geht weiter. Somit hat die Umweltbewegung Costa Ricas sicherlich einen Meilenstein erreicht, darauf ausruhen kann sie sich aber nicht.

Einen Bock zum Gärtner

Am vergangenen 22. November machte es das salvadorianische Regierungsoberhaupt offiziell: Mit David Munguía Payés vereidigte Präsident Mauricio Funes einen General im Ruhestand als neuen Minister für Justiz und Innere Sicherheit. Die Ernennung des Ex-Militärs zum obersten Verantwortlichen für die Innere Sicherheit in El Salvador stellt den vorläufigen Höhepunkt der Widerprüche zwischen Präsident Funes und der Regierungspartei Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) dar. Möglich wurde diese Ernennung durch den vorherigen Rücktritt des FMLN-Mitglieds Manuel Melgar vom Posten des Ministers für Justiz und Sicherheit am 8. November. Da hilft es wenig, dass Funes beteuert, der Wechsel im Amt des Sicherheitsministers sei nicht auf Druck der USA erfolgt. Zu offensichtlich ist, dass der Vorgänger des Generals als ehemaliges Guerrilla-Mitglied konservativen Kreisen in den USA missfiel. Munguía war seit Antritt der Regierung Funes als Verteidigungsminister tätig gewesen. Als Nachfolger auf diesem Posten wurde nun der General José Atilio Benítez vereidigt.
Wann die Entscheidung über die Nachfolge Melgars im Amt des Ministers für Justiz und Sicherheit genau getroffen wurde, ist unklar. So kritisierte der FMLN-Sprecher Roberto Lorenzana, dass die Berufung Munguías bereits lange feststand und nur noch nicht bekannt gegeben worden war. Dabei betonte Lorenzana, dass die FMLN nichts gegen die Person Munguías einzuwenden habe, dem sie vielmehr politisch freundschaftlich verbunden seien. Während des bewaffneten Konflikts war der Vater Munguías sogar ein Kollaborateur der FMLN. Aber Munguía sei und bleibe eben ein Militär, mahnte Lorenzana, dessen Denkweise sich auch nicht dadurch ändere, dass er als General in den Ruhestand tritt. Funes selbst hatte die Vereidigung Munguías bereits Tage zuvor rhetorisch vorbereitet indem er im Zuge der Ernennung des neuen Sicherheitsministers Veränderungen in der Politik zur Verbrechensbekämpfung ankündigte.
Wieder einmal scheint eine Naturkatastrophe der salvadorianischen Regierung gelegen zu kommen, um ohne größere Proteste eine fragwürdige Politikänderung durchzuführen. Mitte Oktober war El Salvador von einer Katastrophe beispielslosen Ausmaßes heimgesucht worden, bei der extreme Regenfälle erhebliche Schäden verursacht hatten. Über 55.000 Salvadorianer_innen waren evakuiert worden, viele Familien verloren ihr Hab und Gut und zahlreiche Menschenleben waren zu beklagen. Bei der Auswertung der Regierungspolitik zur Katastrophen-Bekämpfung Ende November lobte Präsident Mauricio Funes auch die Beteiligung der Streitkräfte an den Rettungsmaßnahmen. Unter anderen politischen Vorzeichen hatte Anfang 2001 das schwere Erdbeben und die folgende Katastrophenhilfe dazu beigetragen, den US-Dollar als Währung in El Salvador zu verbreiten, nachdem im November 2000 der damalige Präsident Francisco Flores der rechten Partei Nationalrepublikanische Allianz (ARENA) mit dem „Gesetz zur Monetären Integration“ diesen der Landeswährung Colón gleichgestellt hatte. Diesmal geht es in El Salvador um eine Remilitarisierung der Inneren Sicherheit, die jedoch von Präsident Funes abgestritten wird. Seine Entscheidung über die Ernennung Munguías sei nicht auf äußeren Druck hin geschehen und beruhe lediglich auf seiner persönlichen Wertschätzung des ehemaligen Verteidigungsministers und dessen bisheriger Arbeit in seinem Kabinett. Kritik, die nicht nur von Seiten von Mitgliedern der FMLN laut wurde, tat Funes als in einer Demokratie übliche Meinungsverschiedenheiten ab: „Wäre das Gegenteil der Fall, so könnte der Präsident lediglich Entscheidungen treffen, die die Regierungspartei bewilligt, was dem entspräche, wie es eine gewisse politische und wirtschaftliche Kraft in der Vergangenheit handhabte”, äußerte sich Funes in Anspielung auf die zwanzig Jahre zwischen 1989 und 2009, in denen die rechte ARENA-Partei die Regierung und auch den Präsidenten stellte.
Während Funes Mutmaßungen widerspricht, die Ernennung David Munguía Payés’ sei Teil einer von den USA initiierten Strategie zur Remilitarisierung der Region, hofiert er die Armee, deren Oberster Behelfshaber er Kraft seines Amtes ist. In einer offiziellen Rede anlässlich der Abschlussfeier von Angehörigen der Militärschule am 30. November betonte Funes, dass das Land und die Region von schwer bewaffneten Banden und wirtschaftlich mächtigen kriminellen Organisationen heimgesucht werde: „Wir befinden uns in einem neuen Krieg, einer neuen Schlacht gegen ein Übel, das die nationale Souveränität bedroht.