20 Jahre kritische Filme

Wie ist die Idee entstanden, eine Werkschau zu machen?
Die Initiative kam vom Moviemento Kino. Die haben zuletzt meinen letzen Film La Isla aufgeführt und es war immer voll. Dann haben sie den Film zusammen mit Angriff auf den Traum für Schulklassen angeboten und haben gesehen, dass die Filme total gut angekommen sind. Im Zuge dessen ist uns auch aufgefallen, dass wir mittlerweile seit 20 Jahren Filme in Guatemala machen und es sich mal lohnt aufzuzeigen, was sich auch in so einer kontinuierlichen Filmarbeit für uns, aber auch innerhalb der Gesellschaft, mit den Filmen ändert. Es ist zudem gut, eine Bilanz zu ziehen und das Medium Dokumentarfilm dahingehend abzuklopfen, was es gerade in so einer Gesellschaft wie Guatemala erreichen kann.

Wo liegt für Sie der Reiz im Dokumentarfilm?
Das Medium ist für mich sehr attraktiv, weil es sehr viele Fähigkeiten vom Macher abverlangt. Es ist sehr kreativ, da man mit Bildgestaltung, Musikkompositionen und Dramaturgie zu tun hat. Es ist in der Machart sehr individuell, aber je nachdem, wie man dann mit Filmen umgeht, ist es etwas, was sich sehr stark sozialisieren lässt. Es ist ein Medium, das gerade in solchen Ländern wie Guatemala sehr attraktiv ist.

Warum gerade dort?
Die gesamten 20 Jahre und auch die Erklärungen, warum die Filme dort so viel bewegen, hat etwas mit dem ganz konkreten politischen, sozialen und kulturellen Kontexten zu tun. Guatemala hat mit nur wenigen Ausnahmen nie eine eigene Filmproduktion gehabt, und das Fernsehen war über Jahrzehnte stark zensiert. Sowohl Journalisten als auch Filmemacher, wenn sie nicht umgebracht wurden oder ins Exil gegangen sind, haben per Selbstzensur schon die Schere im Kopf angesetzt. Eine unabhängige Dokumentarfilmtradition, die Geschichte reflektiert, gibt es daher nicht. Deshalb fehlt die eigene Identität in den Massenmedien. Weder das Kino noch die Fernsehprogramme reflektieren wirklich, was in dem Land passiert und was mit den Menschen passiert. Das macht meiner Ansicht nach die Bedeutung nicht nur unserer Filme aus.

Welche Entwicklung haben Sie während der 20 Jahre Filmarbeit durchgemacht? Hat sich auch Ihre Sichtweise auf das Filmemachen verändert?
Schwer zu sagen – jeder Film ist eine völlig neue Aufgabe. Ich habe zwar inzwischen eine bestimmte Professionalität, aber ich fange immer wieder von vorne an. Die Themen sind unterschiedlich, jeder Film erwartet eine eigene Bildsprache, man arbeitet meistens mit einem neuen Team zusammen, man wächst und lernt an den eigenen Filmen. Nicht nur wegen des Publikums oder des fertigen Produkts, sondern auch im Umgang mit dem Thema und den Protagonisten. Das geht oft sehr nahe, ist sehr intensiv und wurde von mal zu mal intensiver, da man es ja auch immer genauer wissen will. Ich empfinde es als gegenseitigen Lernprozess.

Inwiefern?
Von unserer Seite aus, was wir an Input und Ideen mitgebracht haben und was wir mit der jungen Filmemacher-Generation in Guatemala auch gemeinsam aufgebaut haben. Inzwischen sind die Guatemalteken fester Bestandteil des Filmteams, bei dem Menschenrechtsfestival bin ich der einzige von acht Leuten, der aus Deutschland kommt. Wenn ich jetzt überlege, dass das wirklich 20 Jahre sind, hat es total Sinn gemacht, unabhängig von der politischen Konjunktur oder einer Konjunktur der Solidarität die Mühen der Menschen mit zu beschreiten. Das ist für mich ein wahnsinniges Privileg, diesen Prozess mitzumachen. So wie wir arbeiten, steckst du die Niederlagen der Leute dort auch mit ein. Das schafft einen wahnsinnig interessanten Blick auf die Welt.

Jetzt steht mit Otto Pérez Molina ein Ex-Militär kurz vor dem Wahlsieg für das Präsidentenamt. Was bedeutet es für das Filmfestival, sollte Molina die Stichwahl gewinnen?
Erstmal ist es überhaupt ein Erfolg, das Festival zweimal organisiert zu haben. Wir hatten beim ersten Mal enorme Schwierigkeiten, beim zweiten Mal aufgrund der internationalen und der Unterstützung durch die Regierung schon nicht mehr. Wenn jetzt Pérez Molina Präsident werden würde, ist schwer einzuschätzen, ob wir das Festival so in der Form weitermachen können. Aber wir sind professioneller geworden und unsere Arbeit wird jetzt auch mehr geschätzt. Nicht nur von der Gesellschaft bzw. dem Publikum, sondern auch von Menschenrechtsorganisationen, Teilen der Diplomatie oder Teilen der Vereinten Nationen, die vor Ort sitzen. Das Festival bietet einen politischen Diskussionsfreiraum, den es so in der Form – vor allem auch mit dem Medium – bisher nicht gegeben hat. Wir sind also per se erstmal schwer angreifbar.

Obwohl die Themen der Filme Pérez Molina kaum gefallen dürften?
Pérez Molina ist aufgrund meines Films und der Filme, die beim letzten Festival uraufgeführt wurden, sauer auf uns. Das sind finnische Reportagen von 1982 gewesen, wo er das erste Mal auf Bildern als junger Offizier in der Aufstandsbekämpfung zu sehen ist. Nach der Uraufführung mit dem finnischen Regisseur haben wenig später Guatemalteken einzelne Szenen auf youtube hochgeladen. Dort sind 40.000 bis 50.000 Klicks zu verzeichnen, und das hat das Ansehen von Pérez Molina gestört und auch seine Vergangenheit wieder in die politische Debatte eingebracht. Ich denke, das ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass er doch nicht im ersten Wahlgang gewonnen hat. Insofern hat er durchaus Grund, uns im Auge zu behalten. Trotzdem, wenn man Präsident eines Landes ist, dann sollte man eigentlich die Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit als solche respektieren, und davon gehen wir erstmal aus und lassen uns nicht einschüchtern.

Für die Aufnahmen zu Ihrem letzten Film La Isla waren Sie auch in den Archiven der Nationalpolizei. Dort arbeiten vor allem Nachkommen der Opfer der Verbrechen. Sehen Sie diese Aufklärungsarbeit gefährdet?
Man muss eines sagen: Die Menschenrechtsarbeit als solche, die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Arbeit des Archivs fand in einem politischen Klima statt, das dem ganzen sehr offen gegenüberstand. Präsident Álvaro Colom hat natürlich in vielen Aspekten die Erwartungen nicht erfüllt, aber gerade für die Menschenrechtsszene war es eine Zeit, in der sehr viel für die Aufarbeitung und Erinnerung gemacht worden ist. Das Archiv konnte in einem guten Rahmen und bis jetzt auch ungefährdet arbeiten. Ein Ergebnis sind jetzt eben auch die ersten Gerichtsprozesse, die aufgrund der gefundenen Dokumente eingeleitet worden sind. Pérez Molina sagte in einem Interview mit dem ZDF, in dem es auch um den Film La Isla ging, er werde das Archiv nicht schließen. Das kann er auch nicht so einfach, weil es eine staatliche Institution ist, und die internationale Gemeinschaft das Archiv finanziell und politisch unterstützt. Auf der anderen Seite muss man klar sehen: Wenn er Präsident wird, dann ist im Prinzip das Militär wieder an der Macht und das Militär ist eigentlich zu allem fähig. Insofern wird es nicht einfach werden. Aber ich denke, dass die Leiter des Archivs auch einen Plan B in der Tasche haben, um ihre Arbeit weiterführen zu können.

Um auf die Wahlen zurück zu kommen: Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass das Linksbündnis Frente Amplio nur auf rund 2,5 Prozent kam. Wie ist dieses katastrophale Ergebnis zu erklären?
Zum einen hat sich die Linke seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages nicht wirklich erneuert. Wenn man wirklich genau nachsieht, sind die führenden Köpfe heute dieselben wie vor 20 Jahren. Außerdem haben sie einer jungen Linken durch ihre sehr hierarchische Haltung die Türen versperrt. Zum anderen kann man natürlich immer sagen, dass sie nicht die Mittel haben, um mit den großen Parteien zu konkurrieren. Bei denen steht wirklich viel Kapital dahinter, das die Linke eigentlich nie hat. Trotzdem gibt es Beispiele aus anderen Ländern Lateinamerikas, die beweisen, dass es nicht unbedingt eine Frage der finanziellen Möglichkeiten ist. Die Linke in Guatemala ist aber zerstritten und hat sich wie gesagt nicht erneuert.

Welche Rolle spielt Präsidentschaftskandidatin Rigoberta Menchú?
Die Figur Rigoberta Menchú ist im Ausland zwar anerkannt, im Land selber hat sie diesen Rückhalt aber nicht. Der beste Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Linken ist, dass jetzt Teile des Linksbündnisses mit dem Gegenspieler von Pérez Molina, Manuel Baldizón, gemeinsame Sache machen. Das sind eben Rigoberta Menchú und Pablo Monsanto, ehemaliger comandante der Guerilla. So fühlen sich natürlich viele Wähler der Linken verraten und verkauft. Mit diesem Opportunismus werden sie wieder Teil des Systems, statt auf eine eigene unabhängige Entwicklung zu setzen. Sie werden möglicherweise mit ein paar Posten abgespeist, aber positiv wird sich das auf die Entwicklung der Linken nicht auswirken. Die Linke ist in einer Sackgasse. Es findet jetzt ein Generationswechsel statt: Die traditionelle Linke hat im Prinzip keine Chance mehr, sondern die junge Generation von heute muss sich an dieser Linken orientieren, um neue, andere Formen des politischen Ausdrucks zu finden.

War die Frente Amplio also von vorneherein zum Scheitern verurteilt?
Sie ist ja auch relativ kurzfristig entstanden und es gibt unglaublich viel Kompetenzgerangel unter den verschiedenen linken Fraktionen. Vor den Wahlen war also nicht wirklich Zeit, sich zu konstituieren und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Die Diskussionen haben zu lange gedauert und anscheinend sind auch viele Konflikte nur unter den Tisch gekehrt worden, um die Frente Amplio zu gründen. Das Ergebnis ist jetzt ein Scherbenhaufen.

Vor dieser Perspektive: Was sind Ihre Pläne in Guatemala?
Für mich persönlich ist jetzt die Etablierung des Menschenrechtsfestivals politisch wichtiger als ein eigener Film. Das Festival ist eine wahnsinnige Chance für Guatemala. Aufgrund des Profils des Festivals, internationale Filme zu zeigen, internationale Gäste zu haben, aber auch einen Großteil an Mitdiskutanten aus dem Land – nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus ländlichen Regionen – entsteht ein Diskussionsprozess, den Guatemala braucht. Wir versuchen, so einen Freiraum zu schaffen und verschiedene Gruppierungen zusammen zu bringen, damit die gegenseitig hochgezogenen Grenzen und Spaltungen aufhören. Die junge Generation bekommt die Möglichkeit, andere Bilder zu sehen und selber in den Spiegel zu gucken, um zu sehen, was sie aus den Prozessen in anderen Ländern lernen können. In diese Richtung geht gerade meine ganze Energie.

Uli Stelzner
arbeitet seit 20 Jahren zwischen Guatemala und Deutschland und war 2010 Mitbegründer des Menschenrechtsfilmfestivals Memoria, Verdad, Justicia in Guatemala. Seine kritischen Dokumentationen sorgen für Bewegung und Veränderung in der guatemaltekischen Gesellschaft und international für Gesprächsstoff.

