“Die Waffen stehen nicht zur Diskussion”

Frage: Ist Eure Erklärung vom 7.12. eine Kriegserklärung?
Wir erklären nicht den Krieg, wir war­nen, daß die Zeit vorbei ist. Die Regierung läßt es an realen Signalen fehlen. Herr Ze­dillo schlägt zwar den Dialog und die Verhandlung als Ausweg vor, aber wir se­hen auch, daß er zur gleichen Zeit die Li­nie von Salinas beibehält – so zu tun, als wäre nichts geschehen. In Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil. Der Konflikt gerät nicht in eine zweite Etappe, sondern spitzt sich immer mehr zu. Im Januar 1994, in der heißesten Phase des Krieges, begann man, eine breite Brücke zwischen den beiden radikalsten Linien der bewaff­neten Auseinandersetzung (Regierung und EZLN) zu schlagen. Sie ermöglichte die Einstellung des Feuers und später den Dialog. Weil man dem Problem und sei­nen tatsächlichen Ursachen nicht entge­gentrat, sondern stattdessen die Zeit ver­streichen ließ, wurde diese Brücke immer schmaler. Die Bundesregierung duldete die Kandidatur von Robledo Rincón und setzte eine Wahl innerhalb eines nicht gelösten Konfliktes durch. Denn Robledo ist sehr unpopulär, weil er in sehr enger Beziehung zu den beiden vorherigen ge­haßten Gouverneuren stand. Auf der ande­ren Seite insistieren wir auf den Dialog. Falls er zustande käme, muß er mit dem Gesicht zur Nation stattfinden und Zeugen haben.
Bedeutet die Erklärung vom 7.12., daß ihr dem Volk den Krieg aufzwingt?
Wir senden einen enttäuschten Aufruf an die Zivilgesellschaft, daß sie eine Mo­bilisierung herbeiführen und die Stim­mung wiedergewinnen soll, die sie vor dem 21. August hatte und danach verlor. Wir sehen nicht, daß irgend jemand Inter­esse hätte, die Türen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf friedlichem Wege zu öffnen. Es scheint, daß sie uns zur nochmaligen militärischen Mobilisie­rung aufrufen. Die ärmsten Sektoren, die ich die “Keller des Landes” nenne, drän­gen auch darauf. Unser Konzept geht vor allem aus der Bewertung einer langen Ge­schichte hervor. Wir können uns nicht konsequent oder befriedigt mit uns selbst fühlen, wenn sich die Geschichte nach all unseren Toten und nach all dem, was pas­siert ist, wiederholt.
Daß euch die Zivilgesellschaft verlas­sen hat, wie du sagst, könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, daß die EZLN keine Zukunft hat?
Kann sein, daß wir uns irren, daß die Forderungen der Zapatistas nicht an der Zeit sind, aber das glauben wir nicht.
Die mexikanische Bevölkerung vergaß für einen Moment ihre Skepsis gegenüber legalen linken Organisationen, ihre Di­stanz gegenüber politischen Parteien, die sie mißbraucht hatten, und sie vergaß ihre Skepsis, die sie gegen eine gemeinsame Front gegen das System der Staatspartei hegte. Über die Wahlen zwang sich das System der Staatspartei wieder auf. Die Leute bleiben mit einer großen Frustration zurück, dem “Was kommt jetzt?” Ich mißtraue denen, die am Ende heimliche Abkommen mit der Regierung schließen, gegen die sie sich doch ausgesprochen hatten. Auf der anderen Seite gibt es die bewaffnete Bewegung. Wenn alles schief­geht, machen wir wieder Krieg. Wir denken, daß es viele Leute gibt, die das von uns erwarten.
Deinen Aussagen ist nicht zu entneh­men, daß der Gebrauch der Waffen viele militärische oder politische Perspektiven eröffnet.
Wir stehen mit dem Rücken an der Wand – in militärischer Hinsicht seit Ja­nuar 1994, aber nicht in politischer.
Unglücklicherweise kommt die politi­sche Umzingelung, die wir jetzt erleiden, nicht von der Regierung, sondern durch den Verschleiß anderer sozialer Sektoren, die uns vorher Sauerstoff gaben. Sie wa­ren zwar keine Gesprächspartner für uns, aber sie griffen unsere Inhalte auf und tru­gen sie vor sich her. Wenn sie jetzt jedoch die Inhalte auf ihre Weise auslegen, müs­sen wir an dem festhalten, was wir haben. Wenn es offene Ohren gibt, macht es Sinn, für eine politische Lösung eine Waffe in der Hand zu haben und sie nicht zu benutzen. Aber wenn es nicht einmal das gibt, denkt man intuitiv, daß die Waf­fen zurückkehren müssen, um diesen Raum zu öffnen, daß man noch einmal schießen muß , um Politik möglich zu ma­chen. Wir befinden uns jetzt in einer viel zugespitzteren militärischen Lage. Wir verlieren die Überraschung (als Waffe), der Feind steht in Vernichtungsposition. Wir können unter diesen Umständen nicht zu der militärischen Guerilla- Taktik zu­rückkehren. Wir können die Kämpfer­Innen nicht aus ihren Familien reißen und diese allein lassen. Wir gehen mit ihnen, oder wir bleiben bei ihnen.
Du hast viele Male gesagt, daß, wenn der Krieg erneut ausbricht, es schwer sein wird, ihn zu stoppen. Wäre er nicht unter den Bedingungen der Einkesse­lung noch schwerer zu stoppen?
Es war schwer, unsere Leute im Januar 1994 nach den ersten Toten zurückzuhal­ten. Wenn der Krieg wieder anfängt, wird es noch schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich sein.
Die Zapatistas hielten sich zurück und versuchten einen Dialog. Im nationalen und regionalen Panorama veränderte sich jedoch nichts. Zu der Skepsis und Desillu­sionierung über den gescheiterten Dialog kommen jetzt die offenen Rechnungen für jeden Toten in unserer Geschichte hinzu. Deshalb kann man ein Heer, das einen Weg schon ausprobiert hat, nicht davon überzeugen, daß es ihn nochmals probiere, während sich immer mehr Tote häufen.
Entweder kommt die Repression von Mitgliedern des Bundesheeres, oder die “guardias blancas” ermorden Leute, oder die Polizei läßt sie verschwinden, vertreibt oder verprügelt sie. Es bleiben die glei­chen sozialen Klassenstrukturen, der glei­che Rassismus, die gleiche Regierungs­struktur und die gleichen radikalen Dis­kurse neben reaktionären Praktiken. Des­halb sagen uns die Compañeros von allen Seiten: Der Waffenstillstand ist gebro­chen. Was respektieren wir jetzt?
In dieser Stimmung sind nicht nur za­patistische Truppen, sondern vor allem ein guter Teil der unabhängigen indigenen Landarbeiterbewegung in Chiapas und ein Teil der offiziellen Campesino- Bewe­gung. Die sozialen Strukturen im mexika­nischen Südosten müssen grundsätzlich angetastet werden.
Für das Projekt der ökonomischen Mo­dernisierung Mexikos müßten zwei Sekto­ren geopfert werden: Entweder die indi­gene Bewegung, der noch nicht einmal für die Arbeitskraft rentable indigene Sektor, oder der der großen Viehzüchter und Landbesitzer, welcher in politischer Hin­sicht ein Hindernis für jedwede Refor­mentwicklung ist, weil er diese bremst. Die Großgrundbesitzer wollen, daß die Indígenas die Dreistigkeit vom Januar 1994 bezahlen. Die Bundesregierung muß uns vernichten und ihnen den Rücken freihalten, damit sie ihre Rechnungen be­gleichen können.
Reden wir über das, was ihr wollt.
Die Zapatistas wollen, zusammen­ge­faßt, Freiheit, Demokratie und Gerech­tig­keit für alle MexikanerInnen. Das for­der­ten wir das ganze Jahr über. Das einzige, was sich an diesem Diskurs ver­ändert hat, ist, anzuerkennen, daß es eine andere Form geben könnte, es zu erlan­gen, die nicht der bewaffnete Kampf wäre.
Muß die PRI auf jeden Fall zerstört werden, oder kann man mit einer Regie­rung der PRI noch koexistieren und ver­handeln?
Wir denken nicht, denn die Struktur der PRI ist nicht nur Parteistruktur, sondern auch die eines politischen Systems. Um einen Sieg zu erringen oder an eine Machtposition zu kommen, schafft die PRI viele Verbindlichkeiten, viele Rech­nungen, die auf vielen Ebenen zu kassie­ren sind. In Chiapas schafft sie die Ver­bindlichkeiten mit den indigenen Kaziken, mit den Viehzüchter- und den großen Händlern. Wie kann es also mit diesen Strukturen Demokratie geben, die doch die Anti-Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene in der ganzen Republik er­halten? Was die Herrschaftsmacht auf Bundesebene ermöglicht, ist dasselbe, was die Herrschaft auf lokaler und regionaler Ebene ermöglicht.
Wir denken, daß es im Fall Zedillo klar ist, in welcher Form er offene Rechnun­gen auf allen Ebenen, die es in der Regie­rung gibt, verhandeln oder annehmen mußte. Wir sagten sogar: Die PRI könnte an der Macht, an der Regierung sein, wenn es ein Gewicht gäbe, das sie zwin­gen würde, als Regierung und nicht als ein System, das alles besetzt, zu handeln.
Und könnte der Zapatismo nicht dieses politische Gegengewicht sein?
Die Verantwortung dafür, daß das Ejer­cito Zapatista geboren wurde, tragen auch die politischen Oppositionsparteien und ihre Organisationen, die zumindest für einen wichtigen sozialen Sektor keine Alternative boten.
Als wir im Januar 1994 in die Städte gingen, um sie einzunehmen, begingen wir die Fehler, die wir begingen. Wenn wir in die Politik eintreten, betreten wir wieder ein uns unbekanntes Gebiet, auf dem wir die Fehler begehen, die wir begehen. Aber ich erinnere daran, daß wir die Möglichkeit zur Rückkehr haben; als wir in den Städten scheiterten, konnten wir in die Berge zurückkehren. Wenn wir in der Politik scheitern, können wir zu den Waffen zurückkehren.
Ist es nicht statt einer Rückkehr ein Rückzug: In den Krieg gehen, in den Tod gehen?
Wir wurden gefragt, ob es nicht Selbstmord ist, den Waffenstillstand zu brechen oder irgendeine militärische Ak­tion zu machen. Wenn wir dies so bewer­tet hätten, hätte es nicht einmal den Januar 1994 gegeben, wären wir noch nicht ein­mal entstanden…in militärischer Hinsicht ist die EZLN ein Anti-Vorschlag, ein Ab­surdum. Was sie möglich und real macht sind die Inhalte, für die sie einsteht.
Im Moment läßt du deinem Gegner wenig Verhaltensspielraum für einen Dia­log.
Mein Gegner läßt mir wenig Verhal­tensspielraum. Um zu einem Dialog zu kommen, sagt er mir: gib auf. Das erste, was die Regierung machen muß, ist, daß sie sich zurückzieht und zuläßt, daß je­mand anderes kommt. Dann reden wir.

Ya basta!

Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unter­drückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand mar­kier­te zugleich den Beginn der “ersten Revo­lution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeinde­landes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das To­des­urteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses To­desurteil wollen die Indígenas nicht hin­nehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr ge­duldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbst­ver­sorgung mit Grundnahrungsmitteln, weg­genommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das wider­spricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indiani­schen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum ge­rechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Natio­nalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Be­we­gungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Han­deln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdek­ken. Sie sind nicht mehr anonyme Zu­schauer, sondern werden so mutige Ak­teure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist auf­gebrochen in die­sem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Ver­gessen des Vaterlandes gegen­über seinen ursprünglichen Be­wohn­ern, auch das ri­gide Schema einer Linken, die darin ver­haftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der Zapati­stInnen-Aufstand auch die “erste Revolu­tion des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die so­weit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-mi­litärisches Avantegardekonzept und blie­ben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wach­sen, sondern in eine Explosion mün­den, die ein festgefügtes, hartes, gewalti­ges, monströses Land bis in seine Grund­festen erschütterte – Mexiko. Sie ver­mochte dies, weil sie entgegen aller Re­geln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Den­ken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskol­lektiv aus mehreren Lateinamerika-Solida­ritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu er­stellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Inter­views, Reportagen, Analysen und ei­nem Fotoessay. Ebenso werden Wider­sprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der me­xi­kanische Journalist Hermann Bel­linghausen als “Paradoxon” charakteri­siert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Ana­lysen der mexikanischen Realität, die Anek­doten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volks­organisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde ge­lebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen ster­ben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Bri­se, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Ge­schichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”

Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM

Spaltung und Streit von lechts bis rinks

Der Streit bei der FMLN
Eine zentrale Rolle beim Streit in der FMLN hat ERP-Chef Joaquín Villalobos. Nachdem es ihm durch den Rausschmiß einiger parteiinterner KritikerInnen im vergangenen Jahr gelungen war, den ERP (dessen Umbennenung in “Erneuernder Ausdruck des Volkes” er bereits 1992 er­reicht hatte) auf streng sozialdemokrati­schen Kurs zu bringen, versuchte er die neue Linie auch in der gesamten FMLN durchzusetzen. Doch lediglich der “Nationale Widerstand” (RN), der sich 1975 vom ERP abgespalten hatte, folgte der neuen Linie. In den paritätisch be­setzten Gremien unterlagen ERP und RN bei wichtigen Abstimmungen regelmäßig den anderen drei Organisationen der FMLN.
Der Frust blieb nicht aus und die Rache kam bereits bei der konstituieren­den Sit­zung des neuen Parlaments am 1. Mai als sich die Abgeordneten von ERP und RN nicht an die verabredete FMLN-Linie hielten und mit der regierenden ARENA zusammen ihre eigenen Leute ins Par­lamentspräsidium wählten (vgl. LN 240). Der Eklat war da und seither nur noch Krisenmanagement angesagt.
Die FMLN-Mehrheit aus “Volks­be­frei­ungskräften” (FPL), Kom­munistischer Partei (PCS) und “Revolutionärer Partei der Zentralameri­kanischen Arbeiter” (PRTC) beschimpften die sozialdemokra­tische Minderheit, wa­ren jedoch unfähig ein gemeinsames Al­ternativprojekt zu entwickeln – zu groß waren bzw. sind die Interessenunter­schiede vor allem zwi­schen den FPL und der Kommunistischen Partei.
So wie das ERP, forderten auch die FPL, die zu Recht beanspruchen können, die intensivste Basisarbeit zu leisten, seit den Wahlen wiederholt die Bildung einer neuen Partei (vorzugsweise mit altem Namen). Am liebsten jedoch ohne ERP und RN, da die ideologischen Differenzen und die Unterschiede in der praktischen Politik zwischen FMLN-Mehrheit und -Minderheit unüberbrückbar geworden seien. Laut FPL resultiert die Lähmung der FMLN vor allem aus dem parallelen Weiterbestehen der Strukturen der fünf Mitgliedsorganisationen und sei am ehe­sten durch die Bildung einer einheitlichen Partei zu beheben, die sich zudem wieder stärker an den Interessen der Basisorgani­sationen zu orientieren habe. Was sich sehr vernünftig anhört, wird erst verständ­lich, wenn man bedenkt, daß die “Volks­befreiungskräfte” die mit Abstand größte FMLN-Organisation sind und es ihnen leicht fallen würde, nicht mehr pa­ritätisch besetzte Gremien einer neuen Partei zu dominieren. Gerade die Ge­schichte der FPL ist jedoch von Hegemo­nieanspruch und Avantgardedenken ge­kennzeichnet. Allen gegenteiligen öffent­lichen Beteuerungen zum Trotz kann nicht davon ausgegangen werden, daß sie sich in diesem Punkt grundlegend gewandelt haben.
Damit wird auch das Interesse der Kom­munistischen Partei am Fortbestand der FMLN verständlich. Der intensive Einsatz des FMLN-Koordinators und PCS-Gene­ralsekretärs Schafik Handal für den Zu­sammenhalt der Ex-Guerilla ist nicht nur Ausdruck politischer Reife. Wesentlich kleiner als FPL und ERP kam der PCS im parteiinternen Streit immer wieder zen­trale Bedeutung zu. Trotz häufiger politi­scher Übereinstimmung mit den FPL und regelmäßigen Attacken von Joaquín Villalobos gegen die “kommunistischen Dinosaurier” versuchte die PCS lange Zeit die Spaltung zu verhindern: In einer ge­schrumpften FMLN mit den FPL und der noch kleineren PRTC würde die Kommu­nistische Partei enorm an Einfluß verlie­ren.
“Extremisten von rechts und links”
Erst nach den erneuten Attacken von Joaquín Villalobos im September und Oktober kam Schafik Handal zu dem Schluß, daß die FMLN in ihrer alten Zu­sammensetzung nicht mehr zu retten ist. Was war geschehen? Ende September hatten demobilisierte Soldaten und ehe­malige Angehörige der paramilitärischen “Zivilverteidigung” für drei Tage das Parlament besetzt und 25 Abgeordnete als Geiseln genommen. Die Besetzer forder­ten die Einbeziehung in die im Friedens­abkommen vereinbarten Unterstützungs­programme zur “Wiedereingliederung in das zivile Leben”, die für die Angehörigen der Zivilpatrouillen überhaupt nicht vor­gesehen sind und bei den Ex-Soldaten nur sehr mangelhaft realisiert werden. Polizei und Spezialeinheiten der Armee wollten das Parlament stürmen. Da die Besetzer jedoch angedroht hatten, sich zu verteidi­gen und auch “Abgeordnete mit in den Tod zu nehmen”, kam es schließlich doch noch zu Verhandlungen, bei denen zu­mindest der freie Abzug der Besetzer und ein unblutiges Ende der Aktion sicherge­stellt werden konnten. Nachdem diese am 28. September das Parlament geräumt hatten, schien der Vorfall erledigt – schließlich war es nicht die erste Parla­mentsbesetzung.
Doch nun trat einmal mehr Joaquín Villalobos auf den Plan. In mehreren Pressekonferenzen behauptete er, die Be­setzung sei ein Komplott “ultrarechter und ultralinker Kräfte gewesen”. Konkret nannte er die FPL, die PRTC und die CPDN, ein Zusammenschluß sozialer Or­ganisationen, der den FPL nahesteht – Beweise blieb er jedoch schuldig. FPL-Chef Leonel Gonzalez warf Villalobos daraufhin vor, er bereite eine Allianz mit ARENA vor: “Viele in der ERP-Führung hoffen wohl, sich ARENA anschließen zu können.” Nachdem der Streit zunehmend eskalierte, meldete sich auch Schafik Handal zu Wort. Diesmal sah auch der FMLN-Koordinator keine Möglichkeit mehr, schlichtend einzugreifen und for­derte Villalobos auf, die FMLN zu verlas­sen, da er ihr mit seinen ständigen Provo­kationen und Anschuldigen nur schade.
Tatsächlich näherten sich RN und ERP in ihrer konkreten Politik der regierenden ARENA-Partei zunehmend an und ver­hinderten beispielsweise gemeinsam eine parlamentarische Untersuchung von Kor­ruptionsvorwürfen gegen die alte und neue ARENA-Regierung. Und am 10. Oktober – dem Gründungstag der FMLN vor 14 Jahren – beschloß das ERP auf ei­nem Parteitag, die Auflösung der FMLN in die Wege zu leiten. Das Ende der FMLN schien nur noch eine Frage von wenigen Tagen.
War es die Rechte, die sich über den FMLN-internen Streit am meisten freute, sorgte sie indirekt auch für die vorüberge­hende Wiederannäherung innerhalb der ehemaligen Befreiungsbewegung: Die ge­samte FMLN stellte sich geschlossen hinter Joaquín Villalobos, nachdem ein Richter seine Verhaftung angeordnet und dieser sich am 18. Oktober den Behörden gestellt hatte. Der Vorwurf: Verleumdung gegen den Unternehmer und Großgrund­besitzer Orlando de Sola. Nach der Er­mordung des ERP-Kommandanten Car­melo vor einem Jahr hatte Villalobos de Sola beschuldigt, einer der Finanziers der Todesschwadronen in El Salvador zu sein. Trotz zahlreicher Indizien können diese Verbindungen jedoch nicht bewiesen wer­den, solange die US-Regierung wichtige Dokumente über Struktur und Finanzie­rung der Todesschwadronen zurückhält. Villalobos blieb einen Monat in Haft – bei der Nationalpolizei, die laut Friedensplan bereits aufgelöst sein sollte. Seine Weige­rung die Anschuldigungen zurückzuneh­men – und dafür sofort freigelassen zu werden -, verschaffte ihm ungeheure Po­pularität. Fast täglich gab es Solidaritäts­aktionen zu seinen Gunsten, der FMLN-interne Streit schien vergessen, und nie­mand redete mehr von Spaltung.
Der Traum von der neuen Einheit währte jedoch nur einen Monat. Nachdem Villalobos am 18. November aus der Haft entlassen wurde – das Verfahren gegen ihn ist noch nicht entschieden – begann er er­neut gegen die FMLN-Linke zu wettern. Gleichzeitig intensivierte er seine Ver­handlungen mit Teilen der Christdemo­kratischen Partei (PDC) über die Bildung einer neuen “pluralistischen Partei der Mitte”. Am 7. Dezember erklärte er offizi­ell seinen Austritt aus der FMLN, da diese “als Wahlinstrument untauglich gewor­den” sei und nur noch “historische Be­deutung” habe. Fast erleichtert zeigte sich Schafik Handal und forderte den gesamten ERP auf, “zur Beilegung der Krise, die FMLN zu verlassen”. Dies scheint nur noch Formsache. Am 17./18. Dezember wird nun die weitere Zukunft der FMLN entschieden. Die Mitglieder von ERP und RN werden in ihrer großen Mehrheit gar nicht erst zum FMLN-Parteitag erschei­nen. Mit der Linken kann es nach der Lähmung des letzten halben Jahres nur noch aufwärts gehen.
Villalobos und die PDC
Die Konturen von Villalobos’ Partei der Mitte zeichnen sich bereits ab, nachdem sich vor einigen Wochen auch die PDC gespalten hat. Die Hälfte der Abgeordne­ten hat ihren Austritt erklärt und will eine Partei mit “sozialdemokratischer Prägung” gründen. Sie gehören zu den Christdemo­kraten, die vor einem Jahr die Präsident­schaftskandidatur von Abraham Rodri­guez unterstützten, der in einer parteiin­ternen Vorwahl jedoch dem PDC-Gene­ralsekretär Fidel Chávez Mena unterlegen war. Damit treffen sie sich mit der Mehr­heit von ERP und RN, die damals eben­falls versucht hatte, Abraham Rodriguez als FMLN-Kandidaten durchzusetzen. Dem neuen Projekt wird sich auch die “Nationalrevolutionäre Bewegung” (MNR) anschließen. In El Salvador selbst hat die MNR – die während des Krieges noch mit der FMLN verbündet war – kei­nerlei Bedeutung mehr. Bei den Parla­mentswahlen im März 1994 fiel sie ledig­lich durch das schlechteste Ergebnis aller eingeschriebenen Parteien auf. Obwohl nur noch Splitterpartei, ist sie als Mitglied der Sozialistischen Internationale (SI) für die internationale Unterstützung und An­erkennung von großer Bedeutung. Villalobos als Gast von SI und Friedrich-Ebert-Stiftung wird wohl in nächster Zeit zu einem gewohnten Bild werden.
Kirio gegen Korruption
1989 konnte ARENA auch deswegen mit deutlicher Mehrheit die Präsidentschafts­wahlen gewinnen, weil das Parteikürzel der Christdemokratischen Partei zuneh­mend für “partido de coruptos” stand. In der Öffentlichkeit konnten sich Präsident Cristiani und seine MinisterInnenriege bis zu den 94er-Wahlen als unbestechlich darstellen. Seit einigen Monaten ist es damit allerdings vorbei. Kirio Waldo Sal­gado, Leitartikler der rechtsextremen Ta­geszeitung El diario de hoy mit ausge­zeichneten Verbindungen zu ARENA, Militär und Todesschwadronen, hat mit ARENA, die er für den Abschluß des Friedensvertrages mit der FMLN schon seit Jahren kritisierte, endgültig gebrochen und eine eigene Partei, die Partido Liberal Democrática (PLD) gegründet. Nun prä­sentiert er sich der Bevölkerung als Sau­bermann und deckt die Korruptionsskan­dale der alten und neuen ARENA-Regie­rung auf.