“ Angesichts dieser Gefahr sei es wichtig, verantwortungsvoll und vorurteilsfrei zu handeln. Damit bezeichnet er indirekt Bedenken, dass die Armee, die im salvadorianischen Bürgerkrieg für schwere Menschenrechtsverletztungen verantwortlich war, noch immer undemokratische Züge aufweist, als Vorurteile. Schon im November 2009, wenige Monate nach seinem Amtsantritt hatte Funes die Einbeziehung von Armeeangehörigen in die Arbeit der Nationalen Zivilpolizei PNC angeordnet. Bereits diese Entscheidung habe er mit der Gewissheit getroffen, dass sich die Armee in den vergangenen zwanzig Jahren in eine professionelle Institution der Republik gewandelt habe und eine unermessliche Stütze für die Demokratie darstelle, verkündete der Präsident in seiner Rede an der Militärschule Ende November. Bei der Gelegenheit erklärte Funes außerdem in seiner Funktion als oberster Behelfshaber der Streitkräfte den General im Ruhestand Munguía auf Grund seiner Verdienste als Verteidiungsminister zum „Hochverdienten Soldaten des Vaterlands“.
Am Folgetag, dem 1. Dezember, stritt Funes jedoch erneut ab, dass es eine regionale Sicherheitsstrategie in Zentralamerika gebe. Die Beteiligung der Streitkräfte der Region an den Aufgaben der Inneren Sicherheit, dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den Drogenhandel solle nicht verstärkt werden. Auch die Erhöhung des Budgets für die Streitkräfte, um deren erhöhtes Engagement bei der Herstellung der Inneren Sicherheit zu finanzieren, stelle nicht Teil einer regionalen Sicherheitsstrategie dar. Diese Erklärung des salvadorianischen Präsidenten wurde notwendig, nachdem sowohl in Honduras als auch in Guatemala zeitgleich mit El Salvador ähnliche Entwicklungen stattfinden.
Die Konflikte zwischen Präsident und FMLN könnten sich zum baldigen Ende der Amtszeit des Präsidenten hin weiter zuspitzen, da Funes’ Mandat erst die Halbzeit erreicht, während die FMLN sich schon im Vorwahlkampf befindet, um bei den Parlaments- und Kommunalwahlen im März 2012 erneut als stärkste Partei hervorzugehen.
Die Medien in El Salvador konzentrieren sich wie üblich vor allem darauf, die rechten politischen Kräfte, die sich momentan in der Opposition befinden, zu hofieren. Konflikte zwischen Präsident Funes und FMLN werden dabei gerne ausgeschlachtet, um die angebliche Unfähigkeit der linken Partei, das Land zu regieren, hervorzuheben. Diese Situation wird sich bis zu den Wahlen im März 2012 noch zuspitzen.
Schon jetzt zeichnet sich eine deutliche Spaltung zwischen Regierungspartei und Präsident in der öffentlichen Wahrnehmung ab. Eine Meinungsumfrage der salvadorianischen Tageszeitung La Prensa Gráfica kommt zu dem Ergebnis, dass während sich im Jahr 2009 noch 32 Prozent der Befragten als politisch links einordneten, dieser Wert seither stetig gefallen ist und im November dieses Jahres bei unter 18 Prozent lag. Gleichzeitig ist in der selben Zeitung zu lesen, dass die Sympathiewerte für den Präsidenten Funes bei über 70 Prozent der Bevölkerung liegen.
Doch noch ist Funes für seine Politik auf die Regierungspartei FMLN angewiesen. Anfang Dezember bekam der Präsident durch die Unterstützung der linken Partei die Reformen der Steuergesetzgebung durchs Parlament, die Änderungen bei der Einkommenssteuer vorsehen. Dafür erhielt die FMLN offiziell die Anerkennung des Präsidenten ausgesprochen, der gleichzeitig die rechten Parteien im Parlament dafür kritisierte, sich auf Seite der Privatwirtschaft gestellt und nicht für seine Einkommenssteuerreform gestimmt zu haben.
Die salvadorianischen Unternehmer_innen werfen dem Präsidenten vor, neue Steuern zu erfinden und dadurch Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erschweren. Der Unternehmerverband ANEP behauptete in diesem Zusammenhang, Funes verschwende Steuergelder und protestierte gegen die Einkommenssteuerreform, die höhere Abgaben für monatliche Einkommen über 2.000 Dollar vorsieht.
Funes hingegen forderte die Privatwirtschaft auf, mehr im Land zu investieren. Während er öffentliche Investitionen in Höhe von über 900 Millionen US-Dollar für das kommende Jahr ankündigte, mahnte der Präsident höhere private Investitionen an. So sei auch das diesjährige Wachstum in der Baubranche vor allem öffentlichen und kaum privaten Investitionen zuzurechnen. Der Unternehmenssektor hingegen beharrt darauf, dass eines der größten Hindernisse für private Investitionen die Unsicherheit im Land darstelle, die durch die hohe Kriminalitätsrate entstehe.
Mit Munguía als neuem Minister für Justiz und Innere Sicherheit strebt Funes denn auch eine effektivere Verbrechensbekämpfung an und verspricht eine Senkung der Mordrate in El Salvador um 30 Prozent. Die Debatte über die Ernennung des Ex-Generals als Sicherheitsminister ist für Funes damit abgeschlossen. Er habe seine Regierungsmitglieder angewiesen, nicht mehr über das Thema zu sprechen, wird der Präsident in La Prensa Gráfica zitiert: „Diese Entscheidung steht nicht zur Debatte, die Debatte erfolgt zuvor, um dem Präsidenten Anhaltspunkte zu bieten, damit er seine Entscheidung fällt, aber sobald die Entscheidung getroffen ist, wird die Entscheidung befolgt und respektiert“.