Guatemala steht vor Rechtsruck

Die Favoriten auf die guatemaltekische Präsidentschaft mobilisierten in den Tagen vor dem entscheidenden Urnengang nochmals alle ihre Kräfte. Otto Pérez (Patriotische Partei) versprach in der Gemeinde Mixco mit harter Hand gegen Verbrecher vorzugehen und die weitverbreitete Armut im Land wirksam zu bekämpfen. Herausforderer Manuel Baldizón vom Parteienblock LIDER kündigte die Anwendung der Todesstrafe auf Schwerverbrecher und ein Verbot des offenen Tagebaus im Bergbau an. Und Fernando Suger von der ebenfalls rechtsgerichteten Partei Creo stellte bei einem Auftritt im Departamento San Marcos Verbesserungen in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Sicherheit in Aussicht. Die drei Kandidaten gehen als Favoriten in die Präsidentschaftswahlen. Otto Pérez kann im ersten Wahlgang gemäß letzten Umfragen mit knapp 40 Prozent der Stimmen rechnen. Baldizón kommt auf 18,5 Prozent, während Suger gut 11 Prozent der Stimmen der 7,3 Millionen wahlberechtigten Guatemaltek_innen auf sich vereinigen dürfte.
Nach dem Wahlausschluss der Ex-Präsidentengattin Sandra Torres hat sich Manuel Baldizón zum schärfsten Herausforderer von Otto Pérez entwickelt. Der Anwalt und Parlamentsabgeordnete aus der Urwaldprovinz Petén präsentiert sich als Führer aller Entrechteten und verspricht eine Neugründung des Staates basierend auf den Werten des „Humanismus“. Humanismus bedeutet für Baldizón vor allem Ordnung und Null-Toleranz gegenüber Kriminellen. Mit seinem populistischen Politikstil scheint er insbesondere Wahlverdrossene und Wechselwähler anzusprechen. Nichtsdestotrotz scheint kein Weg an Otto Pérez vorbeizuführen. Der ehemalige Armeeoffizier und Kandidat der Patriotischen Partei bei den letzten Präsidentschaftswahlen liegt in allen Umfragen klar in Führung. Auch ausgehend vom Szenario eines zweiten Wahlgangs wird Pérez voraussichtlich deutlich am meisten Stimmen erhalten.
Pérez konnte sich bisher auf seine politischen Erfahrungen und einen professionellen Parteiapparat verlassen. Diese Mischung erlaubte es der Patriotischen Partei, das klarste und überzeugendste Programm zu präsentieren. Im Zentrum des Programms der Patriotas stehen die Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Bandenkriminalität, eine Stärkung der Freihandelspolitik und verstärkte Anstrengungen bei der Bekämpfung der Armut. Um die Sicherheit im Land wiederherzustellen, hat Pérez die Rekrutierung von 10.000 zusätzlichen Polizisten und neue militärische Spezialeinheiten angekündigt. Im Bereich der Wirtschaftspolitik soll sich Guatemala nach dem Willen der Patriotischen Partei zu einem Exportland entwickeln: Zu bereits bestehenden Freihandelsverträgen sollen neue hinzukommen. Diese sicherheits- und insbesondere wirtschaftspolitischen Forderungen haben Otto Pérez zum bevorzugten Kandidaten der wirtschaftlichen Elite des Landes gemacht. Hiervon zeugt unter anderem die am besten ausgestattete Wahlkampfkasse aller Kandidierenden. 18,5 Millionen Dollar haben die Patriotas bisher für ihren flächendeckenden Wahlkampf ausgegeben.
Nichtsdestotrotz scheint die wahrscheinliche Wahl von Otto Pérez paradox. Hiermit hat dessen Vergangenheit als Offizier während des guatemaltekischen Bürgerkriegs zu tun. Als Chef der Militärabordnung im Hochlanddepartamento Quiché soll Pérez anfang der 1980er Jahre an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein. Die angesehene US-amerikanische Non-Profit-Organisation Washington Office on Latin America (WOLA) hat Pérez in einem Bericht vor den letzten Wahlen als Exponenten einer der zentralen militärischen Denkrichtungen während des Bürgerkriegs bezeichnet. Als Vorsteher des sogenannten Syndikats soll er für eine „reformistische“ Politik eingestanden haben, wonach „lediglich“ 30 Prozent der indigenen Bevölkerung ermordet und die restlichen 70 Prozent in sogenannten „polos de desarrollo“ (Entwicklungszentren) neu angesiedelt werden sollten. Pérez wird auch in Zusammenhang mit dem Verschwinden und der vermutlichen Ermordung des Guerilla-Führers Efraín Bámaca im Jahre 1992 gebracht. Der Kandidat der Patriotischen Partei war damals Direktor des MIlitärgeheimdienstes D-2. Die Ex-Frau von Bámaca und eine US-guatemaltekische Menschenrechtsorganisation haben diesbezüglich im Juli eine Klage beim UN-Sonderberichterstatter über Folter eingereicht.
Pérez Molina bestreitet die Anschuldigungen und bezeichnet diese als Diffamierungen seiner politischen Gegner. Stattdessen verweist er darauf, dass er während seiner Militärzeit in Quiché an der Eindämmung des internen Konflikts mitgewirkt habe und bezeichnet sich selbst gerne als „General des Friedens“ –- in Anspielung auf seine Rolle als Vertreter des Militärs bei den Friedensgesprächen im Jahre 1996. Tatsächlich gehörte Pérez 1983 zu denjenigen Militärs, welche den Sturz Ríos Montts unterstützten. Entsprechend schwierig ist die Rolle Pérez‘ während des guatemaltekischen Bürgerkriegs einzuschätzen. Ein politischer Beobachter hat allerdings die berechtigte Frage aufgeworfen, ob sich eine Person in seiner Funktion während des Bürgerkriegs der offiziell verordneten Politik der verbrannten Erde tatsächlich entziehen konnte.
Während dem Kandidaten der Patriotischen Partei seine unklare Vergangenheit vor vier Jahren noch den Wahlsieg kostete, scheint diese diesmal kein Hinderungsgrund für einen Wahlerfolg mehr zu sein. Guatemaltek_innen wünschen sich scheinbar nichts so sehr wie ein entschlossenes Vorgehen gegen die ausufernde Gewalt im Land, und niemand scheint die Politik der harten Hand so glaubwürdig zu verkörpern wie Pérez.
Die Präsidentschaftskandidaten überbieten sich dabei in Versprechungen, wie die Kriminalität im Land wirksam bekämpft werden kann. Pérez fordert zusätzliche Polizisten und Soldaten, Manuel Baldizón spricht von einer reduzierten, aber besser ausgebildeten Nationalen Polizei, und sogar das Linksbündnis Frente Amplio verlangt mehr Mittel für die Sicherheitskräfte.
Große Versprechungen und Ankündigungen sind ein Charakteristikum des aktuellen Wahlkampfs. Nichts scheint in den Parteiprogrammen zu fehlen. Neben dem Großkapital sollen auch Kleinunternehmen gefördert werden, soziale Kohäsion ist plötzlich verträglich mit einem Ausbau der dominierenden Freihandelspolitik und das entschlossene Vorgehen gegen die Kriminalität lässt selbstverständlich menschenrechtliche Standards nicht außer Acht. Beobachter_innen haben deshalb die Wahlprogramme der Kandidierenden als unverantwortlich und sogar als Betrug bezeichnet. Kritisiert werden insbesondere die Wahlkampfversprechungen von Baldizón, etwa die sogenannten „Bono 15“. Dabei handelt es sich um eine Art Zusatzzahlung, ähnlich einem 13. Monatsgehalt. Baldizón hat nie erklärt, wie die entsprechende Prämie finanziert werden soll. Eine weitere Versprechung Baldizóns hat überhaupt keine inhaltliche Relevanz, verspricht aber einige zusätzliche Wählerstimmen in einem sportverrückten Land. So kündigte dieser an, durch den Bau einer Fußballschule in jeder Gemeinde Guatemala 2014 erstmals in die Fußball-Weltmeisterschaft zu bringen. Baldizón ist dabei auch derjenige, der sein Wahlprogramm munter der aktuellen Stimmung in der Bevölkerung anpasst. So hat er vor kurzem seine Ablehnung des offenen Tagebaus im Bergbau bekanntgegeben; dies, nachdem sich Hunderte von Gemeinden gegen den umstrittenen Bergbau ausgesprochen hatten. Vor wenigen Wochen hatte Baldizón im gleichen Zusammenhang noch von einer Erhöhung der staatlichen Beteiligung bei Bergbauprojekten, nicht aber von einem Verbot gesprochen.
Angesichts leerer Versprechungen der Wahlfavoriten scheint eigentlich für die Parteien des linken Spektrums der richtige Moment gekommen, eine bedeutendere Rolle in der Politiklandschaft Guatemalas zu spielen. Die Linke hat es erstmals verstanden, ein gemeinsames Wahlbündnis aufzustellen. Im „Frente Amplio“ (Breites Bündnis) sind alle größeren linken Parteien und auch zahlreiche soziale Organisationen vertreten. Zu den wichtigsten Parteien des Bündnisses gehören die ehemalige Guerilla Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas (URNG) und Winaq, die politische Heimat von Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú. Menchú ist es auch, die im Juli zur Präsidentschaftskandidatin des Frente Amplio gekürt wurde. Zentrale Wahlkampfankündigungen des Frente Amplio sind eine Demokratisierung der Sicherheitskräfte, eine Stärkung der Rolle der Frau und eine kritische Politik im Zusammenhang mit der Nutzung von Naturschätzen. Die Demokratisierung der Sicherheitskräfte ist vor allem als Sensibilisierung und personelle Überprüfung der Nationalen Polizei zu verstehen, wie Julio Díaz, Kandidat der URNG auf einen Sitz im nationalen Parlament, erklärt. Polizisten sollen zum Thema Menschenrechte geschult werden. Ein zentraler Programmpunkt des Frente Amplio betrifft außerdem die Rechte der indigenen Gemeinden, die künftig insbesondere im Zusammenhang mit umstrittenen Bergbauprojekten tatsächliche Mitsprache erhalten sollen. Trotz eines inhaltlich abgestimmten und relativ klaren Programms dürfte allerdings der Frente Amplio bei den anstehenden Wahlen chancenlos sein. Zu spät scheint das Parteienbündnis in den Wahlkampf eingestiegen zu sein.

Kasten:

Wahlergebnisse
Nach ersten Hochrechnungen erreichte der rechtsgerichtete Otto Pérez Molina (Patriotas) bei der Wahl am 11. September gut 30 Prozent der Stimmen. Manuel Baldizón (LIDER) kam auf knapp 20 Prozent, Fernando Suger (Creo) auf etwa 15 Prozent. Rigoberta Menchú (Frente Amplio) erreichte knapp 2,5 Prozent. Damit kommt es am 6. November zur Stichwahl zwischen Pérez und Baldizón.

„Soziale Kämpfe werden zunehmen“

Sie haben einen anstrengenden Wahlkampf hinter sich, doch wie schon bei den letzten Wahlen scheinen Sie chancenlos zu sein. Sind Sie enttäuscht?
Nein, keinesfalls. Ich bin sehr zufrieden, mit dem, was wir erreicht haben. Die wichtigste Funktion meines Wahlkampfes war wie auch im Jahre 2007 die Institutionen zu dekolonialisieren und sie endlich für die indigene Bevölkerungsmehrheit der Mayas zu öffnen. Es ist ein historischer Wandel, diese an der Politik aktiv zu beteiligen, zu dem wir entschieden beigetragen haben. Im Gegensatz zum Vorjahr haben diesmal auch die Medien über uns berichtet und uns einen Platz im Wahlkampfszenarium eingeräumt. Doch neben allen hohen Ziele werden wir auch ein paar Abgeordnetensitze und Bürgermeisterämter durch die Wahl gewinnen.

Abgesehen davon, dass Sie die einzige indigene Präsidentschaftskandidatin darstellen, sind sie auch nahezu die einzige Frau. Die drei Spitzenkandidaten sind weiße Männer. Ist Guatemala bereit für Frauen in Staatsämtern?
Das wäre wünschenswert. Auf kommunaler wie nationaler Ebene sind Frauen als Kandidatinnen für knapp die Hälfte aller Posten meiner Partei Winaq aufgestellt. Es sind Frauen mit politischer Erfahrung und Führungsqualitäten und sie werden unsere Partei in den nächsten Jahren nach vorne bringen. Wo Winaq gewählt wird, kommen verstärkt Frauen an die Macht. Das ist wahrlich ein großer Unterschied zu den anderen, stets männlich dominierten Parteien, der sich auch ebenso in unserer Basis widerspiegelt.

Ihr Wahlkampf hat sich von dem ihrer Gegenkandidaten fundamental unterschieden. Während diese Guatemala seit Monaten mit Plakaten pflastern und nur in großen Stadien sprechen, laden Sie zu Pressekonferenzen in die eigene Küche. Woher kommen die gigantischen Summen, die in den guatemaltekischen Wahlkampf gesteckt werden?
Es sind ganz klar illegale Gelder aus dem Drogenhandel. Wie Mexiko befindet sich Guatemala im Drogenkorridor zwischen Kolumbien und den USA und wird von den Kartellen beherrscht. Wir als kleines Wahlbündnis können und wollen mit den Millionensummen der anderen Parteien nicht mithalten. Dadurch, dass wir keine Wähler bezahlen und sie mit Bussen zur nächsten Wahlurne fahren lassen, ist schwer kalkulierbar, wie viele Stimmen wir am Wahltag tatsächlich erhalten. Der Drogenhandel hat das politische System in Guatemala korrumpiert und kommerzialisiert. Wir versuchen dem eine Politik der Würde gegenüberzustellen, auch wenn es uns vielleicht nicht möglich sein wird, den Wahlsieg davonzutragen.

Bereits zum zweiten Mal treten Sie dabei gegen einen mutmaßlichen Verantwortlichen des Genozids an der indigenen Bevölkerung an: Der ehemalige General Otto Pérez Molina hat sich ebenfalls erneut aufgestellt. Wie geht es Ihnen damit als Überlebende?
Ich habe Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Natürlich nicht in diesem Maße, aber Pérez Molina war lange Jahre Militärgeheimdienstchef, und dass er mit diesem Hintergrund nun der chancenreichste Präsidentschaftskandidat ist, sind keine guten Zukunftsaussichten. Im Staatsamt wird er nur schwer kontrollierbar sein. Abgesehen von den Schatten der Vergangenheit, fürchte ich jedoch auch, dass sich die wirtschaftliche und soziale Krise in Guatemala unter seiner Präsidentschaft noch verschärfen wird. Soziale Kämpfe werden definitiv zunehmen.

Werden Sie sich 2015 erneut als Präsidentschaftskandidatin aufstellen?
Nein, das schließe ich aus. Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, geeignete Kandidaten und Kandidatinnen in unseren Reihen auszumachen. Angesichts der politischen Krise in unserem Land halte ich dabei Unbestechlichkeit für ein ausschlaggebendes Kriterium. Des Weiteren sollten besonders junge Leute gestärkt werden, denn auch durch einen Generationenwechsel kann Machtkonzentration vermieden werden. Auch darin unterscheiden wir uns von den herkömmlichen Parteien in Guatemala: in unserer Basis befinden sich viele junge Menschen, und wir beteiligen sie auch aktiv an unseren Strukturen. In einem Land mit einer so jungen Bevölkerung sollte dies selbstverständlich sein.

Haben Sie schon Pläne, was Sie nach Ihrer politischen Karriere machen werden?
Mein bisheriges Leben habe ich den Kämpfen der indigenen Bewegung in Guatemala gewidmet; und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Mich erfüllt es mit großer Freude zu wissen, dass wir keine Wahlkampffahnen weißer Rassisten und ihrer ausschließenden Parteien mehr tragen müssen. Zu den nächsten Wahlen werden sich hoffentlich schon mehrere indigene Kandidaten aufstellen.

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

Schlingerkurs bei Frauenrechten

Es war schon ein Novum in El Salvador, als das neu strukturierte Staatliche Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU überhaupt Studien zur Lage der Frauen durchführen und veröffentlichen konnte. Das hatte es in der Geschichte des Landes bisher nicht gegeben. Seit dem Amtsantritt von Präsident Mauricio Funes 2009, der für die Partei der ehemaligen Guerilla Frente Farabundo Martí (FMLN) angetreten war, unternimmt die Regierung endlich Schritte gegen die strukturelle Gewalt gegen Frauen, die Frauenrechtsorganisationen in El Salvador schon lange fordern.

Denn das kleine zentralamerikanische Land hat eine der höchsten Frauenmordraten weltweit. Allein zwischen Januar und Oktober 2010 hat die Polizei 477 Morde an Frauen erfasst – und das bei circa 6,5 Millionen EinwohnerInnen. PolitikerInnen und besonders die Massenmedien des Landes schieben das Problem meistens auf die allgemeine Gewaltproblematik und die Kriminalität der Jugendbanden (maras) in El Salvador. Die Studien des ISDEMU brachten dann das ganze Ausmaß des Femizids an die Öffentlichkeit. Die Ergebnisse belegen, dass Gewalt gegen Frauen in den allermeisten Fällen innerhalb der Familie und des näheren Umfelds stattfindet. Es sind Väter, (Ex-)Freunde, Ehemänner, Onkel oder andere Bekannte, die Frauen physisch und psychisch misshandeln und im Extremfall sogar umbringen. Dadurch wird deutlich, dass Femizide nicht einfach als Teil der allgemeinen Gewaltproblematik betrachtet werden können. Vielmehr liegen die Wurzeln im noch immer extremen Machismo und einer frauenfeindlichen Kultur, die Gewalt gegen Frauen toleriert und fördert.

So sieht es auch das ISDEMU, dessen Studien noch einen weiteren Teil der traurigen Realität von Frauen in El Salvador mit Zahlen belegen: Bei der Strafverfolgung im Zusammenhang mit Frauenmorden und Gewalt gegen Frauen gehen rund 80 Prozent der Täter straffrei aus. Aus Misstrauen und Angst vor den Behörden erstatten viele Angehörige von Opfern nicht einmal Anzeige.

Auf diese Ergebnisse reagierte die FMLN-Regierung im Dezember 2010 mit der Verabschiedung des Sondergesetzes über das Recht von Frauen zu einem Leben frei von Gewalt, das der Situation der Straflosigkeit entgegen wirken soll. Die linke Abgeordnete Margarita Rodríguez sieht darin einen klaren Erfolg der Frauenbewegung: „Das Gesetz ist in eineinhalb Jahren harter Arbeit und in enger Zusammenarbeit mit staatlichen und nicht-staatlichen Frauenorganisationen entstanden. Dank des neuen Gesetzes können wir uns gegen sogenannte kulturelle Praktiken wehren, bei denen Frauen nicht respektiert werden und endlich Verstöße gegen die Frauenrechte bestrafen.“

Tatsächlich ist mit dem neuen Gesetz eine effektive Grundlage geschaffen worden, jede Art von Gewalt gegen Frauen zu erfassen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das Verbrechen des Femizids wird von nun an juristisch deutlicher strenger geahndet als ein anderer Mord: Während auf Mord zehn bis 20 Jahre Gefängnis stehen, drohen im Fall eines Femizids 20 bis 35 Jahre Haft. Handelt es sich bei dem Täter um einen Beamten oder wird das Verbrechen von mehr als einem Täter ausgeführt, kann die Haftstrafe sogar bis zu 50 Jahre betragen. Dasselbe gilt, wenn das Opfer geistig oder körperlich behindert, minderjährig oder im Senioren-Alter ist.

Doch das Gesetz belässt es nicht bei der strengeren Ahndung der Verbrechen, sondern bezieht sogar deren Ursachen mit in die Gesetzgebung ein. So stellt es beispielsweise auch die sexistische Darstellung von Frauen in den Medien als Form von Gewalt unter Strafe. Das führte prompt zu heftigem Widerstand, insbesondere auf Seiten der Werbebranche. „Wer soll hier das Opfer sein? Die Frau an sich oder jede x-beliebige Frau, die sich dadurch angegriffen fühlt?“, so die öffentliche Reaktion von Charlie Renderos, Präsident der Assoziation der salvadorianischen Werbemedien (AMPS).

An Reaktionen wie dieser zeigt sich, dass in der salvadorianischen Gesellschaft noch immer ein großes Unverständnis darüber herrscht, dass die Herabsetzung von Frauen in der Öffentlichkeit und die hohe Frauenmordrate Teil desselben Problems sind. Der UN-Menschenrechtsrat formulierte das im Oktober 2010 in seiner Empfehlung an die salvadorianische Regierung so: „Die Tatsache, dass die Zahl der Anzeigen auf Grund von häuslicher Gewalt in El Salvador nach wie vor extrem hoch ist, obwohl bereits Bemühungen unternommen wurden, die Situation zu verbessern, zeigt das Besorgnis erregende Fortbestehen von patriarchalen und stereotypisierenden Gender-Vorstellungen, nicht nur innerhalb der Familie, sondern generell innerhalb der Gesellschaft.“

Und tatsächlich ist es noch ein langer Weg zur Erlangung von universellen Frauenrechten sowie der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in El Salvador. Noch immer dominieren hier Rollen- und Geschlechterbilder, die Frauen geringer schätzen als Männer; ob im täglichen Familienalltag, in Schule oder Beruf. In Medien und Musik sind sexistische Texte und Bilder allgegenwärtig, die Frauen als Objekte darstellen, sie auf ihren Körper reduzieren und so die Gewaltbereitschaft gegen Frauen erhöhen. Laut María Evelyn Martínez, kann dieses Umfeld dazu führen, dass Gewalt gegen Frauen sogar zunimmt, wenn diese beginnen, sich für ihre Rechte einzusetzen: „Manche Männer fühlen sich gerade durch die verstärkte Mobilisierung für das Thema Frauenrechte in ihrer Hegemonie und ihrer Männlichkeit angegriffen und ‚schlagen zurück‘”, so die Feministin und ehemalige Direktorin des ISDEMU.

