Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir warnen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Zedillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir sehen auch, daß er zur gleichen Zeit die Linie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaffneten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und seinen tatsächlichen Ursachen nicht entgegentrat, sondern stattdessen die Zeit verstreichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen gehaßten Gouverneuren stand. Auf der anderen Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mobilisierung herbeiführen und die Stimmung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Interesse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisierung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drängen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Geschichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was passiert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlassen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Distanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schiefgeht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entnehmen, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Januar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politische Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie waren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und trugen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müssen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waffen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu machen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zurückkehren. Wir können die KämpferInnen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesselung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhalten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillusionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die gleichen sozialen Klassenstrukturen, der gleiche Rassismus, die gleiche Regierungsstruktur und die gleichen radikalen Diskurse neben reaktionären Praktiken. Deshalb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebrochen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur zapatistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewegung. Die sozialen Strukturen im mexikanischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Modernisierung Mexikos müßten zwei Sektoren geopfert werden: Entweder die indigene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hinsicht ein Hindernis für jedwede Reformentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen begleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammengefaßt, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für alle MexikanerInnen. Das forderten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs verändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlangen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regierung der PRI noch koexistieren und verhandeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rechnungen, die auf vielen Ebenen zu kassieren sind. In Chiapas schafft sie die Verbindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik erhalten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnungen auf allen Ebenen, die es in der Regierung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwingen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejercito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Aktion zu machen. Wenn wir dies so bewertet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht einmal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Absurdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dialog.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhaltensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß jemand anderes kommt. Dann reden wir.
Ya basta!
Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand markierte zugleich den Beginn der “ersten Revolution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeindelandes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das Todesurteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses Todesurteil wollen die Indígenas nicht hinnehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr geduldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, weggenommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das widerspricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indianischen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum gerechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Nationalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdekken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der ZapatistInnen-Aufstand auch die “erste Revolution des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die soweit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-militärisches Avantegardekonzept und blieben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wachsen, sondern in eine Explosion münden, die ein festgefügtes, hartes, gewaltiges, monströses Land bis in seine Grundfesten erschütterte – Mexiko. Sie vermochte dies, weil sie entgegen aller Regeln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Denken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskollektiv aus mehreren Lateinamerika-Solidaritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu erstellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Interviews, Reportagen, Analysen und einem Fotoessay. Ebenso werden Widersprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen als “Paradoxon” charakterisiert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Analysen der mexikanischen Realität, die Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volksorganisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde gelebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen sterben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”
Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM
Spaltung und Streit von lechts bis rinks
Der Streit bei der FMLN
Eine zentrale Rolle beim Streit in der FMLN hat ERP-Chef Joaquín Villalobos. Nachdem es ihm durch den Rausschmiß einiger parteiinterner KritikerInnen im vergangenen Jahr gelungen war, den ERP (dessen Umbennenung in “Erneuernder Ausdruck des Volkes” er bereits 1992 erreicht hatte) auf streng sozialdemokratischen Kurs zu bringen, versuchte er die neue Linie auch in der gesamten FMLN durchzusetzen. Doch lediglich der “Nationale Widerstand” (RN), der sich 1975 vom ERP abgespalten hatte, folgte der neuen Linie. In den paritätisch besetzten Gremien unterlagen ERP und RN bei wichtigen Abstimmungen regelmäßig den anderen drei Organisationen der FMLN.
Der Frust blieb nicht aus und die Rache kam bereits bei der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments am 1. Mai als sich die Abgeordneten von ERP und RN nicht an die verabredete FMLN-Linie hielten und mit der regierenden ARENA zusammen ihre eigenen Leute ins Parlamentspräsidium wählten (vgl. LN 240). Der Eklat war da und seither nur noch Krisenmanagement angesagt.
Die FMLN-Mehrheit aus “Volksbefreiungskräften” (FPL), Kommunistischer Partei (PCS) und “Revolutionärer Partei der Zentralamerikanischen Arbeiter” (PRTC) beschimpften die sozialdemokratische Minderheit, waren jedoch unfähig ein gemeinsames Alternativprojekt zu entwickeln – zu groß waren bzw. sind die Interessenunterschiede vor allem zwischen den FPL und der Kommunistischen Partei.
So wie das ERP, forderten auch die FPL, die zu Recht beanspruchen können, die intensivste Basisarbeit zu leisten, seit den Wahlen wiederholt die Bildung einer neuen Partei (vorzugsweise mit altem Namen). Am liebsten jedoch ohne ERP und RN, da die ideologischen Differenzen und die Unterschiede in der praktischen Politik zwischen FMLN-Mehrheit und -Minderheit unüberbrückbar geworden seien. Laut FPL resultiert die Lähmung der FMLN vor allem aus dem parallelen Weiterbestehen der Strukturen der fünf Mitgliedsorganisationen und sei am ehesten durch die Bildung einer einheitlichen Partei zu beheben, die sich zudem wieder stärker an den Interessen der Basisorganisationen zu orientieren habe. Was sich sehr vernünftig anhört, wird erst verständlich, wenn man bedenkt, daß die “Volksbefreiungskräfte” die mit Abstand größte FMLN-Organisation sind und es ihnen leicht fallen würde, nicht mehr paritätisch besetzte Gremien einer neuen Partei zu dominieren. Gerade die Geschichte der FPL ist jedoch von Hegemonieanspruch und Avantgardedenken gekennzeichnet. Allen gegenteiligen öffentlichen Beteuerungen zum Trotz kann nicht davon ausgegangen werden, daß sie sich in diesem Punkt grundlegend gewandelt haben.
Damit wird auch das Interesse der Kommunistischen Partei am Fortbestand der FMLN verständlich. Der intensive Einsatz des FMLN-Koordinators und PCS-Generalsekretärs Schafik Handal für den Zusammenhalt der Ex-Guerilla ist nicht nur Ausdruck politischer Reife. Wesentlich kleiner als FPL und ERP kam der PCS im parteiinternen Streit immer wieder zentrale Bedeutung zu. Trotz häufiger politischer Übereinstimmung mit den FPL und regelmäßigen Attacken von Joaquín Villalobos gegen die “kommunistischen Dinosaurier” versuchte die PCS lange Zeit die Spaltung zu verhindern: In einer geschrumpften FMLN mit den FPL und der noch kleineren PRTC würde die Kommunistische Partei enorm an Einfluß verlieren.
“Extremisten von rechts und links”
Erst nach den erneuten Attacken von Joaquín Villalobos im September und Oktober kam Schafik Handal zu dem Schluß, daß die FMLN in ihrer alten Zusammensetzung nicht mehr zu retten ist. Was war geschehen? Ende September hatten demobilisierte Soldaten und ehemalige Angehörige der paramilitärischen “Zivilverteidigung” für drei Tage das Parlament besetzt und 25 Abgeordnete als Geiseln genommen. Die Besetzer forderten die Einbeziehung in die im Friedensabkommen vereinbarten Unterstützungsprogramme zur “Wiedereingliederung in das zivile Leben”, die für die Angehörigen der Zivilpatrouillen überhaupt nicht vorgesehen sind und bei den Ex-Soldaten nur sehr mangelhaft realisiert werden. Polizei und Spezialeinheiten der Armee wollten das Parlament stürmen. Da die Besetzer jedoch angedroht hatten, sich zu verteidigen und auch “Abgeordnete mit in den Tod zu nehmen”, kam es schließlich doch noch zu Verhandlungen, bei denen zumindest der freie Abzug der Besetzer und ein unblutiges Ende der Aktion sichergestellt werden konnten. Nachdem diese am 28. September das Parlament geräumt hatten, schien der Vorfall erledigt – schließlich war es nicht die erste Parlamentsbesetzung.
Doch nun trat einmal mehr Joaquín Villalobos auf den Plan. In mehreren Pressekonferenzen behauptete er, die Besetzung sei ein Komplott “ultrarechter und ultralinker Kräfte gewesen”. Konkret nannte er die FPL, die PRTC und die CPDN, ein Zusammenschluß sozialer Organisationen, der den FPL nahesteht – Beweise blieb er jedoch schuldig. FPL-Chef Leonel Gonzalez warf Villalobos daraufhin vor, er bereite eine Allianz mit ARENA vor: “Viele in der ERP-Führung hoffen wohl, sich ARENA anschließen zu können.” Nachdem der Streit zunehmend eskalierte, meldete sich auch Schafik Handal zu Wort. Diesmal sah auch der FMLN-Koordinator keine Möglichkeit mehr, schlichtend einzugreifen und forderte Villalobos auf, die FMLN zu verlassen, da er ihr mit seinen ständigen Provokationen und Anschuldigen nur schade.
Tatsächlich näherten sich RN und ERP in ihrer konkreten Politik der regierenden ARENA-Partei zunehmend an und verhinderten beispielsweise gemeinsam eine parlamentarische Untersuchung von Korruptionsvorwürfen gegen die alte und neue ARENA-Regierung. Und am 10. Oktober – dem Gründungstag der FMLN vor 14 Jahren – beschloß das ERP auf einem Parteitag, die Auflösung der FMLN in die Wege zu leiten. Das Ende der FMLN schien nur noch eine Frage von wenigen Tagen.
War es die Rechte, die sich über den FMLN-internen Streit am meisten freute, sorgte sie indirekt auch für die vorübergehende Wiederannäherung innerhalb der ehemaligen Befreiungsbewegung: Die gesamte FMLN stellte sich geschlossen hinter Joaquín Villalobos, nachdem ein Richter seine Verhaftung angeordnet und dieser sich am 18. Oktober den Behörden gestellt hatte. Der Vorwurf: Verleumdung gegen den Unternehmer und Großgrundbesitzer Orlando de Sola. Nach der Ermordung des ERP-Kommandanten Carmelo vor einem Jahr hatte Villalobos de Sola beschuldigt, einer der Finanziers der Todesschwadronen in El Salvador zu sein. Trotz zahlreicher Indizien können diese Verbindungen jedoch nicht bewiesen werden, solange die US-Regierung wichtige Dokumente über Struktur und Finanzierung der Todesschwadronen zurückhält. Villalobos blieb einen Monat in Haft – bei der Nationalpolizei, die laut Friedensplan bereits aufgelöst sein sollte. Seine Weigerung die Anschuldigungen zurückzunehmen – und dafür sofort freigelassen zu werden -, verschaffte ihm ungeheure Popularität. Fast täglich gab es Solidaritätsaktionen zu seinen Gunsten, der FMLN-interne Streit schien vergessen, und niemand redete mehr von Spaltung.
Der Traum von der neuen Einheit währte jedoch nur einen Monat. Nachdem Villalobos am 18. November aus der Haft entlassen wurde – das Verfahren gegen ihn ist noch nicht entschieden – begann er erneut gegen die FMLN-Linke zu wettern. Gleichzeitig intensivierte er seine Verhandlungen mit Teilen der Christdemokratischen Partei (PDC) über die Bildung einer neuen “pluralistischen Partei der Mitte”. Am 7. Dezember erklärte er offiziell seinen Austritt aus der FMLN, da diese “als Wahlinstrument untauglich geworden” sei und nur noch “historische Bedeutung” habe. Fast erleichtert zeigte sich Schafik Handal und forderte den gesamten ERP auf, “zur Beilegung der Krise, die FMLN zu verlassen”. Dies scheint nur noch Formsache. Am 17./18. Dezember wird nun die weitere Zukunft der FMLN entschieden. Die Mitglieder von ERP und RN werden in ihrer großen Mehrheit gar nicht erst zum FMLN-Parteitag erscheinen. Mit der Linken kann es nach der Lähmung des letzten halben Jahres nur noch aufwärts gehen.
