Lebendig begraben

Zwei Bücher wurden MRTA-Chef Víctor Polay Campos von den Gefängnisaufse­hern nicht ausgehändigt: Die Memoiren von Winston Chur­chill und die peruanische Verfas­sung. Denn politische Bücher dürfen die Ge­fangenen der MRTA ebensowe­nig lesen wie Zeitungen und Magazine. Auch bei Besuchen von Verwandten müssen politi­sche Themen aus­geklammert werden, ansonsten wird das Ge­spräch sofort von den mithören­den Wärtern abge­brochen.
Insgesamt gibt es in Peru 4.000 Gefangene, denen Terro­rismus-Delikte vorgeworfen wer­den. Mehr als 400 von ihnen sind Mitglieder der MRTA. Eine ge­naue Zahl, wieviele als Terro­risten einsitzen, allerdings mit der Guerilla nichts am Hut ha­ben, existiert nicht. In einigen Gefängnissen, wie dem Ma­rine­ge­fängnis von Callao bei Lima, wird den MRTA-Gefang­enen ei­ne Sonderbehandlung zuteil. Die Gefangenen von Sen­dero Lumi­no­so leben in Callao unter weitaus besseren Bedin­gungen als die MRTA-Mitglie­der. Sen­dero-Chef Abimael Guzmán hatte mit der Regierung von Prä­sident Alberto Fujimori ein Frie­densabkommen unterzeichnet. Seit­her kann er tagsüber soviel Zeit im Hof verbringen wie er will, auch ist seine Zelle größer.
Die MRTA-Gefangenen hin­gegen sind in Zellen, die für zehn Gefangene gebaut wurden, mit bis zu 30 anderen Häftlingen eingepfercht. Andere, so berich­ten Familienangehörige, leben zu dritt auf vier Quadratmetern Ge­fängniszelle. “Sie können nur überleben, weil sie zusammen sind”, kommentiert eine Mutter. Sie will – wie die meisten Ange­hörigen – aus Furcht vor Re­pressalien nicht mit Namen ge­nannt werden.

Keine Arbeit, kein Sport

Zudem können die Gefange­nen nur eine halbe Stunde am Tag auf den Hof, um sich zu be­wegen und Luft zu schnappen. UNO-Richtlinien sehen ein bis zwei Stunden Hofgang am Tag vor. Viele der Inhaftierten leiden an Tuberkulose und sind unter­ernährt. “Denjenigen, die wegen Terrorismusdelikten angeklagt sind, wird außerdem jede Art von Arbeit verweigert. Sie dür­fen nicht in den Gefängniswerk­stätten arbeiten, auch sind sie von Sportveranstaltungen ausge­schlossen”, weiß Francisco Soberón Garrido von der perua­nischen Menschenrechtsorgani­sa­tion Pro Derechos Humanos (APRODEH).
Im Gegensatz zu gewöhnli­chen Gefangenen, die dreimal in der Woche Besuch empfangen kön­nen, ist dies den “terro­ristischen Gefangenen” nur ein­mal im Monat gestattet. Die ein­zigen, die dann Zugang zu ih­nen erhalten, sind enge Ver­wandte. Die gesetzlich auf eine halbe Stunde festgelegte Be­suchszeit wird außerdem auf zwanzig Mi­nuten verkürzt. Freun­de haben keine Möglich­keit, eine Besuchs­erlaubnis zu bekommen. Und den Kindern der Inhaftierten ist es nur alle drei Monate gestattet, ihren Va­ter oder ihre Mutter zu besuchen. Auf beiden Seiten der Glastrenn­scheibe passen Wärter auf, was bei den Besuchen ge­sprochen wird.

Verschärfte Bedingungen seit der Geiselnahme

In Reaktion auf die Geisel­nahme in Lima hat die Regie­rung die Haftbedingungen der MRTA-Gefangenen für unbe­stimm­te Zeit verschärft und die Besuchsprogramme “in allen ih­ren Formen” außer Kraft gesetzt, wie der Regierungsbeauftragte für die Geiselnahme, Erzie­hungsminister Domingo Pa­lermo, mitteilte. Das bedeutet, daß die betreffenden Häftlinge überhaupt keinen Besuch mehr empfangen können. Auch dem In­ter­nationalen Komitee des Roten Kreuzes wurde der Zutritt verwehrt. Das Rote Kreuz ist die einzige Organisation, die sonst zu den Gefangenen Zugang hat. Die Regierung fürchtet, daß die Familienangehörigen Nachrich­ten über die Residenzbesetzung zu den Gefangenen tragen könn­ten, was bei dem enormen Si­cher­heitsaufwand nicht mög­lich ist. Die Repressionsmaß­nahme der Regierung macht den An­ge­hö­rigen Angst. Denn die MRTA-Gefangenen sind da­durch von jedem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten wor­den. Niemand weiß, was in den Gefängnissen passiert.
Die Aussetzung des Besuchs­rechts gilt auch für den MRTA-Kommandanten Víctor Polay Cam­pos. Er wird auch sonst in dem berüchtigten Marinegefäng­nis von Callao einer” Sonderbe­handlung” unterzogen, “wie sie außer ihm nur noch zwei anderen MRTA-Gefangenen zuteil wird”, sagt seine Mutter Otilia Campos de Polay im Gespräch mit den LN. Zusammen mit anderen türm­te Victor Polay 1990, nur ein Jahr nach seiner Verhaftung, durch einen Tunnel aus dem Ge­fängnis. Nach zwei Jahren wurde er allerdings erneut festgenom­men.

Inhaftiert bei minus 15 Grad

Nach dieser zweiten Verhaf­tung saß Polay zuerst in dem Hochsicherheitsgefängnis Ya­nama­yo in der Provinz Puno. Yanamayo liegt 4.000 Meter über dem Meeresspiegel, die Temperatur kann nachts bis auf minus 15 Grad sinken. “Es gibt dort große Probleme mit der Heizung”, erzählt Francisco Soberón. Außer Polay sind dort noch andere MRTA-Angehörige untergebracht. “Das Gefängnis liegt sehr weit weg von Lima. Um dahin zu kommen, muß man ein Flugzeug nehmen, was sich viele Verwandte nicht leisten können”, erzählt Otilia Campos de Polay.
Als das Marinegefängnis in Lima fertiggebaut war, wurde Victor Polay dorthin verlegt. Doch zuvor wurde er, so seine Mutter, zusammen mit einem weiteren MRTA-Kommandan­ten, Peter Cárdenas, gefoltert. Beide bekamen Elektroschocks an Kopf und Geschlechtsorga­nen. Polay wurde außerdem die linke Schulter gebrochen. Im Flugzeug von Yanamayo nach Lima “öffneten ihre Bewacher eine Türe und drohten beide le­bendig aus dem Flieger zu wer­fen”, schildert Otilia Campos. Hinterher prahlten die Militärs, einer der beiden hätte sich vor Angst in die Hose gepinkelt. Am Flughafen in Lima angekommen, präsentierten sie die Gefangenen, wie es in Peru üblich ist, in einer Art Raubtierkäfig der Presse.

Ein Loch für Licht und Luft

Im peruanischen Fernsehen wurde später das frisch einge­weihte Marinegefängnis gezeigt: Die Zellenwände sind 60 Zenti­meter dick. Die Zelle Polays mißt zwei mal vier Meter, darin befinden sich Latrine und Bett. An der Decke soll ein 15 Qua­dratzentimeter großes Loch Licht und Luft in die Zelle lassen. In der Zelle gibt es kein Wasser, so daß Polay, nachdem er auf dem Klo war, einen Wärter bitten muß, von außen auf den Spül­knopf zu drücken.
“In dieser Zelle verbringt Victor dreiundzwanzigeinhalb Stun­den seines Tages”, so seine Mutter. Eine halbe Stunde Hof­gang wird ihm täglich gewährt. Von den anderen Gefangenen wird er abgeschirmt, auch die Wärter sprechen kein Wort mit ihm, sie sehen ihn noch nicht mal an. “Wenn man ein Tier so behandeln würde, würde es bald sterben”, meint Otilia Campos de Polay. “Nur Menschen können das überleben, da sie nicht ster­ben wollen.”

Lückenlose Überwachung

Ganze 14 Monate hat es ge­dauert, bis Otilia Campos de Polay, ihren Sohn im Gefängnis von Lima besuchen durfte. Seit­her werden ihr jeden Monat 30 Minuten Besuchszeit gestattet. Die Besuche finden hinter einer Trennscheibe statt, die Stimmen sind nur über Lautsprecher zu hören. Die ganze Zeit stehen Wärter auf beiden Seiten und passen auf, daß die beiden nicht mit Gesten geheime Informatio­nen austauschen.
Wie andere Mütter bringt Otilia Campos de Polay ihrem Sohn bei jedem Besuch ein Es­senspaket mit ins Gefängnis. Oft dauert es recht lange, bis die Pa­kete die Wachen passieren und den Gefangenen ausgehändigt werden. “Im Durchschnitt gibt die Regierung einen Sol (zirka 45 Pfennige) bis anderthalb So­les am Tag für das Essen der Ge­fangenen aus”, schildert Fran­cisco Soberón. Dementsprechend fällt das Menü aus: Am Morgen gibt es Kräutertee, zum Mit­tagessen eine Suppe, meist Kar­toffelsuppe, und zum Abendes­sen einen heißen Tee. Ohne Es­senspakete von Angehörigen ist so kaum zu überleben.
Auch die medizinische Be­handlung läßt zu wünschen üb­rig. Die Behörden sperren sich regelmäßig gegen Behandlun­gen, die außerhalb des Gefäng­nisses vorgenommen werden müssen. Es gibt Streitereien über die Termine, die die Ärzte den gefangenen Patienten setzen. In den Krankenhäusern kommt es schon mal vor, daß die politi­schen Gefangenen an ihr Bett gekettet werden.
Eine Besserung der Haftbe­dingungen ist nicht in Sicht. Prä­sident Alberto Fujimori präsen­tierte die verhafteten MRTA-Mitglieder auf dem Silbertablett der Öffentlichkeit, um seine Wiederwahl zu sichern. Gebets­mühlenartig wiederholen er und sein Beauftragter für die Geisel­nahme in der Residenz der japa­nischen Botschaft, daß eine Freilassung der MRTA-Gefan­genen auf keinen Fall in Frage komme. Beschwerden der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS), der UNO und verschie­dener Menschenrechtsorganisa­tio­nen ließen Fujimori unbeein­druckt. Forderungen nach Ver­besserung der Haftbedingungen hat er stets ignoriert.

Editorial Ausgabe 272 – Februar 1997

Durch die Besetzung der japanischen Botschafterresidenz in Lima rückte die peruanische Guerilla MRTA unerwartet ins Rampenlicht. Das Medienspektakel legte den Vergleich mit der EZLN nahe, deren Aufstandsbeginn sich diesen Januar zum dritten Mal jährte. Der Medienpräsenz wegen ist gelegentlich von einer neuen Qualität bewaffneter Erhebungen die Rede, ja es hat sogar den Anschein, als sei die globale Öffentlichkeit wichtiger als die lokale Aktion. Aber EZLN und MRTA lassen sich nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen.
Außer der Freisetzung des guatemaltekischen Botschafters -mit Blick auf das dortige Friedensabkommen im Dezember 96- ist der MRTA bisher kein symbolträchtiger Coup gelungen. Ihre Aktion erinnert an die siebziger Jahre und wirkt heute anachronistisch. Sie ist aus ihrer Sicht verständlich als Versuch, die gefangenen Mitglieder aus unmenschlichen Haftbedingungen freizupressen, aber eine Utopie, darin besteht weithin Konsens, ist so nicht mehr umsetzbar. Der zeitgleich abgeschlossene Friedensvertrag in Guatemala spricht eine andere Sprache, die mit der Botschaftsbesetzung wenig gemein hat.
Die EZLN verkörpert hingegen einen neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. Sie unterscheidet sich sowohl in verbaler als auch politischer Praxis von anderen Guerillas. Ihr ging es von vornherein nicht primär um Kriegsgebaren und militärische Siege, sondern um friedliche Lösungen, bei denen die Zivilgesellschaft mobilisiert und in einen Prozeß grundlegender Demokratisierung einbezogen werden sollte.
Die Zapatisten in Chiapas bedienten sich in schneller Folge unterschiedlicher Strategien, ohne je im Dogmatismus zu verharren. Sie führten neue Werte in die politische Kultur ein, die auf die Formel “Ethik statt Linientreue” zu bringen wären. Ihr ging es um eine “gehorchend be-fehlende” Gemeinschaftsdemokratie. Von der MRTA ist sie damit ähnlich weit entfernt wie von der EPR im mexikanischen Guerrero.
Der dynamische Vorstoß der EZLN entspricht jedoch nicht ihrem konkreten politischen Erfolg. Die Zivilgesellschaft hat sich nicht in dem erwarteten Maße in einer zapatistischen Bewegung engagiert. Wenngleich der Widerhall in aller Welt enorm ist- es bleibt eine ent-täuschte Hoffnung, enttäuscht sowohl von der Unbeweglichkeit politischer Eliten als auch von mangelndem praktischen Engagement der “Massen”.
Aber auch die politisch mobilisierten Indigenas sehen pressen, aber eine Utopie, darin besteht sich immer wieder schwerstens getäuscht kein Wunder angesichts der Ausdauer, mit der die Verhandlungen von Regierungsseite behindert und Übereinkünfte und mißachtet werden.
Das Rückzugsgefecht der MRTA vermag als politisch-kämpferische Strategie neuen Ansatz von Aufstandsbewegung. nicht zu überzeugen. Die Utopie einer partizipativen, gerechten Zivilgesellschaft, die die EZLN aufgriff, ist hingegen nicht überlebt. Aber der Versuch, sie ausgehend von Chiapas in die Wirklichkeit zu übersetzen, scheint vorerst nicht zu gelingen. Wohin mit der Hoffnung?

Ein Präsident unter Zugzwang

Was ist passiert? Ein Kom­mando einer Guerillaorganisa­tion, deren Untergang von Präsi­dent Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die di­plomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Bot­schafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phan­tasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaff­neten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fuji­mori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Ka­pitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Gei­seln sind teilweise international und/oder prominent, Medienin­teresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.

Und es gibt sie doch

Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine unterge­ordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Ausein­andersetzung mit Sendero kul­minierte 1993 in einer großen In­szenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsen­tierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Er­folg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbeset­zung der MRTA aber läßt Fuji­mori wie einen Schwergewichts­boxer erscheinen, dem ein wen­diges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentli­chen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie die­ser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er we­nigstens beim Ausgang der Gei­selnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Ent­scheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder aus­ländische Spezialeinheiten kön­n­ten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklär­ten japanischen Willen das Ge­lände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zu­künftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmög­lich machen würde. Kein Wun­der, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzich­tet.
Wenn keine gewaltsame “Lö­sung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Op­tionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jeden­falls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Priori­täten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselneh­mer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könn­ten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzep­table Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-Mitkämpf­er­In­nen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Ge­fangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil ge­flogen. Abgesehen vom prinzi­piellen Problem, keine Nachah­mungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Re­gierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wür­den die Freigelassenen im Exil­land bleiben und vielleicht ein­mal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Gei­selnehmer sich der Tatsache be­wußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwär­tig auch keine Zukunftsaussich­ten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirk­lich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen kon­kret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse ver­breitet wurde, ist von unverbind­licher Allgemeinheit. Nicht ein­mal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Er­fahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ih­rem kompromißlosen Kampf da­für, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, son­dern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Ein­fluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen De­partement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Haupt­stadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minder­heit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unter­stützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der ein­zig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehr­heit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ih­rem “Glück” gezwungen werden sollten.

Guerilla ohne Zukunft?

Die MRTA dagegen, orien­tiert an den revolutionären Er­fahrungen in Kuba und Mittel­amerika, war aus ihrem Ver­ständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewie­sen, die Massen wirklich zu ge­winnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozi­stische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minder­heit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesell­schaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Ba­sisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Op­tion dagegen setzen wollte. Wäh­renddessen befand sich die Ver­einigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Ein­flusses und sammelte einen großen Teil des linken Spek­trums in ihrem Umfeld. Vorherr­schend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Eini­gung der Linken in einem Wahl­bündnis, en vogue war Selbstor­ganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal al­ler traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Be­deutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Ge­genteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwi­schen Militär und Polizei, Sen­dero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereit­schaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliede­rung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exil­regelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terror­isten” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fu­jimori bei der letztlichen Ent­scheidung über das weitere Vor­gehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interes­sen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Be­setzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochris­kantes Spiel. So, wie es zu Re­daktionsschluß dieser Ausgabe aus­sieht, könnte nur ein Ver­hand­lungskompromiß zwischen Re­gierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Be­set­zung sorgen.

KASTEN

Die MRTA – wer ist das und was will sie?

Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhän­gig von ausländischem Kapital ist, das will die Mo­vi­miento Revolucionario Tupac Amaru (Re­vo­lu­tionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitge­gründet, ide­ologisch in der Tradition von Kuba und Mit­tel­amerika stehend, kämpft die MRTA seit über ei­nem Jahrzehnt gewaltsam gegen den pe­ru­a­ni­schen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Re­volution münden, die als Teil der Weltrevolu­tion…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Ama­ru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschie­dener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revo­lu­tionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantrei­ben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Ge­werkschaften und durch Gründungen von Nach­barschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Pe­rus: Im November und Dezember 1988 wurden ver­schiedene Dörfer, hauptsächlich im Departe­ment San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktio­nen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kund­gebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen in­formiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. No­vember 1988 die Präfektur von Lima mit Rake­tenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft statt­gefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidi­gungsminister General Albujar auf offe­ner Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem ent­führte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-ame­rikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Ver­fü­gung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Gue­rilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Ver­teilungen von Lebensmitteln in den Armen­vier­tel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zu­sam­men mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hoch­sicherheitsgefängnis von Lima; einer der spek­takulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jah­ren.
Während des Wahlkampfes um die Präsident­schaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstan­den.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 ge­wonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung al­ler progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Lumi­noso hingegen bezeichnete die MRTA als kon­ter­re­volu­tionär, als zuwenig radikal, so wie alle Or­ga­nisa­tionen, die sich nicht Sendero unter­ordnen woll­ten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Ver­fassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anfüh­rer der MRTA Victor Polay Campos wieder fest­ge­nom­men.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft ver­urteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, über­nimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des ja­panischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill

“Die Regierung Fujimori befindet sich mit dem Rücken an der Wand”

Warum hat das MRTA ausge­rechnet die japanische Bot­schaft ausgewählt?

Japan ist heute eine wirt­schaftliche Macht, die eine wichtige Rolle in der internatio­nalen Politik und besonders auch in Lateinamerika einnehmen will. … [Japan] betrachtet Fuji­mori als seine Speerspitze. In der Folge entstand ein Interessen­konflikt zwischen den USA und Japan in Peru. Daher hat Japan, um seine Stellung in Peru zu fe­stigen und auszubauen, auch den schmutzigen Krieg finanziert. Der japanischen Regierung war es auch gleichgültig, daß zwei japa­nische Ent­wicklungshelfer durch Paramilitärs ermordet wur­den. Sie ist tief verwickelt in die Unterstützung dieses mörde­rischen Regimes. Daher hat die Nationale Leitung der MRTA beschlossen, an der Stelle zuzu­schlagen, die der Diktatur die größten Schmerzen zubereiten würde.

Wird die Aktion in der Bot­schafterresidenz die Machtbasis Fujimoris konsolidieren, oder Spaltungen hervorrufen?

Die Regierung Fujimori be­findet sich mit dem Rücken an der Wand. Alle, die mit der Re­gierung zusammenarbeiten, Un­ternehmer, Politiker oder Mili­tärs, sind sich nun im klaren dar­über, daß ihre Integrität in Ge­fahr ist. Sollten sie einmal Kriegsgefan­gene der MRTA sein, wird diese Regierung nichts für ihr Leben tun.

Welche Größe hat die MRTA heute?

Zahlen kann ich aus Sicher­heitsgründen nicht nennen. Aber unsere Kräfte sind im gesamten Land präsent. Die MRTA ist auf verschiedenen Ebenen organi­siert. Es gibt Einheiten in ländli­chen Gebieten, Spezialeinheiten, Kommandos und Milizen. Ge­mäß unserer Vorstellung sind unsere Mitglieder auch vielfältig aktiv, in der Propaganda, als Gewerkschaftsaktivisten, in so­zialen Bewegungen und als Gue­rilla.

Die peruanische Regierung und besonders Präsident Fuji­mori hatten ihren Sieg über die Guerilla in Peru verkündet. Das entspricht ganz offensichtlich nicht der Wahrheit?!