Um wirkliche Fortschritte zu erzielen, bedarf es also eines grundlegenden Wandels der Gesellschaft. Davon ist El Salvador jedoch trotz zaghafter politischer Fortschritte seit Funes‘ Amtsantritt noch weit entfernt. Nichts zeigt das besser als die konservative bis reaktionäre Abtreibungsdebatte und -gesetzgebung des Landes. Denn Abtreibung steht hier nach wie vor unter Strafe und die Situation hat sich im letzten Jahrzehnt sogar noch verschärft. Während bis zum Jahr 2000 die Abtreibung zwar illegal war, aber nicht sanktioniert und im Falle einer therapeutischen Abtreibung sogar geduldet wurde, wird inzwischen jede Form der Abtreibung mit acht bis dreißig Jahren Gefängnis bestraft.

Besonders tragisch daran ist, dass gleichzeitig die Anzahl der unter 14-jährigen gestiegen ist, die Opfer von Inzest und innerfamiliärer Vergewaltigung wurden. Sie trifft das totale Abtreibungsverbot mit am schlimmsten. Daneben sind vor allem arme Salvadorianerinnen die Leidtragenden dieser res-triktiven Gesetzgebung. Denn wohlhabende Frauen können eine Abtreibung oftmals im Ausland oder in einer Privatklinik vornehmen. Unter der Armutsgrenze lebende Frauen hingegen riskieren bei einer Abtreibung nicht selten ihr Leben.

María Evelyn Martínez meint dazu: „Es sind besonders junge, arme Frauen aus ländlichen Gebieten und indigene Frauen, die Opfer von Gewalt werden. Wenn Frauen keinen Zugang zu Bildung haben, etwa weil sie früh schwanger wurden, dann werden sie leicht von einem Mann abhängig und können in eine Spirale der Gewalt geraten, der sie nicht entkommen. Gerade auch beim Thema Abtreibung wird dieser Zusammenhang deutlich.“ Statistiken zufolge, die von der „Regionalen Kampagne für eine freie und gewollte Mutterschaft“ in Mexiko, Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador erhoben wurden, ist die Sterblichkeit von Frauen nach unprofessionell ausgeführten Abtreibungen in El Salvador die höchste in der ganzen Region.

Doch damit nicht genug. Vor allem in den ländlichen Gebieten trifft unverheiratete, junge Frauen nach wie vor die gesellschaftliche Stigmatisierung im Falle einer (nicht-ehelichen) Schwangerschaft. „Die Reaktion meiner Familie war furchtbar,“ berichtet beispielsweise eine junge Salvadorianerin aus Mejicanos im Norden der Hauptstadt San Salvador von ihren Erfahrungen. „Als ich 2009 plötzlich schwanger wurde, hat sich meine Mutter von einem Tag auf den anderen geweigert, mich zu sehen. Mein Vater hatte zu der Zeit Drogen- und Alkoholprobleme, mein Freund hat Schluss gemacht. Ich war also völlig alleine.“ Und tatsächlich stehen die jungen Frauen meist ohne jegliche Hilfe vor ihren Problemen. Staatliche Frauenhäuser oder Beratungsstellen, medizinische oder psychologische Betreuung – dafür gibt es in El Salvador kaum Geld und Mittel. Das bestätigt auch die junge Frau aus Mejicanos: „Ich war wütend auf mich selbst und hab mich gefühlt, wie eins der typischen Mädchen, das nicht aufgepasst hat. Obwohl ich schon 18 war. Die meisten Mädchen hier werden mit 14 oder 15 schwanger. Und leiden dann ihr ganzes Leben, genau wie ihre Kinder. Im Fernsehen gibt es manchmal Beiträge zu dem Thema, aber in denen wird nur allgemein vor Aids gewarnt. Wie du dich konkret schützen kannst, erklärt dir keiner. Kurz gesagt: in diesem Land bekommst du keinerlei Hilfe. Und keiner interessiert sich dafür.“

Auch Präsident Mauricio Funes scheint vergessen zu haben, dass er einst etwas ändern wollte an dieser Situation. 2007 noch hatte der ehemalige Journalist öffentlich Mexiko-Stadt beglückwünscht, als dort die Straffreiheit von Abtreibungen in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen eingeführt wurde. Vor den Wahlen 2009 versprach er den feministischen Gruppen in El Salvador, die Themen Abtreibung und reproduktive Rechte aktiv anzugehen. Weil er befürchtete, dass die Abtreibungsdebatte von rechten Parteien, der Katholischen Kirche und den Massenmedien im Wahlkampf polemisiert werden könnte, sollte das Thema auf die Zeit nach dem Wahlsieg verschoben werden. Nach dem Amtsantritt folgten seinen Versprechungen jedoch keine Taten.

Der radikale Haltungswechsel, den Funes nach außen hin gezeigt hat, stößt besonders die Frauenorganisationen vor den Kopf, die auf die Einlösung des Wahlversprechens und eine Reformation der Abtreibungsgesetze gehofft hatten. Auch die neuen Privilegien des Fraueninstituts ISDEMU hielten nicht lange an. Julia Evelyn Martínez, die Mitte 2009 von Mauricio Funes als neue Direktorin von ISDEMU eingesetzt worden war, wurde bereits im Dezember 2010 wieder entlassen – offiziell wegen Vertrauensverlusts in ihre Person. KritikerInnen vermuten jedoch, dass das Präsidentenehepaar Funes hinter der Entscheidung stand, weil ihnen Martínez‘ Forderungen zu radikal wurden (siehe auch LN 440 und Interview mit Martínez in LN 438). Martínez‘ Forderung, die Abtreibungsproblematik als öffentliche Gesundheitsfrage zu diskutieren, verweigert die Regierung unter Mauricio Funes bislang hartnäckig.

Ändert sich jedoch nicht gesamtgesellschaftlich etwas daran, dass Frauen als gleichberechtigte Personen anerkannt werden, wird auch ein fortschrittliches Gesetz der Gewalt gegen Frauen kein Ende bereiten.

 

 

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Erinnerungen des Soldaten Sic

Ich heiße Rodrigo Sic Ixpancoc und wurde in Rabinal, in der Provinz Baja Verapaz geboren. Ich bin jetzt 46 Jahre alt. Zu Hause sprechen wir unsere Muttersprache Achí, das ist eine der 22 Mayasprachen, die bis heute in Guatemala gesprochen werden. In meiner Jugend hatten die Menschen Angst, wenn ihre Kinder auf der Straße spielten. Meine Mutter hat oft gesagt: „Heute darfst du nicht raus, weil sie sich Jungs schnappen.“ Dann ist die Armee durch die Dörfer gezogen und hat die Jungen mitgenommen.
Als ich noch keine 18 Jahre alt war, musste ich schon bewaffnet durchs Dorf patrouillieren. Im Jahr 1982 dann kam ein hochrangiger Militär zu unserer Hütte und brachte einen Einberufungsbefehl. Alle Jungen sollten sich im Rathaus einfinden. Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich meinen Vater weinen sah. Wir waren 700 Jungen aus der Gegend. Sie haben uns einen Tag und eine Nacht lang eingesperrt. Draußen hatten sich Mütter versammelt und gefleht, dass sie ihnen ihre Söhne zurückgeben. Aber niemand schenkte ihnen Beachtung.
Um zwei Uhr morgens dann wurden wir auf sieben Lastwagen verteilt. Soldaten haben uns getreten und beschimpft. Sie brachten uns in eine Militärstation in der Stadt Salama. Dort mussten wir uns auf den Boden legen. Die Soldaten liefen auf unseren Rücken herum. Sie haben uns alles ausgezogen und uns in einer Krankenstation untersucht. Draußen standen wieder viele Mütter, aber niemand wurde rausgelassen. So begann der Albtraum.
Ich wurde mit einer Gruppe in die Hauptstadt gebracht. Um drei Uhr morgens konnten wir schlafen gehen, aber um vier mussten wir schon wieder raus. Ohne etwas zu essen wurden wir stundenlang gedrillt, sie zogen uns durch den Schlamm, traten uns, zogen uns die Kleider aus und spritzten uns mit Wasser ab. Viele wurden bewusstlos. So wurden wir in der Armee willkommen geheißen.
Wir wurden zu einer Finca gebracht, auf der wir unsere Vorgesetzten kennen lernten. Die schrien immerzu: „Ihr feigen Hühner! Indios! Guerilleros!“ Um drei Uhr morgens fing der Tag mit Strafen an. Da gab es das „gepresste Teufelchen“, wo man sich mit den Ellbogen und den Zehenspitzen über dem Boden halten musste, stundenlang. Oder „das Münzen sammeln“: Da musste man sich selbst am Ohr ziehen und so lange um die eigene Achse drehen, bis man sich übergeben musste. Aber wir hatten ja nichts gegessen, so dass wir nur Schleim spucken konnten. Den mussten wir dann wieder runter schlucken.
Wir haben Foltertechniken gelernt: Mit einem Stock und einem Seil mussten wir den Leuten die Gurgel zudrehen. Da konnten sie dann selbst entscheiden, ob sie weiterleben wollten. Das haben wir gemacht, um Informationen von ihnen zu bekommen.
Die meisten Kameraden waren auf dem Land aufgewachsen, Jungen aus den Mayagemeinden. Während der Trainingswochen haben sie sich völlig verändert. Uns wurde gesagt: „Wenn deine Mutter Guerillera ist, dann musst du sie töten.“ Die Gruppenleiter hatten die Aufgabe, aus uns aggressive Soldaten zu machen. Wir mussten ständig kämpfen, gegeneinander boxen. Wer nicht mitmachen wollte, wurde erschossen. Unser Slogan war: „Befehle werden nicht diskutiert, sondern ausgeführt.“ Unsere Meinung galt nichts. Einige versuchten zu desertieren. Einmal hat ein Kamerad gesagt, er müsste auf die Toilette, aber er kam nicht zurück. Wir wurden alle bestraft, weil wir ihn nicht gefunden haben.
Das Training dauerte drei Monate. Das reichte aus, um uns völlig zu verändern. Wir waren jetzt aggressive Kämpfer. Ich wurde dann mit einigen anderen in den Ort Mazatenango versetzt. Dort sollten wir fünf Tage lang durch die Wälder ziehen und nach dem Feind Ausschau halten. Aber daraus wurden drei Monate. Damals erlebte ich meine ersten Auseinandersetzungen, bei denen Menschen erschossen wurden.
Wir haben ständig Informanten gesucht. Einmal kam ein Mann auf uns zu. Er war etwa vierzig Jahre alt und fragte freundlich, wie viele wir wären. Nur deshalb wurde er zu unserem Anführer gebracht. Der hat angeordnet, ihn zu foltern. Sie haben ihm die Fingernägel ausgerissen und ihn kopfüber in eine Tonne gesteckt. Er hat nicht lange ausgehalten. Um Mitternacht war er tot, nur weil er gefragt hat, wie viele wir sind.
Wir haben auch viele Hütten durchsucht. Einmal kamen wir in ein Dorf, in dem wir nach ein paar Männern suchten. Wir fanden einen älteren Mann. Er trug die traditionelle Mayatracht dieses Gebiets. Er hatte sich unter einem Bett versteckt. Wir wollten ihn ins Lager bringen. Er hatte die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Aber der Kamerad, der auf ihn aufpassen sollte, war ein böser Mann. Ich lief neben den beiden und habe genau gesehen, dass er den Gefangenen einen Abhang herunter geschubst hat. Der Mann fiel hin und der Soldat hat auf ihn geschossen, hat ihn aber nicht getroffen. Der Mann lief weg, aber wir konnten ihn einholen. Unser Anführer befahl: „Schneidet ihm den Kopf ab!“ Das haben die anderen dann auch gemacht. Dann hat er mich gerufen und mir gesagt: „Ich brauche das Herz.“ Ich habe es also rausgeschnitten. Es hat noch gepocht. Er schrie mich an: „Zitterst Du etwa?“ Ich antwortete: „Nein, aber das Herz bewegt sich noch.“ Ich wusste, dass der Mann nicht flüchten wollte. Der Soldat hatte ihn geschubst, weil er Blut sehen wollte.
Einmal waren wir in einer kleinen Gemeinde, da kam eine Frau zu uns, um sich über ihren Mann zu beschweren, der sie geschlagen hatte. Der Soldat, der gerade Wache hielt, sagte zu ihr: „Na gut, ich rede mal mit ihm.“ Aber dann hat er sie ins Gebüsch gezogen und die anderen gerufen. Es waren 24 Soldaten, sie alle haben die Frau vergewaltigt. Dann durfte sie nach Hause gehen. Am nächsten Tag hat unserer Anführer davon erfahren und den Soldat zu sich beordert. „Du hast das gemacht? Was für ein Kerl. Jetzt zieh deine Hose runter.“ Er hat ihm eine Zigarette zwischen die Beide gedrückt. Der Soldat ist rumgesprungen, aber eine weitere Strafe bekam er nicht.
Wir waren lange im Wald, immer schmutzig, krank, die Haut voller Pilze. Die Stiefel haben wir nie ausgezogen. Wir haben darin geschlafen. Manchmal haben sie uns bezahlt, 50 Quetzales (etwa fünf Euro). Aber damit konnten wir nichts anfangen. Manchmal ist der Geldschein in meiner Hosentasche vergammelt. Nach sieben Monaten durften wir mal für fünf Tage nach Hause. Ich schämte mich so, weil ich schmutzig war und kein Geld hatte. Meine Mutter musste sich Geld leihen, um meine Rückfahrt zu bezahlen.
Dann ist mein Vater gestorben. Ich war nicht da. Ich bekam ein Telegramm, in dem stand, dass mein Vater im Sterben liegt. Danach bin ich zu einem Kommandanten gegangen und habe gesagt: „Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist allein zurückgeblieben. Meine Brüder sind weg. Ich bin der einzige. Sie müssen mich gehen lassen.“ Seine Antwort war: „In Ordnung. Aber nicht jetzt gleich.“ Ich musste dann noch acht Monate lang warten. Am 31. Juli 1983 kam ich raus, ohne Geld, ohne nichts.
Ich konnte lange Zeit über nicht schlafen, nicht arbeiten. Ich hatte kein Geld, schon gar nicht, um zur Schule zu gehen. So verging ein Jahr. Ich habe mich auf die Straße gesetzt und wenn ich konnte, habe ich mich betrunken, um alles zu vergessen. Dann hat mir mein kleiner Bruder geholfen. Er gab mir Geld für die Schule. So habe ich es nach und nach geschafft, meine Erinnerungen zu überwinden. Ich hatte nie die Möglichkeit, mit einem Psychologen zu sprechen.
Die anderen Jungen aus meiner Gruppe haben ihre Zeit zu Ende gemacht. Viele haben dasselbe erlebt wie ich. Heute behandeln sie ihre Söhne genauso, wie sie uns damals behandelt haben. Sie leiden noch immer. Sie lassen sich von ihrem Überlebensinstinkt leiten, nicht von moralischen Werten. Sie wissen, dass alles von einem auf den nächsten Moment zu Ende sein kann. Deshalb denken sie nur an das Jetzt, nicht an das Morgen.
Die Gewalt von heute hat ihren Ursprung in der Zeit des Bürgerkriegs. Die Leute sind voller Hass, die Kinder des Kriegs, die vergewaltigten Frauen, alle, die das erlebt haben. Damals wurde die Saat gesät, aus der noch mehr Gewalt hervorgegangen ist.
Ich habe überlebt, weil ich ein Ziel hatte. Ich wollte Lehrer werden. Früher ist hier im Dorf niemand länger zur Schule gegangen. Das war das Privileg von einigen wenigen. Mir hat die Schule geholfen, aber die Erinnerungen belasten noch immer mein Gewissen. Deshalb habe ich angefangen, über das zu schreiben, was ich erlebt habe.

// DOSSIER: FRAUENMORDE IN ZENTRALAMERIKA UND MEXIKO

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Foto: Anabel Zaragoza

Sie werden diskriminiert, geschlagen, vergewaltigt und oft sogar getötet. Für einen Großteil der Frauen in Zentralamerika und Mexiko gehört psychische und/oder physische Gewalt zum Alltag – und das oftmals von klein auf. Viele Mädchen und Frauen kennen es nicht anders; widerfährt doch ihren Müttern, Schwestern und Freundinnen oftmals das Gleiche. In den noch immer patriarchal und machistisch geprägten Gesellschaften Lateinamerikas gehört Gewalt gegen Frauen zum Alltag.

Weltweit werden jedes Jahr zwei bis drei Millionen Frauen ermordet, weil sie Frauen sind. Laut den Vereinten Nationen gehört Zentralamerika dabei zu den Regionen, in denen es am häufigsten zu Femizid und Gewalt gegen Frauen kommt. Der so genannte Femizid ist nicht „einfach nur“ ein anderes Wort für den Mord an einer Frau. Von Femizid (auf spanisch Feminicidio oder Femicidio; siehe zur Definition den Kasten in dieser Einleitung) wird gesprochen, wenn Männer Frauen aufgrund ihres Geschlechts töten. Oft werden die Opfer zuvor brutal misshandelt und vergewaltigt. Mit inbegriffen in der Definition ist die staatliche Duldung und Förderung dieser Verbrechen.