Ein neues Kapitel der Vergangen­heitsbewältigung

Wenige Wochen zuvor hatte Präsident Menem den Senat bereits dafür kritisiert, daß er die Beförderung zweier Marineof­fiziere abgelehnt hatte. Die beiden hatten sowohl ihre persönliche Beteiligung, als auch die der gesamten Marine an syste­matischen Folterungen in den siebziger Jahren, sowie an der Ermordung zweier französischer Nonnen zugegeben. Vor mehreren hundert Offizieren des Heeres wurde der Staatspräsident Anfang No­vember aber noch deutlicher: “Dank der Anwesenheit der Armee und der Polizei konnten wir den “Schmutzigen Krieg” gewinnen, der unsere Gesellschaft an den Rand der Auflösung getrieben hatte.”
Aufschrei der Empörung
Als Reaktion auf seine Äußerungen schloß die Menschenrechtsorganisation ADPH (Asamblea Permanente por los Derechos Humanos) Menem aus, mit der Begründung, er habe den Staatsterroris­mus gerechtfertigt. Prominente Mitglieder der ADPH sind unter anderem Ex-Präsi­dent Raúl Alfonsín und der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die staatliche Unter­suchung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur als Präsident der Untersuchungskommission CONADEP geleitet hatte. “Die Tatsache daß diese Rechtfertigung der Diktatur von derjeni­gen Person ausgesprochen wurde, die das höchste Amt im Staat innehat, ist unüber­sehbar schwerwiegend” unterstreicht die Stellungnahme der ADPH. “Der Präsident hat so Entführungen, Folter, Attentate, Exil, Kindesraub und Verkauf derselben als Kriegsbeute und andere irrsinnige Vorkommnisse gerechtfertigt. Alle waren Teil der Machtaneignung durch Waffen­gewalt, die die Diktatur als System eta­blierte und aufrechterhielt sowie zuließ, daß der Staatsterrorismus das Land re­gierte.”
Auch die Familienangehörigen der über 20.000 Verschwundenen und ihre politi­schen und juristischen VertreterInnen protestierten gegen die Äußerungen Men­ems. “Damit hat er uns ins Gesicht ge­spuckt. Das ist wirklich sehr schwerwie­gend”, äußerte sich Julio César Strassera, Bundesstaatsanwalt bei den Prozessen ge­gen die Verantwortlichen der Menschen­rechtsverletzungen.
“Illegale Praktiken”
Menem warf der Menschenrechtsorgani­sation Böswilligkeit und bewußte Falsch­interpretation seiner Worte vor. “Die mich heute ausschließen, das sind dieselben, die damals die Subversion und die Guerilla unterstützten.” Er habe nicht die Folter ge­rechtfertigt, aber auf beiden Seiten des Krieges seien “illegale Prakti­ken” ange­wendet worden. Fünfzehn Jahre lang habe Argentinien Anschläge überall im Land erleben müssen, die sehr viele Tote, Ver­schwundene und Verletzte ver­ursacht hätten, “aber glücklicherweise kam es zur totalen Konfrontation gegen die Subver­sion aufgrund des Entschlusses der Präsi­dentin Perón”.
Er betonte, daß er sich als damaliger Gou­verneur der Provinz La Rioja hinter die Entscheidung der Regierung Isabel Perón gestellt habe, der Armee die “Vernichtung” der Guerilla zu befehlen.
Meinungswechsel half nicht
Der heutige Militärfreund Menem hatte zu Beginn der siebziger Jahre noch zu den VerteidigerInnen der peronistischen Gue­rilleros/as, speziell der Montoneros ge­hört, sogar noch nach seiner Wahl zum Gouverneur 1973. Als deutlich wurde, daß die Aktionen des rechtsperonistischen Flügels nicht nur im “Schmutzigen Krieg” gegen die Guerillaorganisationen bestan­den, der mittels Terrororganisationen wie der Triple A (Antikommunistische Allianz Argentiniens) geführt wurde, änderte Menem schnell seine Meinung Denn auch Gouverneure, die als Symphatisanten der peronistischen Guerilla und ihrer linken Jugendorganisationen galten, sollten aus dem Amt gejagt werden. Trotz seines Meinungswechsels wurde Menem weiter­hin als “Subversiver” be­zeichnet, so daß er schließlich verhaftet wurde und selbst fünf Jahre im Gefängnis verbrachte.
Ein Projekt der Zukunft
Carlos Menem hat schon bald nach sei­nem Amtsantritt 1989 versucht, das Ver­hältnis zwischen Staat und Militär durch immer weiterreichende Zugeständnisse an das Militär zu verbessern. Das wichtigste dieser Zugeständnisse war die Amnestie­rung der wenigen Militärs, die für ihre Menschenrechtsverletzungen im Gefäng­nis saßen.
Der jüngste Konflikt über Solderhöhungen konnte jedoch nicht zur Zufriedenheit der Militärs gelöst werden, da Wirtschaftsmi­nister Cavallo sich dem hartnäckig wider­setzte. Umso wichtiger ist es deshalb für die “Wiederbelebung des Paktes zwischen Staat und Militär”, welche Menem sich wünscht, die Militärs wenigstens in ihrem Selbstverständnis zu bestätigen. Dafür muß natürlich mit der Vergangenheit aufge­räumt werden. Für Menem gilt jetzt nur der Blick in die Zukunft. Um das zu illustrieren war ihm auch die Bibel nicht zu schade: Schließlich sei Ruth deshalb zur Salzsäule erstarrt, weil sie zurück ge­schaut habe.

Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?

Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzuge­hen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppel­züngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppun­gen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies be­deutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ih­rer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiter­hin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschen­rechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten dar­über informierte, daß sie sich weigern dür­fen, Befehle zu verfolgen, die die Men­schenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein stän­diges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty internatio­nal, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisa­tionen und der Besuch von UNO-Sonder­berichterstattern Anfang Oktober in Ko­lumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der interna­tionalen Öffentlichkeit wächst das Be­wußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhält­nisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräf­ten, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäi­sche Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der ko­lumbianischen Regierung, die sich in An­wesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Men­schenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper ange­kündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position sei­nes liberalen Parteifreundes und Amtsvor­gängers Gaviria ab, der nach dem Schei­tern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Gue­rillera Simón Bolívar” zusammenge­schlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ih­rer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regie­rung Samper lehnte ein direktes Dia­logangebot der FARC jedoch mit dem Ar­gument ab, die Guerilla müsse klare Be­weise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaff­neten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse al­lerdings langsam und schrittweise vorge­hen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Mi­litär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesell­schaftliche Druck nicht nur die Kriegs­parteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ur­sachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerk­schaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeit­plan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.

“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”

LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi­schen Militärs und Guerilla gehen unver­mindert weiter. Stehen die Friedensbe­mühungen vor einem erneu­ten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, begin­nen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung ge­geben hatte. Im Gegenteil hatte die Regie­rung Gaviria nach dem Scheitern der Ver­handlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und mi­litärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhand­lungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinanderset­zungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestre­ben der Regierung, der Gewalt und den Ver­letzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Bei­spiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dy­namischere, entschiedenere Hal­tung als die vorhergehende. So hat sie bei­spielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Re­gierung und den Menschenrechtsorgani­sationen, damit diese im Senat eine kla­rere Position bezöge. Die Regierung di­stanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mitt­lerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versu­chen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger ge­worden. Neue repräsentative Um­fragen haben ergeben, daß trotz einiger Gue­rillaaktionen, die öffentliche Ableh­nung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Ver­handlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstüt­zung haben wie zu anderen Zeiten. Offen­bar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche be­ginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem be­stimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zu­nahme der Aktivitäten von Todesschwa­dronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kom­munistische Parlamentsabgeordnete, er­mordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitä­ten ist wohl die bevorzugte Form der Mi­litärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathi­santen der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an ei­nigen Gewerkschaftsführern in Antio­quia oder Todesdrohungen gegenüber po­litischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit re­gierungskritischen Positionen an den Dis­kussionen beteiligen wollen. Das ist wahr­scheinlich der schwierigste Faktor bei zu­künftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpe­dieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argu­menten wurde schon die ehemalige Gue­rilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgeben­den Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht er­pressen lassen, sondern muß die Regie­rung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Para­militärs als ihre Verantwortlichkeit anzu­erkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwah­len im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blie­ben allerdings intakt. Poli­tisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Ein­fluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahr­zehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wis­sen, daß sie ohne bestimmte Überein­künfte mit ihr nicht re­gieren können. Dies wurde von der Rech­ten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen aner­kennen, daß die Gue­rilla keine Kriminel­lenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewe­gungen, die Gewerkschaften und die lin­ken Parteien in der Lage, den erforderli­chen Druck auf die Regierung aus­zuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es ge­genwärtig in der Gesellschaft ein eindeu­tiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla ver­langten, haben heute die realistische Ein­schätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Ge­sellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Par­teien, die Menschenrechtsgruppen, Intel­lektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Ab­wesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position voll­ständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedin­gungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Ei­nige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozes­sen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesell­schaftlichen Gruppen bei den Friedensge­sprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoli­berale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausga­ben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar dar­über im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Be­wegungen und die Guerilla müssen ver­stehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirt­schaftlichen und sozialen Bereich geschaf­fen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungs­schichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimi­stisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen Vertrete­rInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf kei­nen Fall ausgeschlossen werden. Um un­nötige Ri­siken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Be­wegungen von der Regierung konkrete Si­cherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien poli­tischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusam­menarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtig­keit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu ak­zeptieren. Eine internationale Kontroll­kommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde aller­dings noch keine vollen Sicherheitsgaran­tien gewährleisten. Auch in diesem Be­reich muß man Schritt für Schritt vorge­hen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr prä­zise Antwort. In der Zeit, als das Medel­lín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Dro­genkartell und der Aufstandsbekämp­fungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und parami­litärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhan­del zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Ca­stano versuchen werden, sich in die Ver­handlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß inte­griert werden. Die Regierung hat ange­kündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräf­ten in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Ver­gangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist ge­schwächt, das Cali-Kartell ist an Ver­handlungen in­teressiert, weil sie wissen, daß sich in Zu­kunft der Druck auf sie er­höhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbiani­schen Regierung oder der US-amerikani­schen Drogenbekämpfungs­behörde DEA, da diese sich auf das Me­dellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zu­sammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medel­lín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlun­gen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsor­ganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechts­gruppen sind der Meinung, daß eine Le­galisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist aller­dings nicht akzeptabel, daß die Menschen­rechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbe­kämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu ak­zeptieren, daß die Strafe für diese Verbre­chen zwischen ihnen, der Staatsanwalt­schaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Tele­fongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft ver­urteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfah­ren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisie­ren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhan­dels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Ge­schäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Dro­genhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einher­geht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt aller­dings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkrimi­nalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschen­rechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstüt­zung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internatio­nalen Kampagne von “amnesty internatio­nal” und der Vorlage des Berichtes der Intera­merikanischen Menschenrechts­kommission, befindet sich die kolumbia­nische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unter­nimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschen­rechte im Verteidigungsministerium ein­richtet.
Wir erwarten von der internationalen Ge­meinschaft, daß sie anfängt, die kolum­bianische Regierung nicht mehr als ohn­mächtiges Opfer, sondern als Verantwort­liche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsver­letzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die interna­tionale Gemeinschaft sich mit der Situa­tion in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien er­nannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regie­rung enorme Angst, durch ihre Verletzun­gen der Menschenrechte einige ökonomi­sche Vorzugsbedingungen im Exportbe­reich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäi­schen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Re­gierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öf­fentlichkeit ausgeht, ist daher von ent­scheidender Bedeutung.

Editorial Ausgabe 247 – Januar 1995

“Tierra y libertad! Viva Zapata” Der Schlachtruf, mit dem die zapatistische EZLN vor einem Jahr aus dem lacandoni­schen Urwald trat, mutete anachronistisch an – war er doch eine Referenz an die me­xikanische Revolution vor rund achtzig Jahren.
Schnell schon wurde jedoch deutlich, daß die Forderung nach Land und Freiheit in Chiapas – aber auch in anderen Bundes­staaten – höchst aktuell ist. Zu viele der Forderungen von damals sind lediglich in der Rhetorik der Regierungspartei ver­wirklicht worden.
Der “Kampf um die Würde”, den die za­patistische Guerilla am 1. Januar 1994 aufgenommen hatte, blieb militärisch auf den vernachlässigten Bundesstaat im Süden beschränkt. Politisch erschütterte er jedoch das ganze Land. Die EZLN wurde zur Hoffnungsträgerin für grund­legende Veränderungen in ganz Mexiko, der Aufstand der Indígenas sollte den Anfang vom Ende der über sechzig Jahre währenden PRI-Herrschaft markieren.
Doch der Machtwechsel fand nicht statt. Und nach den Präsidentschaftswahlen vom August, die der blasse Technokrat Zedillo für sich entschied, zeigt sich die Opposition zerstritten und orientierungs­los wie zuvor. Auch der Aufschwung der in diesem Jahr so oft beschworenen Zivil­gesellschaft hat vorübergehend ein Ende gefunden.
Doch auch die PRI ist geschwächt aus den Ereignissen der letzten zwölf Monate hervorgegangen. Kaum jemand nimmt ihr noch die Versprechungen vom Eintritt in die “Erste Welt” ab, welche die Mit­gliedschaft in NAFTA und OECD signali­sieren sollten. Und die innerparteilichen Auseinandersetzungen gehen so weit, daß die Morde an führenden PRI-Politikern – wie Colosio und Ruiz Massieu – mögliches Ergebnis interner Machtkämpfe sind.
Nach einem Jahr konzentriert sich das politische Interesse wieder auf Chiapas. Seit dem 8. Dezember gibt es mit dem Vertreter des offiziellen Mexiko, Eduardo Robledo, und dem Repräsentanten der autonomen Gemeinden, Amado Avedaño, gleich zwei Gouverneure. In dieser Situa­tion wird wohl keiner der beiden regieren können. Und die Ereignisse der letzten Wochen deuten eher auf eine Verhärtung der Lage denn auf weitere Verhandlungen hin. Auch wenn es am Tag der doppelten Amtsübernahme in Chiapas weitgehend ruhig blieb, mittelfristig ist mit einem Wiederaufflammen der Kämpfe zu rech­nen. Die EZLN ist sich des Dilemmas, in dem sie steckt, wohl bewußt. Nimmt sie den militärischen Kampf erneut auf, wird sie einen Teil der Sympathie, die sie noch immer in ganz Mexiko genießt, verlieren. Akzeptiert sie die Hinhaltetaktik der PRI auf ewig, wird sie zu einer marginalen Gruppe in den unzugänglichen Urwäldern von Chiapas, die niemad mehr ernst nimmt.