Ja, die Regierung Fujimori hat sich als der große Sieger über die bewaffneten Bewegungen darge­stellt. Dabei haben besonders zwei Faktoren eine Rolle ge­spielt: erstens, daß Abimael Guzman einen Friedensvertrag mit der Regierung unterschrie­ben hat und zweitens der takti­sche Rückzug der MRTA. We­gen der großen militärischen Of­fensiven der peruanischen Ar­mee und der Repression der Be­völkerung, beschlossen wir den Großteil der politischen und mi­litärischen Strukturen auf die ländlichen Gebieten im Zentrum Perus, in der Selva Central, zu konzen­trie­ren. Im rest­lichen Land blieben nur Kommando- und Milizstrukturen, die eine in­tensive politische und organisa­torische Arbeit in Stadtteilen, mit Bauern und mit Arbeitern, durchführten. Das hat die Regie­rung zu der trügerischen Ein­schätzung geführt, daß die Gue­rillabewegungen, vor allem die MRTA, besiegt worden seien. Heute sieht sich die Regierung der Situation gegenüber, daß die MRTA nie so angeschlagen war, wie es der Staat glaubte. Das hat sich auch in der Anzahl von Ak­tionen des MRTA auf dem Land gezeigt, mit denen der Armee harte Schläge versetzt wurden. Die Regierung hat versucht, das zu vertuschen, aber es ist ihr nicht gelungen. Der Bevölkerung ist klar geworden, daß die Regie­rung die Guerilla nicht besiegt hat und daß die neoliberale Poli­tik nur noch mehr Armut verur­sacht. Seit Ende ’95 ist sie dabei langsam ihre Organisierungs- und Mo­bilisierungsfähigkeit wie­der zurückzuerobern.

Auch Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) soll sich in einigen Gegenden reorganisiert haben, militärisch aktiv sein und sogar seine Linie geändert haben.

Der Friedensvertrag hat zu ei­nem schwerwiegenden Spal­tungsprozeß innerhalb von Sen­dero geführt. Der Teil, der den bewaffneten Kampf fortsetzen will, hat Aktionen der bewaffne­ten Propaganda und Kontakt mit der Bevölkerung durchgeführt, wie sie Sendero bei der MRTA früher kritisiert hat. Aber trotz der scheinbaren Korrektur ihrer politischen Methoden, setzt Sen­dero auch seine traditionellen Methoden weiterhin ein. So etwa die Ermordung des Gewerk­schafters Pascual Arozado im März ’96. Die Angriffe auf alle, die sich ihnen entgegenstellen oder einfach nur nicht mit ihnen übereinstimmen, werden fortge­setzt. Es gibt innerhalb von Sen­dero Luminoso einen Kampf zwischen zwei Linien. Die eine will begangene Fehler korrigie­ren und sich auf die Seite der Revolution stellen, die andere will die Aktionen fortsetzen, die in der Praxis mit der Politik der Regierung übereinstimmen.

Wie ist das augenblickliche Verhältnis zwischen Sendero und der MRTA? In der Vergan­genheit soll es sogar Angriffe von Sendero auf die MRTA ge­geben haben.

Sendero ist eine sehr aus­schließende Kraft, sie sehen ihre Ideologie als die einzig Wahre an und empfinden sich als allei­nige Fahnenträger der peruani­schen Revolution. Daher haben sie auch nie die Existenz anderer revolutionärer Organisationen akzeptiert. Sendero hat uns häu­fig als Hauptfeind betrachtet und sogar Hinterhalte für MRTA-Einheiten gelegt und MRTA-Genossen brutal gefoltert. In Fall des MRTA-Comandante Carlos Arrango war ein ganzes Dorf Zeuge seiner Ermordung durch Sendero. Arrango hielt sich heimlich in einem Dorf auf, das von Sendero besetzt wurde. Als sie ihn als MRTA-Comandanten erkannten, folterten sie ihn erst brutal, rissen ihm die Augen, die Zunge und die Hoden raus, bevor er starb. Das sind Verbrechen, die in keiner Weise verstanden oder gerechtfertigt werden können und widersprechen dem Vorge­hen von Revolutionären.

Wie sind die Perspektiven für die MRTA?

Die MRTA ist als eine Bewe­gung entstanden. In ihr kommen verschiedene
soziale Sektoren des Landes zusammen: Frauen und Männer aus der Stadt und vom Land, Intellektuelle, Gläu­bige usw., die gesamte Gesell­schaft. Wir sind Kinder des Vol­kes, bestehen aufgrund des Vol­kes und vertreten seine Interes­sen. Natürlich verlangt die Transformation einer Gesell­schaft die Zerstörung des alten Staates und den Aufbau eines neuen. Das bedeutet, daß man die Macht übernehmen muß. Wenn du wirklich die Probleme der Bevölkerung lösen willst, mußt du den Staat zerstören und die Macht übernehmen. Aber sie muß dann in den Händen der Ar­beiter von Stadt und Land liegen. Es muß eine partizipative Demo­kratie geben, Mechanismen der Volksmacht müssen hervorge­bracht werden. Und das prakti­zieren wir seit Jahren.

Friedensschluß in Guatemala

Der Wind hat sich gedreht. Als Anfang Dezember 1996 das deutsche Projekt zur Begleitung der Rückkehr der guatemalteki­schen Flüchtlinge CAREA und die Informationsstelle Guatemala wieder einmal hiesige Abgeord­nete um ihre Unterschrift baten, um in einer bezahlten Pressean­zeige vor der Regierung in Gua­temala gegen die drohende Ent­kräftung des Rückkehrvertrages mit den Flüchtlingen zu prote­stieren, war die Resonanz bei ei­nigen bewährten Ansprechpart­nerInnen verhalten: Jetzt müsse das Protestieren doch mal ein Ende haben, schließlich stehe man kurz vor dem Friedens­schluß…
Auch das deutsche Fernseh­publikum war am 29. Dezember 1996 Zeuge der Feierlichkeiten zur Unterzeichnung des “Ab­kom­mens über einen festen und dau­erhaften Frieden” in Gua­te­ma­la-Stadt, das den seit 36 Jah­ren andauernden Konflikt been­det. Zutiefst bewegende und op­ti­mistisch stimmende Bilder: Die vier Kommandanten der Guerilla Re­volutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) werden von Basisorganisationen und Gue­rilla-Einheiten am Flug­hafen em­pfangen, ein langer Marsch im Gedenken an die über 150.000 Opfer führt zum Fried­hof der Hauptstadt; Treffen, Umarmun­gen und Freude über das Wieder­se­hen. Verbrüderung auch zwi­schen der Guerilla und hoch­ran­gigen Militärs, und schließlich der letzte große Auf­tritt Boutros Boutros Ghalis, der den Frie­dens­vertrag vor zirka 1000 ge­la­de­nen Gästen unter­zeichnete. Etwa 1,7 Millionen US-Dollar ließ sich die Regie­rung die Fei­er­lich­keiten kosten, etwas mehr als ein Viertel der Summe, die sie für 1997 zum Erwerb von drin­gend benötigtem Land für meh­re­re zehntausend Rückkehrer, Land­lose und intern Vertriebene vor­sieht.
“Der Frieden muß durch eine partizipative sozioökonomische Entwicklung untermauert wer­den, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist”, heißt es in Punkt sechs des Friedensab­kommens. Entwicklung erfor­dere soziale Gerechtigkeit sowie nachhaltiges Wirtschaftswachs­tum. Ehrenwerte Ziele: Landes­weit gelten gegenwärtig 75,5 Prozent der Haushalte als arm bis extrem arm, im ländlichen Raum bis zu 94 Prozent. Gua­temala weist immer noch eine der ungerechtesten Landvertei­lungen Lateinamerikas auf, der Mindestlohn in der Landwirt­schaft liegt heute mit knapp 3 US-Dollar pro Tag unter dem von 1980. Auch das ebenfalls am 29. Dezember unterzeichnete Abkommen zum Zeitplan der Umsetzung der Friedensverein­barungen schweigt sich über konkrete Mechanismen aus, “sozialen Gerechtigkeit” erreicht werden soll. Es betont lediglich die Notwendigkeit, jegliche Vor­haben “mit Vorsicht und Reali­tätssinn” anzugehen. Nicht nur Celso Cuxil zweifelt daher als Vertreter der Widerstandsdörfer (CPR) am Durchsetzungswillen der Regierung: “Schon jetzt kämpfen wir mit der Regierung um die Einhaltung des Abkom­mens über die vom Konflikt entwurzelte Bevölkerung. Wer garantiert uns, daß sie die ande­ren Abmachungen einhält?” Un­terdessen wurden in den ersten Wochen dieses Jahres erneut eine gewalttätige Räumung so­wie zwei Morde an Bauern be­kannt, die sich für die Wieder­erlangung von widerrechtlich enteignetem Land einsetzten.

Amnestie: Die Verbrechen bleiben unge­straft

Aber nicht nur die wirtschaft­lichen Sorgen trüben bei der großen Mehrheit der Bevölke­rung die allgemeine Erleichte­rung über das Kriegsende. Seit Präsident Arzús Partei des Na­tionalen Fortschritts (PAN) und die Ultrarechten von Ríos Montts Republikanischer Front Gua­temalas (FRG) Mitte Dezember in nur zwei Tagen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” durch den Kongreß peitschten, wurde auch die Hoffnung auf ein Ende der im Land herrschenden Straflosigkeit geschmälert. Die Verantwortlichen für die politi­schen Morde, die Massaker, Vertreibungen und weiteren schweren Menschenrechtsverlet­zungen in den letzten 36 Jahren bleiben vermutlich unbehelligt.
Das Gesetz war in erster Li­nie notwendig geworden, um recht­zeitig zur Friedensunter­zeich­nung die Voraussetzungen für eine Amnestie der Guerilla zu schaffen. Das Abkommen zur Wie­dereingliederung der URNG-Käm­pferInnen bildet dafür die Grundlage. Nun sieht das Gesetz aber vor, daß auch für den Staat, das Militär und deren Helfershel­fer bei Delikten jeglicher Art, die aus politischen Motiven began­gen wurden, eine Amnestie gel­ten soll. Zwar sollen die Tatbe­stände Genozid, Folter und ge­waltsames Verschwindenlassen sowie – gemäß dem internatio­nalen “Vertrag über die Unver­jähr­barkeit von Verbre­chen ge­gen die Menschlichkeit” – auch Mas­saker und außerge­richtliche Hin­richtungen von der Amnestie aus­genommen werden. Inter­na­tio­nale Verträge aber sollen laut Ge­setzestext nur dann zur An­wen­dung kommen, wenn sie bereits ratifiziert sind, und das ist bei dem genannten Ver­trag nicht der Fall. Anwaltskreise sind sich da­her einig, daß das in sich völ­lig unschlüssige Gesetz kaum eine rechtliche Grundlage zur ef­fektiven strafrechtlichen Verfol­gung der Täter bietet.
Diese Regelung wirft einen dunklen Schatten auf die Zukunft und spottet der jahrelangen Ar­beit verschiedenster Menschen­rechtsgruppen. Seit 1990 ver­sucht beispielsweise Helen Mack gerichtlich gegen zwei Armee­generäle als Drahtzieher des Mordes an ihrer Schwester, der Anthropologin Myrna Mack, vorzugehen. Sämtliche Be­mühungen wurden bislang mit dem Argument abgewiesen, es habe sich um ein allgemeines Verbrechen gehandelt, der Täter säße bereits in Haft. Nun reichte der Anwalt der Generäle einen Amnestieantrag ein. Begrün­dung: Da die Klägerin darauf be­stehe, der Mord sei aus politi­schen Motiven begangen wor­den, müßte nach dem neuen Ge­setz der Mörder straffrei ausge­hen. Daher beantrage er auch Amnestie für den bereits ver­hafteten Täter. Der Bock wird zum Gärtner. Der zuständige Staatsanwalt erklärt, die Amne­stieregelung fände auf den Fall Myrna Mack keine Anwendung, da diese nachgewiesenermaßen nicht der Guerilla angehörte. An­fang Januar legte die 1996 als breites Menschenrechtsbündnis gegründete “Allianz gegen Straf­freiheit” Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz ein. Der Ober­ste Gerichtshof allerdings ent­schied bereits, daß die Be­schwer­de keine aufschiebende Wir­kung hat. Fieberhaft beantra­gen seitdem die Militärs noch vor einem Entscheid über die Verfassungsmäßigkeit ihre Am­nestie. Nicht nur Menschen­rechts­prokurator Languardia be­klagt daher, daß die getroffene Regelung zwar die begrüßens­wer­te Eingliederung der Guerilla erleichtere, in ihrer unklaren Formulierung aber einen schwe­ren Rückschlag für den Kampf gegen die Straflosigkeit in Staat und Militär bedeute.

Wer kontrolliert die Umsetzung?

Ist dies ein erster Vorge­schmack darauf, wie die ausge­handelten Vereinbarungen in Gesetzesform gegossen werden? Denn auch die anderen aus den Abkommen hervorgehenden Ver­fas­sungsänderungen und Vor­haben sollen nicht etwa in einer Verfassungsgebenden Ver­sammlung, sondern noch inner­halb der Regierungszeit von Prä­sident Arzú verabschiedet wer­den. Die PAN hat 1995 bei einer Wahlbeteiligung von nur 35 Pro­zent über die Hälfte der Parla­mentssitze erhalten. Als interne Kontrollinstanz soll zwar ein Ausschuß geschaffen werden, in dem Regierung und Guerilla pa­ritätisch neben vier noch zu er­nennenden “Vertretern der Zivil­gesellschaft” und einer interna­tionalen BeobachterIn sitzen werden. Schon in seiner Rede am 29. Dezember machte Arzú je­doch deutlich, daß der Beitrag der friedenswilligen Kräfte aus Unternehmertum und Militär überaus überraschend und be­grüßenswert sei. Vom Präsiden­ten ist also in dieser Richtung wohl nicht viel Druck zu erwarten.
Während Arzú nach Friedens­abschluß die Ankunft des inter­nationalen Kapitals erwartet, verkündet die URNG, die spätestens mit dem Bekanntwer­den der Verwicklung eines ihrer Ex-Kommandos in einen Entfüh­rungsfall in den Verhandlungen deutlich an Kraft verloren hatte, eifrig die Gründung einer ein­heitlichen, breiten Massenpartei. Im Vordergrund steht für sie je­doch vorerst die Wiedereinglie­derung ihrer etwa 3500 Kämpfe­rInnen. Eigentlich sollten seit dem 15. Januar 155 militärische BeobachterInnen der UNO die Konzentration und Entwaffnung der verschiedenen Fronten be­gleiten. In zwei weiteren Phasen ist vorgesehen, die Sicherung der Lebensgrundlagen und die be­rufliche Wiedereingliederung der Ex-Guerilleros zu regeln. Dem lag zwischenzeitlich ein Stein im Wege, da Arzú ausgerechnet dem taiwanesischen Außenmini­ster John Chang bei der Frie­densunterzeichnung einen inter­nationalen Rang zugestanden hat. Verärgert legte daraufhin China im UNO-Sicherheitsrat sein Veto gegen die Entsendung von UNO-BeobachterInnen ein. Taiwan jedoch ist nicht nur wichtiger Handelspartner und Investor, die guten Beziehungen zu Guatemala gründen auf der langjährigen militärischen Zu­sammenarbeit bei der Auf­standsbekämpfung. Zuletzt zeig­te sich China wieder dia­log­wil­lig, Menschenrechtskreise in Gua­temala vermuten aber, daß es sich bei der diplomatischen Klün­gelei um einen vom Militär geforderten Versuch handelte, der internationalen Beobachtung durch die UNO nach Friedens­schluß auszuweichen.
Die guatemaltekische Regie­rung ihrerseits reiste Ende Januar erst einmal nach Brüssel. Zusa­gen in Höhe von über 1,8 Milli­arden US-Dollar erhofft sie dort auf dem Konsultativtreffen der Geberländer und internationalen Finanzinstitutionen als “Frie­dens­dividende” zu erhalten, bei­na­he das Doppelte des durch­schnittlichen Regierungshaus­hal­tes der letzten Jahre. Dafür hat sie in Windeseile einen Ka­talog von um die 300 Projekten zu­sam­mengeschustert, ohne je­doch, wie vorher zugesagt, die zum Teil gemeinsam mit der Versammlung der zivilen Sekto­ren Guatemalas (ASC) erarbei­teten Projektvorschläge zu be­rücksichtigen. Dies ist nicht neu. Aber so einfach will sich die ASC nicht ausbooten lassen. Wenn nämlich mit dem Frie­densschluß für die Bevölkerung Guatemalas etwas gewonnen wurde, dann die Entstehung neuer politischer und demokrati­scher Freiräume und die Hoff­nung auf wirkliche gesellschaft­liche Partizipation, die unzählige Male in allen Abkommen betont wird. Nicht umsonst gilt daher in der guatemaltekischen Opposi­tion die Devise, die Abkommen als “ersten Schritt” zu begreifen, ihre Umsetzung nun mit Hart­näckigkeit und über breite Bünd­nisse einzufordern und selbst zu gestalten. “Der Krieg war schwer, aber ich denke, der Auf­bau eines wirklichen Friedens wird noch schwerer sein”, kom­mentiert Celso Cuxil die nahe Zukunft. Auch kurz nach dem Friedensschluß wird und kann das Protestieren kein Ende haben.

Mauss’sche Missionen auf dem Holzweg

Im Januar hat die Affäre Mauss in Kolumbien kaum noch Wel­len geschlagen. Stärker in den Vordergrund gerückt sind da­gegen die ersten Geplänkel des Wahl­kampfvorjahres 1997, die Ver­bindungen zwischen Armee und paramilitäri­schen Banden in Ura­bá, der “wirtschaftliche Not­stand”, den die Regierung Sam­per ausrief, um die prekäre Haus­halts­lage zu stabilisie­ren, die lä­cher­lich geringen Gefäng­nis­stra­fen gegen die Drogen­bosse Ro­drí­guez Orejuela und last but not least die Be­ziehungen zu den USA: Be­kommt die Regierung am 1. März die heißbegehrte “Be­schei­nigung” des Lehrmei­sters aus dem Nor­den (siehe LN 262), daß sie sich diesmal aus­rei­chend im “Drogenkrieg” en­ga­giert hat?
In diesem Zusammen­hang gab der oft als kolumbianischer “Vi­ze­könig” titulierte US-Bot­schafter Myles Fre­chette der Zeitung El Tiempo ein viel­be­achtetes Interview, in dem er auch auf die angeblichen Ver­mitt­lungsversuche der Bun­des­re­gie­rung im Som­mer 1996 ein­ging: “Zu kei­ner Zeit (…) ha­ben sich Herr Kohl und Herr Clin­ton per­sönlich über Kolum­bien aus­ge­tauscht, weder telefo­nisch noch schriftlich. Ebenso­wenig ha­ben nordamerikanische und deut­sche Regierungs­beamte den Fall Kolumbien besprochen (…) In der zweiten Juliwoche 1996 teil­te dieser Minister Schmid­bau­er amerikani­schen Diplomaten in Deutschland mit, daß er in Deutschland mit der ko­lum­bi­a­ni­schen Regierung und dem Cali-Kartell zu verhandeln ge­denke, und frag­te, ob die ame­ri­kanische Re­gierung an ei­ner sol­chen Ver­hand­lung interessiert sei. Wir lehn­ten das sofort strikt ab.”
Die deutsche Botschaft de­men­tierte diese Version und be­ton­te hingegen – ganz im Sinne Schmidbau­ers – die Bemühungen um einen Friedensprozeß, über die die USA informiert worden sei­en. In die gleiche Richtung läuft die Verteidi­gungsstrategie von Werner und Ida Mauss, die von Anfang an den angeblich hu­ma­nitären Charakter ih­rer Mis­sionen hervorgeho­ben haben. Kurz vor Weih­nachten richtete Isa­bel Sei­del alias Ida Mauss ein recht pathetisches Schrei­ben an den Gouverneur der Provinz An­tioquia, in dem sie auf einen Friedensplan zu sprechen kam, “der sich in Eu­ropa mit der Unterstüt­zung mehrerer Regie­rungen entwickelt hat­te”.
Unter anderem sei ein Waf­fen­stillstand vorgesehen gewe­sen; die Guerilla sollte in der Über­gangsphase fi­nanziell unter­stützt werden, um sich nicht durch Entführungen finanzieren zu müssen. Außerdem hät­ten die so­ziale Entwicklung, das Erzie­hungs­wesen und der Umwelt­schutz vorange­trieben werden sol­len. Schließlich beklagte sie “das Schicksal Kolumbiens (…), wenn seine Bürger (…) nicht nur an sich selbst dächten, sondern an die anderen und an das Ge­mein­wohl, gäbe es keine Aus­län­der, die das Land ausbeuten.”