Villalobos und die PDC
Die Konturen von Villalobos’ Partei der Mitte zeichnen sich bereits ab, nachdem sich vor einigen Wochen auch die PDC gespalten hat. Die Hälfte der Abgeordneten hat ihren Austritt erklärt und will eine Partei mit “sozialdemokratischer Prägung” gründen. Sie gehören zu den Christdemokraten, die vor einem Jahr die Präsidentschaftskandidatur von Abraham Rodriguez unterstützten, der in einer parteiinternen Vorwahl jedoch dem PDC-Generalsekretär Fidel Chávez Mena unterlegen war. Damit treffen sie sich mit der Mehrheit von ERP und RN, die damals ebenfalls versucht hatte, Abraham Rodriguez als FMLN-Kandidaten durchzusetzen. Dem neuen Projekt wird sich auch die “Nationalrevolutionäre Bewegung” (MNR) anschließen. In El Salvador selbst hat die MNR – die während des Krieges noch mit der FMLN verbündet war – keinerlei Bedeutung mehr. Bei den Parlamentswahlen im März 1994 fiel sie lediglich durch das schlechteste Ergebnis aller eingeschriebenen Parteien auf. Obwohl nur noch Splitterpartei, ist sie als Mitglied der Sozialistischen Internationale (SI) für die internationale Unterstützung und Anerkennung von großer Bedeutung. Villalobos als Gast von SI und Friedrich-Ebert-Stiftung wird wohl in nächster Zeit zu einem gewohnten Bild werden.
Kirio gegen Korruption
1989 konnte ARENA auch deswegen mit deutlicher Mehrheit die Präsidentschaftswahlen gewinnen, weil das Parteikürzel der Christdemokratischen Partei zunehmend für “partido de coruptos” stand. In der Öffentlichkeit konnten sich Präsident Cristiani und seine MinisterInnenriege bis zu den 94er-Wahlen als unbestechlich darstellen. Seit einigen Monaten ist es damit allerdings vorbei. Kirio Waldo Salgado, Leitartikler der rechtsextremen Tageszeitung El diario de hoy mit ausgezeichneten Verbindungen zu ARENA, Militär und Todesschwadronen, hat mit ARENA, die er für den Abschluß des Friedensvertrages mit der FMLN schon seit Jahren kritisierte, endgültig gebrochen und eine eigene Partei, die Partido Liberal Democrática (PLD) gegründet. Nun präsentiert er sich der Bevölkerung als Saubermann und deckt die Korruptionsskandale der alten und neuen ARENA-Regierung auf.
Ein neues Kapitel der Vergangenheitsbewältigung
Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineoffiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an systematischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang November aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterrorismus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsident Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjenigen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unübersehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffengewalt, die die Diktatur als System etablierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land regierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politischen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Menems. “Damit hat er uns ins Gesicht gespuckt. Das ist wirklich sehr schwerwiegend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen gegen die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorganisation Böswilligkeit und bewußte Falschinterpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter gerechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Praktiken” angewendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Verschwundene und Verletzte verursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subversion aufgrund des Entschlusses der Präsidentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gouverneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Guerilleros/as, speziell der Montoneros gehört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestanden, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiterhin als “Subversiver” bezeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach seinem Amtsantritt 1989 versucht, das Verhältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestierung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsminister Cavallo sich dem hartnäckig widersetzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufgeräumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück geschaut habe.
Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?
Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppelzüngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppungen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies bedeutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ihrer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiterhin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschenrechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten darüber informierte, daß sie sich weigern dürfen, Befehle zu verfolgen, die die Menschenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein ständiges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty international, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisationen und der Besuch von UNO-Sonderberichterstattern Anfang Oktober in Kolumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der internationalen Öffentlichkeit wächst das Bewußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhältnisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräften, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäische Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der kolumbianischen Regierung, die sich in Anwesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Menschenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper angekündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position seines liberalen Parteifreundes und Amtsvorgängers Gaviria ab, der nach dem Scheitern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Guerillera Simón Bolívar” zusammengeschlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ihrer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regierung Samper lehnte ein direktes Dialogangebot der FARC jedoch mit dem Argument ab, die Guerilla müsse klare Beweise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse allerdings langsam und schrittweise vorgehen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Militär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesellschaftliche Druck nicht nur die Kriegsparteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ursachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeitplan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.
“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”
LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Guerilla gehen unvermindert weiter. Stehen die Friedensbemühungen vor einem erneuten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, beginnen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung gegeben hatte. Im Gegenteil hatte die Regierung Gaviria nach dem Scheitern der Verhandlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und militärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhandlungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestreben der Regierung, der Gewalt und den Verletzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Beispiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dynamischere, entschiedenere Haltung als die vorhergehende. So hat sie beispielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Regierung und den Menschenrechtsorganisationen, damit diese im Senat eine klarere Position bezöge. Die Regierung distanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mittlerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versuchen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger geworden. Neue repräsentative Umfragen haben ergeben, daß trotz einiger Guerillaaktionen, die öffentliche Ablehnung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Verhandlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstützung haben wie zu anderen Zeiten. Offenbar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche beginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem bestimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zunahme der Aktivitäten von Todesschwadronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kommunistische Parlamentsabgeordnete, ermordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitäten ist wohl die bevorzugte Form der Militärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathisanten der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an einigen Gewerkschaftsführern in Antioquia oder Todesdrohungen gegenüber politischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit regierungskritischen Positionen an den Diskussionen beteiligen wollen. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Faktor bei zukünftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpedieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argumenten wurde schon die ehemalige Guerilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht erpressen lassen, sondern muß die Regierung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Paramilitärs als ihre Verantwortlichkeit anzuerkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwahlen im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blieben allerdings intakt. Politisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Einfluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahrzehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wissen, daß sie ohne bestimmte Übereinkünfte mit ihr nicht regieren können. Dies wurde von der Rechten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen anerkennen, daß die Guerilla keine Kriminellenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die linken Parteien in der Lage, den erforderlichen Druck auf die Regierung auszuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es gegenwärtig in der Gesellschaft ein eindeutiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla verlangten, haben heute die realistische Einschätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Abwesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position vollständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedingungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Einige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozessen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesellschaftlichen Gruppen bei den Friedensgesprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoliberale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausgaben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar darüber im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Bewegungen und die Guerilla müssen verstehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich geschaffen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungsschichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen VertreterInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Um unnötige Risiken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Bewegungen von der Regierung konkrete Sicherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien politischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusammenarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtigkeit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu akzeptieren. Eine internationale Kontrollkommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde allerdings noch keine vollen Sicherheitsgarantien gewährleisten. Auch in diesem Bereich muß man Schritt für Schritt vorgehen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr präzise Antwort. In der Zeit, als das Medellín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Drogenkartell und der Aufstandsbekämpfungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und paramilitärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhandel zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Castano versuchen werden, sich in die Verhandlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß integriert werden. Die Regierung hat angekündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräften in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Vergangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist geschwächt, das Cali-Kartell ist an Verhandlungen interessiert, weil sie wissen, daß sich in Zukunft der Druck auf sie erhöhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbianischen Regierung oder der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA, da diese sich auf das Medellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zusammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsorganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechtsgruppen sind der Meinung, daß eine Legalisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist allerdings nicht akzeptabel, daß die Menschenrechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbekämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu akzeptieren, daß die Strafe für diese Verbrechen zwischen ihnen, der Staatsanwaltschaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Telefongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft verurteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfahren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisieren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhandels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Geschäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Drogenhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einhergeht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt allerdings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkriminalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschenrechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstützung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internationalen Kampagne von “amnesty international” und der Vorlage des Berichtes der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, befindet sich die kolumbianische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unternimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschenrechte im Verteidigungsministerium einrichtet.
Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, daß sie anfängt, die kolumbianische Regierung nicht mehr als ohnmächtiges Opfer, sondern als Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsverletzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die internationale Gemeinschaft sich mit der Situation in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien ernannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regierung enorme Angst, durch ihre Verletzungen der Menschenrechte einige ökonomische Vorzugsbedingungen im Exportbereich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäischen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Regierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öffentlichkeit ausgeht, ist daher von entscheidender Bedeutung.
Editorial Ausgabe 247 – Januar 1995
“Tierra y libertad! Viva Zapata” Der Schlachtruf, mit dem die zapatistische EZLN vor einem Jahr aus dem lacandonischen Urwald trat, mutete anachronistisch an – war er doch eine Referenz an die mexikanische Revolution vor rund achtzig Jahren.
Schnell schon wurde jedoch deutlich, daß die Forderung nach Land und Freiheit in Chiapas – aber auch in anderen Bundesstaaten – höchst aktuell ist. Zu viele der Forderungen von damals sind lediglich in der Rhetorik der Regierungspartei verwirklicht worden.
Der “Kampf um die Würde”, den die zapatistische Guerilla am 1. Januar 1994 aufgenommen hatte, blieb militärisch auf den vernachlässigten Bundesstaat im Süden beschränkt. Politisch erschütterte er jedoch das ganze Land. Die EZLN wurde zur Hoffnungsträgerin für grundlegende Veränderungen in ganz Mexiko, der Aufstand der Indígenas sollte den Anfang vom Ende der über sechzig Jahre währenden PRI-Herrschaft markieren.
Doch der Machtwechsel fand nicht statt. Und nach den Präsidentschaftswahlen vom August, die der blasse Technokrat Zedillo für sich entschied, zeigt sich die Opposition zerstritten und orientierungslos wie zuvor. Auch der Aufschwung der in diesem Jahr so oft beschworenen Zivilgesellschaft hat vorübergehend ein Ende gefunden.
Doch auch die PRI ist geschwächt aus den Ereignissen der letzten zwölf Monate hervorgegangen. Kaum jemand nimmt ihr noch die Versprechungen vom Eintritt in die “Erste Welt” ab, welche die Mitgliedschaft in NAFTA und OECD signalisieren sollten. Und die innerparteilichen Auseinandersetzungen gehen so weit, daß die Morde an führenden PRI-Politikern – wie Colosio und Ruiz Massieu – mögliches Ergebnis interner Machtkämpfe sind.
Nach einem Jahr konzentriert sich das politische Interesse wieder auf Chiapas. Seit dem 8. Dezember gibt es mit dem Vertreter des offiziellen Mexiko, Eduardo Robledo, und dem Repräsentanten der autonomen Gemeinden, Amado Avedaño, gleich zwei Gouverneure. In dieser Situation wird wohl keiner der beiden regieren können. Und die Ereignisse der letzten Wochen deuten eher auf eine Verhärtung der Lage denn auf weitere Verhandlungen hin. Auch wenn es am Tag der doppelten Amtsübernahme in Chiapas weitgehend ruhig blieb, mittelfristig ist mit einem Wiederaufflammen der Kämpfe zu rechnen. Die EZLN ist sich des Dilemmas, in dem sie steckt, wohl bewußt. Nimmt sie den militärischen Kampf erneut auf, wird sie einen Teil der Sympathie, die sie noch immer in ganz Mexiko genießt, verlieren. Akzeptiert sie die Hinhaltetaktik der PRI auf ewig, wird sie zu einer marginalen Gruppe in den unzugänglichen Urwäldern von Chiapas, die niemad mehr ernst nimmt.
Aus der Illegalität in die Zivilgesellschaft
Vom 27.- 31. Juli 1994 fand in Cabá, Provinz El Quiché, die fünfte Generalversammlung der CPR de la Sierra (ein regionaler Zusammenschluß eines Teils der CPR) statt. Zwar liegt sie schon eine Weile zurück, aber ein Bericht von der Versammlung, den wir im Folgenden leicht gekürzt abdrucken, vermittelt ein plastisches Bild von der Situation in den CPR und dürfte seine Aktualität nicht verloren haben.