Aus der Illegalität in die Zivilgesellschaft

Vom 27.- 31. Juli 1994 fand in Cabá, Pro­vinz El Quiché, die fünfte Generalver­sammlung der CPR de la Sierra (ein regionaler Zusammenschluß eines Teils der CPR) statt. Zwar liegt sie schon eine Weile zurück, aber ein Bericht von der Versammlung, den wir im Folgenden leicht gekürzt abdrucken, vermittelt ein plastisches Bild von der Situation in den CPR und dürfte seine Aktualität nicht verloren haben.
Die Struktur der CPR
Der interne Aufbau der CPR ist basisde­mokratisch organisiert: Auf der Ebene der einzelnen Dörfer werden Lokalkomitees gewählt. Für die drei Gebiete Santa Clara, Cabá und Xeputul sind jeweils Gebiets­komitees zuständig, während die Koordi­nationskommission (CDC) als zentrale Instanz jeweils auf den Generalversamm­lungen gewählt wird. Zusätzlich wird ein Ältestenrat einberufen, der sich aus Ver­treterInnen verschiedener Gebiete zu­sammensetzt und die Aufgabe hat, die CDC kritisch zu beraten.
Die Produktion
Die landwirtschaftliche Produktion ist zweigleisig organisiert: Im Unterschied zu den CPR del Ixcán dominiert in denen der Sierra die private Produktion der Fami­lien, die jeweils ein eigenes Stück Land zur Verfügung haben. Daneben steht die Kollektiv-Produktion, die ursprünglich unter den Bedingungen absoluter Repres­sion entwickelt wurde. Heute dient sie in erster Linie dazu, Gemeinschaftsarbeiten wie z.B. den Bau von Schulen und Stras­sen zu realisieren und diejenigen zu ver­sorgen, die für sich selbst nicht genug er­wirtschaften können. Dies sind vor allem die Witwen und DorfbewohnerInnen, die als LehrerInnen und Gesundheitsbrigadi­stInnen arbeiten.
Die landwirtschaftliche Arbeit ist immer noch weitgehend subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet: Überwiegend wird Mais an­gebaut, daneben – weit weniger – Bohnen, Zuckerrohr, Bananen, Kaffee, Guisquil, verschiedene Kräuter, Tomaten, Orangen, Avocados, Sapotes und Kürbisse. Die Frauenorganisation (sector de las mujeres) ist momentan dabei, ergänzend zur bishe­rigen Produktion, ein Gemüsegarten-Pro­jekt aufzuziehen. Außerdem läuft ein Schweinezucht-Projekt in Gemeinschafts­arbeit.
Im vergangenen Jahr ist es nicht gelungen, die landwirtschaftliche Produktion zu er­höhen, was angesichts der steigenden Be­wohnerInnenzahl zu einem Versorgungs­problem führt: Insgesamt steht den CPR innerhalb der Gebiete, in denen sie sich bewegen können, zu wenig Land zur Ver­fügung, das bewirtschaftet werden kann. Darüber hinaus fehlt es an anderen Grundvoraussetzungen landwirtschaftli­cher Produktionsmittel, wie z.B. an Ar­beitsmitteln, Lastentieren, Werkzeug und Naturdünger. Weiter wäre eine systemati­sche Bodenanalyse notwendig, um durch den Anbau geeigneter Nutzpflanzen auf den unterschiedlichen Bodenarten die jeweils besten Erträge zu erzielen.
Eine “Vermarktungskommission” ist der­zeit damit beauftragt, den Handel mit den Nachbardörfern bis hin nach Chajúl und Nebaj auf- bzw. auszubauen, der durch den Ausbau der (Fuß-) Wege und den Kauf weiterer Lastentiere gefördert wird.
Gesundheit
Durch mangelhafte, bzw. einseitige Er­nährung ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung schlecht: Allein an einem Impftag wurde im vergangenen Jahr bei 103 Kindern Unterernährung festgestellt, 9000 Krankheitsfälle wurden im Laufe des Jahres registriert. Wie überall auf dem Land sind die Hauptkrankheiten Magen-Darm-Leiden und Erkrankungen der Atemwege; besonders problematisch er­scheinen darüberhinaus gegenwärtig die ca. 200 Fälle von Tuberkulose.
Auf der Versammlung wurde ausdrücklich der Zusammenhang von Leben in Unter­drückung und Krankheit thematisiert und als wesentliche Ursache der Krankheiten die Armutsverhältnisse genannt, in der die CPR seit 12 Jahren, die Maya-Bevölke­rung insgesamt schon seit 500 Jahren gehalten werden. Die CPR besitzt einen sehr umfassenden Gesundheitsbegriff, der das Recht auf ausgewogenes und ausrei­chendes Essen ebenso beinhaltet und ein­fordert wie Kleidung, Wohnung, Arbeit, Ruhe, medizinische Vorsorge, Arzneiver­sorgung, Akupunktur und die Einbettung des Gesundheitswesens in die Strukturen der Gemeinschaft.
Die Situation hat sich seit November 1993 merklich verbessert: Seitdem arbeitet eine Gruppe der “Médicos del Mundo” in den CPR. Eine Hebamme, ein Arzt und eine Krankenschwester arbeiten in einer klei­nen Klinik, die kürzlich in Cabá fertigge­stellt wurde und halten außerdem immer wieder Sprechstunden in den anderen Dörfern ab. Dort sollen im nächsten Jahr ebenfalls kleine Krankenstationen gebaut werden. Ihre Hauptaufgabe ist, innerhalb der begrenzten Zeit, die sie in den CPR bleiben werden, eine genügend große Zahl von GesundheitsbrigadistInnen unter den BewohnerInnen auszubilden, die ihrerseits wieder andere Personen ausbilden sollen.
Daneben stellen die “Médicos del Mundo” als VertreterInnen der ersten nennens­werten internationalen Nichtregierungsor­ganisation, die innerhalb der CPR arbeitet, durch ihre Anwesenheit auch einen gewis­sen Schutz vor Bedrohungen und Ein­schüchterungen durch das Militär dar.
Schule
50 LehrerInnen (promotores de educa­ción) geben den insgesamt ca. 1200 SchülerInnen an drei Tagen der Woche Unterricht. Im letzten Jahr wurde eine Al­phabetisierungskampagne für derzeit rund 500 Erwachsene unternommem, die im kommenden Jahr mit Hilfe von außen er­weitert und möglicherweise auf Ixíl und Spanisch durchgeführt werden soll.
Der Schulalltag wird von ganz grundle­genden Problemen bestimmt: Es mangelt an Papier, Stiften und Schulbüchern; die wenigen, die vorhanden sind, sind nur in Spanisch oder in Quiché abgefaßt und müssen in die andere Sprache, vor allen Dingen in Ixíl übertragen werden. Nur 75 Prozent der eingeschriebenen SchülerIn­nen nehmen am Unterricht teil, weil die Feld- und Gartenarbeit auch bei den Kin­dern Vorrang hat. Das gleiche Problem stellt sich auch für die LehrerInnen und GesundheitsbrigadistInnen: Die drei Tage, die sie in der Schule arbeiten, fehlen ihnen vor allem bei der Feldarbeit, die sie “nebenher” verrichten müssen, und die Unterstützung, die sie für ihre Arbeit in Form einiger weniger Pfund Mais von der Gemeinschaft erhalten, machen diesen Ausfall nicht wett. Es wurde überlegt, die GesundheitsbrigadistInnen, deren Arbeit zu einem “Vollzeitjob” ausgeweitet wer­den soll, von der Feldarbeit freizustellen und ganz von der Gemeinschaft zu unter­stützen.
Der politische Kampf der CPR
Seit 1990, als das guatemaltekische Mili­tär die CPR de la Sierra zu vernichten drohte und die CPR aus dieser Situation heraus erstmals an die Öffentlichkeit gin­gen, führen sie nicht “nur” einen Überle­benskampf als Maya-Gemeinschaft im Widerstand, sondern auch einen politi­schen Kampf, der sich sowohl auf regio­naler als auch auf nationaler und interna­tionaler Ebene weiterträgt.
Auf regionaler Ebene wurden Kontakte besonders für wirtschaftliche Zusam­menarbeit zu VertreterInnenn der umlie­genden Dörfer und der Gemeinden Nebaj, Chajúl bis hin nach Cunén und Sacapulas geknüpft. Als politischer Erfolg wurde die Entsendung eines Delegierten der CPR als ständiges Mitglied in das Menschen­rechtsbüro Chajùl, das dem Erzbischöfli­chen angegliedert ist, gewertet. Durch dessen Arbeit gelang es erstmals, Teile der Bevölkerung aus den umliegenden, unter Militärkontrolle stehenden Dörfern zu aktivieren: In einigen Dörfern erklärten sich über 50 Personen bereit, mit dem Büro zusammenzuarbeiten, Informations­veranstaltungen zu besuchen und bei Menschenrechtsverletzungen öffentlich Zeugenaussagen zu machen.
Auch auf höherer Ebene wurde die Men­schenrechtsarbeit durchgesetzt: Die CPR brachten ihre Anklagen einer Delegation der Menschenrechtskommission der UNO und bei der Interamerikanischen Men­schenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) vor. Ein Delegierter der CPR sitzt als ständiger Vertreter in der “Asamblea de la Sociedad Civil”, dem runden Tisch der Zivilsekto­ren, der den sogenannten Friedensprozeß und die Verhandlungen zwischen URNG (Unidad Revolucionaria Nacional Gualte­matéca) und Regierung bzw. Militär kri­tisch und mit eigenen Entwürfen begleitet. Darüber hinaus sind die CPR Mitglied der Maya-Organisation “Coordinadora Maya ‘Nuevo Amanecer’ Majawil Q’ij”.
Die zentrale politische Aktion des vergan­genen Jahres war der Marsch in die Hauptstadt, den die CPR de la Sierra gemeinsam mit den CPR del Ixcán im September unternahmen, um ihre politi­sche und rechtliche Anerkennung als zivile Bevölkerung einzufordern und Menschenrechtsverletzungen anzuklagen.
Weiter unternahmen CPR-Delegationen politische Informationsreisen durch die USA und Europa.
Politische Forderungen der CPR
Die grundlegende Forderung der CPR ist immer noch ihre offizielle Anerkennung als zivile Bevölkerung. Militär und Regie­rung verweigern dies jedoch seit den Tagen der Präsidentschaft Ríos Montts (1982/83) und denunzieren die CPR als politischen Arm der Guerilla. Auch der Präsident de León Carpio, der noch als Menschenrechtsprokurator 1991 der erste und einzige Staatsvertreter war, der die CPR besuchte und ihnen versprach, sich für ihre Anerkennung als Zivilbevölke­rung stark zu machen, will heute nichts mehr davon wissen und weigert sich, überhaupt eine Delegation der CPR zu empfangen. Trotzdem kamen aber Militär und Regierung nicht umhin, die CPR als, durch den Staatsterror der frühen 80er Jahre, “entwurzelte Bevölkerung” anzuer­kennen: Im “Acuerdo sobre el reasenta­miento de la población desarraigada”, dem Abkommen über die Wiedereingliederung der entwurzelten Bevölkerung, den URNG und Regierung bzw. Militär unter massivem Druck der UNO-Vermittler im Juni 1994 schlossen, werden die CPR erstmals von offizieller Seite als “Entwurzelte” anerkannt. Sie müßten so­mit auch in den Genuß der in diesem Ver­trag vereinbarten Maßnahmen kommen. Einer solchen Interpretation schieben Militär und Regierung jedoch einen Rie­gel vor, indem sie weiterhin und gegen besseres Wissen auf den vermeintlich militärischen Charakter der CPR beharren.
Die CPR fordern von der Regierung Besitzurkunden für das Land, auf dem sie leben und das sie bebauen. Sie beanspru­chen das Land nicht nur, weil es ihren Maya-Vorfahren geraubt wurde, sondern auch, weil sie das Land unter unvorstell­baren Leiden und Entbehrungen im Laufe von 12 Jahren überhaupt erst urbar ge­macht und darauf eine neue Form des Gemeinschaftslebens entwickelt haben. Die CPR fordern von der Regierung die Überschreibung des staatlichen bzw. des Gemeindelandes von Chajúl und den Ver­kauf und die Übergabe des Landes an sie, das sich derzeit noch in Privatbesitz befindet. Dieses Land soll dann perspekti­visch nicht nur den CPR, sondern allen Ixíl-Flüchtlingen zur Verfügung stehen.
Als Voraussetzung dafür, daß sich ein Gemeinschaftsleben der CPR frei entwik­keln kann, fordern sie die Auflösung der Zivilpatrouillen und das Verschwinden des Militärs, das rund um das CPR-Gebiet immer präsent ist.
Im gegenwärtigen sogenannten Friedens­prozeß bezieht die CPR folgende Position: Die CPR lehnen einen Frieden der Angst, einen Frieden der Straffreiheit für die Verbrecher und einen Frieden der Armut ab, da sie einen solchen “Frieden”, der tatsächlich das Ergebnis der laufenden Verhandlungen sein könnte, schon seit 500 Jahren kennen. In diesem Sinne for­dern sie von der Regierung die sofortige Einhaltung des Menschenrechtsabkom­mens, das URNG und Regierung bereits im März unterschrieben haben – bisher folgenlos: Bis Ende Juli wurde noch nicht einmal die Überprüfungskommission, die mit UNO-Unterstützung über die Einhal­tung des Abkommens wachen sollte, ein­gerichtet.
Außerdem fordern die CPR die sofortige Umsetzung des Abkommens über die “Wiederansiedlung der Entwurzelten”, das laut Vertragsvereinbarungen jedoch erst mit der Gültigkeit eines Friedensvertrags zwischen Regierung und URNG inkraft treten soll. Die CPR beanspruchen einen VertreterInnensitz in der “technischen Kommission”, die – von Regierungs- und VerfolgtenvertreterInnen paritätisch be­setzt – die Umsetzung des Abkommens in seinen (finanz-) technischen Aspekten noch vor Inkrafttreten des Vertrags vorbe­reiten soll.
Schließlich fordern die CPR die Neuver­handlung und Revision des Abkommens über die sogenannte Wahrheitskommis­sion, die den Auftrag erhält, die Verbre­chen und Menschenrechtsverletzungen besonders seit der Terror-Ära Lucas Garcias (Präsident 1978-82) zu erforschen.
In der Bewertung des Verhandlungspro­zesses zeigte man sich realistisch: Die bereits geschlossenen und zukünftigen Abkommen stellten an sich keineswegs den Friedensprozeß dar, sie seien vielmehr eine materielle Voraussetzung dafür, daß dieser sich entwickeln könne: Die auf dem Verhandlungswege erreichten Vereinba­rungen verbesserten zwar die Kampfbe­dingungen der verschiedenen Basisbewe­gungen. Der tatsächliche Friedens- und Demokratisierungsprozeß könne aber nur durch deren Kampf eingeleitet und bestimmt werden.