Mauss in der Falle

Die unfreiwillige Iro­nie des letzten Satzes wird wohl erst deutlich, wenn man sich den Einsatz von Wer­ner Mauss für Siemens (siehe oben und vgl. LN 271) und sein Eingreifen in den Entführungsfall Brigitte Schoene vor Augen hält. Schmidbauer und selbst der Spiegel, wenn auch nur zwischen den Zeilen, brin­gen Verständnis für die “un­kon­ventionellen Metho­den” des Agenten in einem so chaoti­schen Land wie Kolum­bien auf. So soll die ziemlich undiploma­tische Vor­gehens­weise der Möch­te­gern-Groß­macht Deutschland ver­tuscht wer­den, die die ko­lum­bi­anische Regie­rung nur sehr spär­lich über die Mauss’schen Machenschaften in­formiert hatte.
Das eigenmächtige Vorbei­agie­ren an den ko­lumbianischen Be­hörden bei den Verhandlun­gen in mehreren Entführungs­fäl­len rächte sich mit der Fest­nahme von Werner und Ida Mauss. Offenbar waren die bei­den im Oktober und November 1996 beschattet und ihre Ver­haftung von langer Hand vorbe­reitet worden. Ulrich Schoene wollte die Freilassung sei­ner Frau unter Einschal­tung der Po­lizei und der britischen Firma Control Risks Group er­reichen und unterbreitete den Entfüh­rern ein erstes Angebot über 250 000 US-Dollar. Auf Anregung des In­te­rims-Bot­schafters Vor­werk je­doch traf er sich mit Mauss, der sich als Jür­gen Seidel vor­stellte und seine Dienste anbot. Er wisse über Kontakte mit dem ELN (Heer zur nationalen Be­freiung), daß sich Bri­gitte Schoe­ne in der Ge­walt von Paramili­tärs befinde, und könne inner­halb von zwei Wochen ihre Frei­las­sung errei­chen; allerdings müs­se ein Löse­geld von bis zu 1,5 Millionen US-Dollar gezahlt werden.
Schoene lehnte dankend ab, doch sein ursprüngli­cher Kon­takt­mann ließ wochenlang nichts von sich hören. Mauss meldete sich erneut, Vorwerk bestärkte Schoene, und dieser ließ sich schließlich auf die “un­kon­ven­tio­nel­le” Variante ein. Das Ende dieser Epi­sode ist be­kannt, nicht je­doch, ob und wie­viel Löse­geld floß.

Kompromittierendes Tonband wird den Medien zugespielt

Der Niedergang des deutschen Multiagenten Werner Mauss scheint eine längere Vorgeschichte zu haben als bisher angenommen: Offenbar be­kamen einige kolumbianische Behörden bereits Wind von seinen Aktivitäten, als er monatelang in einem komplexen Entführungsfall ermittelte. Nun wurde den Behörden ein Tonband mit meh­reren Telefongesprächen über diesen Fall zuge­spielt, die ein Mitarbeiter der dänischen Firma F.L. Schmidt mit dem deutschen Ingenieur Karl-Heinz Dressel und einem Herrn Weber geführt hatte. Bei Weber handelt es sich eindeutig um Werner Mauss.
Was war passiert? Vor rund einem Jahr, am 5. Februar 1996, hatte das ELN (Heer zur nationa­len Befreiung) bei San Luis südöstlich von Me­dellín drei ausländische Ingenieure, den Deutsche Karl-Heinz Dressel, den Dänen Ulrich Schulz, den Engländer Philip Halten und Diego Blandón, ihren kolumbianischer Chauffeur gekidnappt. Die Mitarbeiter von F.L. Schmidt waren auf dem Rückweg von Wartungsarbeiten an einer Anlage, die die Zementfabrik Cementos Rioclaro von die­ser Firma F.L. Schmidt gekauft hatte.
Als erster erlangte überraschend schnell Karl-Heinz Dressel die Freiheit wieder. Bereits am 11. März meldete er sich in Deutschland zurück. Mauss’ Erklärung: “Wir haben ja nun diese Ver­bindung für die anderen Konzerne in Deutsch­land. Und deswegen ist er frei, reiner Zufall.” Später bezieht sich Mauss noch einmal “auf die Firma, mit der wir hauptsächlich zusammenar­beiten” – nach allem was inzwischen bekanntge­worden ist, liegt es nahe, Siemens dahinter zu vermuten.
Aus den Aufnahmen geht auch die große Ent­täuschung Dressels hervor, dem der Agent ver­sprochen hatte, seine Kollegen würden sieben bis zehn Tage später ebenfalls freikommen, was nicht eintraf. Nur mit Mühe konnte er von dem dänischen Firmenmitarbeiter davon abgehalten werden, die Presse zu verständigen.
Die brisantesten Passagen sind zweiffellos jene, in denen Mauss versucht, den gewitzten Mit­ar­bei­ter von F.L. Schmidt zum Eingehen auf die For­de­run­gen der Entführer zu bewegen. Denn obwohl Mauss die ELN wiederholt als “Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion” bezeichnet, dramatisiert er die Lage, um die dä­nische Firma einerseits zur Zahlung ei­nes Lö­se­gel­des von mindestens fünf Millionen US-Dollar zu bewegen, andereseits soll sich sein Ge­sprächs­par­tner in Kolumbien dafür einsetzen, eine “Frie­dens­lösung” zwischen Ce­mentos Rio­cla­ro und der ELN herbeizuführen. Die Me­de­llí­ner Firma hatte sich nämlich stand­haft ge­weigert, Schutzgelder an die Guerilla ab­zuführen.
Mehrfach erwähnt Mauss in den Telefonge­sprächen einen “Herrn S.” in Bonn, der über “viele Er­kenntnisse” verfüge und der doch von den Dä­nen konsultiert werden sollte. Ein anderes Mal soll­te der dänische Mitarbeiter einen hoch­ste­hen­den kolumbianischen Industriellen zu ei­nem “Frie­dens­gespräch” ins Kanzleramt lotsen, “da sind sie doch anders beeindruckt, aber man sollte die ko­lum­bianische Regierung rauslassen.” Offenbar scheiterte der quirlige Hobbydiplomat hier, wie auch beim “großen” Friedensprozeß.
Dressels Freunde wurden schließlich am 15. Sep­tember freigelassen. Bei dieser Gelegenheit kri­tisierte der Gouverneur Antioquias, Alvaro Uribe Vélez, vehement die Zahlung des Lösegel­des von angeblich über zwei Millionen US-Dollar und forderte: “Die deutsche Regierung und die deut­schen Firmen müssen unserer Provinz die Wahr­heit über ihre Abkommen mit der Guerilla sagen.”
Das vom ELN angestrebte Stillhalteabkommen mit Cementos Rioclaro kam nie zustande. Auf­grund zahlreicher Anschläge auf ihre Stromlei­tungen durch das ELN mußte die Zementfabrik von Mitte Oktober bis Ende November den Be­trieb ein­stellen. Die Gegend um Cementos Rio­claro ist heute ein von paramilitärischen Gruppen und den ELN-Guerillaverbänden heiß umkämpf­tes Terri­to­ri­um.

Präsident Zedillo provoziert Krieg

Ein kurzer Blick auf den Verlauf der noch immer – fast – ergebnislosen Gespräche von San Cristóbal, San Andrés Lar­ráinzar und La Realidad zwi­schen Regierung und Guerilla rechtfertigt den Pessimismus, in den EZLN-Sprecher Marcos in einem Kommuniqué Mitte letz­ten Jahres verfiel: “Dreißig Mo­nate später, 912 Tage später und wir kommen nicht weiter. Wie lange werden die Zapatistas wei­termachen? Bis wohin? Wann wer­den wir müde werden, Frie­densinitativen für Demokra­tie, Freiheit und Justiz zu ent­werfen? Wann werden wir auf­hören, der Regierung Magen­schmerzen zu ver­ursachen? Wann werden wir aufhören, Za­patistas zu sein?”
Seit drei Jahren laufen die Dialoge. Und wann immer es aussah, als kämen die Delegatio­nen endlich einen Schritt weiter, ge­fährdeten Provokationen der Bun­desarmee, die Arroganz und Ver­logenheit der Regierung oder schwerwiegende nationale Er­eig­nisse alles. Die Dialoge stan­den still oder wurden unterbro­chen und es mußte wieder von vorne begonnen werden. Ob es nun die Ermordung des PRI-Prä­si­dent­schafts­kandidaten Luis Do­naldo Colosio (März 1994) war, den die EZLN als verhand­lungsbereit und friedenswillig bezeichnet hatte, oder die Mi­litäroffensive und die Haftbe­fehle (Februar 1995), die der neu­gewählte Präsident Ernesto Ze­dillo ver­anlaßte, nachdem er noch wenige Tage zuvor öffent­lich für eine friedliche Lösung des Konfliktes plädiert hatte. Im­mer wieder war es die Regie­rung, die log, aus­wich und die Ver­handlungen tor­pe­dierte. Und im­mer wieder muß­te sich die EZLN neue Stra­tegien einfallen las­sen, um die Zi­vil­gesell­schaft ein weiteres mal auf die Straßen und die Ver­handlungen erneut auf den Weg zu bringen.

Teilerfolge ohne bindenden Charakter

Und erstaunlicherweise ge­lang dies den zapatistas doch, trotz der fortschreitenden Mili­tarisierung von Chiapas und den um­liegen­den Bundesstaaten, den In­filtrie­rungs-, und Einschüch­te­rungs­versuchen durch regie­rungs­treue Kaziken, Weiße Gar­den und die Bundesarmee. Mit ih­ren bislang vier Deklarationen und Initiati­ven wie, der Grün­dung des Na­tionalen Demokra­ti­schen Kon­vents CND in Aguas­ca­lientes (August 1994), der Na­tionalen Umfrage (August 1995), der nachfolgenden Bildung der FZLN oder den kontinentalen und interkontinentalen Treffen für eine menschliche Gesell­schaft und gegen den Neolibera­lismus, konnte nach kritischen Mo­menten immer wieder verlo­re­nes politisches Terrain zurück­erobert werden.
Mit der im Februar 1996 durch die Delegationen der Re­gierung und der EZLN erfolgten Un­terzeichnung der Vereinba­rung über Indigene Rechte und Kul­tur schien ein erster Schritt hin­sichtlich einer politischen Lö­sung des Konfliktes getan. Für die EZLN bedeutete das Ab­kom­men einen Teilerfolg, da der er­arbeitete Kompromiß die hoch­ge­steckten Erwartungen der er-sten Monate nicht erfüllte. Die Vereinbarungen über Indigene Rech­te und Kultur und die Modi­fizierungen der Artikel 4 (über den multiethnischen Charakter der mexikanischen Nation) und 115, auf die sich die Regierung Zedillo einließ, blieben nicht nur weit hinter den ursprünglichen For­derungen der EZLN zurück, sie waren außerdem lediglich ei­ner von mehreren zur Diskussion ste­henden Punkten, die die Ver­handlungen insgesamt vorsahen. Und sie hatten überdies – auch wenn die ursprüngliche Verein­ba­rung ihre unveränderte Einfü­gung in die mexikanische Ver­fas­sung beinhaltete – in ihrer er­sten Formulierung keinerlei bin­den­den Charakter.
Um diesen zu erlangen, war zunächst eine detaillierte For­mulierung der einzelnen Inhalte durch EZLN und Cocopa, einer aus Parlamentariern der Parteien PRI, PAN und PRD zusammen­ge­setzten Vermittlergruppe, not­wendig, die dann Präsident und Ab­geordnetenkammer zur Ab­seg­nung vorgelegt werden sollte.
Zwar wurden direkte Gesprä­che mit der PRI-Delegation nach zahl­reichen Torpedierungsversu­chen der Regierung von den Za­pa­tistInnen als unsinnig ein­ge­schätzt und abgebro­chen, Ver­hand­lung­en zwischen EZLN und Cocopa fan­den je­doch weiterhin statt. Schließlich lag im De­zem­ber 1996 der von Cocopa und EZLN gleicherma­ßen akzeptierte Ent­wurf endlich vor.

Hardliner und Desillusionierte

Damit hatte Präsident Zedillo nicht gerechnet. Um Zeit zu ge­winnen, bat sich das mexikani­sche Staatsoberhaupt eine Frist von zwei Wochen aus, um den In­halt des Dokumentes “analy­sie­ren” zu können. Diese ließ er verstreichen und um wei­tere 14 Ta­ge verlängern. Am 11. Januar 1997 übergab Zedillo der EZLN sei­ne Antwort. Kaum et­was er­in­nerte noch an den von der EZLN und Cocopa erarbeiteten Text. Mit juristi­schen Spitz­fin­dig­kei­ten war der Entwurf ausgehöhlt und sinnent­stellt worden. Die we­sentlichsten der im Vorjahr ge­troffenen Ver­einbarungen wa­ren gestrichen. Damit rief Ze­dil­lo nicht nur den Zorn der Za­pa­tistInnen – Sub­co­man­dante Mar­cos sprach von Ver­höhnung – her­vor, sondern auch der Ver­mitt­lergruppe. Schließ­lich hatte die Cocopa von vorn­herein unmißverständlich klar­gestellt, daß es nur Zustimmung oder Ab­leh­nung geben könne, je­doch kei­ner­lei Änderungen des Kom­pro­miß­pa­pieres. Juan Guer­ra, Mit­glied der Cocopa, bringt es auf den Punkt: “Die Re­gie­rung hat das Abkom­men im Fe­bruar 1996 unter­zeichnet, um es nicht zu erfüllen. Sie unter­schrieben es, um sich über die EZLN lustig zu ma­chen.”
Angesichts der Sinnlosigkeit wei­te­rer Gespräche und der zu­neh­menden Militarisierung und Re­pres­sion in Chiapas droht wie­der einmal das Ausbrechen be­waff­ne­ter Kämpfe. Doch ist die La­ge nun ernster denn je. Ei­ner­seits setzen die Hardliner in­ner­halb der PRI ihre Strategie, po­li­ti­sche Lösungen zu sabotieren, er­folg­reich fort. Andererseits droht bei einem Scheitern – und nichts deutet auf eine andere Per­spek­tive hin – des um eine fried­li­che Veränderung be­müh­ten Ver­handlungsweges der EZLN ein weiteres Abfallen ihr­er Basis au­ßerhalb von Chiapas. Daß die Ein­satzbereitschaft der Zi­vil­ge­sellschaft arg ge­schmol­zen ist, wurde am dritten Jah­res­tag des Aufstandes mehr als deut­lich. Im Ge­gensatz zum Vor­jahr brach kei­ne Karawane von Mexiko-Stadt auf, um mit Hilfs­lie­fe­rungen und massiver Prä­senz in den indigenen Ge­mein­den Soli­darität zu demon­strieren. Die zapatistas blieben unter sich. Und auch in der 23 Mil­lio­nen-Metropole selbst traf sich nur ein Häuflein von etwa 200 Per­sonen auf dem Zócalo, um ih­re Ver­bundenheit mit den Auf­stän­di­schen auszudrücken.
Die Stunde derjenigen, die we­der Frieden noch eine Beteili­gung der Zivilgesellschaft bei der Umgestaltung Mexikos an­stre­ben, scheint angebrochen. Zum einen spielen die Militärs in­nerhalb des Machtgefüges eine im­mer stärker werdende Rolle, ge­duldet und gestützt von Präsi­dent Zedillo und der US-Admi­nistration. Und: Die im Juni 1996 erstmals in Erscheinung ge­tretene Revolutionäre Volks­ar­mee EPR, die durch Attentate und Überfälle bisher über 40 Sol­daten und Polizisten erschos­sen hat und jeden Dialog mit der Regierung ablehnt, gewinnt an Einfluß unter Teilen der desillu­sionierten und unter der Repres­sion leidenden Bevölkerung, vor al­lem auf dem Lande. Ihr YA BASTA – ES REICHT impliziert ei­nen sofortigen Stopp der Men­schen­rechtsverletzungen, die, wie derzeit in Teilen Guerreros und Oaxacas, an Grausamkeit kaum zu überbieten sind, egal auf welche Weise. Das Auf­tau­chen dreier weiterer Guerilla-Grup­pen in­nerhalb der letzten zwei Monate im mexikanischen Nor­den und der Südprovinz Guer­rero weist hin auf eine ge­walt­tätige Ent­wick­lung, die al­lein die korrupte Herr­schaftselite und ihre Hintermän­ner im Pen­ta­gon zu verantworten haben.

“Wir sind auf alles vorbereitet”

Als ich am Morgen des 24. Dezember 1996 von San Cristóbal aus aufbrach, um drei Wochen in einem “Campamento por la Paz” zu ver­bringen, hatte ich keinerlei Grund zur An­nahme, daß etwas Außer­ge­wöhnliches vorfallen könnte. Der Dialog zwi­schen Regierung und EZLN war zwar bereits seit Mo­naten abgebrochen, doch die Lage war ruhig.
Auch bei meiner Ankunft im Dorf, einer Gemeinde nahe La Garrucha, schien sich dieser Eindruck zu be­stätigen. Die Leu­te kannten mich bereits von vor­herigen Auf­ent­halten und freuten sich, daß je­mand die Hütte auf dem Dorfplatz, die aufgrund feh­lender Be­sucherInnen mehrere Wo­chen leerge­standen hatte, mit Leben füllte. Wie jeder Neuan­kömmling wurde auch ich als erstes nach Neuig­keiten vom Frie­densprozeß be­fragt, denn Zeit­schriften und Zeitungen ge­langen nur selten in die entlegenen Gemeinden. Ich hatte mir eine La Jornada (linke Tageszeitung aus Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) mitge­bracht, de­ren Erschei­nungsdatum zwar schon ei­nige Zeit zu­rücklag, in der jedoch der Brief vom EZLN-Sprecher Mar­cos an Präsident Ernesto Zedillo in voller Länge abgedruckt war. In diesem Brief for­derte der Sup, mittler­weile zum Range eines comandante avanciert, den mexikanischen Regierungschef auf, die indigene Bevölkerung in Chia­pas nicht mehr länger warten zu lassen, einen Schritt in Rich­tung eines dauerhaften Frie­dens zu tun und end­lich auf die von der EZLN aufgestellten Mindestfor­der­ung­en zur Wie­der­auf­nahme des Dia­logs ein­zugehen. Außer­dem be­tonte er die Dringlichkeit und Not­wen­digkeit, daß die aus­ge­arbeitete Gesetzesi­nitiative zum Schutz der Indigenen Rechte und Kul­tur vom Staatsober­haupt un­ter­schrieben wer­den muß. Eine Woche zu­vor hatte der Präsident die endgültige Fassung dieses Abkommens kurz vor ihrer Un­terzeichnung abgelehnt, sich eine Frist von zehn Tagen aus­erbeten und an deren Ende erklärt, daß der nach zähen Verhandlungen von beiden De­legationen un­terzeichnete Kom­promiß noch ein­mal von Grund auf über­ar­beitet werden müsse.

Frustration nach 3 Jahren Krieg

Der dritte Jahrestag des Aufstands wurde in vielen Orten der Selva Lacandona festlich be­gangen. Über tausend Menschen kamen aus allen Siedlungen der Um­gebung zusammen, um drei Tage und Nächte lang zu feiern und zu den Klän­gen einer in Ocosingo an­geheuerten ma­ri­achi-Ka­pelle zu tanzen.
Überraschenderweise waren die indígenas fast unter sich. Nur wenige Menschen aus anderen Tei­len Mexikos oder Inter­na­tionalistInnen waren an­wesend. Die sonst immer ein­ge­troffene Karawane “Todo para Todos” aus Mexiko-Stadt war diesmal nicht nach Chiapas aufgebrochen und auch BeobachterInnen aus anderen Na­tionen der Welt wa­ren zu Hause geblieben.
Einer der Höhepunkte des Festes war sicherlich die Ansprache des Sup in den ersten Minuten des neuen Jahres. Die Band stoppte und ein tiefbeweg­ter Repräsentant der Ge­meinde hielt ein Transi­storradio ans Mikrofon, damit alle Ver­sam­melten live das von at­mosphäri­schem Prasseln un­ter­malte Kommuniqué des Ge­heimen Re­volutionären In­di­genen Komitees – Ge­neralkom­man­dantur der EZLN ver­nehmen konnten.
Die Worte des EZLN-Spre­chers drückten Besorg­nis und An­spannung aus: Nach drei Jah­ren Krieg in Chiapas stünden die Dinge schlecht, die Re­gierung hätte 12 Tage Zeit, um ein Ent­gegenkommen zu sig­na­lisieren und bis dahin hieße es Ab­warten. Am Ende der Nach­richt waren al­le Ver­sam­mel­ten totenstill. Nach einer Minute rief einer mit sich über­schlagender Stim­me in die Menge: “Drei Jahre haben wir jetzt ausgehalten und was haben wir erreicht ?” “Nichts!” ant­wor­teten hunderte indí­genas aus dem Dunkel der Nacht.

Die Regierung zeigt ihre Krallen

Das Jahr 1997 hatte schlecht begonnen. Die Stimmung in den Ort­schaften verschlechterte sich von Tag zu Tag. Je näher der 11. Januar rückte, ohne daß ir­gend­ein Entgegenkommen von der Re­gierungsseite erkennbar wur­de, desto mehr verdü­sterten sich die Mienen in den Ge­sichtern. “Wenn bis zum Zwölf­ten keine Ant­wort kommt, wird es wieder Krieg geben,” erzählten mir sowohl ältere als auch jün­gere Männer. Und: “Wir haben drei Jahre Zeit ge­habt, uns im ganzen Land auszubreiten. In Oaxaca, in México, in Veracruz. Überall gibt es jetzt zapa­tistas. Wir sind auf alles vorbereitet.”