Die Struktur der CPR
Der interne Aufbau der CPR ist basisdemokratisch organisiert: Auf der Ebene der einzelnen Dörfer werden Lokalkomitees gewählt. Für die drei Gebiete Santa Clara, Cabá und Xeputul sind jeweils Gebietskomitees zuständig, während die Koordinationskommission (CDC) als zentrale Instanz jeweils auf den Generalversammlungen gewählt wird. Zusätzlich wird ein Ältestenrat einberufen, der sich aus VertreterInnen verschiedener Gebiete zusammensetzt und die Aufgabe hat, die CDC kritisch zu beraten.
Die Produktion
Die landwirtschaftliche Produktion ist zweigleisig organisiert: Im Unterschied zu den CPR del Ixcán dominiert in denen der Sierra die private Produktion der Familien, die jeweils ein eigenes Stück Land zur Verfügung haben. Daneben steht die Kollektiv-Produktion, die ursprünglich unter den Bedingungen absoluter Repression entwickelt wurde. Heute dient sie in erster Linie dazu, Gemeinschaftsarbeiten wie z.B. den Bau von Schulen und Strassen zu realisieren und diejenigen zu versorgen, die für sich selbst nicht genug erwirtschaften können. Dies sind vor allem die Witwen und DorfbewohnerInnen, die als LehrerInnen und GesundheitsbrigadistInnen arbeiten.
Die landwirtschaftliche Arbeit ist immer noch weitgehend subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet: Überwiegend wird Mais angebaut, daneben – weit weniger – Bohnen, Zuckerrohr, Bananen, Kaffee, Guisquil, verschiedene Kräuter, Tomaten, Orangen, Avocados, Sapotes und Kürbisse. Die Frauenorganisation (sector de las mujeres) ist momentan dabei, ergänzend zur bisherigen Produktion, ein Gemüsegarten-Projekt aufzuziehen. Außerdem läuft ein Schweinezucht-Projekt in Gemeinschaftsarbeit.
Im vergangenen Jahr ist es nicht gelungen, die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen, was angesichts der steigenden BewohnerInnenzahl zu einem Versorgungsproblem führt: Insgesamt steht den CPR innerhalb der Gebiete, in denen sie sich bewegen können, zu wenig Land zur Verfügung, das bewirtschaftet werden kann. Darüber hinaus fehlt es an anderen Grundvoraussetzungen landwirtschaftlicher Produktionsmittel, wie z.B. an Arbeitsmitteln, Lastentieren, Werkzeug und Naturdünger. Weiter wäre eine systematische Bodenanalyse notwendig, um durch den Anbau geeigneter Nutzpflanzen auf den unterschiedlichen Bodenarten die jeweils besten Erträge zu erzielen.
Eine “Vermarktungskommission” ist derzeit damit beauftragt, den Handel mit den Nachbardörfern bis hin nach Chajúl und Nebaj auf- bzw. auszubauen, der durch den Ausbau der (Fuß-) Wege und den Kauf weiterer Lastentiere gefördert wird.
Gesundheit
Durch mangelhafte, bzw. einseitige Ernährung ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung schlecht: Allein an einem Impftag wurde im vergangenen Jahr bei 103 Kindern Unterernährung festgestellt, 9000 Krankheitsfälle wurden im Laufe des Jahres registriert. Wie überall auf dem Land sind die Hauptkrankheiten Magen-Darm-Leiden und Erkrankungen der Atemwege; besonders problematisch erscheinen darüberhinaus gegenwärtig die ca. 200 Fälle von Tuberkulose.
Auf der Versammlung wurde ausdrücklich der Zusammenhang von Leben in Unterdrückung und Krankheit thematisiert und als wesentliche Ursache der Krankheiten die Armutsverhältnisse genannt, in der die CPR seit 12 Jahren, die Maya-Bevölkerung insgesamt schon seit 500 Jahren gehalten werden. Die CPR besitzt einen sehr umfassenden Gesundheitsbegriff, der das Recht auf ausgewogenes und ausreichendes Essen ebenso beinhaltet und einfordert wie Kleidung, Wohnung, Arbeit, Ruhe, medizinische Vorsorge, Arzneiversorgung, Akupunktur und die Einbettung des Gesundheitswesens in die Strukturen der Gemeinschaft.
Die Situation hat sich seit November 1993 merklich verbessert: Seitdem arbeitet eine Gruppe der “Médicos del Mundo” in den CPR. Eine Hebamme, ein Arzt und eine Krankenschwester arbeiten in einer kleinen Klinik, die kürzlich in Cabá fertiggestellt wurde und halten außerdem immer wieder Sprechstunden in den anderen Dörfern ab. Dort sollen im nächsten Jahr ebenfalls kleine Krankenstationen gebaut werden. Ihre Hauptaufgabe ist, innerhalb der begrenzten Zeit, die sie in den CPR bleiben werden, eine genügend große Zahl von GesundheitsbrigadistInnen unter den BewohnerInnen auszubilden, die ihrerseits wieder andere Personen ausbilden sollen.
Daneben stellen die “Médicos del Mundo” als VertreterInnen der ersten nennenswerten internationalen Nichtregierungsorganisation, die innerhalb der CPR arbeitet, durch ihre Anwesenheit auch einen gewissen Schutz vor Bedrohungen und Einschüchterungen durch das Militär dar.
Schule
50 LehrerInnen (promotores de educación) geben den insgesamt ca. 1200 SchülerInnen an drei Tagen der Woche Unterricht. Im letzten Jahr wurde eine Alphabetisierungskampagne für derzeit rund 500 Erwachsene unternommem, die im kommenden Jahr mit Hilfe von außen erweitert und möglicherweise auf Ixíl und Spanisch durchgeführt werden soll.
Der Schulalltag wird von ganz grundlegenden Problemen bestimmt: Es mangelt an Papier, Stiften und Schulbüchern; die wenigen, die vorhanden sind, sind nur in Spanisch oder in Quiché abgefaßt und müssen in die andere Sprache, vor allen Dingen in Ixíl übertragen werden. Nur 75 Prozent der eingeschriebenen SchülerInnen nehmen am Unterricht teil, weil die Feld- und Gartenarbeit auch bei den Kindern Vorrang hat. Das gleiche Problem stellt sich auch für die LehrerInnen und GesundheitsbrigadistInnen: Die drei Tage, die sie in der Schule arbeiten, fehlen ihnen vor allem bei der Feldarbeit, die sie “nebenher” verrichten müssen, und die Unterstützung, die sie für ihre Arbeit in Form einiger weniger Pfund Mais von der Gemeinschaft erhalten, machen diesen Ausfall nicht wett. Es wurde überlegt, die GesundheitsbrigadistInnen, deren Arbeit zu einem “Vollzeitjob” ausgeweitet werden soll, von der Feldarbeit freizustellen und ganz von der Gemeinschaft zu unterstützen.
Der politische Kampf der CPR
Seit 1990, als das guatemaltekische Militär die CPR de la Sierra zu vernichten drohte und die CPR aus dieser Situation heraus erstmals an die Öffentlichkeit gingen, führen sie nicht “nur” einen Überlebenskampf als Maya-Gemeinschaft im Widerstand, sondern auch einen politischen Kampf, der sich sowohl auf regionaler als auch auf nationaler und internationaler Ebene weiterträgt.
Auf regionaler Ebene wurden Kontakte besonders für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu VertreterInnenn der umliegenden Dörfer und der Gemeinden Nebaj, Chajúl bis hin nach Cunén und Sacapulas geknüpft. Als politischer Erfolg wurde die Entsendung eines Delegierten der CPR als ständiges Mitglied in das Menschenrechtsbüro Chajùl, das dem Erzbischöflichen angegliedert ist, gewertet. Durch dessen Arbeit gelang es erstmals, Teile der Bevölkerung aus den umliegenden, unter Militärkontrolle stehenden Dörfern zu aktivieren: In einigen Dörfern erklärten sich über 50 Personen bereit, mit dem Büro zusammenzuarbeiten, Informationsveranstaltungen zu besuchen und bei Menschenrechtsverletzungen öffentlich Zeugenaussagen zu machen.
Auch auf höherer Ebene wurde die Menschenrechtsarbeit durchgesetzt: Die CPR brachten ihre Anklagen einer Delegation der Menschenrechtskommission der UNO und bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) vor. Ein Delegierter der CPR sitzt als ständiger Vertreter in der “Asamblea de la Sociedad Civil”, dem runden Tisch der Zivilsektoren, der den sogenannten Friedensprozeß und die Verhandlungen zwischen URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Gualtematéca) und Regierung bzw. Militär kritisch und mit eigenen Entwürfen begleitet. Darüber hinaus sind die CPR Mitglied der Maya-Organisation “Coordinadora Maya ‘Nuevo Amanecer’ Majawil Q’ij”.
Die zentrale politische Aktion des vergangenen Jahres war der Marsch in die Hauptstadt, den die CPR de la Sierra gemeinsam mit den CPR del Ixcán im September unternahmen, um ihre politische und rechtliche Anerkennung als zivile Bevölkerung einzufordern und Menschenrechtsverletzungen anzuklagen.
Weiter unternahmen CPR-Delegationen politische Informationsreisen durch die USA und Europa.
Politische Forderungen der CPR
Die grundlegende Forderung der CPR ist immer noch ihre offizielle Anerkennung als zivile Bevölkerung. Militär und Regierung verweigern dies jedoch seit den Tagen der Präsidentschaft Ríos Montts (1982/83) und denunzieren die CPR als politischen Arm der Guerilla. Auch der Präsident de León Carpio, der noch als Menschenrechtsprokurator 1991 der erste und einzige Staatsvertreter war, der die CPR besuchte und ihnen versprach, sich für ihre Anerkennung als Zivilbevölkerung stark zu machen, will heute nichts mehr davon wissen und weigert sich, überhaupt eine Delegation der CPR zu empfangen. Trotzdem kamen aber Militär und Regierung nicht umhin, die CPR als, durch den Staatsterror der frühen 80er Jahre, “entwurzelte Bevölkerung” anzuerkennen: Im “Acuerdo sobre el reasentamiento de la población desarraigada”, dem Abkommen über die Wiedereingliederung der entwurzelten Bevölkerung, den URNG und Regierung bzw. Militär unter massivem Druck der UNO-Vermittler im Juni 1994 schlossen, werden die CPR erstmals von offizieller Seite als “Entwurzelte” anerkannt. Sie müßten somit auch in den Genuß der in diesem Vertrag vereinbarten Maßnahmen kommen. Einer solchen Interpretation schieben Militär und Regierung jedoch einen Riegel vor, indem sie weiterhin und gegen besseres Wissen auf den vermeintlich militärischen Charakter der CPR beharren.
Die CPR fordern von der Regierung Besitzurkunden für das Land, auf dem sie leben und das sie bebauen. Sie beanspruchen das Land nicht nur, weil es ihren Maya-Vorfahren geraubt wurde, sondern auch, weil sie das Land unter unvorstellbaren Leiden und Entbehrungen im Laufe von 12 Jahren überhaupt erst urbar gemacht und darauf eine neue Form des Gemeinschaftslebens entwickelt haben. Die CPR fordern von der Regierung die Überschreibung des staatlichen bzw. des Gemeindelandes von Chajúl und den Verkauf und die Übergabe des Landes an sie, das sich derzeit noch in Privatbesitz befindet. Dieses Land soll dann perspektivisch nicht nur den CPR, sondern allen Ixíl-Flüchtlingen zur Verfügung stehen.
Als Voraussetzung dafür, daß sich ein Gemeinschaftsleben der CPR frei entwikkeln kann, fordern sie die Auflösung der Zivilpatrouillen und das Verschwinden des Militärs, das rund um das CPR-Gebiet immer präsent ist.
Im gegenwärtigen sogenannten Friedensprozeß bezieht die CPR folgende Position: Die CPR lehnen einen Frieden der Angst, einen Frieden der Straffreiheit für die Verbrecher und einen Frieden der Armut ab, da sie einen solchen “Frieden”, der tatsächlich das Ergebnis der laufenden Verhandlungen sein könnte, schon seit 500 Jahren kennen. In diesem Sinne fordern sie von der Regierung die sofortige Einhaltung des Menschenrechtsabkommens, das URNG und Regierung bereits im März unterschrieben haben – bisher folgenlos: Bis Ende Juli wurde noch nicht einmal die Überprüfungskommission, die mit UNO-Unterstützung über die Einhaltung des Abkommens wachen sollte, eingerichtet.