Vom Charme und der Falle

Wie kann der Feminismus die Ereignisse von Chiapas beurteilen? Von einem Traum und von einem Standpunkt aus, die sich nicht darauf beschränken, Gleichheit für Frauen innerhalb des be­stehenden kulturellen Rahmens zu su­chen, der sich auf Aggression, Konkur­renz, Kampf, Kontrolle, Herrschaft, Ne­gation des Ande­ren (der Anderen) stützt. Sondern vorzu­haben, dieses Ge­flecht von Bildern von­einander, von uns selbst und von unserem Verhältnis zur Natur zu ändern – von einem Feminis­mus, der andere Logiken und Ethiken für das Leben sucht?
Für uns ist der Feminismus grundlegend pazifistisch und antikriegerisch. Niemals führt Aggression zu Freiheit und Frie­den, auch wenn wir Feministinnen manchmal aggressiv sind. Der Krieg in allen seinen Formen war immer das Rückgrat der Macht, der Ordnung und der Herrschaft des Patriarchats. Viel­leicht war deswegen der Krieg immer “Männersache”, auch wenn einige Femi­nistinnen gleiche Rechte für Frauen for­dern und dafür kämpfen, zu männlichen Räumen und männlicher Logik zugelas­sen zu werden, also auch zum Militär: Das sind machistische Räume und ma­chistische Disziplin (kein Platz für Schwache, Feiglinge oder solche, die nicht gehorchen können oder die eine ei­gene Meinung haben). Haben Sie be­merkt, daß Waffen immer an einen eri­gierten und ejakulierenden Penis erin­nern? …Die Waffen die Gott ihnen gab, wie Subcomandante Marcos sagt?
Feminismus ist antikriegerisch und pazi­fistisch, obwohl Feminismus grundle­gend rebellisch ist, ein großer Akt der Rebellion. Die rebellischte aller Rebel­lionen. Die sich gegen alle Rechtferti­gungen wendet, um den Anderen, die Anderen, die Andere, zu leugnen, die neue Formen des Zusammenlebens zwi­schen Natur und Kultur sucht. Eine zivi­lisatorische Rebellion, die von Frauen ausgeht, die aber alle betrifft.
Macht durch eigenen und fremden Tod
Der Krieg in Chiapas ist auch rebellisch und besitzt eine Eigenart gegenüber den offiziellen Kriegen: Er erhebt das Wort gegen diejenigen, die es leugnen. Darin ähneln die Indios den Frauen: Sie sind das Andere, das unsichtbar gemacht wird, verschwiegen wird, bestraft wird und unterdrückt wird. In vielen Analysen über die Situation der Indios könnte das Wort “Indio” durch “Frau” ersetzt werden und umgekehrt. Beide interessieren kaum jemanden. Für die Medien sind sie keine Nachricht, für die Behörden sind sie unsichtbar, für die Mehrheit sind sie sowas wie Minderjährige, die man nicht versteht (Marcos hat viele daran erin­nert), die nicht wissen, was sie wollen. Ihre Kultur, ihre Identität ist eine “Andere”, die nichts beiträgt zu “Entwicklung”, “Fortschritt”und “Wissenschaft”, die näher dran ist am “Primitiven”, “Wilden”, “Reproduktiven”, “Natur” als an der “Kultur” und dem “Verstand”.
Die Indios von Chiapas haben gegen die Unsichtbarkeit, die Stille, die Abwer­tung, die tägliche Verachtung und den täglichen Tod rebelliert. Sie haben gegen die Nicht-Anerkennung des Anderen re­belliert. Aber sie haben mit Waffen, Ge­walt und Krieg rebelliert, das heißt mit den Mitteln, die die Situation herbeige­führt haben, die sie bekämpfen. Der Krieg ist der blutige Kampf um die Macht durch den eigenen und fremden Tod. Macht, die auf diese Logik aufbaut, kann sich gleichwertig neben die sie un­terwerfende Macht stellen (so war es bei den zentral- und südamerikanischen Guerillas, die diese Gegenmacht letzten Endes nicht durch Waffen auflösen konnten) oder die Übermacht der einen über die anderen erreichen. Im letzten Fall wird der Sieger, unabhängig von sei­nen “guten Absichten” kurz oder mittel­fristig wieder seine Logik den Anderen aufzwingen und damit den Teufelskreis des Systems weiterführen.
“Entwicklung” um die Menschheit zu zerstören
Der patriarchale Liberalismus hat “den Weg der EZLN-Guerilla” kritisiert, mit der Begründung daß “Gewalt nie der Weg sein kann”. Aber das ist eine heuchlerische Kritik, weil ihre Logik und Ethik selbst die der Gewalt sind. Das Patriarchat hat nicht nur die schlimm­sten Formen der Armut hervorgebracht, der Unterwerfung, der Zerstörung und des Todes, sondern es hat auch aus der “Entwicklung” ein Mittel zur Zerstörung der Menschheit gemacht. Die Technik ist nicht zum Genießen des Lebens ge­macht, sondern zur Kontrolle und Ge­horsam durch die Drohung mit Zerstö­rung und Tod. Das Patriarchat kritisiert die Gewalt nur dann, wenn sie vom An­deren kommt, wenn sie die Herrschaft der einen über die anderen in Frage stellt. Wenn aber Gewalt angewandt wird, um ihre eigene Logik und Herr­schaftsformen durchzusetzen, wird sie unsichtbar gemacht. Es gibt nicht einmal das Bewußtsein über diese Essenz von Gewalt, die das patriarchale System am Leben hält. Innerhalb dieser Logik ist es sehr logisch, mit Gewalt und Krieg zu antworten. Der Aufstand von Chiapas hat das Spiel mitgespielt: Wenn die zer­störerische Macht ausschlaggebend für das Recht ist, dann gibt es kein Recht ohne eine Gegenmacht: “Frieden ist nur möglich, wenn es zwischen den Parteien ein Gleichgewicht von tödlicher Macht gibt”. Der Zweck heiligt die Mittel.
Aber die feministische Kritik greift die Grundlagen dieser beiden Delirien grundlegender und radikaler an. Egal ob von den Mächtigen oder den Entmachteten: Im Namen des Gemeinwohls bleiben die Freiheit und das Leben immer außen vor. Im Gegensatz zu den Rebel­lionen innerhalb des patriarchalen Sy­stems sucht der Feminismus eine andere Dimension des Zusammenlebens. Dabei ist eine Ethik gesucht, die eben nicht da­von ausgeht, daß der Zweck die Mittel heiligt, denn der Gegensatz von Form und Inhalt ist eine der Grundlagen des herrschenden Systems.
Der patriarchale Diskurs der EZLN
Jede Handlung sagt mehr als ihr verbaler Diskurs. Jede Handlung produziert ex­plizite und implizite Symbole und Muster davon, was als möglich und wünschens­wert angesehen wird. Ein kultureller (oder gegenkultureller) Diskurs situiert sich dadurch, daß er Werte schafft, in­dem er Gefühle, Wünsche und Aktionen verbindet. Wir finden den allgemeinen Diskurs der EZLN in zweierlei Hinsicht äußerst patriarchal.
Erstens festigt er die Auffassung, daß Gewalt nur mit Gewalt bekämpft werden kann, und daß Gewalt legitim ist, wenn sie von den Entmachteten und Unter­drückten angewandt wird. Dagegen ha­ben wir Feministinnen schon viel gesagt. Zweitens hat die EZLN mit der gleichen Ethik, die sie zu bekämpfen vorgibt (die der ökonomischen und politischen natio­nalen und internationalen Macht) vor­sätzlich die Rechtfertigung gesucht, um zu töten und zu sterben. Ihre Taktik, eine formale Kriegserklärung abzugeben, ein Gebiet unter ihre militärische Kontrolle zu bringen, in dem ein Alltag gelebt wird, Militäruniformen zu erlangen, zu verteilen und zu präsentieren, traditio­nelle militärische Strukturen und Posten einzuführen usw. – mit all diesen Mitteln hat die EZLN Respekt vor den Regeln des “modernen” Patriarchats gezeigt, die entwickelt wurden, um die schrecklichen Konsequenzen seiner kriegerischen Ob­sessionen zu verharmlosen (die soge­nannte Genfer Konvention); der Respekt sollte dazu führen, nach den gleichen Regeln als “kriegsführende Macht” aner­kannt zu werden. Nach den herrschenden Kriterien ist das ohne Zweifel “eine sehr intelligente Taktik”, aber für uns bedeu­tet das die Anerkennung des Systems des Todes und der Ausrottung, indem die “Notwendigkeit und Gültigkeit” betont wird, den Kriegswahnsinn zu regeln und sich in sie einzuordnen.
Politik als Feld des Pragmatismus
In seinen spezifischen Aspekten er­scheint der Diskurs der EZLN nicht so vereinfachend, sondern viel komplexer. Darum hat er eine weitverbreitete Sym­pathie geweckt. Dennoch muß der Dis­kurs genauer und aus feministischer Sicht analysiert werden.
Zuerst fiel darin auf, daß das neoliberale ökonomische Modell als unhaltbar be­zeichnet wird, daß es nicht das ist, als was es die Regierung verkauft. Daß es ein Modell ist, das trotz seiner wunder­baren makroökonomischen Erfolgszah­len mindestens 40 Millionen Mexikane­rInnen ausschließt und das trotz seiner “Demokratie”-Versprechen diese nur für einige wenige möglich macht. Diese In­formationen sind überhaupt nicht neu, aber der neo-zapatistische Aufstand gibt ihnen eine neue Dimension, die darüber hinausgeht, sie nur immer wieder zu be­nennen. Wir meinen das Recht, gegen das zu rebellieren, was uns verletzt und uns verschwinden läßt.
Mit dem Fall der Mauern und der patri­archalen Utopien ist das Ende dieses Jahrhunderts an eine große Hoffnungs­losigkeit gelangt, an das Fehlen von zivi­lisatorischen Perspektiven, an eine ab­solute Relativierung von Gut und Böse und gleichzeitig an vertiefte fundamen­talistische Moralvorstellungen, an eine verstärkte Gleichförmigkeit und Gleichmacherei, die jede reale Diversi­tät, jede tiefgehende Kommunikation erdrückt. Mit der immer größeren Par­zellierung des Wissens und des Verhält­nisses zum Leben und zur Welt verstärkt sich auch das Gefühl der Unmöglichkeit von Utopien. Dadurch ist die Politik zu einem Feld des Pragmatismus geworden. Auf der einen Seite schien es, als ob die Rebellion ihren Sinn verloren hätte, daß es nur möglich sei, unter der mathemati­schen Kalkulation des Machbaren zu agieren, nur kurzfristig zu handeln ohne den Bezug zum Wünschenswerten zu messen, ohne an eine wünschenswerte Zukunft zu denken, ohne die Phantasie anzuspornen, da ja schon alles wün­schenswerte gescheitert war. Auf der anderen Seite gab es eine verbreitete Praxis, daß nur die Methoden, Formen und Spielräume, die innerhalb des Sy­stems gegeben werden, Fortschritt und Wandel erlauben – es war nicht möglich, aus der Legalität auszuscheren.
Rebellion wieder denkbar