Mit ganzem Körpereinsatz

Sie schnitt sich mit einem Messer das Wort perra (Hure, eigentlich Hündin) in den Oberschenkel, ließ sich in Plastikfolie eingewickelt auf einer guatemaltekischen Müllkippe abwerfen und in Berlin alle Goldplomben aus den Zähnen entfernen. Mit ihrem Körper geht die Künstlerin Regina José Galindo nicht gerade zimperlich um. Er ist das zentrale Medium ihrer Arbeit. Und die kreist bei weitem nicht nur um weibliche Körperlichkeit. Hier gibt es durchaus Anknüpfungen an die Frühgeschichte feministischer Performance-Kunst der westeuropäisch-nordamerikanischen 1960er und 70er Jahre. So etwa, wenn die Alltagsgewalt, der viele Frauen in Guatemala ausgesetzt sind, in kaum erträgliche Aktionen mit dem eigenen Körper umgesetzt und auch für das Publikum zur Zumutung werden.
Wie eine spiegelverkehrte Antwort auf Yoko Onos berühmtes „Cut piece“ (1965), in der sich die Künstlerin vom Publikum die Kleider vom Leid schneiden ließ, liest sich etwa die Performance „Breaking the Ice“ (2008), in der die José Galindo nackt im unterkühlten Oslo Kunstforening sitzt und es den Betrachter_innen überlässt, sie zu bekleiden. Hier ist auch klar: Weder Methoden noch Motive von José Galindos Kunst sind auf ihren spezifischen Entstehungskontext Guatemala beschränkt. Die Gewalt gegen Frauen nur dort zu sehen, weist José Galindo als kolonialistische Blickrichtung aus – wie etwa im Buchbeitrag von Clare Carolin deutlich wird.
Bei der Performance „Wer kann die Spuren verwischen?“ hinterließ sie Fußabdrücke aus Blut vor dem Obersten Gerichtshof in Guatemala und stellte zugleich die geschichtspolitische Frage nach der Macht, die systematischen Morde der Armee im guatemaltekischen Bürgerkrieg (1960-1996) gesellschaftlich unaufgearbeitet zu lassen. Solche Art politischer Zusammenhänge und Interventionen stellen viele Arbeiten José Galindos her. Carlos Jiménez ordnet José Galindos Arbeit systematisch in den feministischen Kunstkontext ein. Er hebt dabei auch hervor, dass weder allein das Reinreklamieren des weiblichen Körpers in die Arena des Politischen noch christliches Märtyrertum ihr Anliegen sei: Statt dessen fordere sie schlicht soziale Gerechtigkeit.
An Regina José Galindos Arbeiten wird aber auch noch einmal deutlich, dass das Politische in der Kunst sich keinesfalls allein über proklamierte Inhalte entfaltet. Das Eingreifen in den öffentlichen Raum und das Hervorrufen der Affekte gehören ebenso dazu wie die formalen Bezüge auf die Kunstgeschichte, in diesem Fall die der (nicht nur) feministischen Aktions- und Performancekunst.
In dem Buch sind alle Arbeiten seit 2006 mit ansehnlichen Fotos dokumentiert. Die Jahre davor erscheinen lediglich sporadisch. Dass keine Performances aus den 1990er Jahren versammelt sind, macht das einzige Manko des Bandes aus. Das Bild beispielsweise, auf dem José Galindo im Engelskostüm am barocken Torbogen über einer Hauptkreuzung in der Altstadt von Guatemala-Stadt hängt, wäre sicherlich der erneuten Vervielfältigung wert gewesen: In „Ich werde es dem Wind entgegenbrüllen“ (1999) liest sie Gedichte in schwindelnder Höhe. Damit hatte sie gegen die zunehmende Zahl von Vergewaltigungen protestiert und ein medienwirksames Verkehrschaos erzeugt. Zuletzt wurde ihr im Oktober der Grand Prize Award der Biennial of Graphic Arts in Ljubljana zuerkannt.