In El Salvador wurden beispielsweise laut einer Statistik der Nationalen Polizei, die Amnesty International in ihrem Menschenrechtsbericht 2011 dokumentiert, im Jahr 2010 477 Frauenmorde registriert, in Guatemala waren es laut AI-Bericht 565. Die Dunkelziffer dürfte indes in fast allen Ländern weitaus höher liegen, werden doch immer wieder Frauenmorde als Suizid oder andere Gewaltverbrechen vertuscht oder gar nicht erst angezeigt. Amnesty kritisiert darüber hinaus, dass gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen in der Praxis häufig nicht angewendet wurden oder nicht dazu geeignet waren „Frauen zu schützen oder sicherzustellen, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden.“

Besondere internationale Aufmerksamkeit erfahren seit den 1990er Jahren die Frauenmorde im nordmexikanischen Ciudad Juárez. Allein hier wurden 2010 knapp 300 Frauen getötet. In der von Maquilaindustrie, Drogenhandel und Migration geprägten Stadt an der Grenze zur USA werden viele der zumeist jungen Frauen vergewaltigt, misshandelt und verstümmelt an abgelegenen Orten in der Wüste gefunden. Ein Geflecht aus Drogenkartellen, Polizei und Politik scheint systematisch junge Frauen zu entführen und zu töten. Die Täter werden fast nie gefunden – zumeist aber auch nicht ernsthaft gesucht. Dank einer engagierten und gut vernetzten Frauenbewegung ist es gelungen, internationale Aufmerksamkeit auf die Frauenmorde in Ciudad Juárez zu lenken – auch wenn das noch lange kein Ende der Gewalt bedeutet.

Doch Ciudad Juárez ist trotz seiner traurigen Bekanntheit kein Einzelfall. In zentralamerikanischen Ländern wie Guatemala und El Salvador gehen die skandalös hohen Zahlen von Gewaltverbrechen an Frauen in der Regel auch nicht auf „mörderische Gewaltverbrecher der Drogenkartelle“ auf der „Jagd nach Frauen“, zurück, wie es in den Medien oft reißerisch dargestellt wird. Gewalt gegen Frauen findet – in Zentralamerika wie auch in Mexiko – vor allem innerhalb des direkten Umfelds der Betroffenen statt. Die meisten Frauenmorde werden von Angehörigen, wie dem Vater, einem (Ex-)Freund, Partner oder anderen Mann des familiären Umfelds der Frau begangen. Viele der Opfer sind junge Frauen aus ärmeren und bildungsfernen Schichten. Besonders in ländlichen Regionen stehen Frauen, die häusliche Gewalt erfahren, meist ohne jegliche Unterstützung da.
Im vorliegenden Dossier widmen sich die Lateinamerika Nachrichten dem Femizid und der strukturellen, häuslichen Gewalt gegen Frauen in der gesamten Region Zentralamerika und Mexiko. Mit Beiträgen zu den verschiedenen Ländern sollen Besonderheiten der jeweiligen lokalen Kontexte und die verschiedenen Ursachen für die Frauenmorde, aber gleichzeitig auch Parallelen der strukturellen Gewalt gegen Frauen in den Gesellschaften der Region aufgezeigt werden.

Eine Gemeinsamkeit ist, dass staatliche Behörden wie Polizei oder Justiz oft untätig bleiben. Obwohl die Zahl der Frauenmorde in allen Ländern der Region jährlich zunimmt, werden diese nicht in angemessener Form aktiv – Polizei und Richter schützen oftmals sogar die Täter anstatt die Opfer. Behörden dokumentieren Frauenmorde nicht oder lückenhaft, Beweise „gehen verloren“, Anzeigen werden unzureichend aufgenommen und Zeugenaussagen in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass die Berichterstattung in den Massenmedien oftmals den getöteten Frauen selbst die Schuld für ihren gewaltsamen Tod zuweist.

So kommt es, dass noch immer ein Großteil der Täter nicht bestraft, oft nicht einmal strafrechtlich verfolgt wird. Straflosigkeit jedoch senkt die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung nachweislich und so machen sich alle Staaten der Region zu Mittätern – sowohl an den grausamen Verbrechen als auch an den strukturellen Ungleichheiten, unter denen Frauen tagtäglich leiden. Keine Regierung der Region geht angemessen gegen Frauenmorde vor, auch wenn in El Salvador und Mexiko der Tatbestand des Femizids mittlerweile immerhin in die Strafgesetzgebung aufgenommen worden ist. Doch von einem juristisch durchdachten Gesetz ist es noch immer ein weiter Weg hin zu einer praktisch funktionierenden Strafverfolgung – und besonders zu (präventivem) Schutz der Frauen. Statt den Frauen Schutz zu bieten, werden Opfer von Gewalt oftmals stigmatisiert und ausgegrenzt. Staatliche Frauenhäuser gibt es kaum, schon gar nicht in den häufig besonders betroffenen ländlichen Regionen der Länder.

Wie kann es sein, dass Männer so weitgehend ungestraft Gewalt ausüben können? Dass Frauen ermordet werden und statt Hilfe Schuld zugewiesen bekommen? Dass Justiz und Polizei oft Täter statt Opfer schützen? Die Ursachen für diese Situation sind vielschichtig. Besonders staatliche Stellen innerhalb der Länder schieben die Gründe für die erschreckenden Zahlen der Frauenmorde meist auf die generell hohe Gewaltbereitschaft und Kriminalitätsrate in Zentralamerika und Mexiko. Ursachen dafür sehen sie in der durch Bürgerkriege gekennzeichneten Vergangenheit sowie den aktuell bestehenden Drogenkonflikten und der Kriminalität von Jugendbanden.

Darüber hinaus wird die Gewalt gegen Frauen von weiten Teilen der Gesellschaften in der Region oftmals heruntergespielt, ja als etwas normales betrachtet. Eben darin liegt aber der Unterschied zwischen generell hoher Gewaltbereitschaft und den Ursachen für die so weit verbreitete Gewalt gegen Frauen: Entscheidende Ursache des Femizids ist das noch immer von Macho-Denken und patriarchalen Strukturen geprägte Rollenverständnis in den Gesellschaften der Region. Das Bild der Frau ist geprägt von Unterordnung und Minderwertigkeit. Wird die patriarchalische Geschlechterrolle des Mannes und die daraus resultierende Machtverteilung zwischen den Geschlechtern infrage gestellt – sei es durch emanzipatorisches Verhalten oder eine Betätigung der Frauen, die ihnen wirtschaftliche Autonomie ermöglicht – ist die Gefahr groß, dass es zu Konflikten (innerhalb der Familien) und Gewaltanwendung kommt.

Wie stark diese Macho-Kultur noch immer in den Gesellschaften verwurzelt ist, lässt sich daran ablesen, welche Rollenbilder durch Musik, Internet, Radio, Zeitungen oder Fernsehen vermittelt werden. In der populären Musik beispielsweise wird – teilweise auch von Frauen selbst – in unglaublich diskriminierender, sexistischer Form von der Unterordnung der Frau unter den Mann gesungen. Diese werden auf ein Objekt, das „dem Mann zu dienen hat“ reduziert. Auch Fernsehen, Internet und Werbung vermitteln ununterbrochen Rollenbilder, die den Mann als das starke Geschlecht darstellen, der zur Durchsetzung seines Willens Gewalt anwenden darf.

Die Berichterstattung in Zeitungen und Radiosendungen, die ohnehin nur spärlich zum Thema Gewalt gegen Frauen stattfindet, stößt ebenfalls weitestgehend in dasselbe Horn: Weiblichen Opfern von Gewalt wird die Schuld an den Verbrechen zugewiesen. Die Medien präsentieren ihre Geschichten eher als blutige Horrorgeschichten, anstatt dass sie über die gesellschaftlichen Hintergründe berichten und die Menschen für die noch immer bestehende Ungleichheit sensibilisieren würden.

Es sind die Frauen selbst, die sich nicht abfinden mit dieser Situation der Ungleichheit und Demütigung. Daher legt das Dossier sein Augenmerk vor allem auf die Aktivistinnen und ihre Strategien, gegen Gewalt und Diskriminierung im Alltag vorzugehen. Engagierte Feministinnen und Frauenrechtsorganisationen machen seit Jahren lautstark auf die steigenden Frauenmordraten in ihren Ländern aufmerksam. Oftmals begleitet von Anfeindungen und Morddrohungen arbeiten unzählige Frauen in Zentralamerika und Mexiko daran, den Opfern von Gewalt eine Stimme zu geben. Sie führen Frauenmorde in unabhängigen Registern auf, begleiten die Angehörigen im Kampf mit den Behörden und versuchen, durch Proteste und Kampagnen die Gesellschaft zu sensibilisieren.

So wollen wir vor allem Menschen und Organisationen vorstellen, deren tägliches Engagement sich gegen diese systematische Gewalt an Frauen richtet. Dabei lassen wir Anwältinnen, Aktivistinnen, Journalistinnen und Künstlerinnen zu Wort kommen und versuchen damit einen Einblick in die wichtige Arbeit zu geben, die Frauenorganisationen in Zentralamerika und Mexiko leisten. Ihre Stimme soll auch hier in Europa gehört werden – denn Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen sind kein regionales Phänomen, das „vor Ort zu lösen“ ist.

Deshalb ist dieses Dossier auch als Anstoß gedacht, um Unterstützung zu mobilisieren und Informationen weiter zu verbreiten. Wir möchten einen kleinen Beitrag dazu leisten, dem Ziel der unermüdlichen und nicht selten lebensgefährlichen Arbeit der Frauenbewegungen in der Region ein Stück näher zu kommen: Das Schweigen brechen! Denn ohne ein gesamtgesellschaftliches Umdenken wird es kein Ende der Gewalt geben.

 

Eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft

Mindi Rodas hatte ihre Stimme erhoben – gegen die Gewalt an Frauen in Guatemala. Öffentlich hatte die 23-Jährige Frauen und Mädchen dazu ermutigt, sich gegen die Misshandlungen zu wehren und die Täter anzuzeigen. Dabei konnte sie ihre eigenen Narben kaum verbergen: Ihr Ex-Mann hatte Mindi Rodas derart misshandelt, dass in den letzten anderthalb Jahren ihres Lebens eine Art Mundschutz die Entstellungen ihres Gesichts verdeckte. Ihren Entschluss, sich aus der Enge ihres Hauses, den Beschimpfungen, Schlägen und dem sexuellen Missbrauch zu befreien, hatte ihr Ehemann eines Tages mit einer Machete gerächt. Nach dieser schrecklichen Gewalttat war Rodas‘ Leben geprägt von Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen und Suizidgedanken. Einzig ihr Sohn konnte ihrem Leben noch einen Sinn geben.

Der Fall von Mindi Rodas ging durch die internationale Presse. Nationale und internationale Organisationen unterstützen ihren Kampf für Gerechtigkeit. Sie unterzog sich Behandlungen, die nach und nach ihr Gesicht wiederherstellten und zog als eine der wenigen misshandelten Frauen Guatemalas vor Gericht. So konnte sie erreichen, dass ihr Ehemann ins Gefängnis kam. Doch kurz darauf wurde er wieder freigelassen, mithilfe eines Klageverzichts, auf dem er Rodas‘ Unterschrift gefälscht hatte. Erneut setzte sie sich zur Wehr und erreichte mithilfe der Überlebenden-Organisation Fundación Sobrevivientes, dass die Misshandlungen durch ihren Ex-Mann nicht mehr als „schwere Verletzungen“, sondern als „versuchter Femizid“ eingestuft wurden. Daraufhin wurde ihr Ex-Mann erneut inhaftiert. Im Juni dieses Jahres wird der Prozess gegen ihn beginnen.

Das alles sollte Mindi Rodas nicht schützen. Und rückblickend scheint es, als habe sie es geahnt. Denn trotz ihrer juristischen Erfolge wurde sie von Angst geplagt: „Ich habe so viele Interviews gegeben und letztlich macht doch niemand etwas. Er hat mich nicht getötet, aber er hat mich lebendig begraben. Ich habe Angst, dass er noch vor der Gerichtsverhandlung einen Mörder beauftragt.“

Und ihre Vorahnung wurde traurige Wahrheit: Ende 2010 verschwand Rodas, im Januar 2011 fand man ihren leblosen Körper 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Die Täter hatten sie gefoltert und anschließend erdrosselt. Ihre Leiche wurde als „Unbekannte“ beigesetzt. Erst auf Betreiben von ihrer Familie und einer Frauenorganisation, wurde die Leiche exhumiert und nach der Identifizierung in ihrem Heimatort beigesetzt.
Mindi Rodas ist eine von 695 Guatemaltekinnen, die im Jahr 2010 aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden.

Nur 86 Femizide wurden juristisch verfolgt, bei einem Drittel davon wurde bisher ein richterliches Urteil gesprochen. Denn Straflosigkeit hat System in Guatemala: Jahrelang wurden Femizide von den guatemaltekischen Behörden nicht verfolgt. Ermordete Frauen wurden zu Prostituierten, Angehörigen der Jugendbanden maras oder Freundinnen von Drogenschmugglern erklärt und damit nicht für würdig befunden, ihren gewaltsamen Tod aufzuklären. Marcela Lagarde kritisierte dieses Verhalten scharf: „Bei Femiziden kommen in krimineller Weise das Schweigen durch Unterlassung oder Fahrlässigkeit sowie das Einverständnis der Behörden zusammen“, so die mexikanische Anthropologin und Anwältin.

2008 wurde nach langem Kampf von Frauenorganisationen und mittels eines interparlamentarischen Dialogs zwischen Guatemala, Mexiko und der Europäischen Union das Gesetz gegen Femizide und andere Formen der Gewalt an Frauen erlassen. Schutz, Freiheit und Leben der Guatemaltekinnen sollten durch das Gesetz garantiert, eine strafrechtliche Verfolgung erleichtert und die Straflosigkeit der Täter abgeschafft werden. „In dem Gesetz werden Femizid, Frauenfeindlichkeit, diskriminierende Machtverhältnisse, ökonomische, physische, psychische oder emotionale und sexuelle Gewalt als Gewalt gegen Frauen definiert”, erklärt Norma Cruz, Gründerin der Fundación Sobrevivientes. „Der Tatbestand eines Femizids wird nun mit 25 bis 50 Jahren Haft bestraft. Weder Bräuche noch Traditionen können dem Gesetz nach als Rechtfertigung oder Entschuldigung für das Verüben, Akzeptieren, Fördern, Anregen oder Tolerieren von Gewalt gegenüber Frauen geltend gemacht werden. Jedwede Gewalttat gegenüber Frauen, sei es häusliche Gewalt oder Übergriffe von Bekannten und Fremden, müsste demnach in Zukunft als Straftat behandelt werden“, so Norma Cruz weiter.

Bislang wird dem Gesetz, das in der zentralamerikanischen Region als Vorreiter gilt, von FrauenrechtlerInnen jedoch wenig Erfolg zugeschrieben. Norma Rera von der Nationalen Frauenunion (UNAMG) meint, es gebe „zwar Anstrengungen der Zivilgesellschaft und der staatlichen Institutionen und dadurch eben auch einige Fortschritte, zum Beispiel spezielle Prozesse wegen Frauenmorden“. Dies jedoch führe nicht zu einem Rückgang der Femizide und auch die Straflosigkeit sei trotz des Gesetzes nicht rückläufig.

Und in der Tat: noch immer werden 97 Prozent derjenigen, die Frauen Gewalt antun, nicht bestraft. KritikerInnen wie Norma Rera werfen der Justiz vor, unfähig oder unwillig zu sein, das neue Gesetz angemessen anzuwenden: „Es kann nicht von einem Rückgang der Straflosigkeit gesprochen werden, denn es gibt noch immer Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes. Es kommt zum Beispiel immer wieder vor, dass Staatsanwälte oder Richter bei Fällen von Frauenmorden das Strafgesetzbuch anwenden und nicht das Gesetz gegen Femizide. Nach diesem drohen jedoch bei einer Verurteilung bis zu zehn Jahre längere Haftstrafen. Dadurch werden dann keine gerechten Urteile gefällt.“

María Luisa de León Satizo ist Anwältin der Frauenorganisation Grupo Guatemalteco de las Mujeres. Sie teilt die Kritik bei der Anwendung des Gesetzes und bemängelt zudem eine unzureichende Koordination in der öffentlichen Verwaltung: „Das Gesetz scheint wie auf einer Insel zu sein und alles andere funktioniert so wie vorher. Es gibt zwar schon einige Urteile, sogar mit der maximalen Strafe von 50 Jahren Gefängnis, aber die Zahl der Verurteilungen ist im Vergleich zur Masse an Anzeigen verschwindend gering.“

In Guatemala hat Gewalt gegen Frauen eine lange Geschichte. Während des bewaffneten Bürgerkriegs von 1960 bis 1996 wurden Frauen aus rein „strategischen Gründen“ misshandelt. Regierungstruppen wandten systematisch sexuelle Gewalt gegen Frauen an, um mögliche Aufstände zu unterdrücken sowie um die Moral einzelner und ganzer Gemeinden zu brechen. 2006 veröffentlichte die Gruppe Akteurinnen des Wandels (Consorcio Actoras de Cambio) die Studie Mit dem Schweigen brechen, deren Ergebnisse erschreckend deutlich beschreiben, was in Guatemala während des Bürgerkriegs geschah: Oft wurden Frauen von den Soldaten vergewaltigt, nachdem ihre Männer ermordet wurden oder aber öffentlich vor Familienangehörigen und Gemeindemitgliedern missbraucht, gefoltert und anschließend getötet. Teilweise wurden Frauen sogar jahrelang als Sexsklavinnen von Generälen und paramilitärischen Truppen gehalten.