Ein großer Teil der Sympathie und des Erstaunens über die EZLN läßt sich dar­auf zurückführen, daß sie die Möglich­keit zur Rebellion wiedererweckt hat. Aber darüber hinaus hat sie das Recht wiederhergestellt, die Differenz einzu­fordern, sich der Gesetze der Unter­drücker zu entziehen, die Würde auf an­deren Wegen auszudrücken. Das Recht, eigene Alternativen auszuprobieren, das Recht anzuzweifeln, was als Gut gegeben ist, oder was als Wert alles andere aus­schließt. In anderen Worten hat die EZLN eine Hoffnung für die Differenz, die Vielfältigkeit geweckt. Das sind Elemente, die feministischer Phantasie Nahrung geben.
Dann ist da noch der explizite Diskurs der EZLN, der in den Kommuniques zu uns gelangt ist und den wir sehr glaub­würdig finden. Das steht in Verbindung mit dem oben Gesagten, da ein Teil der zivilisatorischen Hoffnungslosigkeit mit der fehlenden Kommunikation zwischen Politik und Individuen zu tun hat. Der Aufstand begann ohne eine absolute Wahrheit oder eine messianische Spra­che im Stil eines Sendero Luminoso. Der Vorschlag war nicht, eine einzige für alle gültige Macht zu installieren, weil die EZLN explizit betonte, nicht die Macht übernehmen zu wollen. Sie erkannten die Pluralität an und redeten und interpre­tierten nur von sich selbst aus, nicht im Namen von anderen. Das ist ohne Zwei­fel neu und viel demokratischer als die traditionellen politischen Diskurse, da­mit unterscheiden sie sich von den Gue­rillas des Kontinents. Aber diese Hal­tung verliert sich von dem Augenblick der Verhandlungen mit der Regierung.
Die ausschließende Macht der Waffen
Bei den Verhandlungen zeigte sich wie­der einmal der traditionelle, formale, selektive und männliche Stil, Politik zu machen: Zwei Kräfte, die als solche nicht das Ganze repräsentieren, verhandeln untereinander das Schicksal von allen. “Alle” können mehr oder weniger sein, aber zumindest in Chiapas gibt es da diejenigen, die die EZLN unterstützen, diejenigen, die gegen sie sind, und dieje­nigen, die auf keiner Seite stehen. Und unter diesen letzten beiden sind nicht nur Viehzüchter und Kaziquen. “Alle” sind die Vielfalt dieser Region. Ein nicht repräsentativer Frieden schließt nur die ein, die die Macht der Waffen besitzen (die offiziellen oder die aufständischen) und ist damit der Wille, keinen Frieden zu erreichen. Das Schicksal einer Region und vielleicht auch der ganzen Nation (denn es ist nur wenig bekannt geworden darüber, was tatsächlich verhandelt wurde) gehört in die Hände der Vielfalt und nicht nur in die Hände derjenigen, die Waffen haben und durch diese Macht zeitweilig die ewig Mächtigen herausfor­dern können.
So zeigen der Krieg und seine Folgen eine Konfrontation, die nichts zu tun hat mit der Diversität und Pluralität, auch wenn diese zum Diskurs und den ehrlich­sten Absichten einer der beiden Parteien gehören. Früher oder später kann der Teufelskreis neu beginnen.
“Wer hat das Recht zu entschuldigen?”
Ein zweiter Aspekt des Diskurses der EZLN ist vielversprechender und wei­terführender. Von den traditionellen Politikern gelangt ein flacher, phanta­sieloser, wiederholender, demagogischer und linearer Diskurs zu uns, in dem sich niemand wiederfindet. Ein Diskurs, der sich nicht an das tägliche Leben richtet und der implizit und symbolisch nichts sagt und sich explizit nur an die Initiier­ten richtet. Der Diskurs des CCRI (Comité Clandestino Revolucionario In­dígena) und besonders die Komuniques des Subcomandante Marcos haben viele Menschen angesprochen. Ihr literari­scher Charakter, vielleicht ein bißchen rethorisch und theatralisch, aber mit ei­ner ständigen Verbindung zwischen Ver­stand und Gefühlen, hat meistens den Alltag berührt, die Fragen, Schmerzen und Hoffnungen des unzufriedenen Indi­viduums; ein Diskurs, der ohne Angst und gegen alle Gewohnheit vom persön­lichen Standpunkt aus spricht und auf diese Weise nicht nur informiert, son­dern kommuniziert und in Dialog tritt, der witzig ist und sogar ironisch. In die­sem Sinn hat er Menschen aus Fleisch und Blut berührt.
Von einer Logik und einer symbolischen Ordnung aus, die nicht feministisch ist, hat er uns eine Lektion erteilt, von der wir lernen können. Diese Art von Kom­munikation war die feministische Utopie von Kommunikation, die sich verloren hat, weil wir irrtümlich glaubten, daß wir nur dann gehört werden, wenn wir die Sprache des Anderen sprechen. Die Sprache hat uns Frauen niemals benannt, und als wir lernten uns zu stammeln, be­gannen wir, den Diskurs nachzuahmen, den wir ändern wollten. Wir sind zu Spe­zialistinnen in Frauenthemen geworden, mit einer Sprache, die nicht mehr kreativ ist, mit symbolischen Codes, die die männliche Vorstellungswelt unterstützen und nichts Neues schaffen, die näher an den Sozialwissenschaften sind als am alltäglichen Leben.
Vier Fragen
Trotz seiner neuen und kreativen Aspekte und trotz all seiner Alternativen und trotz allem was wir von der EZLN lernen können: Wir Feministinnen wis­sen, daß das Patriarchat viele ursprüng­lich schöne Utopien hervorgebracht hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Internationalismus, etc.), aber alle sind gescheitert, weil sie die interne Logik nicht angegriffen haben. Und vom Au­genblick an, in dem die EZLN ihre Al­ternative auch innerhalb dieser Logik plaziert hat, und außerdem vom Krieg aus, müssen wir doch ein paar Fragen stellen:
Erstens: Sollen wir so naiv sein, zu glau­ben, daß der Aufstand für die Regierung überraschend kam? In einem so militari­sierten Staat wie Chiapas: Wie sollte das Militär nicht über die Pläne der EZLN informiert sein? Ist es möglich, daß in einem so umfassenden Gebiet sieben- bis zehntausend Personen unterwegs sind, ohne daß die Regierungskräfte es merk­ten? Wenn der Aufstand so gefährlich für die Regierung war, warum haben sie ihn kommen lassen?
Zweitens: Woher werden die Zapatistas finanziert? Zwar hat die EZLN keine großen oder modernen Waffenbe­stände, aber die sie hat, inclusive die über tausend Uniformen, kosten viel Geld, und dieses kommt offensichtlich nicht aus den leeren Beuteln der hun­gernden Aufständischen.
Drittens: Es ist wahr, daß Verhandlun­gen zwischen Kriegsparteien stattfinden müssen, aber gibt es in diesem Konflikt nur zwei Parteien? Sind nur diejenigen Partei, die Waffen haben und die Macht zu töten und zu sterben? Warum werden die Verhandlungen hinter verschlosse­nen Türen geführt? Die Gesellschaft, die sich unglaublich dafür eingesetzt hat, daß die Massaker gestoppt werden, daß Menschenrechte respektiert werden, daß Solidarität mit den Aufständischen ge­zeigt wurde hätte dabeisein müssen. Warum wissen wir nicht einmal, worüber verhandelt wird, was angeboten wird und was geopfert wird? Wir verstehen, daß die Regierung alle Anstrengungen un­ternimmt, um dies als einen lokalen Kon­flikt darzustellen, aber nicht mal auf lo­kaler Ebene wird der Frieden nur zwi­schen zwei Kräften hergestellt werden. Die zivile Gesellschaft hat auch in vielen Formen gekämpft, und die CCRI gibt vor, all diese Formen anzuerkennen. Aber warum hat dieser Kampf keinen Wert mehr, wenn es um Verhandlungen und Abkommen geht? Ist er nur die Un­terstützung der Nachhut für den Krieg? Dies ist nicht nur das Problem der EZLN, auch wenn die Guerilleros im Augenblick die Macht haben, zu relativ gleichen Bedingungen zu verhandeln. Das ist auch ein Problem der Gesell­schaft, die an hierarchische Politikfor­men gewöhnt ist, in der immer irgendwer die anderen repräsentiert, wo man/frau nicht fähig ist, sich selbst zu repräsentie­ren. Hat das nur mit traditioneller Poli­tik zu tun?
Viertens: Ist es möglich, ein konkrete demokratische pluralistische Alternative in einer Gesellschaft aufzustellen, die so autoritär ist wie die chiapanekische? Der Autoritarismus ist in Chiapas nicht im Alleinbesitz der Kaciquen und Reichen. Alle Konflikte in dieser Region wurden mit Gewalt “gelöst”. In Chiapas gibt es über 25.000 aus ihren Gemeinschaften ausgestoßene Indios. Die Grundlage der Beziehungen sind Intoleranz, das einzige Gesetz ist “Du bist mit mir oder gehst oder stirbst.” Können wir in diesem Rahmen an Worte glauben, bloß weil sie schön klingen oder etwas versprechen?
Das revolutionäre Frauengesetz der EZLN
Es ist uns schwer gefallen, das Revolu­tionäre Frauengesetz der EZLN zu be­werten. Allgemein ist es sicher kein fe­ministisches Programm, da es nur einige Frauen-Forderungen aufstellt und kein Vorschlag für die ganze Gemeinschaft aus der kritischen und bewußten weibli­chen Sicht ist. Aus unserer städtischen, westlichen und erleuchteten Sicht und dadurch daß die indianischen Frauen fast unsichtbar sind und der Krieg sie jetzt buchstäblich unerreichbar gemacht hat, ist es fast unmöglich zu beurteilen, ob das Gesetz ein Produkt eines Prozesses unter den Frauen gegenüber patriarcha­len und gewalttätigen Sitten und Ge­wohnheiten ist, oder ob die FührerInnen sich etwas ausgedacht haben, um die Frauen in die traditionell männlichen Aufgaben zu integrieren und ein Bild von interner Demokratie abzugeben. Denn mittlerweise haben grundlegende femi­nistische Forderungen die meisten so­zialen Bewegungen erreicht. Die verbale Wertschätzung von Frauen in Zeiten von Kriegen hat schon Tradition in der Ge­schichte von Guerillas oder in starken nicht-kriegerischen Konflikten, ohne daß sich dadurch die tatsächlichen Lebens­bedingungen von Frauen verbessert hätten.
Daß sich Frauen aussuchen sollten, ob und wen sie heiraten, ist wahrscheinlich das revolutionärste der Gesetze, jeden­falls wenn es nicht nur auf dem Papier steht. Es wäre deshalb so revolutionär, weil es die Bürden und kulturellen Tra­ditionen von Herrschaft und Verfügung über den Körper und die Lust von Frauen angreifen würde.
Die Beteiligung von Frauen in regulären oder irregulären Kriegsapparate er­scheint uns überhaupt kein Gewinn. Ob es Guerilleras oder Soldatinnen gibt, än­dert die Kriege nicht, und zusätzlich be­zieht es die Frauen in die grundlegenden Institutionen der Herrschaft, die der Gewalt und des Todes mit ein. Das Bild einer Frau in Militäruniform mit einer Waffe ist für uns nicht ästhetisch. Das Bild sagt, daß Frauen auch gelernt haben zu töten. Und das ist das hoffnungslose­ste aller Angebote.