prometeogallery di Ida Pisani (Hg.) // Regina José Galindo // Silvana Editoriale // Milano 2011 // (Italienisch/ Spanisch/Englisch) // 393 Seiten // 30 Euro

Ex-General im höchsten Staatsamt

„General des Friedens“. So bezeichnet sich Otto Pérez Molina gerne, seit er bei den Friedensabkommen im Jahr 1996, die den 36-jährigen Bürgerkrieg zumindest formell beendeten, den guatemaltekischen Staat repräsentierte. Nun hat er in Guatemala wie erwartet die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Manuel Baldizón gewonnen und wird für die nächste Legislaturperiode das höchste Amt in Guatemala bekleiden. Pérez Molina erreichte knapp 54 Prozent, während Baldizón auf knapp 46 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 60 Prozent.
Der zukünftige Präsident hat allerdings eine Vergangenheit, die ernsthafte Zweifel an seiner Demokratiefähigkeit aufkommen lassen: In der dunkelsten Zeit der Geschichte Guatemalas, der Militärdiktatur von 1978 bis 1982, galt er als ein Vertrauter des damaligen Juntachefs, General Lucas García. Zu Beginn der 1980er Jahre kommandierte Pérez Molina die Militärbasis im Departamento El Quiché – die Region, in der der Bürgerkrieg am heftigsten tobte und zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübt wurden.
Auch seine Karriereschritte als Chef des Militärgeheimdienstes G-2 zwischen 1991 und 1993 und der Präsidentenschutztruppe „Estado Mayor Presidencial“ (EMP) von 1993-1996, werfen Fragen auf: Während des Bürgerkriegs waren sowohl der EMP als auch die G-2 berüchtigte staatlichen Einheiten, denen Entführungen, Folter und Morde vorgeworfen werden.
Guatemalas frisch gewählter Präsident leugnet auch, dass es in Guatemala je einen Völkermord gegeben hat. In einem Interview mit dem Internetmedium PlazaPública.com.gt erklärte Pérez Molina in diesem Jahr, dass die seinerzeit im Quiché operierende „Guerillaarmee der Armen“ Kinder und Frauen bewaffnet habe. Die Massaker im Quiché seien geschehen, „weil da Menschen an Guerilla-Aktionen beteiligt und auf dem Schlachtfeld waren.“ Weil die massakrierten Dörfer somit direkte Kriegsteilnehmer waren, habe es keinen Genozid gegeben, so die Logik des Ex-Generals.
Da die guatemaltekische Justiz erst in jüngster Vergangenheit bei der Aufarbeitung von Diktaturverbrechen vorsichtig tätig geworden ist und die Medien mit dem Kandidaten Pérez Molina mehr als gutmütig umgingen, kann dieser Vorwürfe im Hinblick auf seine Vergangenheit als reine Schmutzkampagnen abtun. Dementsprechend wissen die meisten Wähler_innen über die Vergangenheit des Ex-Generals so gut wie gar nichts.
Trotz vieler Indizien, die auf eine Verstrickung der Streitkräfte mit den Drogenkartellen hindeuten, wird der Chef der Patriotischen Partei (PP) nicht müde, die Armee als einzige ehrenwerte Institution des Landes zu bezeichnen. Eine Militärlandebahn, die auch von Drogenkurieren angesteuert wird, Armeewaffen, welche die Polizei bei Kartellmitgliedern sichergestellt hat: Es gibt Hinweise für Verstrickungen der Streitkräfte in dunkle Geschäfte. Otto Pérez Molina fordert Beweise und verspricht, dass diese dann auch zu Urteilen führen würden.