Vorboten der Aggression

Auch die Regierungs­truppen schienen sich auf etwas vorzubereiten. Tag für Tag nahm die Anzahl von Auf­klä­rungsflügen über den Schluch­ten und Tälern zu. Fast alle 20 Minuten erfüllte das Brummen von großen Hub­schraubern den Himmel, die in mehreren hundert Metern Höhe die Dörfer über­flogen. Am dritten Januar kam es dann zu einem dramatischen Zwischenfall: Nur wenige hun­dert Meter vom Frie­denscamp entfernt stürzte ein Helikopter der mexika­nischen Luftwaffe ab und zerschellte am Boden. Alle BewohnerInnen im Dorf schie­nen ihren Atem anzu­halten, bis zwei Tage spä­ter, nachdem die Leichen der Soldaten geborgen worden waren, ein Abschuß durch die Guerilla von of­fizieller Seite ausgeschlos­sen wurde.
Am 11. Januar fand die Ein­schüch­terungs­kam­pagne der Bun­des­armee ihren vorläufigen Hö­hepunkt: Gegen Mittag don­nerte ein Hubschrauber im Tief­flug über die Stroh- und Well­blech­dächer der Holzhäuser hin­weg. Eine klare Verlet­zung einer der in San An­drés getroffenen Vereinba­rungen, die der me­xikani­schen Armee Tiefflüge und Stops in den Gemeinden un­tersagen. Einige Stunden spä­ter wurde das Dorf von einer ängstlichen Aufregung ergriffen. Unzählige indí­genas liefen auf dem Dorf­platz zusammen, re­de­ten laut und wild gesti­kulierend durcheinander und deute­ten auf den Himmel: Es war kein Mo­to­rengeräusch zu hö­ren und doch war da ein Dü­senflugzeug zu er­ken­nen, das in einigen hundert Me­tern Höhe das Tal überflog. Von einer Frau erfuhr ich den Grund für die Aufregung. Das da oben war eines jener Flug­zeuge, die so­wohl in den ersten Ja­nuartagen 1994 Dörfer und Men­schen bombardiert hatten, als auch Vor­boten der Regie­rungs­of­fensive vom Februar 1995 gewesen waren: Pila­tus C-7, mit Bordkanonen und Luft-Bo­den­ra­keten bestückte Auf­klä­rungs­flug­zeuge aus der Schweiz.

Nichts wirklich Neues auf 107.1

Der 11. Januar war ein Samstag. An diesem Tag um sieben Uhr abends ist es Zeit in der Selva La­candona, das Radio ein­zuschalten, denn das ist die einzige Stunde in der Wo­che, in der auf UKW 107.1 “Radio Insurgentes”, der revolutionäre Sender der EZLN, zu empfangen ist. Zwischen Revolutionslie­dern aus allen Ecken und Zeiten Lateinamerikas mel­det sich ab und zu eine ru­hige In­dí­genastimme, sagt die Zeit an oder grüßt die zuhörenden Zi­vilistInnen und Milizen. An jenem Abend jedoch kündigte die Stimme schon nach dem ersten Lied eine Botschaft der EZLN-Kom­mandantur an. Dio­nicio, einer der Kir­chenältesten, saß bei mir am Tisch und spielte voller Enthusiasmus “Schnipp-Schnapp” mit einem Kind, wäh­rend sich die Gemeinde draußen all­mählich zum Gottesdienst ver­sammelte. Sobald klar wurde, was da über den Äther kommen sollte, strömten mehr und mehr Menschen in meine Hütte, um der lange er­warteten Nachricht zu lau­schen. Mit starken Worten wies Marcos die Vorschläge der Regierung zurück und be­zeich­nete sie als Ver­spottung der zapatistischen Forderungen. Das Verhal­ten der Regierung sei eine Provokation zum Krieg. Den indígenas, die in den ersten Januartagen des Jahres 1994 im Kampf um Land und Freiheit ihr Le­ben gelassen hatten und all jenen Dorfgemeinden, die den Kampf der EZLN un­terstützten, sei es geschul­det, den Kampf um die Erfüllung der Forderungen fortzuführen und sich nicht mit einem faulen Kompro­miß zu­frie­denzugeben.

Ein mißverstandenes Erdbeben

Nach Ende der Übertra­gung war es erst einmal eine Minute lang still, dann kamen die ersten Re­aktio­nen. Niemand schien über­rascht. “Was soll’s”, war der Tenor, “dann gibt es halt Krieg. Was haben wir zu verlieren.” All­gemeines Achselzucken ge­folgt von einer gedämpften Dis­kus­sion, die in ein erleichtertes Lachen mündete. Schon wurden wieder die ersten Witze gemacht. Dann rich­tete sich die Auf­merksam­keit auf mich: “Hast du etwa Angst, Nico? Du hast doch Angst, oder?”
Zwar hatte Marcos der Regierung einen Tag Zeit ge­geben, dennoch herrschte unter den Dorf­bewohnerInnen an je­nem Abend Nervosität. Wenige Stun­den nach dem Kommuniqué kam in den Nachrichten eine Meldung über Stromaus­fälle in der Hauptstadt und in den west­lichen Teilen des Lan­des. Die Anwesen­den zogen sofort den Schluß, daß eine Kampagne der EZLN bereits begonnen ha­be. Da die Vorstellung, ein Großteil der mexikani­schen Be­völkerung sei auf ihrer Seite, bei den Dorf­bewohnerInnen sehr ver­breitet ist, paßte die Idee von den sie unterstützenden Massen, die be­reits mit der Lahmlegung des Elek­tri­zitätsnetzes begonnen hät­ten, genau ins Bild. Doch schon bald erfuhren wir von einem anderen Sender, daß es sich bei den Stromausfällen um die Fol­gen eines Erdbebens ge­handelt hatte.
Am nächsten Morgen ver­lie­ßen 30 bewaf­fne­te jun­ge Männer das Dorf, um die Auf­stän­dischen in den Ber­gen zu ver­stär­ken. Auch wenn der Frie­den vor­läu­fig ge­wahrt bleibt, so ist die Lage noch längst nicht ent­schärft. Es steht in den Sternen, wann die Milizionäre in die Dör­fer zurück­kehren und bis dahin ist davon auszugeh­en, daß sich die Zahl der kampfbereiten Gue­ril­leros in den Ber­gen von Chiapas im Ver­gleich zu den Wo­chen davor ver­viel­facht.

Nebenaußenpolitik mit Hauptabsichten

In der Nacht vom zwölften auf den dreizehnten Dezember 1996 kam es im Parlament in Bogotá zu einer denkbar knap­pen Abstimmung in Sa­chen” Kampf gegen die Narco-Mafia”: Mit 59 zu 57 Stimmen wurde die Gesetzesvorlage der Regierung verabschiedet. So wi­dersprüchlich wie die Regierung von Staatspräsident Ernesto Samper ist, dem nicht nur von der US-Regierung vorgeworfen wird “das Bett mit der Dro­genmafia zu teilen” (US-Senator Jesse Helms), so widersprüch­lich ist das Gesetz selbst: Es er­möglicht einerseits die Ausliefe­rung von Drogenbossen an die USA, “das einzige”, so der Kor­respondent der “Frankfurter Rundschau”, Ulrich Achermann, “was die Größen im kolumbiani­schen Kokaingeschäft wirklich fürchten”.(1) Gleichzeitig sieht es die Möglichkeit der Vermö­gensbeschlagnahmung bei Dro­genbaronen vor, allerdings nur von solchem, das seit 1991 an­gehäuft wurde. Die bisher gel­tenden gesetzlichen Regelungen, die auch die Beschlagnahme von in den achtziger Jahren ange­häuften Vermögen ermöglichten, wurden aufgehoben. So bleibt unter anderem das Drei-Milliar­den Dollar Erbe des Drogenbos­ses Pablo Escobar verschont.
Verwundern kann die Wider­sprüchlichkeit des Gesetzes und die knappe Abstimmung indes kaum. Wurde doch im Hochsi­cherheitsgefängnis von Bogotá in der Zelle der Gebrüder Rodri­guez Orejuela, den Bossen des Cali-Kartells, eine lange Liste mit den Namen von Abgeordne­ten gefunden. Jede einzelne Par­lamentarier-Stimme soll ihnen 25.000 US-Dollar wert gewesen sein.
Dieses Gesetz wäre vermut­lich noch günstiger für die Dro­gen-Bosse ausgefallen, wenn nicht wenige Wochen vorher eine deutsche Nebenaußenpolitik in Kolumbien in einem “Scherbenhaufen” (Norbert Gan­sel) geendet hätte. Wieder ein­mal wollte die Bundesregierung die auf­steigende Weltmacht spie­len. Der Berg kreißte und gebar die sprichwörtliche Maus(s). Und die sitzt nun selbst im Hochsi­cherheitsgefängnis in Kolumbien mit denjenigen Drogen-Baronen ein, denen sie freies Geleit und eine Legalisierung ihrer Vermö­gen ermöglichen wollte.

Umrisse der Bonner Nebenaußenpolitik

Fünf Mosaiksteine charakteri­sieren das Bild der Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien – also einer geheimen, über die of­fizielle Bonner Politik hinausge­henden Version.
Erstens: Seit etwa 1984 ist die Bundesrepublik in Kolumbien mit einer Nebenaußenpolitik prä­sent. Von Anbeginn wurde sie durch den “Privatagenten Mauss” personifiziert. Dieser war mindestens bis Ende der siebziger Jahre mit offiziellem Auftrag deutscher geheimer Dienste aktiv. Unter anderem war es Klaus Kinkel als Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), der diesen zwielichtigen Undercover-Agenten für den Pullacher Dienst verpflichtete. Im Dezember 1996 mußte der BND anläßlich der Verhaftung von Mauss in Kolumbien zuge­ben, daß dieser seit 1984 in Ko­lumbien aktiv war und daß diese Aktivitäten von der Bundesregie­rung – so Schmidbauer in der Parlamentsdebatte – “positiv be­gleitet” wurden. Dadurch werden andere Aktivitäten von Mauss in diesem Zeitraum in ein völlig neues Licht – und in Regierungs­nähe gerückt. (2) Darauf wird zurückzukommen sein.
Der entscheidende Hebel, mit dem diese Nebenaußenpolitik umgesetzt wurde, war der Ein­stieg in die “Entführungs­industrie”. Mit die­ser Branche sind viel Geld und somit Einflußmöglichkeiten ver­bun­den. Da es sich hier aller­dings um einen illegalen Wirt­schaftszweig handelt, lag der Einsatz eines Privatagenten nahe, von dem die Bundesregierung gegebenenfalls hätte sagen kön­nen, sie wisse nichts von dessen Handeln.
Der Einstieg in die Entfüh­rungsbranche öffnete zugleich den Zugang zur Guerilla. Mauss scheint bereits damals das be­sondere Spiel getrieben zu ha­ben, mit dem er auch im Sommer 1996 im Fall von Frau Schoene, der Ehefrau eines BASF-Mana­gers, die Lösegeldforderungen steigerte. Der Guerilla verhalf er so zu besonders hohem Gewinn und sich zu einer verbesserten Verhandlungsposition.
Der SPIEGEL berichtete über einen solchen Deal Ende der achtziger Jahre:
“Der Mannesmann Konzern wollte damals eine 700 Kilome­ter-Pipeline von den kolumbiani­schen Ölfeldern an die Karibik-Küste verlegen – mitten durch das Guerilla-Gebiet. Die Rebel­len der ELN drohten mit Sabo­tage und Entführungen. Der da­malige Projektleiter erinnert sich heute voller Verachtung an den Helfer Mauss. Der habe Räuber-und-Gendarm gespielt, als die Guerilla ein Camp und wert­volles Baugerät gesprengt und die ersten Geiseln genommen hatte. Er habe das Leben der Geiseln gefährdet. Um die Gue­rilla ruhigzustellen, ließ Mauss im Dschungel Kindergärten und Hospitäler bauen. Er soll zusätz­lich einige Millionen Dollar an die klammen Rebellen gezahlt haben…Guerilleros gäben keine Quittungen, sagt Zipfel lako­nisch. In Anbetracht der Be­scheidenheit der Forderungen der Guerilla war es absolut schleierhaft, warum man Herrn Mauss beauftragt hat, wundert sich Zipfel noch heute.” Der Fall Mannesmann war in Kolumbien damals ein Politikum. Die Regie­rung in Bogotá erließ ein Gesetz, das ausländischen Firmen das Zahlen von Schmier- und Löse­geldern verbietet. Mittlerweile will die Regierung nur noch vorab informiert werden.(3)
Herr Zipfel mag recht haben, daß der Mauss-Einsatz aus wirt­schaftlicher Sicht keinen Sinn machte und nur teuer war. Vor dem Hintergrund der skizzierten Nebenaußenpolitik jedoch, ma­chten die Mauss-Aktivitäten durchaus politischen Sinn.
Zweitens: Bis 1994/95 hatte sich die Bonner Regierung in internationalen Kreisen einen solchen Namen im kolumbiani­schen Entführungsgeschäft ge­macht, daß Bonn – und hier Schmidbauer und Mauss – als er­ste Adresse in Entführungsfällen von FirmenvertreterInnen galten.
Dänische und italienische FirmenvertreterInnen, die in Kolumbien entführt wurden, sollen unter Einschaltung der Bundesregierung und Mauss wieder die Freiheit erlangt haben – nach Übermittlung erheblicher Lösegeldzahlungen.
1996 war es schließlich der Entführungsfall von Vertretern der argentinischen Stahlfirma Techint, der im fernen Bonn ge­löst werden sollte. Dazu ein Auszug aus der Bundestagsde­batte: Volker Beck (Bündnis 90/Die GRÜNEN): “Können Sie uns erklären, wie argentinische Unternehmen überhaupt auf die Idee kommen, sich in einem sol­chen Fall an die Bundesregie­rung beziehungsweise an das Bundeskanzleramt zu wenden, um in dieser Frage zu vermit­teln?” Bernd Schmidbauer: “…Ich gehe davon aus, daß Geschäfts­verbindungen der Fir­ma zu ande­ren Firmen, die von Geiselnah­men betroffen sind, der Grund dafür sind, daß sich ein Land wie Argentinien …mit der Bitte um Hilfe an uns wendet.”(4)
Dieses starke deutsche Enga­gement im kolumbianischen Gei­selgeschäft hatte den Nach­teil, daß damit Mauss’ Aktivitä­ten der Konkurrenz, zum Bei­spiel dem CIA, nicht geheim bleiben konnten.
Andererseits erhöhte sich da­mit natürlich das Gewicht dieser Nebenaußenpolitik und damit der Einfluß von Bonn/Mauss bei der Guerilla und bei der kolum­bianischen Regierung mit dem steigenden Umsatz im Geiselge­schäft.
Drittens: Mitte der neunziger Jahre scheint bei der Bonner Re­gierung der Eindruck entstanden zu sein, der in Kolumbien er­reichte Einfluß sei groß genug, um ein großes Rad zu drehen. Der Gedanke reifte, in Sachen “nationaler Konsens” in Kolum­bien zu vermitteln – mit eigenen Hintergedanken und Interessen. Im Dezember 1996 sollte es in Kolumbien zur Bildung eines “Runden Tisches” kommen, an dem Regierung und Guerilla Platz nehmen sollten. Einer der Vermittler sollte dabei Daniel Ortega sein, mit dem es, so Schmidbauer, “in Bonn ein lan­ges Gespräch gab.” (5)
Im Rahmen dieses Runden-Tisch-Projekts wollte dann auch Kanzler Kohl sich als Friedens­stifter feiern lassen. Ein Treffen zwischen Schmidbauer und Samper in New York, das im Sommer 1996 stattfand und an dem auch Werner Mauss teil­nahm, diente der Vorbereitung. Die Tatsache, daß Samper zu seinem Besuch in New York bei der UNO ein US-Visum benö­tigte und die US-Presse den ko­lumbianischen Präsidenten als jemanden bezeichnete, der ge­meinsame Sache mit den Dro­genbossen machte, deutet bereits auf den nur mühsam verborge­nen Interessenkonflikt zwischen Bonn und Washington hin.
Teil dieses Aussöhnungspla­nes war auch der Versuch, den Drogenbossen eine legale Basis zu verschaffen. So wurde in ei­nem gemeinsam von einem Be­auftragten der kolumbianischen Regierung und Schmidbauer ent­worfenen “inoffiziellen schrift­lichen Angebot” am 29. Mai den Drogenhändlern garan­tiert, daß sie bei Selbststellung nicht an die USA ausgeliefert würden und Teile ihres Vermö­gens zur Gründung einer neuen beruflichen Existenz im Ausland behalten dürften.(6) Offensicht­lich waren sich die Bonner Strippenzieher sehr sicher, daß sie kurz vor einem außenpoliti­schen Durchbruch standen. Der Staatsminister fürs Grobe, Bernd Schmidbauer, wurde in der zi­tierten Bundestagsdebatte an ei­ner Stelle ausgesprochen heftig, als Norbert Gansel davon sprach, dieser habe “eine außenpolitische Initiative gestartet, die nun ge­scheitert” sei.
Darauf Schmidbauer: “Herr Gansel, ich widerspreche ihnen ganz entschieden, daß dies ge­scheitert ist. Die Sondierungsge­spräche waren sehr erfolgreich. Die ersten Bemühungen…zur Bildung eines Runden Ti­sches…sind so gelaufen, daß des­sen Bildung fest auf Anfang De­zember terminiert war. Ich wi­derspreche ihnen ganz entschie­den.” (7)
Viertens: Eine gewisse Rolle bei der beschriebenen Bonner Nebenaußenpolitik spielten die Interessen deutscher Konzerne. Das Projekt von Mannesmann wurde bereits erwähnt. Der Sie­mens-Konzern verfolgt im Land ebenfalls wirtschaftliche Interes­sen; unter anderem geht es um ein großes U-Bahn-Projekt.
Insgesamt wäre es jedoch falsch, die Bonner Nebenaußen­politik primär mit solchen Wirt­schaftsinteressen zu erklären. Es handelt sich wohl vielmehr um eine auf längere Sicht angelegte politische Strategie.
Fünftens. Die kolumbianische Regierung spielt in diesem Zu­sammenhang offensichtlich eine ähnlich zwielichtige Rolle wie die Bundesregierung. Sie war spätestens seit 1987 offiziell über die Rolle von Mauss und in Umrissen über die Bonner Ne­benaußenpolitik informiert. Da­mals gab es einen Kontakt zwi­schen der Kohl-Regierung und der Regierung in Bogotá; Bonn bat, Mauss nicht zu enttarnen. Im Gegenzug soll das Bundeskrimi­nalamt Hilfe bei der Aufstellung einer kolumbianischen Sonder­einheit geleistet haben.(9)
Mindestens bis Oktober 1996 scheint die Regierung Samper geneigt gewesen zu sein, das deutsche Spiel mitzuspielen; der Gesandte Sampers zu Schmid­bauer, der zumindest an einem der “insgesamt rund sechs Son­dierungsgespräche teilnahm, war immerhin der kolumbianische Innenminister Serpa. Gut vor­stellbar ist, daß die Regierung Samper gerade als Ergebnis des Drucks aus den USA die deut­sche Initiative aufgreifen wollte, um so ein Gegengewicht zu schaffen.
Ganz offensichtlich haben sich am Ende andere Interessen durchgesetzt. Der folgende Fra­ge-Antwort-Wechsel in der Bun­des­tagsdebatte beschreibt dies trefflich:
Hermann Bachmaier (SPD): “Herr Staatsminister, nachdem der Herr Mauss nach ihren Schilderungen seine Aufgabe so bravourös erledigt hat, wie erklä­ren Sie sich dann, daß er akkurat zu Beginn dieser Sondierungsge­spräche über einen Friedenspro­zeß in Medellín…verhaftet wor­den ist und schwerster Straftaten beschuldigt wird?”
Bernd Schmidbauer: “Ich kann ihnen das nicht beantwor­ten.”(10)