Die Verhandlungen laufen

Das Abkommen vom März (vgl. LN 239) über die allgemeine Einhaltung der Men­schenrechte, die Auflösung der Todes­schwadrone und illegalen Streitkräfte und die Einrichtung einer UNO-Mission in Guatemala waren nur ein brüchiges Funda­ment für weitere Verhandlungen. Bereits im Mai klagten verschiedene Sektoren der guatemaltekischen Gesell­schaft Regierung und Militär an, die Be­stimmungen nicht einzuhalten; neue Men­schenrechtsverletzungen wurden bekannt, und die UNO-Mission ließ auf sich warten.
Nach jahrelangem Widerstand hatte sich die URNG im März der Forderung der Regierungsseite gebeugt, die Frage der Wiederansiedlung der Flüchtlinge aus den allgemeinen Friedensverhandlungen aus­zuklammern. Seit über zehn Jahren befin­den sich hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko und im Landesinneren; zu ihnen gehören auch die Geheimen Widerstands­dörfer (CPR). Das Befürchtete trat ein: Die Armee war in den Verhandlungen im Frühjahr nicht bereit, irgendeine Verant­wortung für die Repressionen zu über­nehmen, die zu der riesigen Flüchtlings­welle geführt hatten. Sie erklärte den Ver­handlungsbereich zu einem allgemeinen humanitären Problem, so daß nach ihrer Vorstellung nur praktische Fragen gelöst werden müßten, ohne die Ursachen zu thematisie­ren. Die Verhandlungen zur Wieder­an­sied­lung waren vor allem durch folgende Streit­fra­gen belastet:
1. Die Militärs waren nicht bereit, die Rückkehrenden einschließlich der Be­wohnerInnen der CPR (die von ihnen als politischer Arm der Guerilla betrachtet werden) als Zivilbevölkerung anzuerken­nen.
2. Die Landbeschaffung für die retornos stand (und steht) vor großen Schwierig­keiten, weil das Land, von dem die Men­schen 1981/82 vertrie­ben wurden, unter staatlicher Aufsicht neu besiedelt worden ist – durch sogenannte Modelldörfer und durch Militärstütz­punkte.
3. Die Forderung der Flüchtlingsorganisa­tionen, einzelne Personen als Zeugen der Vertreibung auftreten zu lassen, wurde seitens der Armee zurückgewiesen. “Verständlich”, denn die meisten der Ver­antwortlichen sitzen noch auf ihren Po­sten.
Zwei Abkommen im Juni
Aufgrund dieser Diskrepanzen kam es Anfang Juni zu einem kurzzeitigen Ab­bruch der Verhandlungen. Erstaunlicher­weise wurde Mitte Juni in Oslo dennoch ein Abkommen zur Wiederansiedlung ge­schlossen. Es scheint aber so, daß die Re­gierungsseite großen Druck auf die URNG ausgeübt hat, um überhaupt ir­gendein Ergebnis vorweisen zu können, freilich um den Preis wirklicher Lösun­gen. Zum einen treten die Vereinbarungen erst nach Abschluß des Friedensvertrages in Kraft, der für Dezember dieses Jahres geplant ist, womit sich der Rückkehrprozeß unerträglich ver­zögert; zum anderen sind in dem Abkom­men keinerlei Regelungen über eine Ent­militarisierung der Rückkehrgebiete ge­troffen worden. Dies ist aber eine der Hauptforderungen der Flüchtlinge und der URNG, zumal die letzten beiden Jahre ge­zeigt haben, daß die Militärpräsenz für die, die schon zurückgekehrt sind, eine reale Bedrohung bedeutet, von der psychi­schen Wirkung einmal abgesehen.
Wenige Tage nach dem Abkommen zur Wiederansiedlung unterzeichneten die Parteien ein zweites, in dem sie die Ein­richtung einer Wahrheitskommission be­schlossen. Auch dieses eine Farce, denn es tritt gleichfalls erst nach dem Friedens­vertrag in Kraft. Zudem soll die Kommis­sion lediglich sechs Monate arbeiten dür­fen, was zu einem sehr lückenhaften Er­gebnis führen muß – ganz im Sinne derer, die für die aufzudeckenden Verbrechen verantwortlich sind.
Im Sommer nahm die Zahl der Menschen­rechtsverletzungen nicht ab, wie nach den beiden Juni-Abkommen zu erwarten ge­wesen wäre. Man verzeichnete sogar eine neue Welle von Gewalttaten, die rasch zum Abbruch der Verhandlungen führte: GewerkschafterInnen wurden ermordet, VertreterInnen internationaler Organisa­tionen bedroht, und im Ixcán kam es zu schweren Gefechten zwischen der Armee und der URNG.
Neue Verhandlungsrunde unter UNO-Vermittlung
Am 19. September stimmte die UN-Voll­versammlung, fast ein halbes Jahr nach den Beschlüssen vom März, der “Mission der Vereinten Nationen für Guatemala” (MINUGUA) zu. Bereits am 20. Septem-ber traf eine Vorbereitungsde­legation mit zehn TeilnehmerInnen im Land ein, geleitet von dem Argentinier Leonardo Franco. Er löste Jean Arnault ab, der bis dahin bei der UNO für Gua­temala zuständig war und nach anfängli­chem Desinteresse doch heftig auf Lösun­gen gedrängt hatte. Die Hintergründe die­ses Wechsels wurden jedoch nicht be­kannt.
Am Tag nach der Ankunft begannen die Gespräche der UN-Vertreter mit Präsident de Léon und anderen leitenden Regie­rungsmitgliedern. Am 28. und 29. September fand in Mexiko die erste neue Runde der Verhandlungen zwischen URNG und Regierung statt.
Das Klima der ersten Begegnung war von gegenseitigen Anschuldigungen wegen der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsaktionen der letzten Monate ge­prägt. Darüber hinaus zeichnete sich ab, daß die Regierungsseite nun sehr auf einen termingerechten Abschluß des Frie­densvertrages im Dezember drängt und daß sich die Verhandlungen eher um die Einhaltung des Termins als um inhaltliche Fragen drehen werden.
Wie nun weiter? Offenbar hat die URNG eine schlechte Position, da sie militärisch nicht sehr schlagkräftig zu sein scheint, Regierung und UNO jedoch vor allem an schnellen Ergebnissen interessiert sind; der “Erfolg” von El Salvador soll sich in Guatemala wiederholen. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß die URNG im­mer weiter hinter ihre ursprünglichen Forderungen zu­rückweichen muß, daß beispielsweise die Flüchtlinge zwar zurückkehren, daß aber die Zustände, die sie zur Flucht gezwun­gen haben, nicht geändert werden.
Wird es die Guerilla wagen, die Ver­handlungen abzubrechen, wenn die Ver­handlungspositionen zu weit von ihren Grundforderungen abweichen?

Castros Erben möchten gern noch warten

Kubas führender Dissident Elizardo San­chez hat eine Ader für bildhafte Verglei­che. Das politische System in seinem Land, erläutert er in seiner Wohnung in Havannas Nobelviertel Miramar, sei auf der Person Fidel Castros wie auf einer einzigen Säule errichtet. Zur besseren An­schaulichkeit demonstriert er seine Theo­rie mit einem Schreibblock, den er auf der Spitze eines Bleistifts balanciert: “Knickt der Stift weg, stürzt alles ein.”
Gerüchte, Gerüchte
In der exilkubanischen Gemeinde in Flo­rida se­hen viele die Dinge ähnlich. Kein Wun­der, daß Miamis Medien Anfang April vor Freude völlig aus dem Häuschen waren, als der “Graubart” einige Tage nicht in der Öffentlichkeit auftauchte. “Fi­del Ca­stro liegt im Sterben!”, frohlockten sie. Doch wie schon so oft erwies sich der Wunsch als Vater des Ge­dankens: Pünkt­lich zum Treffen mit ge­mäßigten Exilku­banern (vgl. LN 238) stand der Coman­dante wieder auf der Matte, schüttelte Hände und verteilte Küßchen. Alles nur die übli­chen Gerüchte also.
Oder doch nicht? Ein paar Tage später sickerte aus – jeder Sympathie mit Miami unverdächtigen – kubanischen Regie­rungskreisen durch, “der Alte” habe zum fraglichen Zeitpunkt einen leichten Schlaganfall erlitten. Die linke Hand sei zeitweilig gelähmt gewesen; 24 Stunden hätten die Ärzte gebraucht, um den “máximo líder” wieder herzurichten. Als ein sichtlich müder Castro dann auch noch am 26. Juli auf seine zum festen Polit-Ri­tual gehörende alljährliche Rede zur Lage der Nation verzichtete und seinen Bruder Raúl, den Verteidigungsminister, ans Mi­krofon schickte, erhielt das Gerücht neue Nahrung, die biologische Uhr des Coman­dante laufe langsam, aber sicher ab.
Daß Castro wieder voll da war, als zehn Tage später in der Altstadt von Havanna Unruhen ausbrachen, mag seine Anhänger beruhigen. Dennoch – und ob Elizardo Sánchez mit seiner Bleistift-Theorie nun recht hat oder nicht – bleibt die Frage nach der physischen und psychischen Belast­barkeit des 68-jährigen von enormer Brisanz. Man erinnere sich nur an den Sommer 1989, als Erich Honecker im Krankenhaus lag und niemand in der DDR-Politbürokratie wagte, an seiner Stelle Entscheidungen zu fällen. Wie also hat sich Havanna auf den Ernstfall einge­richtet – oder genauer: Wen hat der “Comandante en Jefe” als seine(n) Erben eingesetzt?
Kronprinz Raúl
Nach der kubanischen Partei- und Staats­hierarchie ist der Fall klar: Der “Zweite Sekretär des Zentralkomitees der Kom­munistischen Partei, Erste Vizepräsident des Staats-und des Ministerrates, Minister der Revolutionären Streitkräfte, Armeege­neral Raúl Castro” (um nur seine wichtig­sten Ämter zu nennen) wurde bereits 1972 zum Kronprinzen unter seinem regieren­den Bruder ernannt. Schon aus Gründen der Pietät gegenüber dem (derzeit noch sehr lebendigen) “máximo líder” führt bei der Nachfolge kein Weg an ihm vorbei.
Für Raúl spricht weiterhin, daß er neben Juan Almeida Bosque der letzte in der unmittelbaren Parteispitze ist, der noch die Guerilla-Legende der Sierra Maestra ver­körpert. Um abermals den schwierigen Vergleich zu deutschen Verhältnissen heranzuziehen: In der DDR konnte das halbe Politbüro bis zum Schluß auf die Nachsicht vieler Untertanen bauen, die den Antifaschisten Honecker, Axen und Keßler ihren Respekt nicht versagen wollten. Einen ähnlichen Nimbus erwarb sich die gegenwärtige Führungsgeneration Kubas im Kampf gegen Batista. Auf diese Quelle politischer Legitimität dürfte auch eine “post-fidelistische” Führung nicht freiwillig verzichten.
Raúl Castro schleppt jedoch auch eine ganze Reihe von Handicaps mit sich herum. Zunächst seine mangelnde Popula­rität: Seit den Tagen in der Sierra begleitet ihn in der Bevölkerung – angeblich sehr zu Unrecht – der Ruf eines “duro”, eines ei­senharten, gefühlskalten Typs. Geradezu vernichtend für sein Image im machisti­schen Kuba wirkt ferner der in jüngster Zeit immer wieder kolportierte Verdacht, der General sei homosexuell.
Eigene Hausmacht
Obwohl Raúl fünf Jahre jünger ist als Fi­del, hat den “erst” 63-jährigen auch die Last des Alters weit stärker gezeichnet als jenen. Schon immer ein mickriges Kerl­chen neben dessen athletischer Figur, geht ihm Fidels Charisma eines Volkstribuns völlig ab. Alles in allem miserable Vor­aussetzungen, um in einem “Fidelismo ohne Fidel” die Hauptrolle zu überneh­men.
Was ihn dennoch zum ersten Anwärter auf das Erbe seines Bruders prädestiniert, ist mehr noch als die Blutsverwandtschaft seine Kontrolle über die Sicherheitskräfte. Raúl Castro ist nicht der alleinige Chef der in Angola siegreichen Armee, die in der Bevölkerung nach wie vor hohen Re­spekt genießt. Im gefürchteten Innenmini­sterium, das auch die Staatssicherheit um­faßt, sitzen ebenfalls seine Leute: Als 1989 höchste Offiziere der dortigen Ab­teilung MC (zuständig für die Beschaf­fung von Devisen sowie die Umgehung von Embargobestimmungen und insofern bedingt mit Schalcks KoKo-Imperium vergleichbar) des Drogenschmuggels überführt und drakonisch bestraft wurden, hatten die Brüder Castro die Armeespitze als “Aufräumkommando” hinüberge­schickt. Sie blieb gleich dort, die halbe Führungsetage wurde nach Hause ge­schickt, und der Stabschef der Armee, Abelardo Colomé Ibarra, stieg zum In­nenminister auf. Die uralte Konkurrenz zwischen beiden Ministerien war damit entschieden – zugunsten Raúls, der seither auch der letzte kubanische Politiker neben dem “Comandante en Jefe” ist, der über eine ernstzunehmende eigene Hausmacht verfügt.
Eins plus drei
Trotzdem ist keineswegs entschieden, daß der ewige Zweite an einem “Tag X” alle Entscheidungsbefugnisse – und damit alle Verantwortung – in seinen Händen kon­zentrieren würde, wie gegenwärtig sein Bruder. Eine (wie auch immer konstru­ierte) kollektive Führung mit Raúl als “primus inter pares” scheint zumindest für eine Übergangszeit möglich und auch ange­bracht, um das drohende gewaltige Machtvakuum halbwegs zu füllen. Vor­bilder gibt es: In der Sowjetunion setzte sich Chruschtschow nach dem Tode des Übervaters Stalin 1953 erst nach monate­langem Machtkampf durch, und auch die chinesische “Viererbande” 1976 spiegelte nicht zuletzt die Unfähigkeit der Führung wider, den dahingeschiedenen Mao durch eine(n) einzige(n) Frau oder Mann zu er­setzen.
In Havanna sind es vor allem drei Nach­wuchspolitiker, die in den letzten drei Jah­ren im Schatten Fidel Castros an Profil gewonnen haben: der für die Ökonomie zuständige Carlos Lage, Außenminister Roberto Robaina und Parlamentspräsident Ricardo Alarcón. (Vorzeitig aus dem Rennen ausgeschieden ist hingegen “el mulato” Carlos Aldana, bis Oktober 1992 ZK-Sekretär für Ideologie, zuvor als Bü­rochef von Raúl Castro dessen rechte Hand. Als erster in der Parteispitze hatte sich Aldana mit selbstbewußten Äußerun­gen den Ruf eines Reformers erworben – mehr im Ausland als auf der Insel selbst freilich; er stolperte über ein dubioses Fi­nanzgeschäft.)
Es versteht sich von selbst, daß die drei Nachrücker durch die Bank vom “Comandante en Jefe” protegiert werden. Symptomatisch scheint, daß alle drei dem Reformflügel innerhalb der KP zugerech­net werden.
Beinahe-Premier Carlos Lage
Lage, Jahrgang 1951, gilt innerhalb des Politbüros als der entschiedenste Vor­kämpfer einer wirtschaftlichen Öffnung. Von Havannas “Denkfabriken” muß er sich zwar kritisieren lassen, er beuge sich zu schnell der “politischen Logik, die zu einem sehr vorsichtigen, schrittweisen Vorgehen führt” (Julio Carranza Valdés vom Zentrum für Amerikastudien). Den­noch ist er für die reformbereiten Kräfte der wichtigste Ansprechpartner in der Partei- und Staatsführung.
Als im Rahmen der Verfassungsänderung 1992 erwogen wurde, den Posten eines Ministerpräsidenten zu schaffen, war Lage erster Anwärter auf das Amt – ein enormer Vertrauensbeweis für den Ex-Chef des Jugendverbandes UJC, auch wenn die ent­sprechende Reform (wie so viele andere) schließlich ausblieb. Im Ausland wird der “Exekutivsekretär des Ministerrates” be­reits wie die “Nummer Zwei” hinter Fidel Castro behandelt, auf der Insel selbst ist er für die meisten eine unbekannte Größe. Sein fehlendes Charisma macht ihn un­tauglich zur Gallionsfigur, doch je mehr ideologische und politische Konzessionen die katastrophale wirtschaftliche Lage von der kubanischen Führung verlangt, desto mehr gewinnt das Wort Carlos Lages an Gewicht.
PR-Experte “Robertico”
Der ehrgeizige “Robertico” Robaina, bis vor kurzem von niemandem ernstge­nommener UJC-Chef, hat sich zum allge­meinen Erstaunen mächtig gemausert. Noch vor einem Jahr stufte ihn Carlos Al­berto Montaner, Kopf der (Exil‑)”Kubanischen Demokratischen Platt­form”, als eine “Marionette Castros” ein, die “weder genug Intelligenz noch Auto­nomie hat, um selbständig irgend­etwas zu unternehmen”. Alles, was ihm Montaner seinerzeit zugestand, war eine “gewisse Cleverness in Sachen Public Relations”.
Die hat der heute 38-jährige tatsächlich: “Robertico” tritt nicht in Uniform oder Guayabera auf, sondern mit Vorliebe in Jeans und T-Shirt. Mit den martialischen Sprüchen der Alten geht er sparsamer um, hat stattdessen die UJC auf den Kurs von “Brot und Spielen” (mit wenig Brot, aber viel Tanzmusik) gebracht und so seinen Draht zu Kubas rebellischer Jugend noch nicht völlig abreißen lassen. Sein Gesel­lenstück in seiner neuen Funktion als Au­ßenminister lieferte er, als er im April 1994 den Gastgeber des bereits er­wähnten Treffens mit moderaten Exilver­tretern spielte.
Souveränität im Auftreten bewies “Robertico” auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, die den Außenminister auf einer ausgedehnten Südamerikareise überraschte. Daß er im Gegensatz etwa zu Carlos Lage das Zeug zu einem Volksred­ner hat, macht ihn für die auch als “Yummies” (“Young Urban Marxists” in Anlehnung an das einstige Modewort Yuppies) bezeichnete junge Technokra­tengeneration zu einer enorm wichtigen Figur.
Unterhändler Alarcón
Der schon etwas ältere Alarcón schließ­lich mit seiner bürgerlich-humanistischen Bildung bringt aus seiner langjährigen Er­fahrung als Diplomat ein Talent mit, das in der ans Dekretieren gewöhnten Füh­rung Seltenheitswert besitzt: die Fähigkeit zum Dialog, zur Suche nach Kompromis­sen. Für die am 1. September aufgenom­menen Verhandlungen mit den USA ist er als Verhandlungsführer allererste Wahl.
Alarcón scheint auch der geeignete Mann, den kubanischen Staatsapparat zu revitali­sieren, konkret die Volksvertretungen auf den verschiedenen Ebenen. Die gegen­wärtige, in 35 Jahren Revolution gewach­sene Hyperzentralisierung der Entschei­dungsbefugnisse ist nicht länger haltbar und wird von den sich ausbreitenden Marktstrukturen längst unterwandert; die Joint Ventures haben sich ohnehin bereits ausgeklinkt. Daß auch der Westen als Preis für mehr Wirtschaftshilfe von Ha­vanna verlangt, sich parlamentarisch-de­mokratischen Strukturen anzunähern, macht Alarcóns Aufgabe nur noch dringli­cher.
Lage, Robaina, Alarcón: Diese drei Män­ner plus Raúl Castro, der vermutlich alle Hände voll damit zu tun hätte, “Ruhe und Ordnung” im Lande zu garantieren, könnten am “Tag X” entscheidenden Ein­fluß darauf gewinnen, welchen Weg Kuba nach Castro geht. Alle vier haben bei ver­schiedenen Gelegenheiten erkennen las­sen, daß die dem “chinesischen Modell” – rasche Liberalisierung der Wirtschaft ohne gleichzeitigen Übergang zu westlichen Demokratiemodellen – positiv gegenüber­stehen; aufgeschlossener jedenfalls als Fi­del Castro, der es bisher eher mit dem Lenin-Wort von “einem Schritt vor, zwei Schritten zurück” hält.
Fidel wird noch gebraucht
Dennoch darf man davon ausgehen, daß es keinen der potentiellen Erben drängt, den “Alten” loszuwerden. Dessen Gespür dafür, welche Härten man dem eigenen Volk gerade noch zumuten kann, und seine historische Autorität, mit der er viele Zweifelnde oder Widerstrebende letztlich doch noch bei der Stange hält, sind in der gegenwärtigen Krise Gold wert. “Am mei­sten Sorgen bereitet mir, was wohl passie­ren wird, wenn wir die notwendigen Ver­änderungen nicht jetzt – und zwar un­ter Fidel – vornehmen”: Diese Raúl Castro zugeschriebene Äußerung aus dem Jahre 1991 bedarf keines Kommentars.
Eine notwendige Bemerkung zum Schluß. Damit die geschilderten Szenarien mögli­cherweise Wirklichkeit werden können, muß – last not least – eine grundlegende und keineswegs gesicherte Voraussetzung erfüllt sein: Die aus der kubanischen Re­volution hervorgegangene Regierung muß die nächsten Jahre überleben. Alle oben­stehenden Erwägungen und Spekulationen gehen von der – meines Erachtens noch immer wahrscheinlichsten – Variante aus, daß der bisherige Kurs langsamer (und keine Frage: bisher oft viel zu langsamer) Reformen “von oben” noch eine ganze Weile anhält. Die derzeit möglich schei­nenden Alternativen – eine soziale Explo­sion mit nicht absehbaren, aber garantiert blutigen Folgen; eine Verhärtung zu einer orthodoxen Diktatur à la Ceaucescu; eine bedingungslose Kapitulation vor den USA – möchte ich meinen kubanischen Freun­den jedenfalls noch weniger wünschen als die Fortschreibung des status quo, den die meisten kaum noch ertragen können. Von einer friedlichen Wende zu Demokratie, Wohlstand für alle oder auch nur sozialer Gerechtigkeit will ich gerne träumen, an sie glauben kann ich nicht.