Das entspricht ganz der angekündigten Linie der „harten Hand”, 100 Prozent Rechtsstaat und null Prozent Straflosigkeit, die dem Präsidenten die Unterstützung der Mittelschicht gebracht hat, die sich ein bisschen Sicherheit vor der überbordenden Gewalt erhofft. Auch ehemalige und aktuelle Militärs, die unter einem Präsidenten Otto Pérez wenig zu befürchten haben dürften, zählen zu seinen Unterstützer_innen. Genau wie Unternehmer_innen, denen die nun abgewählte rechtssozialdemokratische Regierung unter der Führung von Álvaro Colom ein Graus war. Viele wichtige Geschäftsleute stehen auf der Kandidatenliste der PP für den Kongress.
Ihnen allen hat die Partei des Kandidaten Otto Pérez Molina in der ablaufenden Legislaturperiode wertvolle Dienste geleistet: Ob die Gesetzesinitiative zur Eindämmung der Steuerhinterziehung oder zur Reform der Einkommenssteuer, ob eine Besteuerung von Telekommunikationsunternehmen, wie auch jeder Fortschritt in der Strafverfolgung, die Pérez Molina angeblich so am Herzen liegt: Die PP mauerte bei allen Initiativen und kungelte dabei so erfolgreich mit Regierungsabweichlern und anderen Oppositionsparteien, dass in der Regierungszeit des scheidenden Präsidenten Álvaro Colom kaum ein Gesetzesvorhaben durchgesetzt wurde.
Für Dr. Adrian Zapata, der an Guatemalas öffentlicher Universität San Carlos das „Institut für nationale Probleme“ leitet, bedeutet der Wahlausgang die Kontinuität einer Politik zu Gunsten von Auslandsinvestitionen und zur Förderung der Rohstoffausbeutung in Guatemala. Eine soziale Komponente sei in der Politik der „Patriotischen Partei“ nicht zu erkennen, weswegen die von der UNE-Regierung eingeführten, aber wegen ihrer Intransparenz heftig kritisierten Sozialprogramme wohl relativ schnell Geschichte sein dürften. Eine Gefahr des Rückfalls in eine oligarchisch-militaristisch dominierte Gesellschaft sieht Zapata allerdings nicht. Dazu hätten sich Guatemala, die Region und die internationalen Verhältnisse in den letzten zwanzig Jahren zu sehr geändert. Das Militär sei nach wie vor ein wirtschaftlicher Akteur, seine Rolle sei jedoch im Vergleich zu den 1980er Jahren sehr zurückgedrängt worden.
Anzeichen für radikale Veränderungen in Guatemala in den nächsten Jahren gibt es also kaum. Die Hoffnung auf Korrekturen am Wirtschaftsmodell, um mehr auf die Bedürfnisse von Armen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern eingehen zu können, ist gering. Ebenso unwahrscheinlich ist eine wirksame Bekämpfung der seit der Militärdiktatur bestehenden militärischen Parallelstrukturen oder der Infiltration von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durch die Drogenkartelle. Die Arbeit der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG), die in den letzten Jahren einige spektakuläre Verfahren gegen Politiker_innen, Unternehmer_innen und hohe Beamt_innen initiieren konnte, wird unter Pérez Molina sicherlich nicht leichter. Ob sie aber erschwert wird, muss sich erst noch zeigen.
Durchregieren wird Pérez Molina mit Sicherheit nicht können. Genau wie in den vergangenen Legislaturperioden kann auch der am 6. November gewählte Präsident im Kongress auf keine eigene Mehrheit bauen. Bei einem Anteil von gerade mal einem Drittel der Abgeordneten im Parlament dürfte ein großer Teil der ohnehin dünnen Programmversprechen der parlamentarischen Kungelei zur Mehrheitsbeschaffung zum Opfer fallen. Ansonsten könnte sich auch die neue Regierung statt einer Politik der harten Hand am Ende vor allem durch Symbolismus und Klientelpolitik auszeichnen – während sich Otto Pérez Molina als Präsident vor Fragen bezüglich seiner Vergangenheit wohl noch sicherer fühlen dürfte als bislang.