Insbesondere indigene Frauen wurden Opfer dieser systematischen sexuellen Gewalt. Während des Bürgerkriegs wurden ganze Gemeinden als Basis der Guerilla stigmatisiert und in Massakern ausgelöscht, um die Kontinuität des Lebens in den indigenen Gemeinden zu zerstören. Opfer dieser „Politik der verbrannten Erde” von 1982 bis 1983 waren laut der Kommission für Historische Aufklärung (CEH) zu 99 Prozent Frauen – 88,7 Prozent von ihnen Maya. Eine Aufklärung oder gar Aufarbeitung dieser Verbrechen hat kaum stattgefunden. Jahrelang wurden die Gewalttaten als Vergehen einiger Funktionäre abgetan, die Befriedigung suchten. Dabei waren Beamte, Angestellte, staatliche Behörden und Militärangehörige direkt an den Gewaltverbrechen beteiligt.
Und auch heute noch sind Frauenkörper in Guatemala Objekte, an denen Macht, Mut und Rache demonstriert werden. Kriminelle Banden wenden noch immer Praktiken aus Bürgerkriegszeiten an, die massakrierte Frauen zur Schau zu stellen, um „den Gegner zu entmutigen und zu entehren“. Ebenso werden auch heute noch Frauen geopfert, um den Dialog und den Zusammenhalt krimineller Bruderschaften über Blutpakte aufrecht zu erhalten.
Wie tief Frauenfeindlichkeit und Gewalt in der guatemaltekischen Gesellschaft eingebrannt sind, erläutert die guatemaltekische Anwältin de León Satizo: „Wir glauben, dass Frauenmorde und Gewalt an Frauen Resultat der historisch ungleichen Machtverhältnisse von Männern und Frauen sind. Sie sind Teil einer patriarchalen Kultur, in der die Frauen besessen und benutzt werden.” Die Kultur des Landes müsse sich verändern, um diese strukturelle Benachteiligung der Frauen zu beenden, so de León Satizo: „Wir müssen die Gesellschaft verändern, den Kindern und der Jugend andere Werte vermitteln. Selbst in den Medien werden Gewalttaten verherrlicht. Das muss aufhören. Vielmehr müssen Presseorgane dazu beitragen, dass Gewalt verurteilt wird und Körper von Frauen eben nicht mehr als reine Objekte angesehen werden. Und das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“

 

(Download des gesamten Dossiers)

 

Häufig gestellte Fragen

Welche Änderungen der Verfassung sah Zelaya vor?

Manuel Zelaya hatte sich dazu nie konkret geäußert. Details sollte erst die Verfassunggebende Versammlung erarbeiten. Zelaya sagte aber, er wolle die Bevölkerung stärker an politischen Prozessen beteiligen. Dazu plante er, am 28. Juni 2009 die BürgerInnen in einer nicht bindenden Meinungsumfrage zu konsultieren. Sie sollten darüber entscheiden, ob bei den kommenden Wahlen gleichzeitig ein Referendum zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung stattfinden sollte.
Zelaya forderte einen „sozialistischen Liberalismus“, damit „alle Vorteile des Systems dorthin kommen, wo sie am meisten benötigt werden: zu den Frauen, den Männern, den Kinder, den Bauern, den Produzenten!“ Zelayas Gegner behaupteten, er wolle mit der Volksbefragung und dem darauf folgenden Referendum lediglich seine Wiederwahl erreichen und Honduras in eine Diktatur verwandeln.

Hätte sich Zeleya nach einem erfolgreichen Referendum wiederwählen lassen können?

Nein. Das Referendum, das im Falle der Zustimmung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen am 29. November 2009 hätte stattfinden sollen, hätte zunächst eine Verfassunggebende Versammlung einberufen. Diese hätte dann in den Monaten darauf die Aufgabe gehabt, eine neue Verfassung zu erarbeiten.
Brisant dabei ist, dass der honduranische Kongress Mitte Januar 2011 eine Änderung des Artikel 5 der Verfassung vorgenommen hat. Dadurch werden Referenden bezüglich der Wiederwahl des Präsidenten möglich gemacht.

Wer steckt hinter dem Putsch?

Die Verhaftung und Außerlandesbringung Zelayas wurde von Militärs unter Führung von General Romeo Vásquez Velásquez durchgeführt. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof die Verhaftung Zelayas angeordnet, da ihm aufgrund der geplanten Volksbefragung von der Opposition und der Oligarchie des Landes ein Verfassungsbruch vorgeworfen wurde. Schon in den Monaten zuvor hatten die von den Eliten kontrollierten Medien gegen Zelayas linksgerichteten politischen Kurs gewettert. Auch die USA müssen frühzeitig von dem Vorhaben eines Staatsstreiches gewusst haben, denn die PutschistInnen nutzten den US-Militärstützpunkt Palmerola bei Comayagua, um Zelaya auszufliegen.
Am Tag des Putsches wurde im Parlament die Fälschung eines Rücktrittsschreibens Zelayas verlesen sowie Telefonnetz und Rundfunk abgeschaltet. Kurz nach dem Putsch meldete sich auch der honduranische Kardinal und Vorsitzende von Caritas International, Óscar Andrés Rodríguez, zu Wort. Er rechtfertigte die Absetzung Zelayas und vertrat die Meinung, Venezuelas Präsident Hugo Chávez wolle durch Zelaya Kommunismus in Honduras einführen. Ähnlicher Meinung waren auch honduranische Unternehmerverbände, konservative US-Politiker und die FDP-nahe Friedrich-Naumann Stiftung, die in Tegucigalpa ein Regionalbüro unterhält.

Wurden die für den Putsch verantwortlichen Personen in irgendeiner Weise sanktioniert?

Nein. Zwar teilte der US-Botschafter Hugo Llorens einen Monat nach dem Putsch Washington mit, dass es „keinen Zweifel mehr daran (gibt), dass die Amtsübernahme durch Roberto Micheletti illegitim war.“ Er bezeichnete die Vorgänge als einen Putsch und widerlegte die Vorwürfe der PutschistInnen gegen Präsident Manuel Zelaya. Dennoch wurde Putschpräsident Roberto Micheletti der Status eines Abgeordneten auf Lebzeiten und damit ein lebenslanges Monatsgehalt, Immunität sowie Polizeischutz für sich und seine Familie zugesichert. Im März 2010 ernannte Porfirio Lobo den für den Putsch verantwortlichen General Romeo Vásquez Velásquez zum Präsidenten der nationalen Telefongesellschaft Hondutel. Die Putschregierung hatte noch vor der Amtseinführung von Porfirio Lobo damit begonnen, Amnestien für politische Straftaten zu erlassen.

Welche lateinamerikanischen Länder anerkennen die Putschregierung von Porfirio Lobo?

Anerkannt wird die Regierung von Porfirio Lobo bisher von Mexiko, Guatemala, Belize, El Salvador, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Peru und Chile. Brasilien, Ecuador, Bolivien, Argentinien, Venezuela und Nicaragua haben die Regierung von Porfirio bisher nicht anerkannt. Weiterhin ist Honduras‘ Mitgliedschaft in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert.

Was macht Manuel Zelaya heute?

Manuel Zelaya lebt seit dem 27. Januar 2010 im Exil in der Dominikanischen Republik. Er ist Hauptkoordinator der Widerstandsbewegung und hofft auf eine baldige Rückkehr nach Honduras. Zelaya wurde von Hugo Chávez zudem die Leitung des „Politischen Rates“ von Petrocaribe übertragen.

Was fordert die Widerstandsbewegung?

Die Widerstandsbewegung fordert unter anderem die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. In der neuen Verfassung sollen die Prinzipien der partizipativen Demokratie etabliert werden. Weiter wird die Erneuerung des aktuellen Machtapparates, die Rückkehr Manuel Zelayas aus dem Exil und die Rücknahme neoliberaler Arbeitsgesetze gefordert.

Ich weiß, was du vorletzten Sommer getan hast

Das Büro der alternativen Wahrheitskommission, der sogenannten Wahren Kommission (Comisión de Verdad), befindet sich hoch über der Hauptstadt von Honduras. Im einst von deutschen EmigrantInnen gegründeten Viertel Walter hat sie in einem alten weißgetünchten Haus mit ausladendem Holzbalkonen ihren Sitz bezogen. Der Blick von oben auf Tegucigalpa erscheint symbolträchtig für das, was hier derzeit zusammengetragen wird: ein detaillierter Überblick über die Menschenrechtsverletzungen nach dem Putsch und auch während des aktuellen Nachfolgeregimes von Porfirio Lobo. Initiiert wurde die Wahre Kommis­sion von der honduranischen Menschenrechtsplattform, ein Zusammenschluss renommierter zivilgesellschaftlicher Organisationen, um ein Gegengewicht zur offiziellen Wahrheitskommission Wahrheits- und Versöhnungskommission (Comisión de la Verdad y la Reconciliación) zu bilden.
„Die am Putsch beteiligten Institutionen des honduranischen Justizsystems wollen mit dieser jetzt ihre eigenen Taten untersuchen“, konstatiert Pater Fausto Milla, einer der KommissarInnen der alternativen Wahrheitskommission, der neun angesehene JuristInnen und kirchliche MenschenrechtskämpferInnen aus Lateinamerika und Spanien vorstehen. Direkt nach dem Putsch hatte der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der gewaltsamen Exilierung des damaligen Präsidenten Manuel Zelaya für legal erklärt, die Staatsanwaltschaft hingegen hält noch immer eine Anzeige gegen ihn aufrecht. „Das ist eine absurde Show, um den Staatsstreich ein weiteres Mal zu legitimieren. Die Täter werden sich kaum selbst zu Tätern erklären“, schließt der weißhaarige Pater.
Und doch mangelt es der offiziellen Wahrheitskommission keinesfalls an internationaler Anerkennung. In den Verhandlungen von San José zur Lösung des Konflikts in Honduras, war ihre Schaffung als eine Bedingung genannt worden, das Putschregime an der Macht zu belassen. Koordiniert wird sie von Eduardo Stein, langjähriger Funktionär der Organisation der Vereinten Nationen und Ex-Vizepräsident von Guatemala. Personell wie finanziell wird die Kommission durch Vereinte Nationen, USA und Europäische Union unterstützt. Die EU gibt 180.000 Euro; der deutsche Anteil daran sind rund 20 Prozent, so Karl-Heinz Rode, deutscher Botschafter in Tegucigalpa.
„Doch der offiziellen Wahrheitskommission beibt eines vorenthalten; ihr fehlt schlichtweg die Anerkennung seitens der honduranischen Bevölkerung. Diese lehnt sie mehrheitlich ab“, erklärt Tom Loudon, Technischer Direktor der Wahren Kommission. Die Menschenrechtsorganisation COFADEH berichtet davon, dass Zeugenaussagen durch die offizielle Kommission unter Druck erzwungen werden. Für die alternative Wahrheitskomission hat der Zeugenschutz hingegen oberste Priorität. Sie genießt die breite Unterstützung der Menschen. „Uns ist es sehr wichtig, vertrauensvoll mit den gesammelten Information umzugehen, um den Schutz der Opfer zu gewährleisten. Diese dürfen nicht durch ihre Aussage in Gefahr gebracht werden“, berichtet Loudon. In seinem Büro hängen Bilder von den Wochen nach dem Putsch. Am Boden liegende DemonstrantInnen werden von Militärs und Polizei umstellt; auf dem Asphalt geronnenes Blut. Familienangehörige weinen um ihre Toten.
Beide Wahrheitskommissionen unterscheiden sich in Ausrichtung und Zielsetzung klar voneinander. Die Wahre Kommission legt ihren Fokus explizit auf die Verletzungen der Menschenrechte. Die offizielle Wahrheitskomission wird sich nur untergeordnet mit den Menschenrechtsverletzungen während dem Putsch befassen. Diese werden von einer Gruppe von UN-ExpertInnen in einem extra Bericht abgehandelt. Voraussetzung ist jedoch, dass sie beizeiten vor der Staatsanwaltschaft angezeigt wurden. Dies kritisiert die Menschenrechtsplattform scharf, da das Justizsystem selbst tief in den Putsch verstrickt war und die meisten Menschenrechtsverletzungen gar nicht gemeldet wurden. „Jene, die die Anzeige stellten, wurden nämlich anschließend oft erneut mit Repression oder sogar Folter eingeschüchtert“, so Helen O´Campo, Pressesprecherin der Wahren Kommission.
Schon im März soll der Endbericht der offiziellen Kommission mit „Empfehlungen an die Regierung“ vorliegen; diese sind jedoch nicht bindend. „Ihr Mandat ist rein politischer Natur, nämlich die Ereignisse rund um den 28. Juni 2009 aufzuarbeiten“, sagt Exekutivsekretär Sergio Membreño. Den Begriff „Putsch“ verwendet er nicht. Folgerichtig ist auch keine juristische Strafverfolgung vorgesehen. Die höchste Aufgabe, die sich die Kommission gestellt habe, sei es „die Wiederversöhnung in Honduras einzuleiten“, so Membreño.
„Für die Initiatoren des Putsches ein vollkommen verfehlter Auftrag“, urteilt Tom Loudon. Doch hat die offizielle Wahrheitskommission für das Regime Porfirio Lobo vor allem eine Funktion: die eigene vermeintlich demokratische Ausrichtung vor der Weltöffentlichkeit darzulegen. Die EU scheint sich davon überzeugen zu lassen. Die Regierung Lobo habe „nicht zuletzt durch die Einführung der Wahrheitskommission ihren Willen zur Aufzuarbeitung des Staatsstreichs gezeigt“, so Vanessa Vallardes von der EU-Vertretung in Honduras.
Innerhalb der EU unterstützen als einziges Land nur die Niederlande auch die Wahre Kommission. Ihr Bericht soll explizit als Grundlage für eine juristische Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen und auch dem Verfassungsbruch durch den Putsch dienen. „Eine Verurteilung der intellektuellen Köpfe und direkten Ausführenden durch den Internationalen Strafgerichshof in Den Haag bleibt unsere größte Hoffnung“, sagt Helen O´Campo. Sie selbst ist aus Sicherheitsgründen in das bewachte Haus der alternativen Wahrheitskommission hoch über der Stadt umgezogen. Mehr noch als die Angehörigen der Widerstandsbewegung sind die Kommissionsmitglieder Repression und Übergriffen ausgesetzt. Die PutschistInnen lassen sich nicht gerne in die Karten gucken.
Am Nachmittag des 28. März wurde von Unbekannten ein Sprengkörper auf das Bürodach der alternativen Wahrheitskommission in San Pedro Sula geworfen. Glücklicherweise wurden bei der Detonation weder die im Gebäude anwesende Koordinatorin Brenda Mejía noch zwei internationale Beobachter aus Kanada verletzt.