Verschleierung der Bonner Kolumbien-Politik

“All das ist gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt gesche­hen. Ich höre da immer etwas von Nebenaußenpolitik. Einen größeren Schwachsinn kann es überhaupt nicht geben.” (Bernd Schmidbauer, Bundestagsdebatte am 4. Dezember 1996)
Die Umrisse der eben skiz­zierten Bonner Nebenaußenpoli­tik wurden nur durch das Ein­wirken von Kräften publik, die aus Bonner Sicht nicht vorgese­hen waren. Wäre Mauss nicht verhaftet worden, hätten Kanzler Kohl und Außenminister Kinkel an Weihnachten 1996 eine Art kolumbianische Bescherung vor­geführt und sich als Friedens­bringer feiern lassen – Seit’ an Seit’ mit Daniel Ortega. Die Vor­arbeit, von Werner Mauss und Bernd Schmidbauer wäre dann ausge’blendet worden. Zumindest Mauss hätte dies bei seiner Gage von ein paar Millionen Dollar wohl verschmerzen können.
Von Anfang an und bis zur Verhaftung Mauss’ und seiner Ehefrau war die Nebenaußenpo­litik konspirativ abgesichert. Der Aufwand, der dabei betrieben wurde, war erheblich.
– Alle beschriebenen Treffen in Bonn mit Mauss und mit ko­lumbianischen Vertretern waren geheim. Geheim war auch, daß Mauss und Ehefrau Ida bei dem Treffen Schmidbauer-Samper in New York mit von der Partie wa­ren.
– Mauss wurde der kolumbia­nischen Regierung als offizieller Vertreter der Bundesregierung präsentiert. Seine Rolle als “Privatagent” blieb der kolum­bianischen Seite zumindest offi­ziell verborgen. Das bei Mauss gefundene Schreiben, erstellt von der deutschen Botschaft in Bo­gotá, wies diesen als “in offi­zieller Mission” reisend aus.
– Mauss war mit mehreren deutschen Pässen ausgestattet worden. Diese wurden von “ehe­maligen” BND-Mitarbeitern er­stellt. Eine solche Konspiration ge­genüber der kolumbianischen Re­gierung wäre dann völlig un­nö­tig gewesen, wenn Mauss nicht auch gegenüber dieser ein doppeltes Spiel gespielt hätte.
– Indem die Bundesregierung behauptet, es habe mit Mauss “kein dienstlich-offizielles Ar­beitsverhältnis” bestanden, ent­band sie sich auch von der Not­wen­digkeit, über die Mauss’schen Tätigkeiten im Rah­men der Parlamentarischen Kon­troll­kommission (PKK) zu be­richten. Groteskerweise be­ant­wortete Schmidbauer in der Bundestagsdebatte einige Fragen zu Mauss nicht und verwies dar­auf, dazu werde er – nunmehr! – in der PKK Stellung nehmen.
– Auf Vermittlung der Bun­desregierung und von Werner Mauss weilten im Juni 1995 führende Vertreter der Guerilla-Organisation ELN in Deutsch­land. Manfred Such (Bündnisgrüne) stellte im Bun­destag die Frage, inwieweit die Bundesregierung die Einladung der “drei führenden ELN-Gue­rilleros, Manuel Perez sowie Comandante Nicolas und Co­mandante Antonia García, die zu den meistgesuchtesten Straftä­tern Kolumbiens gehören, zu Vorträgen und Diskussionen mit PolitikerInnen nach Deutschland und Frankreich…mit den kolum­bianischen Gesetzen vereinbar halte.”
Schmidbauer antwortete dar­auf mit einem nebulösen Wort­schwall.
Er sagte unter anderem:
“Das ist eine sehr breit ange­legte Frage, weil diese Zusam­menkünfte…nach meiner Kennt­nis nicht stattgefunden ha­ben…Ich schließe nicht aus, daß es Gespräche mit der Guerilla gegeben hat. Aber ich glaube nicht, daß man in jedem einzel­nen Fall dieser Gespräche irgend jemandem Rechenschaft ablegen muß. Vielmehr ist das die freie Entscheidung jedes einzelnen, im übrigen auch anderer Fraktionen. Ob die bei ihnen aufschlagen (sic), weiß ich nicht, aber es gibt vielfältige Gespräche, in denen wir mit vielen Gruppen reden…” (11)
Gelegentlich wird darüber la­mentiert, Schmidbauer und das Bundeskanzleramt hätten diese Nebenaußenpolitik am Außen­ministerium vorbei betrieben. Das dürfte sich als Ente erwei­sen. Dagegen spricht bereits, daß aus dem Außenministerium und von Kinkel selbst keine Andeu­tung dieser Art kam, obwohl es eine gute Gelegenheit gewesen wäre, sich angesichts des Scher­benhaufens, vor dem das Bun­deskanzleramt heute steht, ent­sprechend zu profilieren.
Dagegen sprechen aber auch folgende zwei Details:
– Die Pässe für Mauss wurden von dem ehemaligen BND-Oberst Joachim Philip ausge­stellt. Dieser (Deckname: Pan­ten) spielte zu Kinkels BND-Zeiten dort eine wichtige Rolle. Kinkel hatte ihn bei dubiosen Waffengeschäften mit dem Irak gedeckt. (13)
– Im Zusammenhang mit der Affäre Mauss wurde von dem MdB Bachmaier im Bundestag angesprochen, daß “der Madrider Resident des BND, Herr Fischer-Hollweg, Aktivitäten im Zu­sammenhang mit den Befrei­ungsaktionen von Mauss unter­nommen habe.”
Darauf reagierte Bernd Schmidbauer gereizt und mit dem Verweis, er werde diese Frage nur in der PKK beantwor­ten. Tatsächlich dürfte besagter Fischer-Hollweg eine zentrale Rolle in der Affäre gespielt ha­ben und weiter spielen. Dieser Herr (Deckname: Dr. Eckerlin) war von Klaus Kinkel als BND-Chef dazu eingesetzt worden, das BND-Netz in Lateinamerika auszubauen. (14) Es ist höchst unwahrschein­lich, daß Kinkel nicht von diesen früheren engen Mitarbeitern über die Aktivitäten von Schmidbauer und Mauss informiert worden wäre – einmal abgesehen davon, daß er selbst es war, der Mauss für den BND erstmals angeheu­ert hatte.
Vor allem aber sprechen poli­tische Gründe dafür, daß es ge­wissermaßen eine deutsche Au­ßenpolitik “aus einem Guß” gab, mit voll integrierter Nebenau­ßenpolitik: Es mußte Teil der Konspiration sein, daß die offi­zielle deutsche Außenpolitik in Kolumbien vom Auswärtigen Amt repräsentiert wurde, wohin­gegen für die Nebenaußenpolitik der Minister fürs Grobe und sein Privatagent fürs Illegale zustän­dig waren.
So kann heute zumindest der Eindruck erweckt werden, als sei das Auswärtige Amt an dem Scheitern dieser Nebenaußenpo­litik nicht beteiligt und als müßte nur der nach außen als zweitran­gig gewertete Schmidbauer den Scherbenhaufen zusammenkeh­ren.

Weltpolitik und kleine Großmacht Deutschland

Otto Schily (SPD): “Sie sagen, es gibt offensichtlich Staaten minderen Rechts, in de­nen Sie sich ein Inter­ven­ti­ons­recht an­maßen.” (Bundes­tags­de­batte vom 4. Dezember 1996).
Mehrmals wurde in der Bun­destagsdebatte zum Thema Mauss und Kolumbien direkt und indirekt erwähnt, daß Ko­lumbien schließlich ein Staat be­sonderer Art sei. Bei dem CDU-MdB Rupert Scholz hieß es zum Beispiel: “Man kann nicht ein Land wie Kolumbien… an klassi­schen außenpolitischen Stan­dards messen und… von Souve­ränität reden. Hier mischt sich international organisierte Krimi­nalität… mit einem desolaten Zu­stand des Staates, dem man in vielfältiger Weise mit Mitleid und Hilfsbereitschaft begegnen muß. (15)
Offensichtlich praktizierte das Bundeskanzleramt mit Verweis auf die nicht vorhandene Souve­ränität Kolumbiens und auf die hier geforderte “Hilfsbereit­schaft” eine typische neoko­lo­ni-ale und neoimperiali­stische Politik: verfolgt werden die eigenen Interessen, wobei behauptet wird, diese deckten sich mit den “wirklichen Interes­sen” Kolumbiens. So mußte Schmidbauer in der Bundestags­debatte am 4. Dezember einge­stehen, daß die Bundesregierung Fragen, die Kolumbiens Regie­rung in Zusammenhang mit Mauss gestellt hatte und die seit gut zwei Wochen vorlagen, noch immer nicht beantwortet hatte.
Diese deutschen Interessen laufen darauf hinaus, daß die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach der Ein­verleibung der DDR sich nicht mehr mit der Rolle der Weltwirt­schaftsmacht begnügen will.
Das neue Bonner Großmacht­streben wird zunehmend aben­teuerlicher. Die Kolumbien-Af­färe weißt beispielsweise viele Parallelen zum Plutonium-Skan­dal auf. Dort wurde versucht, Rußland als nur bedingt souver­änen Staat vorzuführen. Be­hauptet wurde, daß es in Rußland eine kriminelle Atommafia gebe, die die Menschheit gefährde. Am Ende erwies sich, daß BND nunmehr mit Bundes-Nuklear-Dealer zu übersetzen ist und daß dieser Dienst als Agent Provo­kateur auftrat. Im übrigen ver­birgt sich hinter diesem Skandal ein zentrales Thema der neuen Bonner Großmachtpolitik, näm­lich die Frage, wie die Bundes­republik Deutschland zu einer Atommacht und damit gleich­wertig zu den übrigen Groß­mächten wird.
Seit einigen Jahren versucht die Bonner Regierung, die deut­schen Positionen in Lateiname­rika auszubauen. Sie gerät dabei, weit direkter als in Jugoslawien oder Somalia, in Widerspruch zu den US-Interessen. Mehrfach waren Kanzler Kohl und Au­ßenminister Kinkel, begleitet von Industriellen, in Lateiname­rika zu Besuch. Dort, wo deut­sche Interessen bereits mit eini­gem materiellen Gewicht ver­treten sind, vollzieht sich die deutsche Offensive in einiger­maßen geordneten Bahnen der Diplomatie. Mexiko beispiels­weise soll zu einem Freihandels­abkommen mit der EU bewegt und damit teilweise wieder aus der Bindung an die USA und Kanada, die mit dem NAFTA er­folgte, herausgesprengt werden. Dabei hat die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage hin nicht bestritten, daß Mexiko durch ein solches Abkommen ein jährli­ches Handelsdefizit von rund zwei Milliarden Dollar zu er­warten hätte. Stattdessen verwies sie darauf, Mexiko könne bei ei­nem solchen Freihandelsab­kommen andere Interessen als rein wirtschaftliche haben. (17)
Ähnlich argumentierte die Bonner Regierung gegenüber Kolumbien: Ausspielen des deutschen Gewichts gegen das bisher dominierende US-Schwergewicht. Die Bonner Ne­benaußenpolitik in Kolumbien richtet sich ganz offensichtlich gegen die US-Regierung, die dieses Land als ihren Hinterhof betrachtet – und die ihre arro­gante Haltung gegenüber diesem Land aufgrund der eigenen Vor­machtstellung kaum zu verber­gen versucht. Insbesondere mußte der Bonner Plan, im Rahmen der nationalen Versöh­nung den Drogen-Bossen eine legale Zukunft zu verschaffen, in Washington als Affront aufge­faßt werden.
Immer wieder tauchte in der Bundestagsdebatte der Verweis auf die USA auf. Freimut Duve äußerte hierzu: “Ich stelle fest, daß es keine offizielle Informa­tion unseres engsten Verbünde­ten, der USA, gegeben hat, die in Kolumbien besondere Sicher­heitsinteressen gerade im Um­gang mit der Narco-Guerrilla… haben.” (18)
Auf dem Höhepunkt der Krise gab es offensichtlich auch ein Treffen zwischen Schmidbauer und dem US-Gesandten Hol­brooke. Und viel spricht dafür, daß es die USA selbst waren, die dabei ein weiteres Mal die deut­schen Großmachtbestrebungen in die Schranken wiesen – wie schon zuvor beispielsweise durch die Enthüllung der deut­schen Verstrickung in den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen. Der Bündnisgrüne MdB Lippelt führte diesbezüglich in der De­batte aus: “Es gibt zwei Linien in der Bekämpfung des Terroris­mus. Die Verhaftung von Mauss hat natürlich damit etwas zu tun, daß jemand, der eine andere Li­nie vertrat, ihn verhaften ließ. Damit sind Sie aber in eine in­nenpolitsche Auseinanderset­zung in einem anderen Land ge­raten…” (19)
Bleibt die Frage, warum die Bundesregierung und Schmid­bauer im Bundestag und in der Öffentlichkeit jede Kritik an Mauss’ Aktivitäten abwehrten und das gesamte Spektrum seiner illegalen Auftritte – einschließ­lich der persönlichen Bereiche­rung und der wahrscheinlichen aktiven Beteiligung an der ko­lumbianischen Entführungsindu­strie – entweder verteidigten oder Unwissenheit vortäuschten.
Nun: Die Maus(s) sitzt im Loch und wenn sie aus diesem nicht bald herausgeholt wird, dann pfeift sie. Mauss war eben jahrzehntelang nicht Privat-, sondern Staatsagent. Noch die­sen Sommer trafen sich der ko­lumbianische Innenminister Serpa und Schmidbauer auf sei­nem Anwesen im Hundsrück zur Absprache von Details der abenteuerlichen Großmachtpoli­tik. Vor allem aber war Mauss Staatsagent, ausgestattet mit BND-Pässen und mit Schutzbrie­fen vergleichbarer Art wie jetzt in Kolumbien – und dies bei noch weitaus heikleren Missionen. Was wäre, wenn Mauss über sol­che andere Missionen plauderte, etwa jene, die er betrieb, als er noch von BND-Chef Klaus Kin­kel für ein Jahressalär von 650.000 Mark arbeitete? Was wäre, wenn er über den Vertrag plauderte, der zwischen dem Madrider BND-Residenten Fi­scher-Hollweg und ihm in Sa­chen Kolumbien laut Erich Schmidt-Eenboom abgeschlos­sen worden sein dürfte? (20) Und welche Turbulenzen ent­stünden, wenn Mauss über seine Mission plauderte, die ihn am 9. Oktober 1987 nach Genf und am 11. Oktober von dort wieder zu­rück in die Bundesrepublik Deutschland führte – immerhin landete er dort wenige Stunden vor Barschels letzter Reise und Ankunft und logierte im Nach­barhotel. Wenige Stunden nach der Entdeckung der Barschel-Leiche flog er wieder zurück nach deutschen Landen. Nicht zuletzt führte er gelegentlich denselben Decknamen “Roloff”, den Barschel als denjenigen Kontaktmann genannt hatte, der mit ihm in Genf dringend zu re­den wünschte…(20)

(1) Frankfurter Rundschau vom 14.12.1996
(2) Schmidbauer hat seine Formulie­rung, mit Mauss habe es zwar kein offizielles Dienstverhältnis gegeben, seine Aktivitäten in Kolumbien seien jedoch von der Bundesregierung “positiv begleitet worden”, in der Parlamentsdebatte auch auf den frü­hen Zeitpunkt 1984ff bezogen. Siehe Bundestagsprotokoll, Debatte vom 14.12.1996; S.13008.
(3) Der Spiegel Nr. 37/1996
(4) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.12999.
(5) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13007.
(6) Nach El Espectator vom 1.12.1996; dpa vom 2.12.1996
(7) Bundestagsdebatte, a.a.o., S.13007.
(8) Kurzbericht über Lateinamerika, herausgegegen von der Deutsch-Südamerikanischen Bank, Hamburg, Februar 1995, S.86.
(9) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13011.
(10) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13019.
(11) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13016f.
(12) Der Spiegel Nr. 50/1996
(13) Nach: Erich Schmidt-Eenboom, Der Schattenkrieger – Klaus Kinkel und der BND, Düsseldorf 1995, S.81.
(14) Schmidt-Eenboom, a.a.O., S.35ff.
(15) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13027.
(16) Siehe Winfried Wolf, Haiti – Aroganz im Armenhaus – Bonner Diplomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996, S.27f.
(17) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Winfried Wolf und der Gruppe der PDS, Ok­tober 1996; La Jornada (Mexiko D.F.) vom 31.7. 1996.
(18) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13034.
(19) Bundestagsdebatte, a.a.O., S.13023.
(20) Erich Schmidt-Eenboom im Deutschlandfunk vom 4.12.1996, nach: Fernseh-/Hörfunkspiegel, In­land I vom 5.-12.1996, S.8
(21) Vgl. Winfried Wolf, “Es war doch Mord”, in: Abendzeitung (Wien) vom 3.12.1987; Winfried Wolf, “Barschel bis zum Abwinken – Mordmotiv: Südafrika”, in Soziali­stische Zeitung/SoZ vom 5.10.1995; Stefan Aust, Mauss – Ein deutscher Agent, Hamburg 1988, S.388.
Winfried Wolf ist MdB, Mitglied der PDS-Gruppe im Bundestag und Mit­glied im Ausschuß für Wirtschaftli­che Zusammenarbeit und Entwick­lung. Jüngste Veröffentlichungen zum Thema “Dritte Welt”: 500 Jahre Conquista – die Dritte Welt im Wür­gegriff, Köln 1992 (ISP); Haiti – Ar­roganz im Armenhaus – Bonner Di­plomatie, Rassismus und Armut­sentwicklung, Köln 1996 (ISP).

Mauss & Co.

16. November 1996, kurz vor Mitternacht: Auf dem Flugplatz Rionegro bei Medellín möchten drei Deutsche eine privat gecharterte Maschine nach Car­tagena besteigen. Doch ein Poli­zist der Anti-Entführungseinheit Gaula, die Mauss seit Tagen im Visier hatte, verständigt sei­nen Vorgesetzten, Oberst San­toyo. Dieser gibt Anweisung, die Deut­schen bei der Paß- und Ge­päckkontrolle hinzuhalten. Nach seiner Ankunft begrüßt Santoyo Brigitte Schöne, die Gattin eines ehemaligen BASF-Managers, die sich drei Monate lang in der Ge­walt der Guerillagruppe ELN (Na­tionale Befreiungsarmee) be­funden hatte. Dann läßt er Mauss und seine Frau Ida festnehmen.
Am folgenden Tag präsentiert der Gouverneur Antioquias, Al­va­ro Uribe Vélez, der Presse das Ehe­paar Mauss samt dem beschlagnahmten Material: di­verse Pässe und andere Aus­weise, Kreditkarten, vier Han­dys, ein Satellitentelefon, ein Faxgerät, ein Anrufbeantworter, ein Laptop und schließlich eine Liste mit 80 “terroristischen Or­ganisationen”. Uribe fuhr schwe­res Geschütz auf: Mauss stecke mit der ELN unter einer Decke, es sei sogar denkbar, daß er der Guerilla bei der Auswahl von Entführungsopfern helfe. Gene­ral Rosso José Serrano, der Chef der kolumbianischen Poli­zei, be­zeichnete Mauss gar als “Söld­ner” und “Mitglied eines in­ter­na­tio­nalen Netzwerks von Terro­ri­sten”.
Am 3. Dezember klagte die Staats­anwaltschaft Werner und Ida Mauss wegen Beteiligung an einem “gravierenden Entfüh­rungs­fall zur Gelderpressung”, “Pla­nung einer Entführung” und “Ge­brauchs falscher öffentlicher Do­kumente” an.

Geschäfte mit Mannesmann und Siemens

Werner und Ida Mauss sollen von 1984 bis 1987 in Kolumbien gewohnt haben, just zu der Zeit, in der Mannesmann die Pipeline von Puerto Limón (Arauca) nach Coveñas an der Karibikküste bau­te. Mit unkonventionellen Me­thoden half Mauss dem Düs­seldorfer Multi über lästige bü­rokratische Vorschriften hinweg, die beispielsweise vorschrieben, nicht mehr als 10 Prozent der 4.000 benötigten Fachkräfte dürf­ten Deutsche sein. Also schleuste Mauss deutsche Man­nesmann-Angestellte als Touri­sten ins Land und – mit 300 US-Dollar Bestechungsgeld pro Na­se – wieder hinaus. Auch Ma­schi­nen, Röhren und Pumpen wurden mit Hilfe geschmierter Zollbeamter ins Land ge­schmuggelt. Schließlich löste er das Problem mit der ELN, die zu Beginn des Projekts zwei In­ge­nieure entführte und An­schläge auf den Bau verübte. Mauss or­ganisierte die Zahlung von an­geblich vier Millionen US-Dollar und weiteren Monats­raten à 200.000 US-Dollar an die Gue­ri­lla, um die Fertigstellung der Pi­peline sicherzustellen. Diese Fi­nanzspritzen trugen er­heblich dazu bei, daß sich die ELN in je­nen Jahren als zweit­größtes Gue­rillaheer Kolumbiens kon­so­li­dieren konnte. Seitdem führt sie jährlich rund 40 An­schläge auf genau diese Pipeline durch, um – so die Rechtferti­gung – eine Erd­ölpolitik im na­tionalen Interesse einzufordern.
1990 traten “Klaus und Mi­chaela Möllner” als “besondere De­legierte für informelle Ge­spräche” für Siemens in Erschei­nung, wie die Erlanger Zentrale dem damaligen Gouverneur An­tio­quias mitteilte. Siemens ist am deutsch-spanischen Konsortium Me­tromed beteiligt, das seit 1985 die Medelliner S-Bahn baut, ein äußerst kostspieliges und um­strittenes Projekt. Die Ma­drider Zeitung El Mundo be­hauptete Anfang dieses Jahres, Metromed habe allein an Be­ste­chungs­geldern 45 Millionen US-Dollar verbraucht.
Mauss versprach seinerzeit dem kolumbianischen Ver­trags­partner Metro de Me­de­llín, durch Interven­tion bei der Bundesre­gierung und Ban­ken die Kosten um 600 Mil­lio­nen US-Dollar zu senken, wenn er Forderungen von Me­tro­med in Höhe von 150 Millionen US-Dollar anerkenne. Daraus wur­de nichts, doch heute re­klamiert Metromed immer noch 103 Millionen US-Dollar – Sach­verwalter für das Konsor­tium ist in dieser Angelegenheit der Ex-Konsul in Berlin, Carlos Villamil.
Ein weiteres Siemensprojekt ist – vorläufig – geplatzt, und zwar die großangelegte Moder­ni­sie­rung des kolumbianischen Ein­wohnermelderegisters. Denn ge­rade an dem Tag, an dem Sie­mens als eindeutiger Favorit für den Zuschlag proklamiert wurde, kam ein bei Mauss gefundenes Schreiben ans Tageslicht, in dem ihn der Ex-Senator Eduardo Me­stre um 50.000 US-Dollar für ein “ge­lungenes Geschäft” bittet; alles spricht dafür, daß damit der Vertrag mit der Meldebehörde ge­meint war. Mestre, Villamil und Mauss kennen sich seit 1991.