Zurück auf Null

Am Anfang war nur das Meer, es spiegelten sich die Wolken auf der gekräuselten Wasseroberfläche. Farben, Formen und Worte. Der Film Herz des Himmels – Herz der Erde beginnt mit den Worten aus dem Popol Vuj, dem Schöpfungsmythos der Maya. Bilder einer ursprünglichen Schönheit von Himmel und Wolken, Meer und Wellen, Erde und Bäumen zusammen mit dem aus dem Off gesprochenen Maya-Quiché Text machen den Beginn der Schöpfung zum Anfang des Films.
Anhand persönlicher Geschichten werden die alltäglichen Probleme der Menschen in der Region Südmexiko und Guatemala beschrieben. Vier der beschriebenen Personen sind schamanistische Priester, das gibt dem Film und den dargestellten Lebensgeschichten eine spirituelle Ebene. Diese verleiht dem Film aber keinen Eso-Touch, sondern vermittelt eine alltägliche Spiritualität, bei der zum Beispiel eine Maisernte zu einer religiösen Erfahrung werden kann.
Stellvertretend für die verschiedenen Maya-Ethnien zeigt der Film in Guatemala mit Floridalma eine Mam-Maya und mit Kajkan Felipe einen Cakchiquel-Maya und deren Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg. Kajkan Felipe, selbst als junger Mann in den Bürgerkrieg verwickelt, veranstaltet heute als schamanistischer Priester Zeremonien, um das Leid, das aus dem Bürgerkrieg entstanden ist, auf seelischer Ebene zu bearbeiten. Floridalma besucht im Film ihr Heimatdorf, aus dem sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie nach Mexiko geflüchtet ist. Im Film trifft sie auf alte Freunde und Verwandte, aber es wird kein kitschiges Bild der Begegnung entworfen, sondern ein Bild einer Frau gezeichnet, die mit ihrer jungen Tochter in das Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt. Die Kamera zeigt eine Frau, die in ihr Heimatdorf zurückkommt, dort fremd bleibt und doch Anschluss findet.
In San Miguel, einem anderen Dorf in dem Departamento San Marcos unterstützt Floridalma die Aktivist_innen gegen die Mine Marlin (siehe LN 438). Die Hauterkrankungen der Neugeborenen haben deutlich zugenommen, seitdem die Tagebau-Mine Marlin ausgebeutet wird. „Diese Mine ist eine Fortführung der Eroberung durch den weißen Mann und es geht immer weiter, aber es muss endlich Schluss sein!“, sagt sie. „In der modernen Welt will man uns weismachen, dass die Dinge voneinander getrennt sind: Wirtschaft, Politik, die Natur, Bäume, die Flüsse, der Mais und das menschliche Leben sind voneinander getrennte Dinge. Aber es ist dumm, so zu denken. Alles ist miteinander verbunden und hängt zusammen“, so Floridalma.
Oder Josefa „Chepita“ aus Chiapas, Mexiko. Die Tsotzil-Maya bezeichnet sich als eine spirituelle Schwester von Floridalma. Man sieht sie als schamanistische Priesterin auf dem Friedhof Blumen und Baumharz opfern, aber auch bei der Alphabetisierung von anderen Frauen. In den Interviewsequenzen berichtet sie von ihrem Werdegang als Priesterin und ihren Problemen in der machistischen Gesellschaft von Chiapas.
Carlos Chan Kin, Schamane der Lakandonen, beschreibt ein düsteres Bild der Zukunft: Flüsse, Seen und Meere würden bald verschmutzt sein und es würden keine Heilpflanzen mehr im Urwald wachsen. In seiner lakonischen Art zeichnet Chan Kin eine Zukunft, in der die Menschen bald vom Angesicht der Erde verschwinden werden. „Ich selbst werde auch nicht alt werden, das weiß ich.“
Alonso, Archäologe aus Palenque, Mexiko, richtet den Blick auf das magische Datum 21.12.2012 und zieht eine Parallele zum Kollaps der klassischen Mayakultur im 10. nachchristlichen Jahrhundert. Damals hatte der Lebenswandel der absolutistischen Gottkönige der Maya zu einer ökologischen und sozialen Katastrophe geführt und zu einer einschneidenden Veränderung in der Kultur der Maya geführt. „An dieser Stelle stehen wir heute auch“, sagt Alonso. „Wie damals die Maya haben auch wir heute unsere Lebensgrundlage zerstört.“ Vom Beifahrersitz seines Jeeps wird der Archäologe mit einer wackligen Handkamera gefilmt, während er auf der Suche nach dem Ort Tortuguero ist, dort wo die einzige Inschrift der Maya gefunden wurde, die sich auf das Datum 21.12.2012 bezieht. Auf einer gewaltigen Baustelle, in einer apokalyptischen Szenerie, wo riesige Bagger und Trucks die Erde umgraben, sucht der Archäologe nach den Überresten der alten Mayastadt. Völlig teilnahmslos zeigt ihm dann ein Bauarbeiter, was noch an Ort und Stelle von dem vorspanischen Ort übrig geblieben ist: Nichts.
Der Film ist eine gelungene Mischung aus Reportage und Interview. Die verschiedenen Personen werden in alltäglichen Begegnungen gefilmt und in langen Sequenzen berichten sie von ihrem Leben und ihren Erfahrungen. So bekommen wir einen Einblick in eine Lebenswelt und Spiritualität, die uns doch sehr fremd ist. Das Datum 21.12.2012 taucht – wenn überhaupt – nur am Rande auf. Vielmehr geht es um die alltäglichen Begegnungen und Probleme der Menschen, wie Analphabetismus, Machismo, der Kampf gegen die fortschreitende Ausbeutung der Ressourcen auf Kosten der dort lebenden Menschen.