Weitere Infos: Alternative Wahrheitskommission: www.comisiondeverdadhonduras.org // Offizielle Wahrheitskommission: www.cvr.hn

Endet eh alles wie auf Kuba

Direkt am Tag des Putsches in Honduras veröffentlichte die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) „aus aktuellem Anlass“ einen Bericht mit dem Titel „‚Mel‘ Zelaya – Mehr Täter als Opfer“. Darin gibt Christian Lüth – als Regionalvertreter der Stiftung vor Ort zuständig für Honduras, Nicaragua und Guatemala – dem gestürzten Staatschef eine Mitschuld am Putsch und schürt die Angst vor dem Erstarken linker Kräfte, die von dem vor allem in Venezuela debattierten Konzept eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts motiviert seien. Sein Fazit: Um Rechtsstaatlichkeit und Verfassungsmäßigkeit zu garantieren, blieb dem Kongress keine andere Wahl als selbst die Verfassung zu brechen und Zelaya außer Landes zu bringen.
Entwicklungspolitische Organisationen und die honduranische Demokratiebewegung bewerten die öffentliche Verbreitung dieser Positionierung in den honduranischen Medien klar als eine Unterstützung der PutschistInnen und deren FürsprecherInnen. Lüth ging Anfang März 2010 sogar soweit, die Vorträge von zwei VertreterInnen honduranischer Menschenrechtsorganisationen in Deutschland als „ethisches Verbrechen“ zu bezeichnen. Sie träten öffentlich auf, um „ihre Regierung zu kritisieren und das Land zu spalten“. Die Linksfraktion im Bundestag beantragte daraufhin, das Vorgehen der FNS im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf die Tagesordnung zu setzen. CDU und FDP hingegen lehnten die Diskussion über die politischen Angriffe ab.
Bis heute ist Lüth nicht von seiner Position abgerückt. Wenn beide Parteien, also fast alle Mitglieder im Parlament sagten, dass sie einen anderen Präsidenten wollten, dann müsse man differenzieren, meinte er gegenüber der Honduras-Delegation am 17. Dezember 2010 in Tegucigalpa: „Die Exilierung von Mel Zelaya war ein Verfassungsbruch, aber im Vergleich mit all den Verfassungsbrüchen und abgesehen von den ganz normalen strafrechtlichen Dingen, die er auf dem Kerbholz hat, ist das kein Vergleich. Und da sagen wir nach wie vor, es war richtig, ihn aus dem Amt zu entfernen.“
Die FNS berät in der Region die Polizei sowie Großunternehmer wie Miguel Facussé, der im Norden des Landes seine privaten Sicherheitsleute auf Kleinbäuerinnen und -bauern hetzt, und PolitikerInnen wie Pérez Molina in Guatemala, der während des Bürgerkrieges an der Spitze des Geheimdienstes mehrere Massaker zu verantworten hatte. An oberster Stelle der Stiftungsarbeit steht jedoch die Bildungsarbeit. Der Auftrag sei es, junge Menschen zwischen 16 und 36 Jahren für Politik und Meinungsbildung zu interessieren und sie zum Wählen zu bewegen.
Dass die propagierte Meinungsbildung innerhalb der Stiftung selbst nicht gewünscht ist, zeigt jedoch ihr Umgang mit den eigenen StipendiatInnen.
Olvin Mondragón studiert Jura an der freien Universität in Tegucigalpa. Er bezeichnet sich selbst als Liberalen und fühlt sich dem Zentrum zugehörig. 2009 forderte er wie viele andere VolontärInnen und StipendiatInnen von Lüth eine Debatte über die politischen Ereignisse. Sie stießen auf taube Ohren und verfassten eine öffentliche Erklärung in der nationalen Tageszeitung La Tribuna: „Es scheint, dass die FNS ihre Objektivität verloren hat, indem sie in den Einfluss kleiner Phantomgrüppchen und Organisationen der extremen Rechten in Lateinamerika geraten ist, die Faschismus und Nazismus näher stehen als dem Liberalismus […] Was in Honduras geschieht, hat nichts mit Hugo Chávez zu tun. Es ist das Resultat der Herrschaft einer kleinen Wirtschaftselite, deren Mitglieder sich für die Besitzer des Landes halten. […] Wir erklären, dass wir, die große Mehrheit der Moderatoren und ehemaligen Stipendiaten der FNS in Honduras, gegen den Staatsstreich in Honduras sind. Wir würden es vorziehen, auf unsere Titel als Moderatoren und Exstipendiaten zu verzichten als unseren liberalen Prinzipien abzuschwören und den Kampf für die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung im Land aufzuheben. […] Wir lehnen die Positionen des Lokalbüros der FNS in Honduras ab, das es vorgezogen hat, sich den Putschisten anzubiedern, um sich das Wohlwollen dieses Regimes zu sichern“.
Alle MitarbeiterInnen hätten nach dem Putsch eine Debatte erwartet, sagt Mondragón. Aber innerhalb der Stiftung sei schnell klar gewesen, dass der Staatsstreich als „legitime Nachfolge im Präsidentenamt“ bewertet und damit die Sprachregelung der PutschistInen übernommen wird. Mondragón führt die Verfassung an: Eine solche Nachfolge, heißt es dort, ist nur möglich, wenn der Präsident zurücktritt, eine unheilbare Krankheit hat oder stirbt. Zelaya aber ist unter Waffengewalt veschleppt und expatriiert worden. „Artikel 102 besagt, dass kein Honduraner ins Ausland abgeschoben werden darf“, sagt Mondragón.
Nach dieser Veröffentlichung haben die ehemaligen StipendiatInnen nichts mehr von der FNS gehört. „Wir sehen, dass die Stiftung weiter macht und auch, dass (der Ex-Machthaber und Putschistenchef) Micheletti zum Vizepräsident der Liberalen Internationale wurde. Nach meiner jetzigen Analyse denke ich, dass es eine Stiftung der Elite geworden ist. Die neue Generation der Multiplikatoren sind Kinder der Oberschicht. Der Putsch hat einfach gezeigt, dass alles, was sie uns beigebracht haben, nicht wahr ist. Es zählt nur ihre Meinung oder keine. Und das war etwas ganz anderes als das, was wir den Leuten auf dem Land beigebracht haben.“
Mondragón hatte Lüth 2007 vom Flughafen abgeholt, als der Vertreter der Stiftung das erste Mal honduranischen Boden betrat. Heute hat er nur noch zwei Fragen an den Funktionär: Warum war es nicht möglich, eine Debatte zu führen ? Warum wurde einfach der Kontakt abgebrochen?
Lüth hält derweil an der bisherigen Arbeit der Stiftung fest und dies mit allem Respekt gegenüber den staatlichen Institutionen. Man versuche, im Gastland so aufzutreten, dass man einigermaßen mit den Institutionen klar komme. Man sei schließlich Gast im Land und genieße zahlreiche Privilegien. Auf die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, als Stiftung für die Freiheit die demokratischen Kräfte im Land zu unterstützen, gibt es eine kurze und schlichte Antwort: „Wir teilen die Problemanalyse, aber nicht den Weg zur Lösung“. Das würde doch sowieso alles „wie in Kuba“ enden, beurteilt er die Bestrebungen der friedlichen Demokratiebewegung. Diese hat gerade über 500 Delegierte wählen lassen, um einen basisdemokratischen Prozess unter den vielfältigen politischen Strömungen zu gewährleisten.
Wie viele Liberale hat sich auch Olvin Mondragón der Widerstandsbewegung angeschlossen und kämpft mit für die Rechtsstaatlichkeit und gegen die institutionalisierte Willkür im Land.

Historischer Überblick

1502 // Christoph Kolumbus betritt zum ersten Mal das Territorium des heutigen Honduras. Dabei soll er gesagt haben: „Gracias a Dios que hemos salido de estas honduras.“ – „Gott sei Dank, dass wir diesen Tiefen entkommen sind“. Dieser Ausruf gibt dem Land seinen Namen.
1537 // Der Krieger Lempira des Lenca-Stammes führt die erste Widerstandsbewegung gegen die spanische Kolonialmacht an. Dafür vereint er 200 zuvor verfeindete Stämme und führt bis zu 30.000 Krieger gegen die Spanier ins Feld.
1539 // Bei vorgetäuschten Friedensverhandlungen wird Lempira hinterrücks von den Spaniern ermordet. Der indigene Widerstand bricht auseinander.
1821 // Die honduranische Oligarchie erklärt das Land für von Spanien unabhängig und schließt es kurzzeitig dem Kaiserreich von Mexiko an. Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht bedeutet allerdings nicht die Befreiung von Knechtung und Unterdrückung. Vielmehr festigen die machthabenden Schichten ihren Status und nehmen verstärkt Einfluss auf Politik und Wirtschaft.
1823 // Die Länder Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Honduras gründen die „Vereinigten Provinzen von Zentralamerika“. Eine der wichtigsten Personen sowohl der Unabhängigkeit als auch des Staatenbündnisses ist Francisco Morazán (1792-1842). Er stammt aus Honduras und ist zwischen 1829 und 1838 Präsident des zentralamerikanischen Zusammenschlusses. Unter seiner Führung wird die Sklaverei abgeschafft und die erste Verfassung erarbeitet.
1839 // Aufgrund von internen Machtkämpfen und Bürgerkriegen zerfallen die Vereinigten Provinzen von Zentralamerika. Seit der Unabhängigkeit kämpfen mehrere Fraktionen der Oligarchie um die Macht in Honduras. Zwischen 1821 und 1876 gibt es insgesamt 85 Regierungen.
1876 // Marco Aurelio Soto wird Präsident von Honduras und setzt liberale Reformen durch. Er säkularisiert den Kirchenbesitz, führt die Zivilehe und ein staatliches Bildungswesen ein. Seine Gegner, darunter die Kirche und Großgrundbesitzer, gründen später die Nationale Partei. Seine Befürworter, das städtische Bürgertum, die Liberale Partei. Diese beiden Parteien sind bis heute die wichtigsten des Landes. Soto öffnet Honduras für den Weltmarkt und lockt mit großzügigen Konzessionen vor allem US-amerikanische Früchte-Unternehmen. Honduras entwickelt sich zur „Bananenrepublik“.
1913 // Die US-Konzerne Standard Fruit Company, Cuyamel Fruit Company und United Fruit Company beherrschten den weltweiten Bananenmarkt und sind zusammen im Besitz von 75 Prozent aller honduranischen Plantagen.
1929 // Die Cuyamel Fruit Company fusioniert mit der United Fruit Company. Damit wird die United Fruit Company zur einflussreichsten politischen Macht der Region, mit weitreichenden Verbindungen zu den verschiedenen Diktaturen.
1933 // Die Diktatoren Tiburcio Carías Andino und Juan Manuel Gálvez Durón, die von 1933 bis 1948 beziehungsweise 1949 bis 1954 an der Macht sind, fühlen sich der United Fruit Company verpflichtet. Mit Hilfe der Staatsgewalt unterdrücken sie Gewerkschaften und Streiks der PlantagenarbeiterInnen.
1954 // Rund 25.000 ArbeiterInnen bestreiken die US-amerikanischen Bananenplantagen. Zum ersten Mal verliert die United Fruit Company an Einfluss. In Guatemala wird Präsident Jacobo Àrbenz durch einen von den USA unterstützten Putsch gestürzt. Zuvor waren einige Reformen auf den Weg gebracht worden, die unter anderem die Vormachtstellung der United Fruit Company bedrohten.
1975 // Die United Brands Company (vormals United Fruit Company, heute Chiquita) besticht Präsident Oswaldo López Arellano mit 1,25 Millionen US-Dollar, um die Senkung von Exportzöllen zu erreichen.
1979 // Die SandinistInnen stürzen den Diktator Anastasio Somoza Debayle in Nicaragua. Um gegen die linke FSLN sowie gegen die Guerilla-Bewegungen in El Salvador und Guatemala anzugehen, bauen die USA in Honduras eine konterrevolutionäre Streitmacht auf. Mitte der 1980er Jahre befinden sich zwischen 12.000 und 17.000 Contras auf honduranischem Territorium.
1982 // Der Kandidat der Liberalen Partei, Roberto Suazo Córdova, übernimmt nach Jahrzehnten der Militärdiktaturen als erster Zivilist die Präsidentschaft. Auch in den folgenden Jahren kehrt in Honduras kein Frieden ein. Oppositionelle werden von Contras und Todesschwadronen des berüchtigten Bataillons 3-16 gefoltert und ermordet.
1990 // Rafael Leonardo Callejas von der Liberalen Partei wird Präsident von Honduras. Er setzt neoliberale Strukturanpassungsrefomen um, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Schuldenabbau auferlegt wurden.
1993 // Der Menschenrechtsbeauftragte der honduranischen Regierung Leo Valladares beziffert die Zahl der „Verschwundenen“ der 1980er Jahre in einem Report auf 184 und nennt die USA und Argentinien als Komplizen der Täter.
2006 // Manuel Zelaya Rosales von der Liberalen Partei wird Präsident. Im selben Jahr tritt das Freihandelsabkommen mit den USA in Kraft.
2008 // Honduras tritt dem linken und US-kritischen Staatenbündnis ALBA bei.
2009 // Anfang des Jahres erhöht Manuel Zelaya den Mindestlohn der Angestellten im öffentlichen Dienst und plant eine unverbindliche Volksbefragung zu einer Verfassunggebenden Versammlung.
28 Juni // Militärs nehmen Zelaya fest und fliegen ihn nach Costa Rica aus, Roberto Micheletti über nimmt de facto die Präsidentschaft.
02 Juli // Die Länder der Europäischen Union ziehen ihre BotschafterInnen aus Tegucigalpa ab. Die Putschregierung ruft den Ausnahmezustand aus.
05. Juli // Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert die Mitgliedschaft Honduras‘. Zelaya versucht, auf dem Flughafen in Tegucigalpa zu landen. Die Putschregierung erteilt keine Landeerlaubnis.
20. Juli // Die EU suspendiert Finanzhilfen an Honduras in Höhe von 90 Millionen US Dollar.
28. Juli // Die USA suspendieren Visa von vier Mitgliedern der Putschregierung.
08. September // Der IWF sperrt 163 Millionen US-Dollar, die für Honduras bestimmt waren.
21. September // Manuel Zelaya taucht überraschend in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. In den darauffolgenden Tagen setzt die Putscharmee Schallkanonen und Tränengas gegen die Botschaft ein.
26. September // De-facto-Präsident Roberto Micheletti erlässt ein Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte. Das Dekret soll bis zu den Wahlen in Kraft bleiben.
05. Oktober // Aufgrund vielfältigen Drucks muss Micheletti das Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte wieder aufheben.
29. November // Porfirio Lobo von der Nationalen Partei gewinnt dubiose Wahlen, die unter starker Militarisierung des Landes stattfanden. Das Oberste Wahlgericht spricht zunächst von über 60 Prozent Wahlbeteiligung, später korrigierte es den Wert auf nur noch 49 Prozent. Die Widerstandsbewegung kommt nach ihren Beobachtungen und Berechnungen auf Werte zwischen 25 und 35 Prozent.
2010, 27. Januar // Amtsantritt von „Präsident“ Porfirio Lobo. Am selben Tag geht Manuel Zelaya ins Exil in die Dominikanische Republik.
14. April // Porfirio Lobo unterzeichnet ein Abkommen, welches landlosen Kleinbauern und –bäuerinnen der Vereinten Bauernbewegung des Aguáns (MUCA) 11.000 Hektar Land zuspricht.
19. Mai // Die Europäische Union und die Staaten Mittelamerikas, darunter auch Honduras, unterzeichnen ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen.
15. September // Die Widerstandsbewegung hat über 1,3 Millionen Unterschriften für eine Verfassunggebende Versammlung gesammelt.
2011, 12. Januar // Das honduranische Parlament beschließt eine Verfassungsänderung. Damit dürfen Artikel, die die Wiederwahl des Präsidenten betreffen durch einen Volksentscheid geändert werden. Genau dies hatten die Gegner Zelayas zum Grund für den Putsch 2009 genommen.
26. Februar // Generalversammlung der Widerstandsbewegung findet statt. Im Vordergrund steht die Frage nach der politischen Beteiligung der Bewegung. Eine Wahlbeteiligung kommt erst in Frage, wenn Zelaya und andere politisch Exilierte ins Land zurückkehren dürfen, eine selbst einberufene Verfassunggebende Versammlung zustande kommt und das Wahlgesetz dahingehend geändert wird, dass auch die Widerstandsbewegung als soziale und politische Kraft teilnehmen kann.
30. März // In großen Teilen des Landes kommt es zu Demonstrationen von Lehrerverbänden und der Widerstandsbewegung gegen die Regierung Lobo. Die Polizei geht mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Menschen vor. Zahlreiche Personen werden verletzt und verhaftet.