Außerdem fordern die CPR die sofortige Umsetzung des Abkommens über die “Wiederansiedlung der Entwurzelten”, das laut Vertragsvereinbarungen jedoch erst mit der Gültigkeit eines Friedensvertrags zwischen Regierung und URNG inkraft treten soll. Die CPR beanspruchen einen VertreterInnensitz in der “technischen Kommission”, die – von Regierungs- und VerfolgtenvertreterInnen paritätisch besetzt – die Umsetzung des Abkommens in seinen (finanz-) technischen Aspekten noch vor Inkrafttreten des Vertrags vorbereiten soll.
Schließlich fordern die CPR die Neuverhandlung und Revision des Abkommens über die sogenannte Wahrheitskommission, die den Auftrag erhält, die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen besonders seit der Terror-Ära Lucas Garcias (Präsident 1978-82) zu erforschen.
In der Bewertung des Verhandlungsprozesses zeigte man sich realistisch: Die bereits geschlossenen und zukünftigen Abkommen stellten an sich keineswegs den Friedensprozeß dar, sie seien vielmehr eine materielle Voraussetzung dafür, daß dieser sich entwickeln könne: Die auf dem Verhandlungswege erreichten Vereinbarungen verbesserten zwar die Kampfbedingungen der verschiedenen Basisbewegungen. Der tatsächliche Friedens- und Demokratisierungsprozeß könne aber nur durch deren Kampf eingeleitet und bestimmt werden.
Vom Charme und der Falle
Wie kann der Feminismus die Ereignisse von Chiapas beurteilen? Von einem Traum und von einem Standpunkt aus, die sich nicht darauf beschränken, Gleichheit für Frauen innerhalb des bestehenden kulturellen Rahmens zu suchen, der sich auf Aggression, Konkurrenz, Kampf, Kontrolle, Herrschaft, Negation des Anderen (der Anderen) stützt. Sondern vorzuhaben, dieses Geflecht von Bildern voneinander, von uns selbst und von unserem Verhältnis zur Natur zu ändern – von einem Feminismus, der andere Logiken und Ethiken für das Leben sucht?
Für uns ist der Feminismus grundlegend pazifistisch und antikriegerisch. Niemals führt Aggression zu Freiheit und Frieden, auch wenn wir Feministinnen manchmal aggressiv sind. Der Krieg in allen seinen Formen war immer das Rückgrat der Macht, der Ordnung und der Herrschaft des Patriarchats. Vielleicht war deswegen der Krieg immer “Männersache”, auch wenn einige Feministinnen gleiche Rechte für Frauen fordern und dafür kämpfen, zu männlichen Räumen und männlicher Logik zugelassen zu werden, also auch zum Militär: Das sind machistische Räume und machistische Disziplin (kein Platz für Schwache, Feiglinge oder solche, die nicht gehorchen können oder die eine eigene Meinung haben). Haben Sie bemerkt, daß Waffen immer an einen erigierten und ejakulierenden Penis erinnern? …Die Waffen die Gott ihnen gab, wie Subcomandante Marcos sagt?
Feminismus ist antikriegerisch und pazifistisch, obwohl Feminismus grundlegend rebellisch ist, ein großer Akt der Rebellion. Die rebellischte aller Rebellionen. Die sich gegen alle Rechtfertigungen wendet, um den Anderen, die Anderen, die Andere, zu leugnen, die neue Formen des Zusammenlebens zwischen Natur und Kultur sucht. Eine zivilisatorische Rebellion, die von Frauen ausgeht, die aber alle betrifft.
Macht durch eigenen und fremden Tod
Der Krieg in Chiapas ist auch rebellisch und besitzt eine Eigenart gegenüber den offiziellen Kriegen: Er erhebt das Wort gegen diejenigen, die es leugnen. Darin ähneln die Indios den Frauen: Sie sind das Andere, das unsichtbar gemacht wird, verschwiegen wird, bestraft wird und unterdrückt wird. In vielen Analysen über die Situation der Indios könnte das Wort “Indio” durch “Frau” ersetzt werden und umgekehrt. Beide interessieren kaum jemanden. Für die Medien sind sie keine Nachricht, für die Behörden sind sie unsichtbar, für die Mehrheit sind sie sowas wie Minderjährige, die man nicht versteht (Marcos hat viele daran erinnert), die nicht wissen, was sie wollen. Ihre Kultur, ihre Identität ist eine “Andere”, die nichts beiträgt zu “Entwicklung”, “Fortschritt”und “Wissenschaft”, die näher dran ist am “Primitiven”, “Wilden”, “Reproduktiven”, “Natur” als an der “Kultur” und dem “Verstand”.
Die Indios von Chiapas haben gegen die Unsichtbarkeit, die Stille, die Abwertung, die tägliche Verachtung und den täglichen Tod rebelliert. Sie haben gegen die Nicht-Anerkennung des Anderen rebelliert. Aber sie haben mit Waffen, Gewalt und Krieg rebelliert, das heißt mit den Mitteln, die die Situation herbeigeführt haben, die sie bekämpfen. Der Krieg ist der blutige Kampf um die Macht durch den eigenen und fremden Tod. Macht, die auf diese Logik aufbaut, kann sich gleichwertig neben die sie unterwerfende Macht stellen (so war es bei den zentral- und südamerikanischen Guerillas, die diese Gegenmacht letzten Endes nicht durch Waffen auflösen konnten) oder die Übermacht der einen über die anderen erreichen. Im letzten Fall wird der Sieger, unabhängig von seinen “guten Absichten” kurz oder mittelfristig wieder seine Logik den Anderen aufzwingen und damit den Teufelskreis des Systems weiterführen.
“Entwicklung” um die Menschheit zu zerstören
Der patriarchale Liberalismus hat “den Weg der EZLN-Guerilla” kritisiert, mit der Begründung daß “Gewalt nie der Weg sein kann”. Aber das ist eine heuchlerische Kritik, weil ihre Logik und Ethik selbst die der Gewalt sind. Das Patriarchat hat nicht nur die schlimmsten Formen der Armut hervorgebracht, der Unterwerfung, der Zerstörung und des Todes, sondern es hat auch aus der “Entwicklung” ein Mittel zur Zerstörung der Menschheit gemacht. Die Technik ist nicht zum Genießen des Lebens gemacht, sondern zur Kontrolle und Gehorsam durch die Drohung mit Zerstörung und Tod. Das Patriarchat kritisiert die Gewalt nur dann, wenn sie vom Anderen kommt, wenn sie die Herrschaft der einen über die anderen in Frage stellt. Wenn aber Gewalt angewandt wird, um ihre eigene Logik und Herrschaftsformen durchzusetzen, wird sie unsichtbar gemacht. Es gibt nicht einmal das Bewußtsein über diese Essenz von Gewalt, die das patriarchale System am Leben hält. Innerhalb dieser Logik ist es sehr logisch, mit Gewalt und Krieg zu antworten. Der Aufstand von Chiapas hat das Spiel mitgespielt: Wenn die zerstörerische Macht ausschlaggebend für das Recht ist, dann gibt es kein Recht ohne eine Gegenmacht: “Frieden ist nur möglich, wenn es zwischen den Parteien ein Gleichgewicht von tödlicher Macht gibt”. Der Zweck heiligt die Mittel.
Aber die feministische Kritik greift die Grundlagen dieser beiden Delirien grundlegender und radikaler an. Egal ob von den Mächtigen oder den Entmachteten: Im Namen des Gemeinwohls bleiben die Freiheit und das Leben immer außen vor. Im Gegensatz zu den Rebellionen innerhalb des patriarchalen Systems sucht der Feminismus eine andere Dimension des Zusammenlebens. Dabei ist eine Ethik gesucht, die eben nicht davon ausgeht, daß der Zweck die Mittel heiligt, denn der Gegensatz von Form und Inhalt ist eine der Grundlagen des herrschenden Systems.
Der patriarchale Diskurs der EZLN
Jede Handlung sagt mehr als ihr verbaler Diskurs. Jede Handlung produziert explizite und implizite Symbole und Muster davon, was als möglich und wünschenswert angesehen wird. Ein kultureller (oder gegenkultureller) Diskurs situiert sich dadurch, daß er Werte schafft, indem er Gefühle, Wünsche und Aktionen verbindet. Wir finden den allgemeinen Diskurs der EZLN in zweierlei Hinsicht äußerst patriarchal.
Erstens festigt er die Auffassung, daß Gewalt nur mit Gewalt bekämpft werden kann, und daß Gewalt legitim ist, wenn sie von den Entmachteten und Unterdrückten angewandt wird. Dagegen haben wir Feministinnen schon viel gesagt. Zweitens hat die EZLN mit der gleichen Ethik, die sie zu bekämpfen vorgibt (die der ökonomischen und politischen nationalen und internationalen Macht) vorsätzlich die Rechtfertigung gesucht, um zu töten und zu sterben. Ihre Taktik, eine formale Kriegserklärung abzugeben, ein Gebiet unter ihre militärische Kontrolle zu bringen, in dem ein Alltag gelebt wird, Militäruniformen zu erlangen, zu verteilen und zu präsentieren, traditionelle militärische Strukturen und Posten einzuführen usw. – mit all diesen Mitteln hat die EZLN Respekt vor den Regeln des “modernen” Patriarchats gezeigt, die entwickelt wurden, um die schrecklichen Konsequenzen seiner kriegerischen Obsessionen zu verharmlosen (die sogenannte Genfer Konvention); der Respekt sollte dazu führen, nach den gleichen Regeln als “kriegsführende Macht” anerkannt zu werden. Nach den herrschenden Kriterien ist das ohne Zweifel “eine sehr intelligente Taktik”, aber für uns bedeutet das die Anerkennung des Systems des Todes und der Ausrottung, indem die “Notwendigkeit und Gültigkeit” betont wird, den Kriegswahnsinn zu regeln und sich in sie einzuordnen.
Politik als Feld des Pragmatismus
In seinen spezifischen Aspekten erscheint der Diskurs der EZLN nicht so vereinfachend, sondern viel komplexer. Darum hat er eine weitverbreitete Sympathie geweckt. Dennoch muß der Diskurs genauer und aus feministischer Sicht analysiert werden.
Zuerst fiel darin auf, daß das neoliberale ökonomische Modell als unhaltbar bezeichnet wird, daß es nicht das ist, als was es die Regierung verkauft. Daß es ein Modell ist, das trotz seiner wunderbaren makroökonomischen Erfolgszahlen mindestens 40 Millionen MexikanerInnen ausschließt und das trotz seiner “Demokratie”-Versprechen diese nur für einige wenige möglich macht. Diese Informationen sind überhaupt nicht neu, aber der neo-zapatistische Aufstand gibt ihnen eine neue Dimension, die darüber hinausgeht, sie nur immer wieder zu benennen. Wir meinen das Recht, gegen das zu rebellieren, was uns verletzt und uns verschwinden läßt.