Herz des Himmels – Herz der Erde // Frauke Sandig und Eric Black // 98 Min. // Deutschland / USA 2011 // Kinostart: 1. Dezember 2011

Meisterhafte Verschleierung

Wer die Vergangenheit nicht ruhen lässt, lebt gefährlich in einem Land wie Guatemala. Vor allem, wenn er den Opfern von einst eine Stimme gibt und die Täter beim Namen nennt. Im Rahmen des Projekts zur „Wiedererlangung der historischen Erinnerung“ (REMHI) hat die katholische Kirche eine Geschichte von 36 Jahren Bürgerkrieg aus Sicht der Opfer geschrieben. Der im April 1998 veröffentlichte Abschlussbericht „Guatemala: Nie wieder!“ nennt die Namen vieler, die gefoltert, gemordet, vergewaltigt und Massaker begangen oder die Befehle dafür gegeben haben. Verantwortlich für mindestens 200.000 Tote, hunderte von ausgelöschten Gemeinden und ganze entvölkerte Landstriche war in über 80 Prozent der Fälle das Militär. Das wusste jeder im Land, doch niemand wagte, es auszusprechen. REMHI brach mit diesem Tabu. Bischof Juan Gerardi bezahlte diesen Angriff auf die Allmacht des Militärs mit dem Leben: Nur zwei Tage, nachdem er „Guatemala: Nie wieder!“ der Öffentlichkeit präsentiert hatte, wurde er brutal ermordet.
In seinem Buch Die Kunst des politischen Mordes zeichnet der Journalist und Autor Francisco Goldman den Mord an dem mutigen Bischof nach. Über Jahre hinweg begleitet er die Ermittlungen, befragt Zeug_innen, spricht mit Staatsanwält_innen und Richter_innen, trifft sich mit Journalist_innen. Seine Recherchen lesen sich spannend wie ein Krimi und zeigen, wie wenig das Friedensabkommen von 1996 an der Macht des Militärs rütteln konnte, und wie skrupellos dieses vorgeht, um seine Macht zu erhalten.
Die Kunst des politischen Mordes gliedert sich in drei Phasen. Zunächst wird das Opfer überwacht, sein Umfeld ausgekundschaftet und der Mord vorbereitet. Darauf folgt die eigentliche Tat. Ausführlich beschreibt Goldman die dritte Phase: Über Jahre hinweg werden die Ermittlungen immer wieder in die falsche Richtung gelenkt und die juristische Aufarbeitung des Falls behindert. Auch wenn die Indizien schon bald auf das Militär als Täter hinweisen, entzieht es sich mit immer neuen Intrigen. Mal wird die Bluttat als Mord aus Leidenschaft präsentiert. Dann wird behauptet, Gerardi sei einer Diebesbande von Kirchengütern auf die Spur gekommen und musste deshalb sterben. Zeug_innen werden ermordet, Staatsanwält_innen und Richter_innen mit dem Tode bedroht. Das Erzbischöfliche Menschenrechtsbüro ODHA, das den REMHI-Bericht erarbeitet hat und als Nebenkläger auftritt, wird mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht, die Mitarbeiter und ihre Familien werden verfolgt. Es ist ein wahres „Meisterstück“ der Verschleierungen, der Drohungen und der Gewalt, das die Mörder von Juan Gerardi da abliefern. Und doch müssen sie schließlich eine Niederlage hinnehmen: Drei Jahre nach dem Bischofsmord werden drei Militärs und ein Pfarrer für die Tat verurteilt.Sechs weitere Jahre später werden die Urteile, nachdem sie zwischenzeitlich aufgehoben und dann abgemildert wurden, vom Verfassungsgericht endgültig bestätigt. Ohne die mutigen Staatsanwält_innen, Richter_innen und vor allem die Mitarbeiter_innen des kirchlichen Menschenrechtsbüros ODHA hätte es dieses Urteil nicht gegeben. Für Goldman sind sie Held_innen, die auf der Suche nach Wahrheit ihr eigenes Leben riskieren. Und doch hatten sie nur begrenzten Erfolg: Gegen die Auftraggeber des Mordes wird bis heute nicht ernsthaft ermittelt. Einer, der immer wieder mit dem Mord in Verbindung gebracht und der auch im REMHI-Bericht genannt wird, ist der frühere Geheimdienstchef Otto Pérez Molina. Doch statt für den Mord oder andere Menschenrechtsverbrechen vor Gericht zu belangt zu werden, ist er bei der Stichwahl am 7. November mit einer klaren Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Im Januar 2012 tritt der General a. D. und Chef der Patriotischen Partei (PP) das Präsidentschaftsamt an.