Sündenfall Agrosprit

Mitternacht auf der Finca Bella Flor im Departamento Alta Verapaz in Guatemala. Hier und da schnarcht ein Mensch. Ab und zu weint ein Baby. Kinder und Alte, Frauen und Männer schlafen auf Brettern und schmutzigen Decken. 36 Familien haben eine provisorische Siedlung gebaut, Äste in den Boden gerammt und schwarze Plastikplanen daran befestigt, damit sie ein wenig Schutz vor Regen und Wind bieten. Dreimal schon wurden die Menschen von diesem Grundstück vertrieben. Jedes mal kamen sie zurück. Zuletzt vor einem Monat. Die Finca Bella Flor liegt in einem Tal, durch das gemächlich der Fluss Polochic fließt. Doch die Stimmung dort ist aufgeheizt. Viele Kleinbauern und -bäuerinnen protestieren gegen die Invasion großer Konzerne, die Zuckerrohr und Ölpalmen anbauen wollen, Pflanzen, aus denen Ethanol und Agrodiesel gewonnen werden kann.
Zwei Wächter mit Taschenlampen patrouillieren über Sandpfade der Finca Bella Flor, welche die Schlafplätze miteinander verbinden. Drei weitere sitzen versteckt hinter einem Sandhaufen. Einer von ihnen ist Julio Caál, ein schmächtiger Mann. Aber sein charismatisches Auftreten macht ihn zum natürlichen Anführer der Gruppe. „Die Fincabesitzer sagen, wir hätten dieses Land illegal besetzt“, beklagt Julio Caál. „Aber die wirklichen Eindringlinge sind sie. Diese Leute sind von weither gekommen. Sie haben das Land unserer Vorfahren genommen. Für dieses Land sind unsere Großväter ermordet worden.“ Ein Großteil der Bevölkerung im Polochic-Tal sind Angehörige des Mayavolkes der Kekchí. Doch das fruchtbarste Land gehört einigen wenigen GroßgrundbesitzerInnen. Die haben sich schon vor Generationen riesige Ländereien angeeignet, auf denen zuvor die indigene Bevölkerung gelebt hat. Nicht selten kam dieser Landraub gewaltsam zustande. Die Kekchí mussten für die neuen Herrn arbeiten. Doch zumindest bekamen sie eine Parzelle zugewiesen, auf der sie ihre eigenen Grundnahrungsmittel anbauen konnten. Jetzt aber soll es vorbei sein mit dieser Selbstversorgung. Im Laufe der vergangenen fünf Jahre haben Großkonzerne riesige Ländereien gekauft. Sie wollen die Landwirtschaft ganzer Regionen auf den Anbau von Ölpalmen und Zuckerrohr umstellen. Für die Familien, die seit Generationen auf dem Land leben, bleibt weder genug Platz, noch ausreichend Arbeit. Ganze Gemeinden werden vertrieben und verlieren ihre Überlebensgrundlage. Julio Caál und seine Familie waren schon mehrfach Opfer blutiger Landkonflikte. Zwei seiner Onkel wurden ermordet. Er selbst hat mehrere Schusswunden überlebt. Nicht ohne Stolz zeigt er die Narben an seinem Bein: „Sie haben mich getroffen. Zwei Kugeln sind hier ins Bein eingedrungen und auch meine Hand haben sie ordentlich verletzt.“
Neben Julio Caál sitzt der Junge Dario auf einem Stein. Er ist sechzehn Jahre alt. „Wir leben mit dem Hunger“, sagt er. „Manchmal haben wir keinen Mais, weil wir kein Land haben. Das ist extreme Armut.“ Dario und seine KameradInnen hoffen, dass sie eines Tages als BesitzerInnen der Finca Bella Flor anerkannt werden. Sie wollen auf ihren eigenen, kleinen Parzellen arbeiten und nicht als Tagelöhner für GroßgrundbesitzerInnen. Der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn in Guatemala liegt bei 56 Quetzales, etwa fünf Euro pro Tag. Aber das steht nur auf dem Papier. Einer der Fincabesitzer im Polochic-Tal, der deutlich weniger zahlt, ist Hector Monzón. Er bezeichnet die Landbesetzungen als illegal und hält ein gewaltsames Vorgehen gegen die BesetzerInnen für notwendig: „Der Staat muss den Privatbesitz immer verteidigen. Deshalb muss er die Invasionen bekämpfen und die Landbesetzungen räumen.“
Hector Monzóns Vater hat die Finca Bella Flor seiner Tochter Aminta vererbt. Doch die ist vor vielen Jahren in die Hauptstadt gezogen, erzählt Hector Monzón: „Die Finca meiner Schwester ist schon dreimal besetzt worden. Deshalb hat sie sich entschieden, das Land zu verkaufen. Sie konnte es nicht verteidigen. Gerade jetzt sind schon wieder BesetzerInnen gekommen, obwohl am Zugang Wächter standen. Die Eindringlinge hatten Waffen und haben auf das Sicherheitspersonal geschossen. Daraufhin sind die Männer geflüchtet.“
Hector Monzón stellt den Verlauf der Schießerei anders dar als Julio Caál. Außerdem sagt er, die BesetzerInnen hätten überhaupt keinen Grund, das Land für sich in Anspruch zu nehmen. Er bezeichnet sie als Kriminelle: „Es ist durchaus möglich, dass es wieder zu einer Konfrontation kommt, weil der Staat immer weniger Kontrolle ausübt. Es gibt viel Korruption. Wenn das mit den Landbesetzungen so weitergeht und niemand die BesetzerInnen aufhält, dann wird es zu einer Konfrontation kommen zwischen den rechtmäßigen BesitzerInnen und den BesetzerInnen.“
Die meisten GroßgrundbesitzerInnen argumentieren, die Investitionen der Konzerne würden den Weg zu Fortschritt und Entwicklung ebnen. So sieht es auch der Bürgermeister des Städchens Panzós, dem urbanen Zentrum des Polochic-Tals. Er heißt Edwin Rummler – ein deutscher Name. Sein Großvater ist aus Deutschland nach Guatemala gekommen. Edwin Rummler hält es für seine Aufgabe, großen Konzernen den Weg zu bereiten, damit sie im Polochic-Tal investieren: „Wir bemühen uns um Investoren, die sich für dieses Gebiet interessieren. Wir unterstützen vor allem Unternehmen, die Ölpalmen anpflanzen und Bergbaufirmen, die Minen betreiben. Sie alle empfangen wir mit offenen Armen, denn wir wissen, dass sie uns Entwicklung bringen.“
Auf der Finca Bella Flor durchbricht das Weinen eines Kleinkinds die Stille der Nacht. Sein Vater, Samuel Cucúl, wacht auf und steht von seinem Lager auf. Aber es ist Zeit für seinen Patrouillengang. „Ich habe gehört, dass sechs riesige Konzerne aus Brasilien hierher kommen werden, um Ölpalmen zu pflanzen“, sagt Samuel Cucúl. „Wir brauchen das Land, um unseren Mais, unseren Reis und unsere Bohnen anzubauen. Das ist unsere Nahrung. Wenn es nur noch Ölpalmen gibt, und keine Bohnen mehr, was sollen wir dann mit all dem Öl noch braten?“
Alle Kinder in der Siedlung leiden an Unterernährung. Sie laufen barfuß und ihre Eltern haben nicht genug Geld für Medikamente, mit denen sie die häufig auftretenden Atemwegs- und Magenerkrankungen bekämpfen könnten. Samuel Cucúl weiß, dass er all seine Kraft braucht, um das Überleben seiner Familie zu sichern. Aber seit dem letzten Zusammentreffen mit dem privaten Sicherheitspersonal der ehemaligen Fincabesitzerin kann er nicht mehr so hart arbeiten wie er möchte: „In meinem Körper stecken 27 Splitter Streumunition. Deswegen kann ich heute nicht mehr so gut arbeiten wie früher. Wenn die Sonne heiß wird, bekomme ich Schwindelanfälle. Ich schaffe es gerade noch, meine Kinder durchzubringen. Aber oft kann ich ihnen nicht mehr so viel zu essen geben wie früher. Als ich noch arbeiten konnte, habe ich getan was ich wollte. Das geht jetzt nicht mehr, wegen der Wunde.“ Samuel Cucúls Körper ist schwer angeschlagen, genauso wie sein Gebiss. Es hat zahlreiche Lücken. Die meisten der übrigen Zähne haben große, schwarze Flecken. Er war noch nie beim Zahnarzt. Das ist ihm nicht so wichtig. Viel mehr sorgt er sich um das Essen für die nächste Mahlzeit. Die Familien auf der Finca Bella Flor sind auf die Solidarität anderer Gemeinden angewiesen. „Manchmal helfen wir uns gegenseitig. Wir gehen in eine andere Gemeinde, in der es den Leuten besser geht. Dort bitten wir um ein wenig Mais. Wir müssen durchhalten, bis wir die erste Ernte reinholen. Dann haben wir wieder etwas und können denjenigen Gemeinden helfen, die Hilfe brauchen. Wir haben nicht genug, um ordentlich essen zu können, aber so einigermaßen schlagen wir uns durch.“

INFO-KASTEN 1:
Agrosprit im Tank
Agrosprit soll nachhaltig das Klima schützen. Deshalb gilt in Deutschland seit Anfang des Jahres die sogenannte Biomasse-Nachhaltigkeitsverordnung. Diese legt fest, dass die flüssige Biomasse, die dem üblichen Benzin oder Diesel beigemischt werden kann, nur noch aus nachhaltiger Produktion stammen darf. Die Pflanzen dürfen nicht auf Flächen mit hohem Naturschutzwert angebaut werden, wie etwa Regenwälder oder Feuchtgebiete.
Umweltverbände unterstützen das ökologische Anliegen der Nachhaltigkeitsverordnung, kritisieren aber das Fehlen sozialer Kriterien, so auch die Biologin Monika Nolle von der Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz, ARA: „Die ursprüngliche Idee, Biodiesel statt fossile Energie zu nutzen, ist eigentlich ein guter Gedanke. Aber es ist ein Problem, wenn diese Energiepflanzen für unseren Bedarf in anderen Ländern wachsen. Dann ist es wieder so, dass wir profitieren. Wir besetzen in südlichen Ländern große Ländereien, weil wir hier kein Land dafür zur Verfügung haben.“
Greenpeace hat festgestellt, dass Deutschland im Schnitt ein Viertel des Agrosprits, der in den Autotanks landet, aus solchen Ländern importiert. Dort gewinnen die Konzerne den Biosprit aus tropischen Pflanzen wie Ölpalmen und Zuckerrohr – zu Lasten der armen Landbevölkerung.

INFO-KASTEN 2:
Landkonflikte im Polochíc-Tal
Das Tal, durch das der Polochíc-Fluss fließt, liegt im Westen des Izabal-Sees. Über neunzig Prozent der Bevölkerung sind Maya Kekchí. Einige Familien haben deutsche Vorfahren. Ab dem Jahr 1865 kamen deutsche Einwanderer in die Region. Viele profitierten von der Enteignungspolitik der Regierung des bis heute als Modernisierer geltenden Präsidenten Justo Rufino Barrios, der ein Dekret durchgesetzt hat, durch das 170 Kekchí Gemeinden in der Provinz Alta Verapaz ihr Land verloren, auf dem die Deutschen dann Kaffee anbauen konnten.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Diktator Jorge Ubico von den USA gedrängt, die Besitztümer der deutschen GroßgrundbesitzerInnen zu konfiszieren. Daraufhin nahm die US-amerikanische Firma United Fruit Company große Ländereien in Polochíc-Tal in Besitz, jedoch weitgehend ohne sie je zu bearbeiten. In einer Phase revolutionärer Umbrüche verstaatlichte der demokratisch gewählte Präsident Jacobo Arbenz einen Teil dieser landwirtschaftlichen Flächen. Doch nachdem seine Regierung im Jahr 1954 durch einen von der Regierung der USA unterstützten Putsch gestürzt wurde, konnten sich einige GroßgrundbesitzerInnen dieses Land aneignen. Zu dieser Zeit tauchte der neue starke Mann des Polochic-Tals auf: Flavio Monzón regierte sechs Wahlperioden über als Bürgermeister des Städtchens Panzós. Während dieser Zeit trug er große Landstriche auf seinen Namen ein.
Die Landkonflikte verschärften sich. Am 29. Mai 1978 kam es in Panzós zu einem Massaker. Soldaten schossen auf eine Demonstration von Kleinbauern aus dem Volk der Kekchí. Sie hatten gefordert, dass das Land, das sie bewohnten, auf ihre Namen eingetragen würde. 53 Zivilisten starben. Erst im Jahr 1997 wurden die meisten Opfer des Massakers exhumiert. Sie lagen in zwei geheimen Massengräbern.
Flavio Monzón hat einen Teil seines Grundbesitzes an seine Kinder vererbt, unter ihnen Aminta Monzón. In Verhandlungen mit den LandarbeiterInnen, die auf der Finca Bella Flor lebten, erklärte sie sich bereit, ihnen das Land zu verkaufen. Doch im Jahr 2005 tauchte die Firma Chabil Utzáj im Polochíc-Tal auf. Der Unternehmer Carlos Widmann kaufte mindestens zwei Dutzend Fincas in der Region, bevor er seine gesamte Zuckerrohrverarbeitungsfabrik „Guadelupe“ von der Südküste ins Polochíc Tal transportierte. Diesen spektakulären Plan setzte er in die Tat um, um im Tal mit einer groß angelegten Zuckerrohrproduktion beginnen zu können. Unter anderem kaufte Chabil Utzáj von Aminta Monzón die Finca Bella Flor zu viel günstigeren Konditionen als es die LandarbeiterInnen ihr hätten bieten können. Daraufhin besetzten 36 Familien am 12. Oktober 2010 das Land, in der Hoffnung, dass die Regierung eine friedliche Regelung unterstützen würde.
Am 15. März eskalierte die Situation. Carlos Widmann hatte richterliche Räumungsanordnungen für 13 Fincas erwirkt. Diese wurden umgesetzt von Hundertschaften von PolizistInnen mit Unterstützung von SoldatInnen der Armee und privatem Sicherheitspersonal. Am ersten Tag kam es zu gewaltsamen Konfrontationen. Ein Landarbeiter starb und mindestens sechs wurden schwer verletzt. In den darauf folgenden Tagen wurden die restlichen Fincas ohne weitere gewalttätige Zwischenfälle geräumt.
// Andreas Boueke