Mit dem Fall der Mauern und der patriarchalen Utopien ist das Ende dieses Jahrhunderts an eine große Hoffnungslosigkeit gelangt, an das Fehlen von zivilisatorischen Perspektiven, an eine absolute Relativierung von Gut und Böse und gleichzeitig an vertiefte fundamentalistische Moralvorstellungen, an eine verstärkte Gleichförmigkeit und Gleichmacherei, die jede reale Diversität, jede tiefgehende Kommunikation erdrückt. Mit der immer größeren Parzellierung des Wissens und des Verhältnisses zum Leben und zur Welt verstärkt sich auch das Gefühl der Unmöglichkeit von Utopien. Dadurch ist die Politik zu einem Feld des Pragmatismus geworden. Auf der einen Seite schien es, als ob die Rebellion ihren Sinn verloren hätte, daß es nur möglich sei, unter der mathematischen Kalkulation des Machbaren zu agieren, nur kurzfristig zu handeln ohne den Bezug zum Wünschenswerten zu messen, ohne an eine wünschenswerte Zukunft zu denken, ohne die Phantasie anzuspornen, da ja schon alles wünschenswerte gescheitert war. Auf der anderen Seite gab es eine verbreitete Praxis, daß nur die Methoden, Formen und Spielräume, die innerhalb des Systems gegeben werden, Fortschritt und Wandel erlauben – es war nicht möglich, aus der Legalität auszuscheren.
Rebellion wieder denkbar
Ein großer Teil der Sympathie und des Erstaunens über die EZLN läßt sich darauf zurückführen, daß sie die Möglichkeit zur Rebellion wiedererweckt hat. Aber darüber hinaus hat sie das Recht wiederhergestellt, die Differenz einzufordern, sich der Gesetze der Unterdrücker zu entziehen, die Würde auf anderen Wegen auszudrücken. Das Recht, eigene Alternativen auszuprobieren, das Recht anzuzweifeln, was als Gut gegeben ist, oder was als Wert alles andere ausschließt. In anderen Worten hat die EZLN eine Hoffnung für die Differenz, die Vielfältigkeit geweckt. Das sind Elemente, die feministischer Phantasie Nahrung geben.
Dann ist da noch der explizite Diskurs der EZLN, der in den Kommuniques zu uns gelangt ist und den wir sehr glaubwürdig finden. Das steht in Verbindung mit dem oben Gesagten, da ein Teil der zivilisatorischen Hoffnungslosigkeit mit der fehlenden Kommunikation zwischen Politik und Individuen zu tun hat. Der Aufstand begann ohne eine absolute Wahrheit oder eine messianische Sprache im Stil eines Sendero Luminoso. Der Vorschlag war nicht, eine einzige für alle gültige Macht zu installieren, weil die EZLN explizit betonte, nicht die Macht übernehmen zu wollen. Sie erkannten die Pluralität an und redeten und interpretierten nur von sich selbst aus, nicht im Namen von anderen. Das ist ohne Zweifel neu und viel demokratischer als die traditionellen politischen Diskurse, damit unterscheiden sie sich von den Guerillas des Kontinents. Aber diese Haltung verliert sich von dem Augenblick der Verhandlungen mit der Regierung.
Die ausschließende Macht der Waffen
Bei den Verhandlungen zeigte sich wieder einmal der traditionelle, formale, selektive und männliche Stil, Politik zu machen: Zwei Kräfte, die als solche nicht das Ganze repräsentieren, verhandeln untereinander das Schicksal von allen. “Alle” können mehr oder weniger sein, aber zumindest in Chiapas gibt es da diejenigen, die die EZLN unterstützen, diejenigen, die gegen sie sind, und diejenigen, die auf keiner Seite stehen. Und unter diesen letzten beiden sind nicht nur Viehzüchter und Kaziquen. “Alle” sind die Vielfalt dieser Region. Ein nicht repräsentativer Frieden schließt nur die ein, die die Macht der Waffen besitzen (die offiziellen oder die aufständischen) und ist damit der Wille, keinen Frieden zu erreichen. Das Schicksal einer Region und vielleicht auch der ganzen Nation (denn es ist nur wenig bekannt geworden darüber, was tatsächlich verhandelt wurde) gehört in die Hände der Vielfalt und nicht nur in die Hände derjenigen, die Waffen haben und durch diese Macht zeitweilig die ewig Mächtigen herausfordern können.
So zeigen der Krieg und seine Folgen eine Konfrontation, die nichts zu tun hat mit der Diversität und Pluralität, auch wenn diese zum Diskurs und den ehrlichsten Absichten einer der beiden Parteien gehören. Früher oder später kann der Teufelskreis neu beginnen.
“Wer hat das Recht zu entschuldigen?”
Ein zweiter Aspekt des Diskurses der EZLN ist vielversprechender und weiterführender. Von den traditionellen Politikern gelangt ein flacher, phantasieloser, wiederholender, demagogischer und linearer Diskurs zu uns, in dem sich niemand wiederfindet. Ein Diskurs, der sich nicht an das tägliche Leben richtet und der implizit und symbolisch nichts sagt und sich explizit nur an die Initiierten richtet. Der Diskurs des CCRI (Comité Clandestino Revolucionario Indígena) und besonders die Komuniques des Subcomandante Marcos haben viele Menschen angesprochen. Ihr literarischer Charakter, vielleicht ein bißchen rethorisch und theatralisch, aber mit einer ständigen Verbindung zwischen Verstand und Gefühlen, hat meistens den Alltag berührt, die Fragen, Schmerzen und Hoffnungen des unzufriedenen Individuums; ein Diskurs, der ohne Angst und gegen alle Gewohnheit vom persönlichen Standpunkt aus spricht und auf diese Weise nicht nur informiert, sondern kommuniziert und in Dialog tritt, der witzig ist und sogar ironisch. In diesem Sinn hat er Menschen aus Fleisch und Blut berührt.
Von einer Logik und einer symbolischen Ordnung aus, die nicht feministisch ist, hat er uns eine Lektion erteilt, von der wir lernen können. Diese Art von Kommunikation war die feministische Utopie von Kommunikation, die sich verloren hat, weil wir irrtümlich glaubten, daß wir nur dann gehört werden, wenn wir die Sprache des Anderen sprechen. Die Sprache hat uns Frauen niemals benannt, und als wir lernten uns zu stammeln, begannen wir, den Diskurs nachzuahmen, den wir ändern wollten. Wir sind zu Spezialistinnen in Frauenthemen geworden, mit einer Sprache, die nicht mehr kreativ ist, mit symbolischen Codes, die die männliche Vorstellungswelt unterstützen und nichts Neues schaffen, die näher an den Sozialwissenschaften sind als am alltäglichen Leben.
Vier Fragen
Trotz seiner neuen und kreativen Aspekte und trotz all seiner Alternativen und trotz allem was wir von der EZLN lernen können: Wir Feministinnen wissen, daß das Patriarchat viele ursprünglich schöne Utopien hervorgebracht hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Internationalismus, etc.), aber alle sind gescheitert, weil sie die interne Logik nicht angegriffen haben. Und vom Augenblick an, in dem die EZLN ihre Alternative auch innerhalb dieser Logik plaziert hat, und außerdem vom Krieg aus, müssen wir doch ein paar Fragen stellen:
Erstens: Sollen wir so naiv sein, zu glauben, daß der Aufstand für die Regierung überraschend kam? In einem so militarisierten Staat wie Chiapas: Wie sollte das Militär nicht über die Pläne der EZLN informiert sein? Ist es möglich, daß in einem so umfassenden Gebiet sieben- bis zehntausend Personen unterwegs sind, ohne daß die Regierungskräfte es merkten? Wenn der Aufstand so gefährlich für die Regierung war, warum haben sie ihn kommen lassen?
Zweitens: Woher werden die Zapatistas finanziert? Zwar hat die EZLN keine großen oder modernen Waffenbestände, aber die sie hat, inclusive die über tausend Uniformen, kosten viel Geld, und dieses kommt offensichtlich nicht aus den leeren Beuteln der hungernden Aufständischen.
Drittens: Es ist wahr, daß Verhandlungen zwischen Kriegsparteien stattfinden müssen, aber gibt es in diesem Konflikt nur zwei Parteien? Sind nur diejenigen Partei, die Waffen haben und die Macht zu töten und zu sterben? Warum werden die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geführt? Die Gesellschaft, die sich unglaublich dafür eingesetzt hat, daß die Massaker gestoppt werden, daß Menschenrechte respektiert werden, daß Solidarität mit den Aufständischen gezeigt wurde hätte dabeisein müssen. Warum wissen wir nicht einmal, worüber verhandelt wird, was angeboten wird und was geopfert wird? Wir verstehen, daß die Regierung alle Anstrengungen unternimmt, um dies als einen lokalen Konflikt darzustellen, aber nicht mal auf lokaler Ebene wird der Frieden nur zwischen zwei Kräften hergestellt werden. Die zivile Gesellschaft hat auch in vielen Formen gekämpft, und die CCRI gibt vor, all diese Formen anzuerkennen. Aber warum hat dieser Kampf keinen Wert mehr, wenn es um Verhandlungen und Abkommen geht? Ist er nur die Unterstützung der Nachhut für den Krieg? Dies ist nicht nur das Problem der EZLN, auch wenn die Guerilleros im Augenblick die Macht haben, zu relativ gleichen Bedingungen zu verhandeln. Das ist auch ein Problem der Gesellschaft, die an hierarchische Politikformen gewöhnt ist, in der immer irgendwer die anderen repräsentiert, wo man/frau nicht fähig ist, sich selbst zu repräsentieren. Hat das nur mit traditioneller Politik zu tun?
Viertens: Ist es möglich, ein konkrete demokratische pluralistische Alternative in einer Gesellschaft aufzustellen, die so autoritär ist wie die chiapanekische? Der Autoritarismus ist in Chiapas nicht im Alleinbesitz der Kaciquen und Reichen. Alle Konflikte in dieser Region wurden mit Gewalt “gelöst”. In Chiapas gibt es über 25.000 aus ihren Gemeinschaften ausgestoßene Indios. Die Grundlage der Beziehungen sind Intoleranz, das einzige Gesetz ist “Du bist mit mir oder gehst oder stirbst.” Können wir in diesem Rahmen an Worte glauben, bloß weil sie schön klingen oder etwas versprechen?
Das revolutionäre Frauengesetz der EZLN
Es ist uns schwer gefallen, das Revolutionäre Frauengesetz der EZLN zu bewerten. Allgemein ist es sicher kein feministisches Programm, da es nur einige Frauen-Forderungen aufstellt und kein Vorschlag für die ganze Gemeinschaft aus der kritischen und bewußten weiblichen Sicht ist. Aus unserer städtischen, westlichen und erleuchteten Sicht und dadurch daß die indianischen Frauen fast unsichtbar sind und der Krieg sie jetzt buchstäblich unerreichbar gemacht hat, ist es fast unmöglich zu beurteilen, ob das Gesetz ein Produkt eines Prozesses unter den Frauen gegenüber patriarchalen und gewalttätigen Sitten und Gewohnheiten ist, oder ob die FührerInnen sich etwas ausgedacht haben, um die Frauen in die traditionell männlichen Aufgaben zu integrieren und ein Bild von interner Demokratie abzugeben. Denn mittlerweise haben grundlegende feministische Forderungen die meisten sozialen Bewegungen erreicht. Die verbale Wertschätzung von Frauen in Zeiten von Kriegen hat schon Tradition in der Geschichte von Guerillas oder in starken nicht-kriegerischen Konflikten, ohne daß sich dadurch die tatsächlichen Lebensbedingungen von Frauen verbessert hätten.
Daß sich Frauen aussuchen sollten, ob und wen sie heiraten, ist wahrscheinlich das revolutionärste der Gesetze, jedenfalls wenn es nicht nur auf dem Papier steht. Es wäre deshalb so revolutionär, weil es die Bürden und kulturellen Traditionen von Herrschaft und Verfügung über den Körper und die Lust von Frauen angreifen würde.
Die Beteiligung von Frauen in regulären oder irregulären Kriegsapparate erscheint uns überhaupt kein Gewinn. Ob es Guerilleras oder Soldatinnen gibt, ändert die Kriege nicht, und zusätzlich bezieht es die Frauen in die grundlegenden Institutionen der Herrschaft, die der Gewalt und des Todes mit ein. Das Bild einer Frau in Militäruniform mit einer Waffe ist für uns nicht ästhetisch. Das Bild sagt, daß Frauen auch gelernt haben zu töten. Und das ist das hoffnungsloseste aller Angebote.