Friedensengel Mauss

Villamil ist auch derjenige, auf den die Version vom “Frie­dens­engel Mauss” zurück­geht. Danach stamme die Idee für Ver­hand­lungen zwischen der kolum­bia­nischen Regierung und der ELN, die unter der Ägide Helmut Kohls im Bonner Kanz­leramt steigen sollten, vom deut­schen Multiagenten. Zur Vorbe­reitung reiste Innenminister Ho­racio Serpa im Juli in offizieller Mission nach Deutschland, wo er im kitschigen Mauss-Schloß an der Mosel nächtigte, in Bonn mit Ge­heimdienstkoordinator Bernd Schmid­bauer und in München mit Siemens-Chef Heinrich von Pierer zusammentraf.
Kernstück von Serpas fünf­stündiger Verteidigungsrede vor dem Kongreß am 6. Dezember war denn auch sein farbiger Be­richt von dieser Reise. Tief be­ein­druckt zeigte er sich vom Frankfurter Flughafen, von Mauss’ Mercedes mit vier Tele­fonen und Radaranlage sowie der Fahrt mit dem 550 Stundenkilo­meter schnellen Transrapid. Mit von Pierer habe er sich über Kolumbien unterhalten, über Fuß­ball und – am Rande – über die Millionen-Reklamation an Me­tro de Medellin. Er habe den Siemens-Leuten al­lerdings versi­chert, dies liege außerhalb seiner Kompetenz. Bei den Gesprächen mit Schmid­bauer sei es vor allem um die geplanten Friedens­ver­hand­lun­gen gegan­gen. Außer­dem sollte die Bun­desregierung gut Wetter bei Bill Clinton machen, der Tage zuvor dem ko­lum­biani­schen Präsiden­ten Er­ne­sto Sam­per das Einrei­sevisum in die USA entzogen hat­te.

Über Fußball geredet

Über diese Treffen gibt es ein so­genanntes “Nicht-Dokument”, das auf einem Protokoll von Ida Mauss basieren soll, sowie ein Villa­mil-Memorandum an Sam­per. In ersterem ist auch die Rede von Verhandlungen mit der Drogenmafia, doch will niemand dieses Thema aufgebracht haben. Die Bundesregierung behauptet, der Wunsch zu diesen informel­len Kontakten sei von Kolum­bien ausgegangen.
Zurecht wurde im kolumbia­nischen Kongreß auf die zwei­fel­hafte Verknüpfung von Ge­schäfts­interessen und etwaigen Frie­densgesprächen verwiesen. Ser­pa, Schmidbauer und auch das Agentenpärchen führen zu ihrer Verteidigung wortreich die “Friedensmission” an. Serpa – dessen Vetter Jorge mit dem Mo­der­nisierungsprojekt des Mel­de­re­gisters betraut war – ver­sicherte hoch und heilig, Mauss nur als Kontaktmann zum Kanz­leramt zu kennen. In seine “un­kon­ven­tio­nellen, humani­tä­ren Mis­sio­nen” (Schmidbauer) als “Kom­mis­sionär der ELN” (ko­lum­bianische Polizei) sei er nicht eingeweiht gewesen. Das Ende seiner Rede nutzte Serpa gar, um sich erstmals öffentlich als Prä­si­dentschaftskandidat für 1998 ins Spiel zu bringen. Das Er­gebnis – über 80 Prozent der Ab­ge­ord­ne­ten lehnten den Miß­trau­ens­an­trag gegen ihn ab – war ein po­li­ti­scher Triumph.
Geschickt hatten es Serpa und sein möglicher Rivale Uribe ver­mieden, sich gegeneinander aus­spielen zu lassen. Innerhalb der dominierenden liberalen Partei sind sie die markantesten Ver­treter des linken bezie­hungs­wei­se rechten Flügels; die Mauss-Affä­re nutzte Uribe endgültig, um sein Image als un­beirrter Sau­bermann gegen die Guerilla und ihre Helfershelfer zu fe­sti­gen. Generalstaatsanwalt Alfon­so Valdiviso, der ebenfalls als Prä­sidentschaftskandidat im Ge­spräch ist und in dessen Hän­den das Schicksal der beiden Deut­schen nun liegt, sprach von einer “ern­sten Gefährdung der na­tio­na­len Sicherheit.”
Die Stimmung im Lande bei die­ser Frage geht in Richtung ei­ner Politik der “harten Hand” im Sinne von Uribe und Valdivieso, zu­mal Mauss auch mit Waf­fen­im­porten für die ELN in Ver­bin­dung gebracht wurde. Daher scheint es durchaus denkbar, daß die Bundesregierung – die Mauss über die Botschaft nach Kräften un­terstützt hatte und ihn jetzt los­ei­sen möchte – zunächst ein­mal auf Granit beißt, jedenfalls, so­lange die Affäre in den Schlag­zeilen bleibt. An­dererseits dürf­ten einflußreiche Po­litiker in bei­den Ländern – allen voran Sam­per, Serpa und Schmidbauer – sehr daran in­ter­es­siert sein, daß Mauss sein Wissen über die Schat­tenseiten der deutsch-ko­lum­bianischen Beziehung für sich behält.

Wollmützen auf der Bühne

Im Morgengrauen rückte sie an, die gefürchtete Justizpolizei. Mit Knüppeln bewaffnet spran­gen die Männer aus ihren Kom­bis und schlugen wahllos auf die versammelten Indígenas ein, egal ob Männer, Frauen oder Kinder. Die Scheinwerfer der Polizei­hubschrauber tauchten die Stra­ßen der chiapanekischen Stadt Venustiano Carranza in helles Licht. Dann fielen Schüsse auf die rund 500 Menschen, die sich dort eingefunden hatten. Drei Personen starben an diesem 9. November, ein zwei Tage altes Baby wurde zum Halbwaisen. Seit Tagen hielten die Campesi­nos die Straße nach Tuxtla Gutiérrez besetzt. Ihre Forderun­gen waren eher bescheiden: Mehr Geld für den Mais, den sie anbauen und von dessen Verkauf sie leben. Sie hofften auf Ver­handlungen mit der Regierung, auf die Erfüllung ihrer Forderun­gen. Doch die Machtinhaber in Chiapas schlugen hart zurück.
Knapp eine Woche zuvor, in der Nacht zum 4. November, hatten die berühmt-berüchtigten und allgegenwärtigen “Un­be­kann­ten” den Sitz der Co­or­di­na­do­ra Nacional por la Pa­ci­fi­ca­ción (CONPAZ) in San Cristóbal de las Casas überfallen, Unter­la­gen und Lebensmittel entwendet und anschließend die Büros in Brand gesteckt. Sie hinterließen Sprüche wie “Tod den Za­pa­ti­sten!” und “Weg mit den Za­pa­ti­sten! Man will Euch nicht.” Am näch­sten Tag fand sich auf dem An­rufbeantworter eine Mord­dro­hung gegen 26 Mitarbeiter aller Nicht-Regie­rungsorganisationen, die sich in der CONPAZ zu­sam­men­ge­schlossen haben. “Wir wer­den Euch alle umbringen, einen nach dem anderen. Und da, wo es Euch am meisten weh tut: Auch Eure Kinder!” sprach eine fin­stere Stimme vom Tonband. Um die Drohung zu unter­strei­chen, entführten die Täter den Ge­schäftsführer von CONPAZ und seine ganze Familie, schlu­gen ihn vor den Augen seiner Kin­der zusammen und entließen ihre Opfer mit kahlgeschorenem Kopf nach fast dreitägiger Haft.

Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser

Der Zeitpunkt war nicht zu­fällig gewählt. Die Morddrohun­gen und die Entführung fanden just zu einem Zeitpunkt statt, als sich viele Augen nicht nur in Me­xiko wieder einmal auf Chia­pas und auf San Cristóbal rich­te­ten. Für den 4. November war ur­sprünglich die Einrichtung der “Kom­mission zur Verfolgung und Überwachung des Friedens­ab­kommens von San Andrés Larráinzar” geplant. Hinter die­sem komplizierten Namen ver­birgt sich eine aus VertreterInnen der mexikanischen Regierung, der ZapatistInnen sowie der par­lamentarischen (COCOPA) und der kirchlichen (CONAI) Ver­mittlerorganisationen zusam­mengesetzte Instanz zur Ge­währleistung aller in Zukunft vereinbarten Abkommen zwi­schen den KontrahendInnen im Chiapas-Konflikt. Die Einrich­tung einer solchen Kommission gehörte zu den zentralen Forde­rungen des EZLN, um die Si­cherheit ihrer KämpferInnen und der überwiegend indigenen Be­völkerung in den umkämpften Zonen zu verbessern. Dieses “Eingeständnis” konnte die Bun­desregierung offenbar nicht ma­chen, ohne noch einmal ein­drücklich zu zeigen, wer denn eigentlich Herr im Hause Me­xiko ist. Drei Tage lang hielten sie die in San Cristóbal ver­sammelte EZLN-Delegation hin, bevor die Kommission offiziell ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die von der Regierung zu stel­lenden Vertrauensleute wurden, obwohl es drei Wochen vorher Zeit gegeben hätte, erst einen oder zwei Tage vor Termin an­gesprochen. Zudem waren die Delegierten zum Teil für die Za­patistInnen unannehmbar, so daß diese ihre Zustimmung versag­ten.
Doch als die Kommission am 7. November endlich offiziell ins Leben gerufen wurde, revan­chierte sich die Guerilla auf ihre Weise. Ihr ursprünglich nicht eingeplanter Fußmarsch vom Ort der gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen – von dem ehe­maligen Kloster El Carmen zum Stadttheater von San Cristóbal – geriet zu einem regelrechten Tri­umphzug für die Comandantes mit ihren charakteristischen, nur Augen und Mund freilassenden Wollmützen. Auch im Saal des renovierten Theaters lagen die Sympathien der meisten Anwe­senden eindeutig bei den Zapatist­Innen. Doch es war nur ein kleiner propagandistischer Sieg in Anbetracht der Verzöge­rungstaktik der Bundesregierung. “Die Regierung will uns nur hin­halten und zum Aufgeben brin­gen,” zeigt sich denn auch Co­mandante Ramón etwas resi­gniert. Im Anschluß erklärt er zwar, das EZLN habe alle Zeit der Welt. Doch so ganz überzeu­gend klingt das nicht.
Nicht wenige politische Be­obachter sind der Auffassung, daß der EZLN-Aufstand letzten Endes nur der Regierungspartei PRI genutzt habe. Das stimmt si­cherlich nicht, diese Aussage muß zumindest auf die opposi­tionelle Partei der Nationalen Allianz (PAN) ausgeweitet wer­den. Die Rechtskonservativen haben erst am 24. November er­neut ihre wachsende Popularität unter Beweis gestellt. Bei den Kommunalwahlen in mehreren Bundesstaaten konnte die PAN in vielen Städten Siege erringen und ließ die linke PRD (Partei der Demokratischen Revolution) deutlich hinter sich. Und überall dort, wo die PAN auf Bundes­staatsebene zum zweiten Mal die Regierung stellt, vor allem in Baja California, ist ein neues Phänomen zu beobachten: Die PRI, aufgrund der heterogenen Struktur mehr ein Regierungsap­parat als eine Partei, zerfällt zu­sehends. Zumindest in der bishe­rigen Form sind ihre Tage ge­zählt. Diese Entwicklung werden wohl auch Wahlmanipulationen und Politikermorde nicht mehr aufhalten können. Dazu immer­hin hat der ZapatistInnenauf­stand wesentlich beigetragen.

Erst vergessen, dann verschleppt

Viel hat sich im Leben der Men­schen in Loxicha nicht ver­än­dert, seit zapotekische In­dí­ge­nas vor 300 Jahren mit Santa Cata­rina und der jetzigen Kreis­haupt­stadt San Agustin die ersten der mittlerweile 32 Gemeinden die­ses Landkreises gründeten. Als Transportmittel dienen Esel und seltener auch Pferde, um die spär­lichen Maiserträge, die sich den kargen Böden abtrotzen las­sen, von den Feldern zu holen. Spa­nisch ist für die meisten der 35.000 BewohnerInnen eine Fremd­sprache und die Analpha­be­tenrate liegt bei 80 Prozent. Me­di­zinische Versorgung für Loxicha ist im Haushaltsbudget der seit 70 Jahren regierenden Staatspartei PRI nicht vorgese­hen. Lediglich ein Arzt, dessen Mög­lichkeiten aufgrund fehlen­der Medikamente in der Land­kli­nik mehr als begrenzt sind, steht den Menschen dieser Re­gion zu Dien­sten. Lastkraftwa­gen gibt es kaum und nur ein Bus quält sich täg­lich die schlängelnde Schot­ter­piste hin­auf, um die Pas­sa­giere ins 60 Kilometer, aber drei Fahrt­stunden ent­fernte Städtchen Mia­huatlán zu bringen. “Die Re­gie­rung hat uns hier in den Ber­gen einfach ver­gessen”, klagt ein al­ter Campe­sino, “nicht einmal eine Straße gibt es.” Doch mit dem Leben in Abgeschiedenheit ist es nun end­gültig vorbei.
Begonnen hatte alles Anfang Sep­tember 1996, als 1200 Be­woh­nerInnen Loxichas zu Fuß zur Landeshauptstadt Oaxaca auf­brachen, um die Freilassung von Francisco Valencia zu for­dern. Dieser war in einer Militär­sper­re mit angeblich subversiven Schrif­ten festgenommen worden. Nur zehn Tage nach dem Protest im 130 Kilometer weiter nörd­lich gele­genen Regierungssitz wur­de San Agustin von Armee- und Poli­zeieinheiten besetzt. Un­ter dem Vorwurf, die im an­gren­zen­den Bundesstaat Guerrero auf­ge­tauchte Guerilla EPR zu un­ter­stützen, wurden zwanzig Per­so­nen – darunter der PRI-Bür­ger­meister und die Polizisten der Kreis­stadt – festgenommen. Acht Be­wohner San Agustins wur­den wenig später, mit von Fol­terspu­ren gezeichneten Kör­pern, frei­ge­lassen. Einige be­fin­den sich in Ge­fängnissen außer­halb Oaxa­cas, von anderen fehlt bis­her je­des Lebenszeichen.
Wiederum machten sich die Men­schen auf den Weg, um für die Freilassung ihrer Angehöri­gen zu demonstrieren. Diesmal wa­ren es 600 Menschen, die bis zum Präsidentenpalast der 600 km entfernten mexi­ka­ni­schen Haupt­stadt aufbrachen. Mit Ver­spre­chungen, die vor­ge­tra­genen Kla­gen zu prüfen und der notlei­den­den Bevölkerung mit Nah­rungs­mittelzuweisungen zu hel­fen, wurden sie nach Hau­se ge­schickt. Doch daraus wur­de nichts. Statt der erhofften Le­bens­mittel kamen am 7. No­vem­ber erneut Polizeitrupps und Sol­da­ten: 22 BewohnerInnen San Agustins – unter ihnen der Lehrer Lau­reano Ramirez – wurden ver­haf­tet. Als Grund dieses Über­falls wurde von staatlicher Seite er­neut das Auftreten der EPR ge­nannt.
Am 28. Oktober hatte die nach der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung EZLN nun zweite in Mexiko operie­ren­de Guerilla ihren einseitigen Waf­fenstillstand für beendet er­klärt und eine bewaffnete Kam­pag­ne eingeleitet. Bei mehreren Über­fällen auf Polizei- und Ar­mee­posten in den Bundesstaaten Guer­rero, Oaxaca und Mexiko wur­den 20 Angehörige der Poli­zei und Armee von Kommandos der EPR erschossen, weitere 20 ver­letzt. Bei keinem dieser EPR-An­griffe hatte es eigene Verluste oder Verhaftete gegeben.
Trotz penibler Hausdurchsu­chun­gen waren in San Agustin kei­nerlei Waffen oder Militär­klei­dung gefunden worden. Den­noch wurden der Öffentlich­keit meh­rere Bewohner aus Loxicha als Mitglieder der EPR prä­sen­tiert. Nach Angaben der un­ab­hän­gigen Menschenrechts­or­ga­ni­sa­tion Limeddh waren diese ge­zwun­gen worden Ar­mee­uni­for­men anzuziehen und sich mit Waf­fen in Händen fo­tografieren zu lassen. Somit konnte die Re­gie­rung in der Presse erste Erfolgs­meldungen im Kampf ge­gen die EPR ver­melden. Al­ler­dings kam die staatliche Version, daß die ver­meintlichen Gue­ril­le­ros in Tarn­anzügen und zudem be­waffnet ohne Widerstand in ih­ren Häu­sern festgenommen wer­den konn­ten, nicht wenigen Be­obachterInnen seltsam vor. Schließlich ist das Polizeimassa­ker an unbewaffneten Campesi­nos am 28. Juni 1995 nahe der Tou­ristenmetropole Acapulco in Guer­rero noch allen im Gedächt­nis. Damals waren den 17 zum Teil durch Genickschüsse er­mor­de­ten Bauern Waffen in die Hän­de gedrückt worden, um das bar­ba­rische Vorgehen der Staats­or­ga­ne zu rechtfertigen. Zwar konnte das “Waffensäen”, wie der­artige Polizeipraktiken in Me­xi­ko genannt werden, von in­ter­na­tionalen BeobachterInnen nach­gewiesen werden, das Echo die­ser Bluttat hallt jedoch nach. Ein Jahr später, während der Ge­dächt­nisfeier am Ort des Massa­kers Aguas Blancas, trat die EPR erst­mals in Erscheinung und er­klär­te der mexikanischen Regie­rung den Krieg.
Für die BewohnerInnen Lo­xi­chas hat ein Alptraum begon­nen. Nie­mand weiß genau zu sa­gen wie­viele Angehörige ver­haftet oder verschwunden sind. Weder Poli­zei noch Armee wol­len Aus­künfte über den Verbleib einiger Ver­schleppter machen. Und die Re­pression gegen die Menschen die­ser Region nimmt weiter zu. Bei mehreren Polizei­razzien zwi­schen dem 26. November und dem 1. De­zember wurden in den Or­ten San Vicente Yagondoy, Loma Bo­nita, Llano Maguey, Santa Cruz de las Flores und Mag­dalena – allesamt im Land­kreis Loxicha gelegen – 24 Per­so­nen verhaftet, deren jetziger Auf­enthaltsort un­be­kannt ist. Nach Angaben der An­gehörigen sind keine Haftbe­fehle vorgelegt wor­den. Ledig­lich das Schicksal von Adrian Sebastian Antonio ist be­kannt. Er wurde am Ort seiner Fest­nahme tot­ge­foltert und lie­gen­gelassen.
Der Ruf der Menschen von Loxicha nach Gerechtigkeit, Frei­lassung der Gefangenen und dem Abzug der Armee aus ihrer Re­gion stößt bei den Regieren­den auf taube Ohren. General­staats­anwalt Pedro Martinez Or­tiz hat weitere Militäroperatio­nen angekündigt.

Gemeinsame Realitäten

Nahezu sieben Jahre ist es her, daß Vanete Almeida aus Pernambuco die Idee zu diesem Treffen hatte, als sie während des 5. lateinamerikanischen Fe­ministinnentreffens feststellte, daß unter 3000 Teilneh­merinnen lediglich sieben Landfrauen wa­ren.
Sie ist eine der Hauptorgani­satorinnen des Treffens und seit 20 Jahren in der Landfrauenbe­wegung im brasilianischen Nord­osten tätig. 1993 begannen die eigentlichen Vorbe­reitungen mit Tref­fen von Basisgrup­pen, Ko­ope­rativen und Gewerk­schaften auf regionaler bzw. na­tionaler Ebene. Hier wurden die The­men­schwer­punkte des 1° ENLAC dis­ku­tiert und an die in­ter­na­ti­o­na­le Ko­ordination, die sich eben­falls 1993 das erste Mal in Forta­leza und ein zweites Mal 1995 am Rande der Weltfrauen­kon­fe­renz in Peking traf, weiter­ge­ge­ben.
“Die meisten Landarbeiterin­nen leben sehr isoliert, ohne Te­lefon, und es mußten viele, viele Ki­lometer zu Fuß zurückgelegt wer­den, um an die Frauen heran­zu­kommen.”