Colom auf dem Kriegspfad

Schwerbewaffnete SoldatInnen an Straßensperren und Militäroperationen in Indigenendörfern – das weckt keine guten Erinnerungen in einem Land wie Guatemala, in dem der Staat über 35 Jahre die eigene Bevölkerung bekämpfte. Am 19. Dezember 2010 verhängte Präsident Álvaro Colom einen zunächst einmonatigen Ausnahmezustand über die zentral gelegene Region Alta Verapáz. Dass es ausgerechnet Colom ist, der als erster Präsident seit den Friedensverträgen von 1996 ein solches Dekret unterzeichnet, ist einerseits überraschend. Hatte er doch die Wahlen 2008 gegen den Hardliner Otto Pérez Molina nicht zuletzt mit der Aussage gewonnen, dass die Friedensverträge ihm als Leitbild einer auf sozialen Ausgleich und Wandel zielenden Politik dienten. Andererseits hatte Colom bereits vor Amtsantritt bemängelt, dass sich der Staat – und damit meinte er auch das Militär – zu weit aus zu vielen Provinzen zurückgezogen hätte. Nun, ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit, entschließt sich der Präsident zum Handeln gegen die Drogenkartelle, die den Staat und die Gesellschaft zu zerreißen drohen.
Die Kartelle schmuggeln Drogen aus der Andenregion, vor allem aus Kolumbien, in die USA, wo die meisten KonsumentInnen leben. Die Routen verlaufen über die Karibik, den Pazifik oder Zentralamerika. Guatemala bietet für den Drogentransport wichtige logistische Vorteile. Da ist zum einen die lange, kaum zu kontrollierende Grenze zu Mexiko, dessen Kartelle mittlerweile fast ein Monopol auf die Versorgung der USA mit Drogen aller Art besitzen. Hinzu kommen die ebenfalls kaum zu überwachenden Küstenlinien des „Triangulo del Norte“, des von Guatemala, Honduras und El Salvador gebildeten Dreiecks im nördlichen Zentralamerika. Die innenpolitischen Verhältnisse eben dieser Länder ermöglichen einen weitgehend unbehelligten Transport. All dies garantiert den Kartellen eine fast ungehinderte Lieferung des Kokains an die Küsten der Region, den Weitertransport vor allem durch Honduras und Guatemala und schließlich den ‚Export‘ über die mexikanische Grenze.
Zwei mexikanische Kartelle haben in den letzten Jahren ihre Macht in Guatelama stetig verstärkt: Das Sinaloa-Kartell ist schon seit Jahren vor allem in den Provinzen San Marcos und Huehuetenango präsent und kontrolliert hier die alten Verkehrswege über das Hochland und entlang der Pazifikküste in Richtung Mexiko. Das Sinaloa-Kartell arbeitet in der Region mit lokalen Familien und Kartellen zusammen. Das Wohlwollen der Bevölkerung wird durch eine Fülle von Sozialeistungen erkauft: von Jobangeboten über Existenzgründungskredite bis zum Aufkauf kleinbäuerlicher Kaffeeproduktion über dem Marktpreis, von Sportanlagen über das Sponsoring lokaler Festivals bis zu nächtlichen Patrouillen gegen Kleinkriminelle.
Auf der anderen Seite die Zetas. Erst seit ein paar Jahren versuchen sie, Guatemala in ihr Machtgebiet zu integrieren, dies aber sehr schnell, brachial und erfolgreich. Im Gegensatz zum Sinaloa-Kartell fallen die Zetas in eine Region ein, zwingen die lokalen Gruppen zur Mitarbeit oder massakrieren sie. Es gibt außer dieser diktatorischen Herrschaft kaum Beziehungen zur lokalen Bevölkerung. Mittlerweile beherrschen die Zetas die Route von Honduras über die guatemaltekischen Inlandsprovinzen Peten sowie Baja und Alta Verapaz in Richtug der Halbinsel Yucatán und Chiapas. Sie verläuft also östlich der Routen des Sinaloa Kartells.
Dass Präsident Colom den Ausnahmezustand nun für die Region Alta Verapaz ausgerufen hat und nicht für den Peten oder die Hochlandprovinzen, in denen es schon länger erheblich mehr Opfer gibt, erklären SicherheitsexpertInnen in erster Linie mit strategischen Überlegungen: Gelänge eine Vertreibung der Zetas aus Cobán, der Hauptstadt von Alta Verapaz, hätte man einen Keil in das von Narcos dominierte Terrain geschlagen, von dem man aus später ins Hochland, an die mexikanische Grenze in der Region Ixcán und in Richtung Peten, vorrücken könnte. Cobán gilt zudem als wichtiger Ausgangspunkt für Wirtschaftsprojekte wie Öl- und Gasförderung, die Palmölindustrie, Wasserkraft und Infrastrukturprojekte mit Mexiko. Diese Region könne Guatemalas mächtige Unternehmerkaste nicht aufgeben, so die ExpertInnen. Die Zetas haben zudem nicht den Rückhalt in der Bevölkerung, auf den das Sinaloa-Kartell in San Marcos und Huehuetenango zählen kann. Ebenso wie das verfeindete Kartell haben sie zwar, wie auch die lokalen DrogenbaronInnen, alle bedeutenden politischen Gruppierungen auf Ihrer Lohn- und Wahlkampfspendenliste. Doch noch verfügen sie laut Meinung der ExpertInnen nicht über die nötige Hausmacht in Politik, Polizei und Wirtschaft.
Es wird gemunkelt, dass Colom die von den Zetas kontrollierte Provinz Alta Verapaz auch deswegen für den Ausnahmezustand ausgewählt hat, weil seine Partei Unidad Nacional de la Esperanza (Nationale Union der Hoffnung, UNE) vom Sinaloa-Kartell unterstützt wurde. Allerdings warfen die Zetas Colom in ihrem Antwortschreiben auf den Ausnahmezustand vor, auch von ihnen reichlich Gelder angenommen zu haben. Der Militäreinsatz werde folglich als Verrat gewertet. Eine Racheaktion ist allerdings bislang ausgeblieben.
Nachdem es Kämpfe und Massaker in der Stadt gegeben hatte, seien die Menschen sehr erleichtert über die Militärpräsenz, erzählt Carlos Euler Coy, Mitglied der letzten Stadtregierung von Coban. Bislang beschränken sich die Soldaten laut Coy auf das Durchsuchen von Autos und einiger Häuser, so dass die Zivilbevölkerung, abgesehen von Verkehrskontrollen, nicht sonderlich behelligt werde. In der Stadt sei es ruhig, vor allem gebe es seit dem Einrücken der Armee keine Schießereien mehr. Vom Land, insbesondere aus den Gemeinden der Keqchi‘-Indigenen, würden ebenfalls keine negativen Reaktionen berichtet. Die Keqchi‘ hatten sich anfänglich sehr besorgt über den Ausnahmezustand geäußert. Militäreinsätze dieser Art wecken natürlich Erinnerungen an die schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur Anfang der 1980er Jahre.
Die Stimmung unter den Keqchi‘ bewertet Enrique Corral, Präsident der renommierten Stiftung Fundación Guillermo Toriello (FGT) in Guatemala-Stadt, allerdings etwas kritischer: Bislang gebe es zwar keine Hinweise, dass sich die Militäroperation gegen die indigene Bevölkerung und gegen soziale Bewegungen richte, aber die Militärpräsenz sorge in den Keqchi‘ Gemeinden durchaus für Unruhe. Der Grund nach Corrals Einschätzung: Die Operation wird auch dafür genutzt, um zu sehen, wo man am strategisch besten eine neue Militärbasis aufbauen könne, um die Narco-Aktivitäten zu kontrollieren. Im Gespräch ist auch eine neue Kaserne in der Gegend von Parque de Panzos. Hier gab es 1980 ein schweres Massaker an der Bevölkerung durch die Armee. Deswegen stoßen nach Meinung Corrals solche Pläne auf erheblichen Widerstand.
Um das Image des Staates durch den Ausnahmezustand nicht weiter zu beschädigen, gab es wahrscheinlich Anweisungen, auf die Zivilbevölkerung möglichst Rücksicht zu nehmen. Das ist die positive Seite. Die negative ist, so Lokalpolitiker Carlos Euler, dass es bislang kaum Ergebnisse gibt. Präsident Álvaro Colom und Innenminister Carlos Menocal erklären zwar, dass die Anzahl von Delikten im Zeitraum des Ausnahmezustandes um ein Drittel zurückgegangen sei. Bahnbrechende Erfolge sehen jedoch anders aus. Colom verlängerte den Ausnahmezustand um einen Monat, um die Narcos aus den entlegenen Gegenden der Region zu vertreiben. Die Zustimmung der Bevölkerung hat er jedenfalls, 85 Prozent sind laut einer landesweiten Umfrage für die Maßnahmen.
Bleibt die Frage, was mit dem Ausnahmezustand in Alta Verapaz erreicht werden kann. Wahrscheinlich haben die Drogenkartelle Leute in allen relevanten Institutionen des Staates. Diese Verstrickungen gelangten im letzten Jahr ans Licht der Öffentlichkeit: Anfang März 2010 wurden mit dem Chef der Nationalen Polizeibehörde (PNC), Baltazar Gómez und der Chefin der Antidrogenpolizei (DAIA), Nelly Bonilla, die Spitzen der zivilen Sicherheitskräfte festgenommen. Ihnen werden unter anderem Zusammenarbeit mit den Zetas, illegale Verhaftungen und Beteiligung an PolizistInnenmorden vorgeworfen.
Unter diesen Umständen fürchtet Sandino Asturias, Sicherheitsexperte und Chef des Guatemaltekischen Studienzentrums (CEG), dass die Kriegserklärung der Regierung Colom die gleichen Folgen haben dürfte, wie der Krieg gegen die Drogenkartelle in Mexiko. Wie in dem nördlichen Nachbarland sind laut Asturias auch in Guatemala staatliche Aufgaben im Zuge neoliberaler Reformen sträflich vernachlässigt worden. Vor allem die entlegensten und die ärmsten Provinzen des Landes sind nach Asturias‘ Meinung seit fast zwei Jahrzehnten komplett vernachlässigt worden. Unter diesen Bedingungen einseitig, wie in Mexiko, und kurzfristig, wie im Falle Cobáns, auf die militärische Karte zu setzen, hält Asturias für fatal. Er rechnet mit einer drastischen Zunahme der Todesraten, die in Guatemala im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ohnehin schon höher sind als in Mexiko. Stattdessen müsse der Staat einen integralen Ansatz suchen, der zumindest die wirksame Bekämpfung der Korruption, eine umfassende Justizreform, die Möglichkeit der Beschlagnahmung von Drogengewinnen- und vermögen, eine strenge Kontrolle von Schusswaffen und starke Beschränkung privater Sicherheitsfirmen beinhalte.
Für Enrique Corral liegt der Schlüssel zur Bekämpfung von Gewalt und Drogenkartellen nach wie vor in der Umsetzung der Friedensabkommen. Der Staat müsse endlich auf sozialer, kultureller und partizipativer Ebene Präsenz zeigen. Dass er so Terrain zurückgewinnen kann, das zeigen Beispiele auf kommunaler Ebene. Gemeinden, die progressiv und partizipativ regiert würden, seien deutlich stabiler gegenüber dem Einfall der Narcos: „Weil hier offen diskutiert wird, weil etwa Kleinbauern, Indigene und Frauen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Weil Kommunikationsstrukturen bestehen, um die Bevölkerung aufzuklären und zu warnen und Vertrauen zur Stadtregierung besteht, so dass verdächtige Vorkommnisse gemeldet werden. Weil die Lage der Bevölkerung nicht so hoffnungslos ist, dass sie unbedingt mit den Narcos zusammenarbeiten muss. Und weil eine gewisse Kontrolle der Institutionen durch die Bevölkerung besteht, so dass Amtsträger nicht so einfach für die Narcos arbeiten können.“
Ein Ausnahmezustand wie in Alta Verapaz mag populär sein, ist aber nicht die Lösung, um den Dogenkartellen und dem Verfall des Staates Einhalt zu gebieten.

Grüne Wüsten

José Luís steht im Schatten einer seiner Ölpalmen und berichtet von seiner Misere mit dieser Pflanze, die er auf vier Hektar seines Landes anbaut. Als die „neue Art von Versklavung der Kleinbauern“ bezeichnet er den Anbau, „provoziert von der Regierung“. Der Kleinbauer aus der Gemeinde Palenque, im Bundesstaat Chiapas, hatte vor zwölf Jahren begonnen, die Palme anzupflanzen, um den Lebensstandard seiner Familie zu verbessern.
Doch was mit einer vierjährigen Unterstützung der Regierung für die Errichtung und Erhaltung der Plantagen begann, ist für ihn nur noch eine Belastung. Das liegt zum einem an den hohen Wachstumsansprüchen der Pflanzen. Trotz Dünger gehe es seinen Palmen schlecht. Auch die Pflege und Ernte sei sehr mühsam und gefährlich aufgrund der Stacheln, welche die bis zu 40 Kilo schweren Fruchtstauden zieren. Ein weiteres Problem sind die Öl-Extraktionsfirmen, die Hauptabnehmer der Früchte. „Der Preis für die Früchte ändert sich oft drastisch im Wochentakt“, so José Luís. Dies lasse keine finanziellen Planungen zu. Er berichtet von Betrugsfällen beim Abwiegen der Früchte sowie dem langwierigen und mühsamen Vorgang der Auszahlung der Kleinbauern und -bäuerinnen durch die AufkäuferInnen. Als Sammelabnehmer der Früchte anderer LandarbeiterInnen weiß er, wovon er spricht: Es kam schon vor, dass die Firma ihn erst nach einem zähen Kampf die 30.000 Pesos (ca. 1800 Euro) auszahlte, mit denen er die Früchte der Bauern und Bäuerinnen aufgekauft hatte.
Momentan wird die Ölpalme in den drei südlichen Bundesstaaten Tabasco, Veracruz und Chiapas angebaut, wobei Chiapas laut Zahlen von 2008 mit geschätzten 35.000 Hektar die größte Anbaufläche und höchste Palmölproduktion stellt. Der Gouverneur von Chiapas, Juan Sabines Guerrero, setzte seit seinem Amtsantritt 2006 mit der Gründung des „Bioenergieinstitut Chiapas“ die Ausbreitung von Monokulturen für die Produktion von Agrokraftstoffen ganz oben auf seine politische Agenda. Dies betrifft außer der Ölpalme im geringeren Maße auch Jatropha und Rizinus. Die chiapanekische Regierung sieht in ihrem Bundesstaat ein Potential von 900.000 Hektar Landfläche für die Erzeugung von Biomasse, das bis 2020 erschlossen werden soll. Das würde die Umwandlung von einem Siebtel der chiapanekischen Landesfläche – vor allem in den Regenwaldregionen Palenque und Marqués de Comillas – in grüne Wüsten bedeuten. Bis 2012 ist die Ausweitung des Anbaus auf 100.000 Hektar geplant. Für die Umsetzung dieses Plans verteilt der Staat fleißig Ölpalm- und Jatrophasetzlinge an die Bauern und Bäuerinnen und organisiert Pflanzaktionen mit Schulklassen unter dem Motto „500 Kinder – 500 Jatrophabäume“.
Chiapas ist nicht nur der südlichste Bundesstaat Mexikos, sondern auch einer der vielfältigsten bezüglich seiner kulturellen und biologischen Diversität: Tropischer Regenwald, Trockenwälder, unzählige Flüsse und Wasserfälle, Lagunen und eine Vielzahl von Gemeinden verschiedenster ethnischer Hintergründe prägen das Landschafts- und Kulturbild – und neben Viehweiden und Maisfeldern nun auch die Ölpalme. Diese Plantagen grenzen in Chiapas zum Teil direkt an Gebiete mit hoher Biodiversität: die Biosphärenreservate Montes Azules, Lacantún, La Encrucijada und El Triunfo sowie die Ruinenstätten von Bonampak und Yaxchilán. Ebenso sind der Nationalpark Palenque und die Schutzräume für Flora und Fauna Chan Kin, Nahá und Metzabok betroffen. Die Ausbreitung der Monokulturen bedeutet hier die Zerstörung der Biodiversität, denn wo nur noch eine einzige Pflanzenart ein Gebiet dominiert, kann nur eine geringe Zahl von Tier- und Pflanzenarten koexistieren – das ökologische Gleichgewicht fällt in sich zusammen. Auch die Anwendung von Dünger und Pestiziden stellt eine große Gefahr für die empfindlichen Ökosysteme dar.
In Mexiko ist die traditionelle Milpa, ein schon von den Maya betriebenes Landwirtschaftssystem für die Subsistenz mit dem Mischanbau von Mais, Bohnen und Kürbis, weit verbreitet. Doch dort wo Flächen für den Anbau von Nahrungsmitteln in Monokulturwüsten umgewandelt werden, ist die Ernährungssouveränität der Kleinbauern und -bäuerinnen gefährdet, denn dadurch wird dieser traditionelle Anbau der ebenso traditionellen Nahrungsmittel vernachlässigt oder gar verdrängt. Die LandarbeiterInnen, die Ölpalmen anstelle von Nahrung anbauen, sind gezwungen, immer mehr Lebensmittel zu kaufen und sind somit umso mehr von den Schwankungen des Weltmarktpreises für den Verkauf der Ölpalmfrüchte abhängig. Auch kann eine solche Plantage nicht einfach über Nacht gerodet und der Boden neu genutzt werden – denn die Wurzeln der Ölpalme reichen wegen ihres hohen Wasserbedarfs sehr tief und hinterlassen den Boden ausgelaugt und verhärtet für mehrere Jahrzehnte.
Gleichwohl denken nicht alle Kleinbauern und -bäuerinnenin Chiapas so wie José Luís. Bei einer Umfrage der chiapanekischen Nichtregierungsorganisation Hölzer des Volkes im Südosten kam heraus, dass die Mehrheit der Ölpalmbauern und -bäuerinnen gar nicht so unzufrieden mit ihrer Situation ist. Es sei nicht viel, was er verdiene, aber es sei besser als mit dem Anbau anderer Pflanzen, so Miguel Angel, der seine Ölpalmen auf fünf Hektar direkt neben den Wasserfällen von Weli-Ha in der Region um Palenque anbaut. In der Nähe der Plantage betreibt er weiterhin seine Milpa. „Die Früchte der Palme kann man leider nicht essen“, begründet er dies. Gustavo, ein weiterer Kleinbauer aus der Region, erklärt, dass die Arbeit auf seiner Plantage nur während der Erntezeit hart sei. Und auch wenn der Preis für die Abnahme sehr schwankend sei, so lohne sich der Verkauf der Früchte dennoch und verbessere sein Einkommen.
In der Region um Palenque haben viele ehemalige ViehbesitzerInnen ihre Weideflächen mit den Palmen bepflanzt, weil der heimische Fleischmarkt von den billigen Fleischimporten aus Guatemala und den USA verdrängt wurde. Zudem wird die Errichtung von Palmplantagen staatlich gefördert: In den ersten zwei bis vier Jahren erhalten die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen Unterstützung in Form kostenloser Bereitstellung von Setzlingen, Düngern und Pestiziden.
Was geschieht, wenn kleinbäuerliche Gemeinden der mexikanischen Regierung bei ihren Plänen für die Landnutzung im Weg stehen, zeigte sich im Januar 2009 im Lacandona-Wald in Chiapas: Mit 16 Hubschraubern und Hunderten SoldatInnen und PolizistInnen vertrieb die Staatsmacht 20 indigene Familien aus zwei Dörfern. Die BewohnerInnen mussten für die Ölpalme und den boomenden Ökotourismus Platz machen.

KASTEN:
Die ölpalme
Die Ölpalme (Elaeis guineensis) kommt ursprünglich aus Afrika und hat sich in den letzten Jahrzehnten wegen des hohen Ölgehalts ihrer Früchte und Samen zu der wirtschaftlich bedeutendsten Palmenart entwickelt. Malaysia und Indonesien sind mit 85 Prozent der Produktion die Hauptanbauländer.
Der Großteil des aus der Frucht gepressten Öls wird zu Salat- und Kochöl sowie Margarine weiterverarbeitet, ein weiterer Teil zu Kosmetik, Seifen und Kerzen. Auch das Fett in den Süßigkeiten stammt meistens von dieser Pflanze. Ein noch geringer, jedoch wachsender Anteil Palmöl wird derzeit für die energetische Nutzung verwendet. In Deutschland wurden beispielsweise 2008 450.000 Tonnen Palmöl in Blockheizkraftwerken verfeuert, das entspricht ungefähr der Hälfte des in Deutschland verbrauchten Palmöls.
// BW

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