Die Verhandlungen laufen
Das Abkommen vom März (vgl. LN 239) über die allgemeine Einhaltung der Menschenrechte, die Auflösung der Todesschwadrone und illegalen Streitkräfte und die Einrichtung einer UNO-Mission in Guatemala waren nur ein brüchiges Fundament für weitere Verhandlungen. Bereits im Mai klagten verschiedene Sektoren der guatemaltekischen Gesellschaft Regierung und Militär an, die Bestimmungen nicht einzuhalten; neue Menschenrechtsverletzungen wurden bekannt, und die UNO-Mission ließ auf sich warten.
Nach jahrelangem Widerstand hatte sich die URNG im März der Forderung der Regierungsseite gebeugt, die Frage der Wiederansiedlung der Flüchtlinge aus den allgemeinen Friedensverhandlungen auszuklammern. Seit über zehn Jahren befinden sich hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko und im Landesinneren; zu ihnen gehören auch die Geheimen Widerstandsdörfer (CPR). Das Befürchtete trat ein: Die Armee war in den Verhandlungen im Frühjahr nicht bereit, irgendeine Verantwortung für die Repressionen zu übernehmen, die zu der riesigen Flüchtlingswelle geführt hatten. Sie erklärte den Verhandlungsbereich zu einem allgemeinen humanitären Problem, so daß nach ihrer Vorstellung nur praktische Fragen gelöst werden müßten, ohne die Ursachen zu thematisieren. Die Verhandlungen zur Wiederansiedlung waren vor allem durch folgende Streitfragen belastet:
1. Die Militärs waren nicht bereit, die Rückkehrenden einschließlich der BewohnerInnen der CPR (die von ihnen als politischer Arm der Guerilla betrachtet werden) als Zivilbevölkerung anzuerkennen.
2. Die Landbeschaffung für die retornos stand (und steht) vor großen Schwierigkeiten, weil das Land, von dem die Menschen 1981/82 vertrieben wurden, unter staatlicher Aufsicht neu besiedelt worden ist – durch sogenannte Modelldörfer und durch Militärstützpunkte.
3. Die Forderung der Flüchtlingsorganisationen, einzelne Personen als Zeugen der Vertreibung auftreten zu lassen, wurde seitens der Armee zurückgewiesen. “Verständlich”, denn die meisten der Verantwortlichen sitzen noch auf ihren Posten.
Zwei Abkommen im Juni
Aufgrund dieser Diskrepanzen kam es Anfang Juni zu einem kurzzeitigen Abbruch der Verhandlungen. Erstaunlicherweise wurde Mitte Juni in Oslo dennoch ein Abkommen zur Wiederansiedlung geschlossen. Es scheint aber so, daß die Regierungsseite großen Druck auf die URNG ausgeübt hat, um überhaupt irgendein Ergebnis vorweisen zu können, freilich um den Preis wirklicher Lösungen. Zum einen treten die Vereinbarungen erst nach Abschluß des Friedensvertrages in Kraft, der für Dezember dieses Jahres geplant ist, womit sich der Rückkehrprozeß unerträglich verzögert; zum anderen sind in dem Abkommen keinerlei Regelungen über eine Entmilitarisierung der Rückkehrgebiete getroffen worden. Dies ist aber eine der Hauptforderungen der Flüchtlinge und der URNG, zumal die letzten beiden Jahre gezeigt haben, daß die Militärpräsenz für die, die schon zurückgekehrt sind, eine reale Bedrohung bedeutet, von der psychischen Wirkung einmal abgesehen.
Wenige Tage nach dem Abkommen zur Wiederansiedlung unterzeichneten die Parteien ein zweites, in dem sie die Einrichtung einer Wahrheitskommission beschlossen. Auch dieses eine Farce, denn es tritt gleichfalls erst nach dem Friedensvertrag in Kraft. Zudem soll die Kommission lediglich sechs Monate arbeiten dürfen, was zu einem sehr lückenhaften Ergebnis führen muß – ganz im Sinne derer, die für die aufzudeckenden Verbrechen verantwortlich sind.
Im Sommer nahm die Zahl der Menschenrechtsverletzungen nicht ab, wie nach den beiden Juni-Abkommen zu erwarten gewesen wäre. Man verzeichnete sogar eine neue Welle von Gewalttaten, die rasch zum Abbruch der Verhandlungen führte: GewerkschafterInnen wurden ermordet, VertreterInnen internationaler Organisationen bedroht, und im Ixcán kam es zu schweren Gefechten zwischen der Armee und der URNG.
Neue Verhandlungsrunde unter UNO-Vermittlung
Am 19. September stimmte die UN-Vollversammlung, fast ein halbes Jahr nach den Beschlüssen vom März, der “Mission der Vereinten Nationen für Guatemala” (MINUGUA) zu. Bereits am 20. Septem-ber traf eine Vorbereitungsdelegation mit zehn TeilnehmerInnen im Land ein, geleitet von dem Argentinier Leonardo Franco. Er löste Jean Arnault ab, der bis dahin bei der UNO für Guatemala zuständig war und nach anfänglichem Desinteresse doch heftig auf Lösungen gedrängt hatte. Die Hintergründe dieses Wechsels wurden jedoch nicht bekannt.
Am Tag nach der Ankunft begannen die Gespräche der UN-Vertreter mit Präsident de Léon und anderen leitenden Regierungsmitgliedern. Am 28. und 29. September fand in Mexiko die erste neue Runde der Verhandlungen zwischen URNG und Regierung statt.
Das Klima der ersten Begegnung war von gegenseitigen Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsaktionen der letzten Monate geprägt. Darüber hinaus zeichnete sich ab, daß die Regierungsseite nun sehr auf einen termingerechten Abschluß des Friedensvertrages im Dezember drängt und daß sich die Verhandlungen eher um die Einhaltung des Termins als um inhaltliche Fragen drehen werden.
Wie nun weiter? Offenbar hat die URNG eine schlechte Position, da sie militärisch nicht sehr schlagkräftig zu sein scheint, Regierung und UNO jedoch vor allem an schnellen Ergebnissen interessiert sind; der “Erfolg” von El Salvador soll sich in Guatemala wiederholen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die URNG immer weiter hinter ihre ursprünglichen Forderungen zurückweichen muß, daß beispielsweise die Flüchtlinge zwar zurückkehren, daß aber die Zustände, die sie zur Flucht gezwungen haben, nicht geändert werden.
Wird es die Guerilla wagen, die Verhandlungen abzubrechen, wenn die Verhandlungspositionen zu weit von ihren Grundforderungen abweichen?
Castros Erben möchten gern noch warten
Kubas führender Dissident Elizardo Sanchez hat eine Ader für bildhafte Vergleiche. Das politische System in seinem Land, erläutert er in seiner Wohnung in Havannas Nobelviertel Miramar, sei auf der Person Fidel Castros wie auf einer einzigen Säule errichtet. Zur besseren Anschaulichkeit demonstriert er seine Theorie mit einem Schreibblock, den er auf der Spitze eines Bleistifts balanciert: “Knickt der Stift weg, stürzt alles ein.”
Gerüchte, Gerüchte
In der exilkubanischen Gemeinde in Florida sehen viele die Dinge ähnlich. Kein Wunder, daß Miamis Medien Anfang April vor Freude völlig aus dem Häuschen waren, als der “Graubart” einige Tage nicht in der Öffentlichkeit auftauchte. “Fidel Castro liegt im Sterben!”, frohlockten sie. Doch wie schon so oft erwies sich der Wunsch als Vater des Gedankens: Pünktlich zum Treffen mit gemäßigten Exilkubanern (vgl. LN 238) stand der Comandante wieder auf der Matte, schüttelte Hände und verteilte Küßchen. Alles nur die üblichen Gerüchte also.
Oder doch nicht? Ein paar Tage später sickerte aus – jeder Sympathie mit Miami unverdächtigen – kubanischen Regierungskreisen durch, “der Alte” habe zum fraglichen Zeitpunkt einen leichten Schlaganfall erlitten. Die linke Hand sei zeitweilig gelähmt gewesen; 24 Stunden hätten die Ärzte gebraucht, um den “máximo líder” wieder herzurichten. Als ein sichtlich müder Castro dann auch noch am 26. Juli auf seine zum festen Polit-Ritual gehörende alljährliche Rede zur Lage der Nation verzichtete und seinen Bruder Raúl, den Verteidigungsminister, ans Mikrofon schickte, erhielt das Gerücht neue Nahrung, die biologische Uhr des Comandante laufe langsam, aber sicher ab.
Daß Castro wieder voll da war, als zehn Tage später in der Altstadt von Havanna Unruhen ausbrachen, mag seine Anhänger beruhigen. Dennoch – und ob Elizardo Sánchez mit seiner Bleistift-Theorie nun recht hat oder nicht – bleibt die Frage nach der physischen und psychischen Belastbarkeit des 68-jährigen von enormer Brisanz. Man erinnere sich nur an den Sommer 1989, als Erich Honecker im Krankenhaus lag und niemand in der DDR-Politbürokratie wagte, an seiner Stelle Entscheidungen zu fällen. Wie also hat sich Havanna auf den Ernstfall eingerichtet – oder genauer: Wen hat der “Comandante en Jefe” als seine(n) Erben eingesetzt?
Kronprinz Raúl
Nach der kubanischen Partei- und Staatshierarchie ist der Fall klar: Der “Zweite Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Erste Vizepräsident des Staats-und des Ministerrates, Minister der Revolutionären Streitkräfte, Armeegeneral Raúl Castro” (um nur seine wichtigsten Ämter zu nennen) wurde bereits 1972 zum Kronprinzen unter seinem regierenden Bruder ernannt. Schon aus Gründen der Pietät gegenüber dem (derzeit noch sehr lebendigen) “máximo líder” führt bei der Nachfolge kein Weg an ihm vorbei.
Für Raúl spricht weiterhin, daß er neben Juan Almeida Bosque der letzte in der unmittelbaren Parteispitze ist, der noch die Guerilla-Legende der Sierra Maestra verkörpert. Um abermals den schwierigen Vergleich zu deutschen Verhältnissen heranzuziehen: In der DDR konnte das halbe Politbüro bis zum Schluß auf die Nachsicht vieler Untertanen bauen, die den Antifaschisten Honecker, Axen und Keßler ihren Respekt nicht versagen wollten. Einen ähnlichen Nimbus erwarb sich die gegenwärtige Führungsgeneration Kubas im Kampf gegen Batista. Auf diese Quelle politischer Legitimität dürfte auch eine “post-fidelistische” Führung nicht freiwillig verzichten.
Raúl Castro schleppt jedoch auch eine ganze Reihe von Handicaps mit sich herum. Zunächst seine mangelnde Popularität: Seit den Tagen in der Sierra begleitet ihn in der Bevölkerung – angeblich sehr zu Unrecht – der Ruf eines “duro”, eines eisenharten, gefühlskalten Typs. Geradezu vernichtend für sein Image im machistischen Kuba wirkt ferner der in jüngster Zeit immer wieder kolportierte Verdacht, der General sei homosexuell.
Eigene Hausmacht
Obwohl Raúl fünf Jahre jünger ist als Fidel, hat den “erst” 63-jährigen auch die Last des Alters weit stärker gezeichnet als jenen. Schon immer ein mickriges Kerlchen neben dessen athletischer Figur, geht ihm Fidels Charisma eines Volkstribuns völlig ab. Alles in allem miserable Voraussetzungen, um in einem “Fidelismo ohne Fidel” die Hauptrolle zu übernehmen.