Begriffsbestimmung

Auf der Suche nach einer ge­mein­samen Diskussionsgrund­lage stellte sich in Kleingruppen und den anschließenden Ple­nen heraus, daß unterschiedlichste Be­reiche und Beschäftigungs­ver­hält­nisse berück­sichtigt wer­den müs­sen. So zum Beispiel unter­schei­det sich die älltägliche Ar­beit einer boliviani­schen Mi­nen­ar­beiterin ganz erheblich von dem, was man allgemein unter Land­frauen­arbeit verstehen wür­de. Die Defini­tion, die für alle Frau­en gleicherma­ßen paßte, war fol­gende: Sie lebt auf dem Land, er­nährt sich und ihre Fa­milie, ihre Arbeit wird oft nicht als Extraarbeitskraft erwähnt und sie lei­det fast immer unter der Dop­pel­belastung Landar­beit­/Haus­ar­beit. Bei Kreditver­gabe­pro­gram­men werden Land­frauen so gut wie nie berück­sichtigt, da sie als Fa­milienvor­stände nicht aner­kannt werden. Auch der Land­erwerb ist in vielen Ländern den Män­nern vorbe­halten, ge­nau­so wie der Verkauf von Pro­duk­ten.
Das Schicksal des Ehren­gastes Dona Elisabeth Alpina Teixeira, die nach der Ermor­dung ihres Mannes 17 Jahre un­ter falschem Namen lebte, ist leider keine Seltenheit. Während des Erfah­rungsaustausches zum The­ma “Gewalt gegen Land­frau­en” berichteten erschüttern­der­wei­se viele Frauen über sehr ähn­liche Er­fahrungen mit physi­scher, psychischer, sexueller und öko­no­mischer Gewalt in­nerhalb der Familie, bei der Arbeit, in Or­ganisationen und durch die Re­gierung. Vergewaltigungen von Ehefrauen und Töchtern mit an­schließenden Mord­drohungen, falls die Opfer es wagen sollten sich zu wehren, sind keine Sel­ten­heit.
Die Landarbeite­rinnen über­leg­ten sich Strategien, wie sie ihre Situation und die ihrer Kin­der verbessern können. Wichtige As­pekte waren die Erziehung der Kin­der im Hin­blick auf Gleich­be­rechtigung und die Stärkung der Landarbeiterinnenorganisa­tio­nen.

Verarmung und Globalisierung

Auch ökologische Themen spielten eine wichtige Rolle wäh­rend des Treffens. Vor einem imaginären Tribunal klagten die Cocaleiras (Kokapflanzerinnen) aus Kolumbien ihre Regierung an, die Herbizide im Kampf ge­gen den Drogen­handel versprüht und dabei die Ver­giftung von Arbei­terinnen und deren Kindern in Kauf nimmt. Für viele Land­arbeiterinnen ist der Anbau von Koka die einzige Chance zu überleben, denn der ehemals be­triebene Kaffee­anbau bringt kei­nen Gewinn mehr.
Im Laufe der Dis­kussion wurde ein Zusammenhang zwi­schen zunehmender Verarmung im rura­len Sektor und Globali­sierung der Wirtschaft bzw. neo­liberaler Politik hergestellt, da die Staaten ihre Aus­gaben für Bildung, Gesundheit und techni­scher Unter­stützung mit fort­schrei­tender Glo­balisierung re­duzieren, wovon Frauen beson­ders betroffen sind. He­lena Selma (Universidade Fede­ral do Ceará) for­derte eine differen­zierte Agrarpolitik im Sinne von “positiver Diskrimi­nierung” von Min­derheiten wie z.B. Kleiner­zeugerInnen, um überhaupt eine Kon­kurrenzfähigkeit gewährlei­sten zu können.
Zwischen Diskussi­onsrunden und Ple­nen hatten die Veran­stalterinnen bewußt Raum für kulturelle Veran­staltungen gelas­sen, der den Frauen die Mög­lichkeit gab, ihre eigene kul­turelle Identität mit Musik, Kunsthandwerk und typischer Kleidung in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu stellen. Hier wurde die Hetero­genität, die sich vorher in den Diskussionsbeiträ­gen gezeigt hatte, noch einmal sichtbar.
Trotz einiger organisatori­scher Mängel bedeutet das 1° Encontro Latino-Americano e do Ca­ribe da Mulher Tra­balhadora Rural einen wichtigen Schritt für die Landarbeiterinnenbewegung in Lateiname­rika und der Kari­bik. Für die meisten Landarbeite­rinnen und vor allem für die, die noch nie die Möglichkeit hatten ihre Region, geschweige denn ihr Land zu verlassen, war die wichtigste Erfahrung, zu wis­sen, daß es sehr viele Frauen mit den gleichen Problemen, Ängsten und Hoff­nungen gibt, die für diesselbe Sache kämpfen.

KASTEN

Ehrengast Dona Elisabeth Altina Teixeira

Dona Elisabeth Altina Teixeira, eine heute 71jährige Bäuerin aus Paraíba, wurde 1984 be­rühmt, als der Dokumentarfilm “Cabra Marcado pra Morrer” (“Die zum Sterben verurteilte Ziege”) den goldenen Tukan auf dem Filmfestival in Rio gewann. Der Film erzählt die Geschichte ihres Le­bens und der Ermordung ihres Ehemannes Joâo Pedro Teixeira.
Der Regisseur Eduardo Coutinho hatte Dona Elisabeth bei einem Protestmarsch sieben Tage nach dem Mord angesprochen, um mit ihr einen Film zu drehen, in dem sie sich selber darstellen sollte.
Einen Monat nach Drehbeginn gab es den Mi­litärputsch. Das Filmaterial, von dem sich ein großer Teil schon in Rio befand, wurde beschlag­nahmt und die Leute unter dem Verdacht der Gründung einer Guerilla verhaftet. 1981, also 17 Jahre später, drehten sie den Film zuende.
Dona Elisabeth, die die erste Tochter eines Großgrundbesitzers war, heiratete 1942 den Land­arbeiter Joâo Pedro Teixeira, was ihr ihr Vater nie verziehen hat. Ihr Mann gründete in den 50-er Jah­ren in Sapé die Landarbeitervereinigung Associa­çâo dos Trabalhadores Rurais, die, obwohl sie zu damaliger Zeit nicht als Gewerkschaft registriert werden konnte, nach kurzer Zeit rund 1700 Mit­glieder hatte. 1962 wurde Joâo Pedro Teixeira in einem Hinterhalt ermordet.
Wenn Dona Elisabeth sich gefügt hätte, hätte sie mit der Unterstützung ihrer Familie rechnen kön­nen, aber sie entschied sich, den Kampf ihres Ehemannes fortzuführen. Sie wurde kurz nach dem Militärputsch für vier Monate ins Gefängniss ge­sperrt und flüchtete nach ihrer Freilassung mit ih­rem jüngsten Sohn nach Rio Grande do Norte, wo sie 17 Jahre unter dem falschen Namen Marta Ma­ria da Costa lebte. Ihre anderen neun Kinder mußte sie zurücklassen und sah sie erst nach der Amne­stie Anfang der 80er Jahre wieder.
In den folgenden Jahren setzte sie sich uner­schrocken für die Landlosen ein und wurde 1988 Zeugin wie einer ihrer Söhne, der zusammen mit 30 Landarbeitern die Landarbeitervereinigung As­sociaçâo de Pequenos Produtores Rurais gegrün­det hatte, ermordet wurde. Ihr Mut und ihre Uner­schrockenheit brachten ihr sogar eine Einladung von Fidel Castro ein, der nach dem Tod ihres Mannes ein Beileidstelegramm schickte und einem ihrer Söhne ein Jurastudium in Kuba ermöglichte.
“Wenn ich heute so viele companheiras aus so verschiedenen Ländern hier sehe, dann weiß ich, daß sich all das Leiden gelohnt hat”, sagte Dona Elisabeth auf dem 1° Encontro Latino-Americano e do Caribe da Mulher Trabalhadora Rural.

Nationaler Dialog als Strukturanpassung

Oktober 1996: Bereits seit dem 20. März schweigen die Waffen, eine Guerillaeinheit kommt nach Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Guerilleros ziehen durch die Innenstadt, durch ein Einkaufszentrum, reden mit Passanten, geben Radio- und Fernsehsendern Interviews. Nach dem Auftritt werden sie im Ehrensaal des Stadtpalastes von einer Abordnung der Stadtregierung empfangen. Schließlich ziehen sie sich wieder zurück. Die lokale Armeeeinheit war vorher unterrichtet worden, alles blieb ruhig. Das zunehmend öffentliche Auftreten von URNG-KämpferInnen im Land kündigt an, daß diese sich – nach mehr als 35 Jahren bewaffneten Konfliktes – in naher Zukunft in das zivile Leben integrieren wollen. Die Angaben über die Anzahl der aktiven KämpferInnen schwanken, die niedrigste liegt bei 3000. Sie kommen in eine Gesellschaft, die trotz der gerade beschriebenen Episode nach wie vor von Gewalt und Polarisierung, von massiven Menschenrechtsverletzungen und krasser ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist. Und sie werden mit den Auswirkungen der jahrelangen Regierungspropaganda konfrontiert, die sie als Terroristen diffamiert hat.

Die guatemaltekische Linke im Umbruch

Gleichzeitig wird die URNG, und mit der Gesamtorganisation auch die einzelnen KämpferInnen, auf eine guatemaltekische Linke treffen, in der sie sich neu verorten muß. Seit ihrer Gründung am 9. Februar 1982 ist die URNG, beziehungsweise in den vorangegangenen Jahren deren einzelne Teilorganisationen, die wichtigste oppositionelle Kraft. Die Guerilla war über lange Zeit in der Lage, auf militärischen und diplomatischen Wege politische Freiräume zu eröffnen sowie national und international als legitime Stimme der Unterdrückten aufzutreten. Innerhalb der erkämpften Spielräume konnten sich Volksorganisationen wie zum Beispiel die Gruppe für gegenseitige Hilfe (GAM), die Witwenbewegung CONAVIGUA oder die “Gemeinden der Bevölkerung im Widerstand” (CPR) bilden. In dieser sozialen Bewegung organisierten sich vor allem die Opfer der staatlichen Repression, aber auch Campesina/o-Gruppen und Gewerkschaften. Ziel war es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für die Demilitarisierung des Landes zu kämpfen und so Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen. Mit der Entschärfung der Kriegssituation konnte sich in den letzten Jahren allerdings ein weites oppositionelles Spektrum bilden, in dem linke AktivistInnen im Land u.a. die Politik der URNG hinterfragten. So wurden 1994 nach der Unterzeichnung des Teilabkommens zur Frage der Menschenrechte durch Guerilla und Regierung erstmals Stimmen laut, die sich von den schwachen Verhandlungsergebnissen enttäuscht zeigten und die URNG deswegen heftig kritisierten.
Eine wichtige Etappe im Prozeß der Differenzierung innerhalb der guatemaltekischen Opposition waren die Querelen um die Gründung des Frente Demócratico Nueva Guatemala (FDNG) im Sommer 1995. Im FDNG hatten sich RepräsentantInnen von Basisorganisationen zu einer Partei zusammengeschlossen und bei den Kongreßwahlen im letzten November auf Anhieb sechs Mandate errungen. Nach den Wahlen bezeichneten URNG-Kommandanten die FDNG immer wieder als ihre Schöpfung und kündigten an, sich nach Friedensschluß in die Partei zu integrieren. Die Distanzierungen seitens der FDNG-PolitikerInnen ließen nicht lange auf sich warten und lassen sich nicht allein mit der Angst erklären, in der guatemaltekischen Öffentlichkeit mit der URNG identifiziert zu werden und daher mit Repression rechnen zu müssen. Vielmehr entwickelt die Linke im Land gegenüber der URNG ein stärkeres Selbstbewußtsein und hinterfragt zunehmend den Avantgardeanspruch der URNG. Der FDNG ist nicht die einzige Organisation, in deren Verhältnis zur URNG Veränderungen sichtbar werden. Deutlich zu beobachten sind sie auch innerhalb des Spektrums der progressiven NGOs, unter Flüchtlingsorganisationen, Indígena- und Campesina/o-Gruppen.

Neuer Integrationskurs von Arzú

Mittlerweile hat die URNG bekanntgegeben, daß sie nach ihrer Eingliederung in das zivile Leben nicht in den FDNG eintreten, sondern eine eigene Partei gründen wird. Mit diesem Schritt kann die Hoffnung verbunden werden, daß die URNG den Übergang von einer politisch-militärischen Organisation, die in klandestinen Strukturen arbeitet, zu einer zivilen, linken Kraft vollzieht. Es steht aber zu befürchten, daß sich die guatemaltekische Linke weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern eher wegen Streit um Organisationsfragen und wegen interner Machtkämpfe nach dem Friedensschluß aufsplittert, wie es schon in El Salvador und Nicaragua zu sehen war. Zeitgleich mit diesen Entwicklungen wird die Opposition durch die Politik des Präsidenten Arzú vor neue Herausforderungen gestellt.
Nach seinem Amtsantritt im Januar diesen Jahres machte Alvaro Arzú sofort deutlich, daß der schnelle Abschluß der Friedensverhandlungen eine Grundbedingung seiner Politik ist. Geschickt agiert er seitdem auf der politischen Bühne, im Machtgefüge zwischen Guerilla, Volksbewegung, Militär, Unternehmern und den internationalen Akteuren wie dem IWF (Internationaler Währungsfond) und den darin vertretenen Mächten. Dabei versucht er, die guatemaltekische Linke als Verbündete zu gewinnen. Der URNG kam er auf der diplomatischen Ebene weit entgegen. Noch nie zuvor hatte ein Präsident vor seinem Amtsantritt direkte Kontakte zur Guerilla aufgenommen oder gar einen URNG-Dissidenten zu seinem Verhandlungsführer ernannt. In Bereichen wie dem Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte und die Entmilitarisierung des Landes zeigt er immer wieder guten Willen. Direkte, wenn auch gescheiterte Gespräche mit Abgeordneten des FDNG über die Einrichtung eines Indígenasekretariats, zeugen von Arzús Bereitschaft bei einzelnen Themen das Gespräch mit RepräsentantInnen der Volksbewegung zu suchen. Eröffnet dies einerseits neue Einflußmöglichkeiten, stellt es die Volksbewegung andererseits vor neue Schwierigkeiten: Protestierte sie bisher immer gegen die “Schweinereien”, die von den Mächtigen begangen worden sind, wird sie jetzt – wenn auch an der Ernsthaftigkeit gezweifelt werden muß – von Regierungsseite in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Die Opposition steht vor dem Problem, eigenständige Vorschläge in die Politik einbringen zu müssen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach kultureller Anerkennung und deren praktischen Umsetzung sind Indígena-Organisationen hierzu auch in der Lage. In der praktischen Umsetzung der entsprechenden Vereinbarungen des Friedensabkommens werden sie besonders auf dem Land eine wichtige Rolle spielen. Schwieriger wird es bei der Entwicklung von Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik, repräsentiert die Volksbewegung doch gerade die Bevölkerungsgruppen, die unter den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Land besonders gelitten haben. Daher fehlt es ihnen oft an entsprechenden Kapazitäten. Am ehesten verfügen noch progressive NGOs, die im Entwicklungsbereich tätig sind, über solche Ressourcen. Das Verhältnis zwischen Volksorganisationen, die politischen Druck aufbauen können, und NGOs ist aber häufig gespannt. Das gegenseitige Mißtrauen vor Manipulation und Ausnutzung ist groß.
Innerhalb der guatemaltekischen Opposition wird die URNG – trotz der geschilderten Auseinandersetzungen – weiterhin eine zentrale Rolle spielen: aufgrund der Vergangenheit, in der sie immer wieder richtungsweisend für politische und soziale Kämpfe im Land war; aufgrund dessen, daß sie als Verhandlungspartei ein Gegengewicht zur Regierung bilden kann; aufgrund ihrer langen politischen, militärischen und diplomatischen Erfahrung. Neben den schon länger kämpfenden Volksorganisationen drängen neue Akteure auf die politische Bühne, erstarkende Campesino-Organisationen und zahllose lokale Initiativen, die für die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen, eine Schule, einen Gesundheitsposten oder Trinkwasserversorgung. Es ist zu hoffen, daß die verschiedenen Gruppen die politische Polarisierung, die Guatemala prägt und ein schwieriges Klima für Einigungsprozesse hat entstehen lassen, zusammenfinden können. Denn eine starke linke Opposition nach dem Friedensschluß tut not. So ergeben sich aus dem Friedensprozeß zwar politische Spielräume, an der ökonomischen, patriarchalen und rassistischen Unterdrückung für einen Großteil der GuatemaltekInnen hat sich kaum etwas verändert.

Strukturanpassung in Guatemala

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre ein Präsident undenkbar gewesen, der die Volksbewegung nicht mehr nur mit Repression kleinhält und sich mit der Guerilla trifft. Er hätte es, zumindest politisch, nicht überlebt. Der Grund für die Aufgeschlossenheit Arzús ist sicherlich nicht, daß der schwerreiche Zuckerhändler ein herausragender Philantrop ist. Eher entspricht seine politische Haltung dem ökonomischen Projekt der neoliberalen Strukturanpassung. Das erklärte Ziel von Arzú – der die Interessen eines kleinen Kreises von finanzkräftigen, modernen UnternehmerInnen vertritt – ist es, Guatemala auf den Weltmarkt auszurichten, also über freie Marktmechanismen größere Standortattraktivität und Investitionssicherheit für internationales Kapital zu schaffen. Um dies durchzusetzen, wird die Regierung Arzú wohl drei Handlungslinien verfolgen: erstens die Beendigung des internen, bewaffneten Konfliktes, zweitens die Zurückdrängung von reaktionären Machtgruppen im Land, die durch eine Weltmarktintegration um ihre “traditionellen” Privilegien fürchten, und drittens die Verschlankung des aufgeblähten, unfähigen Staatsapparates sowie die Deregulierung der nationalen Wirtschaft.

Geld von außen

Dem ersten Ziel scheint die Regierung nahe zu sein, ist doch in absehbarer Zukunft mit dem Abschluß der Friedensverhandlungen zu rechnen (s. Kasten). Mit der “Befriedung des Landes” öffnen sich immense Finanzquellen. Bereits im letzten Jahr wurde über die “Entwicklungshilfegelder” verhandelt, die nach Friedensschluß von internationalen GeberInnen zur Umsetzung der ausgehandelten Abkommen ausgeschüttet werden. IWF, Weltbank und die Europäische Union haben angekündigt, Fonds in Höhe von insgesamt über einer Millarde US-Dollar ins Land fließen zu lassen, zu 90 Prozent in Form von Krediten. Mit diesen internationalen Institutionen verbindet die Regierung Arzú das gemeinsame Interesse an neoliberalen Wirtschaftsstrukturen in Guatemala. Hierfür benötigt die Regierung Geld von außen, da über die Steuern nicht genug in die Staatskasse fließt.
Die zweite Linie stellt ein deutlich schwierigeres und längerfristiges Problem dar: alteingesessene Machtcliquen in ihrem Einfluß einzudämmen. Zum einen ist da das omnipräsente Militär, das sich hemmungslos an allem bereichert, was ihm über den Weg läuft und für zahllose Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Dieser Apparat entwickelte im Laufe der Jahre eine Art Eigenleben. Jeglicher Kontrolle entzogen, baute das Militär einen “parallelen Staat” auf. Es besetzte Schlüsselpositionen in Bereichen wie der Telekommunikation, in der Errichtung und dem Unterhalt von Infrastruktur sowie in staatlichen Institutionen. Erste Erfolge im Rückbau dieses eigenen Staates kann Arzú bereits vorweisen: Nach mehreren Säuberungswellen im Staatsapparat erschütterte in den letzten Wochen die Zerschlagung eines großangelegten Schmuggler- und Korruptionsnetzes die guatemaltekische Öffentlichkeit. Auch wenn dieser Schlag gegen die organisierte Kriminalität nur die Spitze des Eisberges enthüllte, wird der Stellenwert dieser Aktion an zwei Dingen deutlich: Es wurden Machenschaften von hohen Persönlichkeiten des militärischen Geheimdienstes, die bisher als Unberührbare galten, ans Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Einflußmöglichkeiten dieser mafiösen Organisation waren in Guatemala ein offenes Geheimnis. Sie hatte eine Machtfülle erreicht, daß sich kein Unternehmen ihren Regeln entziehen konnte – keine guten Voraussetzungen für freies Unternehmertum.
Die andere Machtgruppe bilden die reaktionären GroßgrundbesitzerInnen, die ihre Vorgehensweise in der Vergangenheit mit den Militärs abstimmten. Es widerspricht ihren wirtschaftlichen Interessen, Guatemalas Märkte noch weiter als bisher für internationales Kapital zu öffnen. Es würde eine bedrohliche Konkurrenz für sie entstehen. Arzú ist allerdings klug genug, sich nicht auch noch mit ihnen anzulegen. Zwar möchte er deren Machtdünkel bekämpfen, gleichzeitig gibt es aber auch gemeinsame wirtschaftliche Interessen, deren Opfer – wiedereinmal – Campesina/os sind. So gab es dieses Jahr schon mehrere Tote zu beklagen, nachdem Polizeieinheiten gegen Campesina/o-Gruppen vorgingen, die zur Durchsetzung ihrer Landrechte Fincas von GroßgrundbesitzerInnen besetzt hatten. Durch die äußerste Härte, mit der die Sicherheitskräfte bei diesen Räumungen vorgingen, zeigt die Regierung, daß ihre Liberalität durchaus ihre Grenzen hat, nämlich dort, wo die ökonomischen Privilegien der Reichen in Gefahr geraten. Dies stellte sie auch im Mai unter Beweis, als die Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der URNG beim Thema Wirtschaft durchsetzte, daß keinerlei Beschränkungen oder gar eine soziale Verantwortung für Privateigentum gelten sollen.