Francisco Goldman // Die Kunst des politischen Mordes // Aus dem Englischen von Roberto de Hallanda // Rowohlt Verlag // Reinbeck, 2011 // 24,95 Euro

Gewaltfrei für Menschenrechte

Viele Länderprojekte entstanden seit der Gründung von pbi im Jahre 1981 in Kanada unter anderem in Sri Lanka, den USA, im Balkan, Haiti und Kongo. Die Ursprünge der Brigaden lagen in Gandhis Idee der „Friedensarmee“ und den 1962 im Libanon gegründeten „World Peace Brigades for Non-Violent Action“. Aus einer kleinen Gruppe von gewaltfreien Aktivist_innen der Friedensbewegungen verschiedener Länder entstand eine weit verzweigte und gut vernetzte Organisation. Auch die Prinzipien gründeten sich auf Strukturen und Entscheidungsprozessen der Horizontalität und des Konsens. Die Organisation versteht sich nicht als westliche Menschenrechtsavantgarde und Fürsprecherin, die anderen inhaltlich und strategisch Ratschläge erteilt, im Gegenteil, sie mischt sich nicht in die Arbeit der begleiteten Organisation ein, sie agiert gewaltfrei und unabhängig von religiösen und Partei-Positionen.
Die internationale Begleitung bedeutet reale wie symbolische Anwesenheit an der Seite einer bedrohten Person und Organisation. Dadurch erzeugt man für sie über die lokale und internationale Öffentlichkeitsarbeit, das breite Unterstützer_innen-Netzwerk von Zivilgesellschaft und politischen Institutionen Schutz und einen Handlungspielraum. Der gleichzeitige politische Druck auf Regierung, Ministerien und Sicherheitsorgane des Projektlandes zwingt diese, ihren Pflichten zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen nachzukommen und erhöht die politischen Kosten im Falle einer Drohung oder Attacke.
Entstehung und Wachstum eines Länderprojekts, von denen es zur Zeit vier gibt – in Kolumbien, Mexiko, Guatemala und Nepal – bedarf vieler Recherche, Kontakte und einer langfristigen Perspektive, Vertrauen und natürlich Verbindlichkeit mit den Kooperationspartner_innen. Der Erfolg stellt sich nicht unmittelbar ein und lässt sich schwerlich an einer Skala ablesen. Der 30.Geburtstag kann auch eine Gelegenheit für eine Bilanz der Arbeit von pbi und ihrem Konzept der Begleitung sein. Ihre langjährige Präsenz in einigen Länderprojekten und Anerkennung durch verschiedene Akteur_innen sowie der Schutz, den sie den Begleiteten gewährt hat, sprechen für sich.
Und mit Sicherheit wäre diese Arbeit nicht ohne das Engagement von vielen hundert Freiwilligen in Ländergruppen, den internationalen Teams und verschiedenen Gremien von pbi möglich gewesen.
Letztendlich ist das Ziel eines jeden Länderprojekts die Verbesserung des Schutzes für Menschenrechtsverteidiger_innen. Eine grundlegende Veränderung der Menschenrechtssituation wäre eine Illusion, nicht jedoch die Hoffnung, dass die Organisationen vor Ort über einen größeren Spielraum, bessere Kontakte, Anerkennung durch Regierungen und Institutionen und dadurch bessere Sicherheit für sich und ihre Mitarbeiter_innen verfügen. Dann ist pbi erfolgreich gewesen.

Mehr Informationen zu peace brigades international (pbi) sowie den Möglichkeiten aktiver und finanzieller Unterstützung unter:
www.pbideutschland.de oder www.peacebrigades.org

Literaturverweis
Liam Mahony, Luis Enrique Eguren // Gewaltfrei stören, Gewalt verhindern. Die Peace Brigades International // Rotpunktverlag // Zürich 2002 // 19,80 Euro

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