Was ihn dennoch zum ersten Anwärter auf das Erbe seines Bruders prädestiniert, ist mehr noch als die Blutsverwandtschaft seine Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Raúl Castro ist nicht der alleinige Chef der in Angola siegreichen Armee, die in der Bevölkerung nach wie vor hohen Respekt genießt. Im gefürchteten Innenministerium, das auch die Staatssicherheit umfaßt, sitzen ebenfalls seine Leute: Als 1989 höchste Offiziere der dortigen Abteilung MC (zuständig für die Beschaffung von Devisen sowie die Umgehung von Embargobestimmungen und insofern bedingt mit Schalcks KoKo-Imperium vergleichbar) des Drogenschmuggels überführt und drakonisch bestraft wurden, hatten die Brüder Castro die Armeespitze als “Aufräumkommando” hinübergeschickt. Sie blieb gleich dort, die halbe Führungsetage wurde nach Hause geschickt, und der Stabschef der Armee, Abelardo Colomé Ibarra, stieg zum Innenminister auf. Die uralte Konkurrenz zwischen beiden Ministerien war damit entschieden – zugunsten Raúls, der seither auch der letzte kubanische Politiker neben dem “Comandante en Jefe” ist, der über eine ernstzunehmende eigene Hausmacht verfügt.
Eins plus drei
Trotzdem ist keineswegs entschieden, daß der ewige Zweite an einem “Tag X” alle Entscheidungsbefugnisse – und damit alle Verantwortung – in seinen Händen konzentrieren würde, wie gegenwärtig sein Bruder. Eine (wie auch immer konstruierte) kollektive Führung mit Raúl als “primus inter pares” scheint zumindest für eine Übergangszeit möglich und auch angebracht, um das drohende gewaltige Machtvakuum halbwegs zu füllen. Vorbilder gibt es: In der Sowjetunion setzte sich Chruschtschow nach dem Tode des Übervaters Stalin 1953 erst nach monatelangem Machtkampf durch, und auch die chinesische “Viererbande” 1976 spiegelte nicht zuletzt die Unfähigkeit der Führung wider, den dahingeschiedenen Mao durch eine(n) einzige(n) Frau oder Mann zu ersetzen.
In Havanna sind es vor allem drei Nachwuchspolitiker, die in den letzten drei Jahren im Schatten Fidel Castros an Profil gewonnen haben: der für die Ökonomie zuständige Carlos Lage, Außenminister Roberto Robaina und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón. (Vorzeitig aus dem Rennen ausgeschieden ist hingegen “el mulato” Carlos Aldana, bis Oktober 1992 ZK-Sekretär für Ideologie, zuvor als Bürochef von Raúl Castro dessen rechte Hand. Als erster in der Parteispitze hatte sich Aldana mit selbstbewußten Äußerungen den Ruf eines Reformers erworben – mehr im Ausland als auf der Insel selbst freilich; er stolperte über ein dubioses Finanzgeschäft.)
Es versteht sich von selbst, daß die drei Nachrücker durch die Bank vom “Comandante en Jefe” protegiert werden. Symptomatisch scheint, daß alle drei dem Reformflügel innerhalb der KP zugerechnet werden.
Beinahe-Premier Carlos Lage
Lage, Jahrgang 1951, gilt innerhalb des Politbüros als der entschiedenste Vorkämpfer einer wirtschaftlichen Öffnung. Von Havannas “Denkfabriken” muß er sich zwar kritisieren lassen, er beuge sich zu schnell der “politischen Logik, die zu einem sehr vorsichtigen, schrittweisen Vorgehen führt” (Julio Carranza Valdés vom Zentrum für Amerikastudien). Dennoch ist er für die reformbereiten Kräfte der wichtigste Ansprechpartner in der Partei- und Staatsführung.
Als im Rahmen der Verfassungsänderung 1992 erwogen wurde, den Posten eines Ministerpräsidenten zu schaffen, war Lage erster Anwärter auf das Amt – ein enormer Vertrauensbeweis für den Ex-Chef des Jugendverbandes UJC, auch wenn die entsprechende Reform (wie so viele andere) schließlich ausblieb. Im Ausland wird der “Exekutivsekretär des Ministerrates” bereits wie die “Nummer Zwei” hinter Fidel Castro behandelt, auf der Insel selbst ist er für die meisten eine unbekannte Größe. Sein fehlendes Charisma macht ihn untauglich zur Gallionsfigur, doch je mehr ideologische und politische Konzessionen die katastrophale wirtschaftliche Lage von der kubanischen Führung verlangt, desto mehr gewinnt das Wort Carlos Lages an Gewicht.
PR-Experte “Robertico”
Der ehrgeizige “Robertico” Robaina, bis vor kurzem von niemandem ernstgenommener UJC-Chef, hat sich zum allgemeinen Erstaunen mächtig gemausert. Noch vor einem Jahr stufte ihn Carlos Alberto Montaner, Kopf der (Exil‑)”Kubanischen Demokratischen Plattform”, als eine “Marionette Castros” ein, die “weder genug Intelligenz noch Autonomie hat, um selbständig irgendetwas zu unternehmen”. Alles, was ihm Montaner seinerzeit zugestand, war eine “gewisse Cleverness in Sachen Public Relations”.
Die hat der heute 38-jährige tatsächlich: “Robertico” tritt nicht in Uniform oder Guayabera auf, sondern mit Vorliebe in Jeans und T-Shirt. Mit den martialischen Sprüchen der Alten geht er sparsamer um, hat stattdessen die UJC auf den Kurs von “Brot und Spielen” (mit wenig Brot, aber viel Tanzmusik) gebracht und so seinen Draht zu Kubas rebellischer Jugend noch nicht völlig abreißen lassen. Sein Gesellenstück in seiner neuen Funktion als Außenminister lieferte er, als er im April 1994 den Gastgeber des bereits erwähnten Treffens mit moderaten Exilvertretern spielte.
Souveränität im Auftreten bewies “Robertico” auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, die den Außenminister auf einer ausgedehnten Südamerikareise überraschte. Daß er im Gegensatz etwa zu Carlos Lage das Zeug zu einem Volksredner hat, macht ihn für die auch als “Yummies” (“Young Urban Marxists” in Anlehnung an das einstige Modewort Yuppies) bezeichnete junge Technokratengeneration zu einer enorm wichtigen Figur.
Unterhändler Alarcón
Der schon etwas ältere Alarcón schließlich mit seiner bürgerlich-humanistischen Bildung bringt aus seiner langjährigen Erfahrung als Diplomat ein Talent mit, das in der ans Dekretieren gewöhnten Führung Seltenheitswert besitzt: die Fähigkeit zum Dialog, zur Suche nach Kompromissen. Für die am 1. September aufgenommenen Verhandlungen mit den USA ist er als Verhandlungsführer allererste Wahl.
Alarcón scheint auch der geeignete Mann, den kubanischen Staatsapparat zu revitalisieren, konkret die Volksvertretungen auf den verschiedenen Ebenen. Die gegenwärtige, in 35 Jahren Revolution gewachsene Hyperzentralisierung der Entscheidungsbefugnisse ist nicht länger haltbar und wird von den sich ausbreitenden Marktstrukturen längst unterwandert; die Joint Ventures haben sich ohnehin bereits ausgeklinkt. Daß auch der Westen als Preis für mehr Wirtschaftshilfe von Havanna verlangt, sich parlamentarisch-demokratischen Strukturen anzunähern, macht Alarcóns Aufgabe nur noch dringlicher.
Lage, Robaina, Alarcón: Diese drei Männer plus Raúl Castro, der vermutlich alle Hände voll damit zu tun hätte, “Ruhe und Ordnung” im Lande zu garantieren, könnten am “Tag X” entscheidenden Einfluß darauf gewinnen, welchen Weg Kuba nach Castro geht. Alle vier haben bei verschiedenen Gelegenheiten erkennen lassen, daß die dem “chinesischen Modell” – rasche Liberalisierung der Wirtschaft ohne gleichzeitigen Übergang zu westlichen Demokratiemodellen – positiv gegenüberstehen; aufgeschlossener jedenfalls als Fidel Castro, der es bisher eher mit dem Lenin-Wort von “einem Schritt vor, zwei Schritten zurück” hält.
Fidel wird noch gebraucht
Dennoch darf man davon ausgehen, daß es keinen der potentiellen Erben drängt, den “Alten” loszuwerden. Dessen Gespür dafür, welche Härten man dem eigenen Volk gerade noch zumuten kann, und seine historische Autorität, mit der er viele Zweifelnde oder Widerstrebende letztlich doch noch bei der Stange hält, sind in der gegenwärtigen Krise Gold wert. “Am meisten Sorgen bereitet mir, was wohl passieren wird, wenn wir die notwendigen Veränderungen nicht jetzt – und zwar unter Fidel – vornehmen”: Diese Raúl Castro zugeschriebene Äußerung aus dem Jahre 1991 bedarf keines Kommentars.
Eine notwendige Bemerkung zum Schluß. Damit die geschilderten Szenarien möglicherweise Wirklichkeit werden können, muß – last not least – eine grundlegende und keineswegs gesicherte Voraussetzung erfüllt sein: Die aus der kubanischen Revolution hervorgegangene Regierung muß die nächsten Jahre überleben. Alle obenstehenden Erwägungen und Spekulationen gehen von der – meines Erachtens noch immer wahrscheinlichsten – Variante aus, daß der bisherige Kurs langsamer (und keine Frage: bisher oft viel zu langsamer) Reformen “von oben” noch eine ganze Weile anhält. Die derzeit möglich scheinenden Alternativen – eine soziale Explosion mit nicht absehbaren, aber garantiert blutigen Folgen; eine Verhärtung zu einer orthodoxen Diktatur à la Ceaucescu; eine bedingungslose Kapitulation vor den USA – möchte ich meinen kubanischen Freunden jedenfalls noch weniger wünschen als die Fortschreibung des status quo, den die meisten kaum noch ertragen können. Von einer friedlichen Wende zu Demokratie, Wohlstand für alle oder auch nur sozialer Gerechtigkeit will ich gerne träumen, an sie glauben kann ich nicht.
“Romper el cerco”
Szenenwechsel: Eine alte Indígena in traditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zupackenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Geräusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bürgerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen beschäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinandermontiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deutlich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chancen für einen Friedensprozeß in Guatemala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Widerstandsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziösen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Presseoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevölkerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavideo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von BewohnerInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Campesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Beginn der Repression und Vertreibung Anfang der achtziger Jahre, von der Flucht in entlegene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Millionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerkennen. Im Laufe der Jahre haben diese gelernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die BewohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedensverhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Reformfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Guatemala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwaldregion der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisationsfähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wiederbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Parzellen Bauern vor, die vom Staat angesiedelt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die verschiedenen Campesinogruppen gegeneinander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstandsdörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Widerstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müssen versuchen, den Kreis zu durchbrechen, oder den Eindruck zunichtezumachen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufgeben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines verdeckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Oranienstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458
Abseitsverdächtig
Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kommen. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Insofern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorentscheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konfliktpotential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. Inmitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” praktiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ihnen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren möglicherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politischer Ebene drohen könnte.