Neoliberale Strukturanpassung

Auch bei der Durchsetzung der dritten Leitlinie zeigt die Regierung Entschlossenheit. Parallel zum Vorantreiben der Friedensverhandlungen und dem Machtkampf mit dem Staat im Staate begann die Regierung in den letzten Monaten mit der Strukturanpassung: Antistreikgesetze für den öffentlichen Dienst, die Entlassung tausender Beschäftigter staatlicher Institutionen, die Erhöhung der Strompreise mit anschließender Privatisierung des Elektrizitätssystems. Die Maßnahmen lesen sich wie aus einem Leitfaden liberaler Regierungspolitik.
Guatemala befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß am Schnittpunkt verschiedener sich kreuzender Entwicklungen, die immer wieder für Verwirrung und Erstaunen sorgen. Da ist zum einen der Übergang von der Zeit des bewaffneten, internen Konflikts zu der nach dem Friedensschluß. Dieser Prozeß ist eingebettet in die Zurichtung der bisher von einer nationalen, willkürlich agierenden Führungsclique dominierten Wirtschaft und Politik auf die Bedingungen des liberalen Weltmarktes. Irritierenderweise geht die ökonomische Liberalisierung mit einer politischen einher, ja sie unterstützt sie sogar. Diejenigen Kreise, die massive Menschenrechtsverletzungen als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen, werden in ihrer Macht beschnitten. In einem Land, das unzählige Tote durch die Folgen staatlicher Repression zu beklagen hat und in dem Oppositionelle kaum Möglichkeiten hatten, ihren Widerstand auch nur verbal zu artikulieren, bedeutet dies einen nicht zu bestreitenden Fortschritt. Das politische Leben wird in Guatemala sicherer werden. Für die mehr als dreiviertel der insgesamt ca. 10 Millionen GuatemaltekInnen, die in Armut leben – mehr als die Hälfte von diesen wiederum in extremer Armut -, muß aber befürchtet werden, daß das Überleben unter der Strukturanpassung noch schwieriger wird.

Der Friedensprozeß – eine schwierige Geburt

Die Friedensverhandlungen in Guatemala – sie schienen nicht zum Abschluß kommen zu wollen. Jetzt aber sind die wesentlichen Teilabkommen unterschrieben, die nach der Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages in Kraft treten sollen: das Abkommen zu den Menschenrechten vom März 1994 und das Abkommen zu Identität und Rechten der indigenen Völker vom März 1995. Nach über einem Jahr Verhandlungen und dem Präsidentenwechsel vom anfänglichen Hoffnungsträger de León Carpio auf den geschickt taktierenden Unternehmer Alvaro Arzú, wurde im Mai 1996 das Teilabkommen zur “Sozioökonomischen Aspekten und Agrarsituation” besiegelt. Nur vier Monate später folgte das nächste Dokument zur Rolle des Militärs in einer zukünftigen Gesellschaft und zur Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zwar steht die Klärung einzelner Fragen noch aus, zum Beispiel die nach den Modalitäten für die Reintegration der URNG-KämpferInnen in die Gesellschaft und die Frage nach Amnestieregelungen. Die Frage des Ortes für die Unterzeichnung des abschließenden Abkommens wird aber bereits diskutiert. Bis Silvester diesen Jahres soll es soweit sein, nachdem die noch ausstehenden Teilabkommen im Rahmen einer Europatournee der Verhandlungsparteien in Oslo, Stockholm und Madrid unterschrieben werden sollen. Mit dem Akt in Madrid kehren die Parteien in die Stadt zurück, in der das erste Treffen zwischen VertreterInnen der URNG und der guatemaltekischen Regierung stattgefunden hatte. Im Mai 1986, also vor über 10 Jahren, legte die URNG erstmals einen Vorschlag zu direkten Verhandlungen mit der Regierung vor. Die Situation war günstig: Aus einer großen Offensive der Armee gegen die Guerilla war diese eher gestärkt denn geschwächt hervorgegangen, das Militärregime sollte die politische Macht an einen “bewachten” Parlamentarismus übergeben, die mittelamerikanische Friedensinitiative war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Aber erst nach Abschluß des Friedensvertrages Esquipulas II durch die mittelamerikanischen Präsidenten konnte die guatemaltekische Regierung nicht mehr anders, war man doch übereingekommen, schnellstmöglich die internen, bewaffneten Konflikte auf dem Verhandlungsweg zu beenden: Also fuhr eine Regierungsdelegation zu ersten Gesprächen mit der Guerilla nach Madrid. Das war im Oktober 1987.
Je nach politischen Interessen der Verhandlungsparteien, immer abhängig von der internationalen Konjunktur, mal mißtrauisch beäugt, meist aber unterstützt von der guatemaltekischen Opposition, torpediert von den Reaktionären im Land, ging es am Verhandlungstisch auf und ab. Daß gerade die reaktionären Kräfte immer noch versuchen, den Friedenschluß zu behindern, wurde und wird immer wieder deutlich. Nach einem Versuch im Sommer 1994, mit einer Steuerreform die Unternehmer stärker zur Kasse zu bitten, wurden schnell Putschgerüchte laut, die nach Rücknahme der Maßnahmen wieder verstummten. Im Oktober vergangenen Jahres ermordeten Soldaten in Xamán elf aus Mexiko zurückgekehrte Flüchtlinge; ein Massaker, das unter anderem darauf abzielte, die Friedensverhandlungen massiv zu stören.
Daß die Reaktionäre immer noch große Erfolge verbuchen können, zeigte die jüngste Aussetzung der Friedensverhandlungen. Der Auslöser: Ohne Kenntnis der Führung hatte ein ehemaliges Kommando der ORPA, einer der vier URNG-Teilorganisationen, vor einigen Wochen die einfluß- und schwerreiche Unternehmerin Olga de Novella entführt. Nachdem die Entführung selbst bereinigt worden war, nutzten die Hardliner in Militär und Unternehmerkreisen diesen Anlaß zu einer Kampagne gegen den Verhandlungsfortgang im allgemeinen und die URNG im speziellen. Aufgrund des sich entwickelnden Druckes wurden die Verhandlungen am 28. Oktober ausgesetzt, woraufhin heftige Aktivitäten einsetzten: Weite Kreise der Bevölkerung, die Regierungen der “Gruppe der mit Guatemala befreundeten Länder” sowie UN-Institutionen drängten die Verhandlungsparteien, die Gespräche möglichst schnell wiederaufzunehmen. Nach einigen Tagen des Schweigens veröffentlichte die URNG-Führung schließlich ein Kommunique, in der sie verlautbarte, die Entführung sei zwar ohne ihr Mitwissen geschehen, sie übernehme aber trotzdem die politische Verantwortung. Einige Tage später erklärte Gaspar Ilom, Mitglied der Generalkommandantur für die ORPA, seinen Rückzug von der Verhandlungsdelegation der URNG. Zugleich kündigte er an, daß die ORPA in Kürze einen neuen Verhandlungsführer benennen werde. Gaspar Ilom, der mit bürgerlichem Namen Rodrigo Asturias heißt und der Sohn des guatemaltekischen Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias ist, galt bis zu diesem Zeitpunkt als derjenige URNG-Kommandant mit dem höchsten internationalem Ansehen und der größten Reputation im Land und wurde als durchaus aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaft im Jahr 2000 gehandelt.
Es scheint, daß der Rücktritt von Ilom den Weg zur Wiederaufnahme der Verhandlungen freigemacht hat, denn am 9. November trafen die Delegationen wieder zusammen. Vereinbart wurde, daß die Gespräche mit einer veränderten Tagesordnung weitergeführt werden. Vor der Unterbrechung hatten sich die Verhandlungen an der Frage der Amnestieregelungen festgefahren, die in der guatemaltekischen Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Dieses Thema wurde nun auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Statt dessen werden jetzt die Bedingungen für einen endgültigen Waffenstillstand und die anschließende Waffenabgabe durch die Guerilla besprochen. Die Konsequenzen für die Machtbalance am Verhandlungstisch sind erkennbar. Die URNG wird gezwungen sein, eines ihrer Druckmittel, eben ihre militärische Stärke, preis- und aufzugeben, noch bevor wichtige Teilaspekte des endgültigen Friedensabkommens behandelt worden sind.

Moderne Sklaverei für billige Kleider

Anders als in Mexiko wird in den Maquilas Zentralamerikas zu mehr als 80 Prozent für die Bekleidungsbranche produziert. Angesiedelt sind die Maquila-Unternehmen in den sogenannten Zonas Francas, den Freien Produktionszonen. Diese Industrieparks werden eingerichtet, um ausländische Investoren ins Land zu locken. Zollfreiheit, Steuerbegünstigungen und Billiglöhne halten dort die Fertigungskosten niedrig. Der Betreiber einer Maquila konkurriert gegen eine Heerschar von Mitanbietern. Die transnationalen Handelsriesen sind die eigentlichen Gewinner.
Von Außen sehen die Freien Produktionszonen aus wie Kasernen – mit bewaffneten Wächtern und Gittern an den Eingängen, die nur zur Mittagspause und am Feierabend geöffnet werden. Dann sieht man ein Heer von ArbeiterInnen das Produktionsgelände verlassen. Kaufen können sich die ArbeiterInnen die von ihnen angefertigten Produkte jedoch nicht. Denn produziert wird für den Weltmarkt, mehrheitlich für die USA. Unter Markenzeichen wie GAP, Eddie Bauer, Levi Strauss, Calvin Klein oder Wrangler erobern diese dann – made in USA – die Welt.
Führend in diesem Zusammenhang ist Honduras mit einem Exportvolumen auf den US-amerikanischen Markt in Höhe von 918 Millionen US-Dollar im Jahr 1995, gefolgt von Costa Rica mit 756 Millionen US-Dollar, Guatemala mit 682 Millionen US-Dollar und El Salvador mit 582 Millionen US-Dollar. Das Schlußlicht mit nur 73 Millionen US-Dollar bildet Nicaragua, das bislang nur über eine einzige Freie Produktionszone, Las Mercedes, verfügt – eine weitere wird gerade eingerichtet. Die Wachstumsdynamik ist dennoch enorm: Seit 1990 siedelten sich in Las Mercedes 18 Firmen an, die derzeit 10.000 ArbeiterInnen beschäftigen. Tendenz für gesamt Zentralamerika: steigend.
Allein in El Salvador gibt es nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits über 200 Maquila-Betriebe mit mehr als 60.000 Beschäftigten. Kaum war der unternehmerfreundliche Präsident Calderón Sol 1994 an der Macht, da hatte er für sein Land eine Vision: “Ganz El Salvador eine einzige Freie Produktionszone.” Rechtlich hat er dafür inzwischen die Voraussetzungen geschaffen. Abbau bürokratischer Hemmnisse und Förderung von Auslandsinvestitionen lautet seine vielbeschworene Formel. Die Spezialisierung auf niedrige Arbeitslöhne als komparativer Kostenvorteil im internationalen Handel ist Bestandteil dieser neoliberal geprägten, auf außenwirtschaftliche Öffnung und Deregulierung gerichteten Wirtschaftsreformen, die derzeit in den meisten zentralamerikanischen Ländern betrieben werden.
Sind es für US-Firmen vor allem die billigen Arbeitskräfte, die sie zur Verlagerung von Teilfertigungsprozessen nach Zentralamerika bringen, so ist es für asiatische Unternehmen der bessere Zugang zum US-amerikanischen Markt von Zentralamerika aus. Die asiatischen Textilgiganten haben die Heerscharen billiger Arbeitskräfte in der Region unter sich aufgeteilt: Japan investiert in Mexiko und Costa Rica, Taiwan in Honduras und Nicaragua, Südkorea in Guatemala und El Salvador.
“Die Länder in der Region haben wenig davon”, meint Eduardo Melendes, Wirtschaftsprofessor an der Nationaluniversität in San Salvador. “Sie schaffen zwar Arbeitsplätze, aber nur zu den Bedingungen der Maquila-Industrie.” Denn dem jeweiligen Land bringen die Freien Produktionszonen wenig Geld in die Staatskasse – keine Steuern, keine Zolleinnahmen, lediglich die geringen Löhne und die Mieten für die Fabrikanlagen bringen Devisen ein. Dieser Devisenbetrag ist jedoch eher unbedeutend. Für die Freien Produktionszonen in Costa Rica beispielsweise wurden diese Einnahmen 1993 auf 43 Millionen US-Dollar geschätzt, was 1,6 Prozent der Gesamteinnahmen des Landes aus Waren- und Dienstleistungsexporten entspricht. Auch der Transfer von Wissen und Technologie ist gering, da in den zentralamerikanischen Weltmarktfabriken fast ausschließlich einfache Tätigkeiten von angelerntem Personal ausgeführt werden. Nachfrageimpulse für die nationale heimische Industrie gehen von den Weltmarktfabriken gleichfalls nicht aus, da sie überwiegend vorgefertigte Teile aus dem Ausland beziehen. Selbst weit mehr als ein Drittel der Verpakkungskartons werden von den Unternehmen in Honduras und Costa Rica importiert.

Oasen der schweigenden Ausbeutung

Menschenrechtsverletzungen und Mißachtungen des Arbeitsrechts stehen in den Maquiladora-Fabriken Zentralamerikas auf der Tagesordnung.
Zu 80 bis 90 Prozent sind es Frauen, die in den Maquilas für ein Monatsgehalt zwischen 100 und 180 DM arbeiten. Bevorzugt werden junge Frauen im Alter von 18 bis 28 Jahren eingestellt, die leistungsstark und kräftig genug sind, um die hohen Arbeitsbelastungen auszuhalten.
Kollektive, das heißt für alle ArbeiterInnen einheitlich geltende Arbeitsverträge werden in den Maquilas nicht abgeschlossen. Auf Probe werden häufig mehr Frauen, als später überhaupt übernommen werden können, unbezahlt beschäftigt. Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall gibt es nicht, statt dessen droht die Entlassung – auch im Falle von Schwangerschaft.
Arbeitsschutz ist hier nur ein Fremdwort. Staub, Hitze und unzureichende Frischluftzufuhr verursachen bei einem Großteil der TextilarbeiterInnen Atmungsstörungen und Lungenerkrankungen. Migräne, Muskelschmerzen und Menstruationsausfall sind körperliche Reaktionen auf psychischen und physischen Druck. Die Rate der Fehlgeburten unter Arbeiterinnen in den Maquiladoras liegt über dem nationalen Durchschnitt.
Zehn bis zwölf Stunden täglich sitzen die Frauen auf Holzbänken ohne Lehnen, zu Hunderten in Zweierreihen angeordnet, an den Nähmaschinen, ohne aufstehen zu dürfen. Der Produktionsprozeß ist in kleinste Operationen zerlegt. Der bereits zugeschnittene Stoff wird nur noch nach Modell des zu fertigenden Produktes zusammengenäht. Jede Arbeiterin führt daher tagtäglich die gleiche Operation durch: näht Hemdkragen an oder die Ärmel zusammen – bis am Ende der Reihe das fertige Produkt herauskommt. Gearbeitet wird im Akkord unter Tempokontrolle und ständiger Überwachung durch die WerkmeisterInnen. Am Arbeitsplatz darf nicht gesprochen und nicht gegessen werden. Für einen Gang zur Toilette bedarf es einer Erlaubnis – und die wird nur zweimal am Tag erteilt. Davon abweichendes Verhalten wird bestraft – oft sogar mit Prügel, wie eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) belegt. Zur Disziplinierung müssen ArbeiterInnen in einigen Maquilas in El Salvador einen unbezahlten Arbeitstag lang mit dem Gesicht zur Wand stehen oder werden in sogenannten piezas frías (Kühlräumen) eingesperrt.
Kollektiv gegen derart sklavische Arbeitsbedingungen vorzugehen, ist nur sehr schwer möglich. Denn in allen zentralamerikanischen Staaten arbeiten die Arbeitsministerien, die eigentlich die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung überwachen müßten, eng mit den Unternehmen zusammen. Namen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen werden an die Maquila-BesitzerInnen weitergeleitet. Nach Schätzungen der ILO sind in den letzten drei Jahren in El Salvador mehr als tausend ArbeiterInnen wegen gewerkschaftlicher Organisierung auf die Straße gesetzt worden.
Fragt man nach dem Interesse der zentralamerikanischen Regierungen, die Gründung von Gewerkschaften in den zonas francas zu unterbinden, so lassen sich zwei Gründe nennen: Korruption und Angst vor Standortverlagerung der Maquila-Unternehmen. Es ist nachgewiesen, daß Angestellte des Arbeitsministeriums häufig bestochen werden – sei es durch direkte Bestechungsgelder oder dadurch, daß sie in den Konzernen als Unternehmensberater oder sogar als Personalchefs eingestellt werden. Die Regierungen ihrerseits befürchten, daß die Unternehmen bei einem hohen Organisationsgrad der Maquila-ArbeiterInnen abziehen und sich in den Industrieparks der Länder niederlassen, in denen Arbeitsrechtsbestimmungen widerstandslos mißachtet werden können oder die Löhne der Arbeitskräfte noch niedriger sind. So ist im Moment zu beobachten, daß in Nicaragua der Maquila-Sektor deshalb anwächst, weil Unternehmen aus Costa Rica wegen des höheren Lohnniveaus ihre Produktion nach Nicaragua verlagern.
Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Daten, zum Beispiel die Auslandsverschuldung, belegen die Abhängigkeit der zentralamerikanischen Länder von den Staaten des Nordens. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des IWF fordern den zentralamerikanischen Staaten enorme Haushaltseinsparungen ab. Kaum ein Land verfügt über bedeutende Bodenschätze oder verarbeitende Industrien, die Devisen in die Staatskasse bringen könnten. Zudem liegen die Arbeitslosenquoten in den zentralamerikanischen Staaten über 40 Prozent. In dieser prekären Situation ist es erklärbar, daß diese Länder nach kurzfristigen Lösungen Ausschau halten. Eine Entwicklungsperspektive ist damit freilich nicht verbunden.

KASTEN:
Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung

Am 1. August diesen Jahres stirbt in San Salvador die Textilarbeiterin Lourdes Rodríguez an ihrem Arbeitsplatz. Trotz starker Kopfschmerzen wurde ihr untersagt, einen Arzt aufzusuchen. Sieben Jahre lang arbeitete Lourdes bei Doall Enterprises. Sieben Jahre lang zog man ihr den Krankenversicherungsbeitrag vom Lohn ab und leitete keinen einzigen Pfennig weiter.
Gleiches geschah mit María Paula Rodriguez, 23 Jahre alt. Sie starb am 5. Oktober 1995 – ebenfalls an ihrem Arbeitsplatz. Auch ihr wurde der Gang zum Arzt verboten. Statt dessen verabreichte man ihr ein Medikament. Kurze Zeit später war sie tot. Maria Paula Rodriguez arbeitete bei Han Chang Textiles, einem Maquiladora-Betrieb in der Freien Produktionszone San Marcos in San Salvador.
Ebenfalls am 5. Oktober 1995 werden in der Fabrik Encasa y Esmodica in San Salvador 120 ArbeiterInnen mit der Begründung, KommunistInnen und Verbündete der Guerilla zu sein, entlassen. Die Fabrik, ein Maquiladora-Unternehmen, ist im Besitz der ARENA-Abgeordneten Milena de Escalón, der Schwester des Präsidenten El Salvadors Calderón Sol. Der wirkliche Grund für die Entlassung: Die ArbeiterInnen hatten dagegen protestiert, daß das Unternehmen über ein Jahr lang von ihnen eingezogene Sozialversicherungsabgaben nicht weiterleitete.
Am 28. Februar 1995 wird die Textilarbeiterin Deborah Guzmán aus dem Maquila-Betrieb L&L-Modas wegen des gewerkschaftlichen Engagements ihres Partners Felíx Gonzales in Guatemala entführt. Nach ihrer Freilassung erhält sie fortlaufend Morddrohungen. Im Sommer 1996 treten Deborah und Felix offiziell aus der guatemaltekischen ArbeiterInnengewerkschaft UNSITRAGUA aus. Sie wissen sich gegen den anhaltenden Terror nicht mehr zu wehren und zu schützen.
Flor de María Salguero, damals noch aktiv in der Gewerkschaft FESTRAS, wird im Mai 1995 in Guatemala-Stadt auf dem Weg zur Arbeit von ihr unbekannten Männern aus dem Bus gezerrt. Sie schleppen sie in ein Haus, wo sie geschlagen und vergewaltigt wird. Flor de Maria ist ebenfalls im Maquiladora-Bereich aktiv. Durch ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen in US-amerikanischen Maquila-Fabriken kam es 1994 im US-Kongreß zu einer Anhörung.

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