Die Karikaturen der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spezialtruppe für innere Unruhen, aufgefordert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beobachter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und deswegen vom Großteil der Mexikaner unbemerkt- überraschte Präsident Carlos Salinas de Gortari mit einer in der Geschichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regierungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, welcher Partei er angehört.” Politische Beobachter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Zedillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzeptiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsidentschaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von offizieller Seite mehrfach zugegeben worden. Umfragen zufolge erwarten 40 Prozent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Menschen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerabdruck erstmals auch das Foto des Stimmberechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Dafür wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte erleben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug befürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschaftskandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unregelmäßigkeiten im Wahlregister nachzuweisen. Die Vorwürfe wurden sogar einziges Thema einer landesweit übertragenen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen stehen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Angaben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legendären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Ergebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcomputer stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsident des nationalen Wahlinstituts, entsprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungünstigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer eingetroffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahltouristen) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beobachter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwürdige Wahlen konnte in den letzten Junitagen nur knapp verhindert werden. Innenminister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Aufstandes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schiedsrichter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Menschenrechtsbeauftragte und Generalstaatsanwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf angegriffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Unparteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Monate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” geworden. Das politische System ist so verwundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) sämtliche Regierungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern votierten grundsätzlich dafür, den bewaffneten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend abgelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbesondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chiapas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blindheit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weigerung, dem demokratischen Druck nachzugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla jedoch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem erklärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Urwalds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaften Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschlagen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Camacho Solis zurück, der Chiapas-Unterhändler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Camacho mehrfach für das Scheitern der Friedensgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich selbst für den geeigneteren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Regierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsident Salinas einen neuen Chiapas-Beauftragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission jedoch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armeeübergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワbergangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewinner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Prozent erhalten. Sogar das bislang Undenkbare scheint möglich: ein Sieg der Opposition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechtskonservativen Partei der nationalen Aktion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsidenten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bislang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnissen zwischen 74 und 92 Prozent gewonnen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint möglich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlieren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabilität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten gekidnappt; eine von der Drogenmafia deponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.
Kasten:
Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunikationsmittel spielen im Konflikt in Chiapas eine Schlüsselrolle. Wer Nachrichten und Bilddokumente produzieren und verbreiten kann, nimmt entscheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt umsomehr, seitdem die Waffen erfreulicherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegenüber der Regierung ist die Einrichtung einer unabhängigen Radiostation der Indígenas, die von ihnen selbst betrieben werden soll, um das Recht auf wahrheitsgetreue Information über lokale, regionale, nationale und internationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Lizenzvergabe in Aussicht gestellt. Damit diese mögliche Radiostation jedoch eines Tages wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinheiten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksreporterinnen und -reporter”. Und natürlich braucht es Radiogeräte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bildern festzuhalten. Eine eigene Videoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereignisse jenseits pressekonjunkturellen Interesses festhalten zu können, als auch um die Möglichkeit zur Verifizierung möglicher strittiger Vorfälle durch Bilddokumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die meisten kulturellen Aktivitäten eines Kommunikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Plattenspieler, die wiederum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrollierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaffungen getätigt werden können.
Spenden unter dem Stichwort “Medienfonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiroamt Köln (BLZ 370 100 50) überweisen. (Stichwort nicht vergessen!)
“Zweites Leben” mit Geld von der Drogenmafia?
Eine Anmerkung vorweg: Bei der Recherche für ein Porträt des auf internationalem Parkett nicht allzu bekannten Politikers stolperten die LN über so viele Widersprüchlichkeiten in den biographischen Angaben, daß man fast meinen könnte, es handele sich bei dem pragmatischen Musterkarrieristen Samper um eine rätselhafte Gestalt.
1950 geboren, stammt Samper laut dpa aus “einfachen Verhältnissen”, nach Angaben der taz aus einer “Politikerfamilie”. Erst 25jährig, nach anderen Angaben als 29jähriger stieg Ernesto Samper 1978 nach Beendigung seines Jura- und Ökonomiestudiums zum Präsidenten des Verbandes der Finanzinstitute ANIF auf. Erstes Aufsehen erregte er wenig später durch seine linksliberalen Wirtschaftsanalysen und kritischen Kommentare. Unter anderem plädierte er für eine Freigabe des Haschischkonsums – ein Umstand, auf den er heute ähnlich ungern angesprochen wird wie Bill Clinton auf sein Kiffen zu Studentenzeiten.
Seine politische Bilderbuchkarriere begann 1981: In den folgenden Jahren war er unter anderem Generalsekretär der Liberalen Partei, Botschafter Kolumbiens bei den Vereinten Nationen und Chef eines Forschungsinstitutes seiner Partei. Ab 1986 vertrat er die Liberalen im Senat.
1989 trafen ihn auf dem Flughafen von Bogotá 17 Kugeln, die – je nach Interpretation – aus dem Gewehrlauf eines Rechtsextremen oder eines Drogenkillers vom Medellín-Kartell stammten. Fast wie durch ein Wunder überlebte der Schwerverletzte das Attentat. Zu Beginn seines “zweiten Lebens”, wie Samper selbst die Phase nach der Genesung bezeichnet, holte ihn der liberale Präsident Gaviria als Minister für wirtschaftliche Entwicklung in sein Kabinett. Später wurde er als Botschafter nach Spanien entsandt.
Kapitalismus mit sozialem Antlitz?
Während des Wahlkampfes ging Samper in einigen Punkten auf Distanz zu der neoliberalen Kahlschlagpolitik seines Parteifreundes Gaviria. “Ich werde den sozialen Kapitalismus einführen”, versprach er vollmundig. Unter anderem plädierte er gegen eine weitere Privatisierung staatlicher Großunternehmen. Durch gezielte staatliche Investitionen in die Infrastruktur sollen mehr als eine Million neue Arbeitsplätze entstehen. Ebenso kündigte er den Bau von Sozialwohnungen an.
Im Bereich Drogenpolitik wird erwartet, daß Samper die Linie seines Vorgängers im großen und ganzen beibehält.
In Sachen Guerilla verkündete Samper, die Aufstandsbekämpfung verschärfen zu wollen, gleichzeitig aber zum Dialog bereit zu sein – “aber nur, wenn der Gegner zu schießen aufhört”. Im Klartext bedeutet dies die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand – ein alter Streitpunkt, an dem auch in den letzten Jahren schon immer Verhandlungen gescheitert sind.
Auf parlamentarischer Ebene sind Sampers Startbedingungen nicht schlecht. So kann er auf eine liberale Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus zurückgreifen, wo ein Großteil der Abgeordneten aus seinen Gefolgsleuten besteht. Andererseits ist er wie alle seine Vorgänger mit einem starken parteiinternen Filz und Klientelismus konfrontiert, der seine politisch Bewegungsfreiheit erheblich einschränken dürfte.
Wird ein Tonband zum Fallstrick?
Am 22.Juni. wurde verschiedenen kolumbianischen Medien ein Tonbandmitschnitt zugespielt. Als die Bänder kurz darauf in mehreren Fernsehsendungen vorgespielt wurden, erwartete die bereits vom Fiasko der kolumbianischen WM-Fußballmannschaft gebeutelte Nation eine weitere Negativsensation: Die Aufzeichnungen dokumentierten Gespräche zwischen dem Journalisten Alberto Giraldo, der bekanntermaßen als Mittelsmann des Cali-Kartells tätig ist, und den Wahlkampfmanagern von Samper und Pastrana. Wenn das Material authentisch ist, würden sich die bereits vorher kursierenden Gerüchte bewahrheiten, wonach der Wahlkampf beider Präsidentschaftskandidaten von der Drogenmafia gesponsort worden wäre. In den Tonbandgesprächen ist von 3,7 Millionen Schmiergeld für Samper und 2,5 Millionen für Pastrana die Rede. Giraldo, der seine Tätigkeit für die Drogenmafia eingestanden hat, erklärte mittlerweile, seine damaligen Bestechungsversuche seien ohne Erfolg geblieben.
Mittlerweile hat die Oberstaatsanwaltschaft, die pikanterweise von Sampers Vorgänger Gaviria als zu nachsichtig gegenüber den Drogenkartellen beschimpft wurde (siehe Artikel), die Ermittlungen übernommen. Für die Liberale und die Konservative Partei handelt es sich laut El Pais bei der Veröffentlichung der Tonbänder um einen “angekündigten Skandal”, von dem sie bereits eine Woche vorher Kenntnis hatten. Zwar hat Samper selbstverständlich seine Verwicklung in den Skandal dementiert, gleichzeitig wurde aber in der Öffentlichkeit mit Staunen registriert, daß er und seine Partei die Verbreitung des kompromittierenden Materials fast tatenlos hinnahmen. Steht dem Präsidenten in spe das Wasser schon bis zum Hals?
Wenn sich die Verdächtigungen als berechtigt herausstellen sollten, wird das “zweite Leben” Sampers um ein berufliches Highlight ärmer: Vor der Wahl hatte er angekündigt, er werde das Präsidentenamt nicht antreten, wenn ihm Geschäfte mit Drogenhändlern nachgewiesen würden.
Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten
Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regierung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwiegend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fenster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzustellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten KolumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttätigen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Triumph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräftigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Distrikt der Stadt Medellín, einem dicht besiedelten Gebiet, das bis an steile Berghänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe begann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande befohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein bezahlter Killer im Dienste der Drogenhändler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, verschwendete, vergaß er nicht das Versprechen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele seiner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende gefunden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebziger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armenvierteln als sicarios rekrutiert. Später, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die gleichen Jungen Polizisten und Richter zu ermorden. 1983 feuerte ein Sechzehnjähriger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt werden. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontlinie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren arbeitslos. Junge Männer mit ähnlichen sozialen Profilen ermordeten Zeitungsverleger, linke Politiker und staatliche Funktionäre.
Eine der für die KolumbianerInnen erschreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Präsidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Partei formiert und angefangen, sich am parlamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leibwächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führten ihre Aktionen auf eine so überraschende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu garantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte dieses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern geschätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die blutigen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der achtziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Medellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben würden? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, sondern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Veränderungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wurden in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne dieser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus lediglich die Polizei zu tun hatte. Als die Bevölkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politischer Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der korrupten traditionellen liberalen und konservativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zusammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebziger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort anderer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrottungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu bemühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach niedergeschossen. Nach Berichten der Generalstaatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen Todesschwadronen. Auf diese Weise begann der Staat seine grundlegendsten öffentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Verwaltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Gruppen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wurden in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die vielfältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitätskrise der sozialen Institutionen. Die Aktionen dieser jungen Leute stellten die Bedeutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtliche Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythische Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Rebellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobilienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollieren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis operieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logischerweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu Westentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem Individuum und der sozialen Ordnung verantwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebensstilen spielten jetzt neue Akteure eine entscheidene Rolle. Blutrachen wurden immer häufiger, ebenso die Aktionen paramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen ansprachen. Die Banden wurden zum alternativen Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundlegende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, der Mangel an Verantwortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten verschwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt gegen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familienwohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in jedem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuellem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswirkungen von Gewalt auf Kinder und die Effekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Modellen von Autorität. Dies ist besonders offenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsperson, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Lebensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in einigen Regionen auch sicarios, idealisiert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesellschaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Medien geächtet wurde, von vielen, insbesondere armen KolumbianerInnen mythologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfairerweise alles Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler gefragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Befragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Prozent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Escobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn gezwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohltäter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemeinschaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wachsen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu leben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerkennung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundlegende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Portion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Autoritätsbeziehungen mit Loyalität und Solidarität kombiniert. Innerhalb einer Subkultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim angesehen. Die Subkultur bezieht die Jugendlichen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Konzeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr eigenes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Abenteuer wie von einem Magneten angezogen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies beinhaltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenanführer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnliche Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Heranwachsenden aufgestellt, um ihr Territorium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonenfutter in ihren Konfrontationen untereinander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Gewinnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu beschaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsidentschaftskandidaten Luís Carlos Galán startete die Regierung 1990 eine frontale Attacke gegen das Medellín-Kartell. Die Sicherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Reservearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie bediente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Gemeinden wurden zu Feinden der Gesellschaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Offensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, verstärkte die Abneigung gegen die Sicherheitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhändlern und radikalisierten sich gegen die Regierung. Zu spät wurden sich die nationalen und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von counterinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grundlegende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwarten. Trotzdem gibt es einige “soziale Aktions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoffnung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichtigung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewaltausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue Formen der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeutung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jungen, die vorher gefürchtete Kriminelle waren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedensabkommen unterzeichnet und sich zusammengetan, um für soziale Entwicklungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl interessanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhandels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden werden, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten verlangen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wissen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist unerbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Leben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Jugendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stellten die jungen Bandenmitglieder die soziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Gewalt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.
Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Medellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM
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