“Romper el cerco”

Szenenwechsel: Eine alte Indígena in tra­ditioneller Kleidung blickt fast eine halbe Minute lang ruhig in die Kamera. Dann beginnt sie, Maismehl zu mahlen. Ihre zu­packenden, geduldigen Hände, die dem Mahlstein ein monotones, schabendes Ge­räusch entlocken, und die behandschuhten Trommler der Militärcombo bilden das symbolträchtige optische und akustische Kontrastmuster, welches das Video “Romper el cerco” durchzieht.
Im Mittelpunkt der Dokumentation von Uli Stelzner und Thomas Walter, die Ende `93 gedreht wurde, steht die Situation der Flüchtlinge des guatemaltekischen Bür­gerkriegs. Nachdem die Autoren sich in ihrem Video “Ojalá” in erster Linie mit den guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko und deren Rückkehrplänen be­schäftigt haben, dokumentiert “Romper el cerco” die Situation in dem Land selbst. Im beobachtenden Reportagestil, der nur von wenigen Kommentaren durchbrochen wird, werden ruhige, lange Bildsequenzen und ausführliche Interviews aneinander­montiert. Während die Parteinahme für die Flüchtlinge unmißverständlich deut­lich wird, enthalten die Filmemacher sich einer Einschätzung der politischen Chan­cen für einen Friedensprozeß in Gua­temala.
Gespräche mit Landbesetzern in einem Armenviertel am Rande von Guatemala-Stadt, mit BewohnerInnen von Wider­standsdörfern in entlegenen Regionen des Landes und RückkehrerInnen aus Mexiko kontrastieren mit Zeugnissen der offiziö­sen Propaganda des guatemaltekischen Militärs: In einem Interview liest ein Pres­seoffizier haarsträubende Verlautbarungen vom Blatt ab. Die Rede ist von einer “Kampagne zur Verteidigung der Bevöl­kerung und Zerstörung der Subversion”. Anschließend führt er ein Propagandavi­deo vor, in dem die BewohnerInnen der Widerstandsdörfer als “entführte Bauern” und “Opfer eines Betruges” bezeichnet werden, die aus Angst oder Unwissenheit mit der Guerilla kooperieren.
Dem werden die Aussagen von Bewohne­rInnen der sogenannten Widerstandsdörfer entgegengestellt: Die indianischen Cam­pesinos und Campesinas erzählen ihre persönlichen Geschichten: Vom Be­ginn der Repression und Vertreibung An­fang der achtziger Jahre, von der Flucht in ent­legene Gebiete, wie etwa die Berge der Provinz Quiché, wo mittlerweile etwa 20.000 Menschen außerhalb der Kontrolle von Armee und Militär leben.
Insgesamt gibt es in Guatemala 1,5 Mil­lionen Flüchtlinge. Die Widerstandsdörfer in den Bergen und im Dschungel waren und sind permanenten Angriffen und Bombardements von Seiten der Militärs ausgesetzt. Noch immer weigert sich die Regierung, die BewohnerInnen dieser Dörfer als Zivilbevölkerung anzuerken­nen. Im Laufe der Jahre haben diese ge­lernt, Maßnahmen zum Selbstschutz zu ergreifen. Der Film dokumentiert den Alltag in diesen Dörfern und läßt die Be­wohnerInnen zu Wort kommen. Einige der Interviewten glauben trotz Friedens­verhandlungen und der Rückkehr einiger Flüchtlinge aus Mexiko nicht an die Re­formfähigkeit des guatemaltekischen Staates und wollen daher auf jeden Fall in den Bergen bleiben. So sagt ein Campesino: “Wir erklären, daß wir unser Volk nie mehr ausliefern werden, denn wir sehen, daß keine Regierung Gua­temala verändert hat.”
Die 5.000 Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nach jahrelangem Exil im benachbarten Chiapas in die Urwald­region der Provinz Quiché zurückgekehrt sind, scheinen dagegen optimistischer zu sein, setzen auf ihre guten Organisations­fähigkeiten und hoffen, die Kooperativen, die es dort vor der Vertreibung gab, wie­derbeleben zu können. Gleichzeitig sehen auch sie sich vor großen Problemen, wie etwa der Knappheit von Land. So finden die RückkehrerInnen auf ihren alten Par­zellen Bauern vor, die vom Staat angesie­delt wurden. Das schafft Konflikte. Die Flüchtlingsbehörde versucht, die ver­schiedenen Campesinogruppen gegenein­ander auszuspielen. Das Militär ist massiv präsent, schüchtert ein und versucht, die RückkehrerInnen davon abzuhalten, Kontakt zu den versteckten Widerstands­dörfern in der Region aufzunehmen. Gleichzeitig werden die Offensiven gegen die Subversion fortgesetzt. Deshalb kommt ein Campesino zu dem Fazit, daß kein Wille da sei, die Problematik des Landes zu lösen: “Das ist unsere große Sorge: Wenn die Repression weitergeht, könnte es leicht sein, daß wir noch mal fliehen müssen.”
Dagegen meint ein Mann aus einem Wi­derstandsdorf in der Dschungelregion der Provinz Quiché: “Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ans Licht zu gehen. Wir müs­sen versuchen, den Kreis zu durchbre­chen, oder den Eindruck zunichtezuma­chen, den die Armee und diejenigen von uns haben, die unserem Kampf nicht wohlgesinnt sind. Trotzdem werden wir unsere Organisationsform niemals aufge­ben.”
Bettina Bremme
Romper el cerco – Flüchtlinge eines ver­deckten Krieges. BRD/Guatemala 1994, Video, 60 Min. Leihgebühr: 40,- (plus Porto), Deutsche oder spanische Version
Verleih und Vertrieb:
ISKA, Oberste Gasse 24, 34117 Kassel, Tel: 0561/772894 oder: autofocus, Orani­enstraße 45, 10969 Berlin, Tel. 030/6155458

Abseitsverdächtig

Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kom­men. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Inso­fern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorent­scheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konflikt­potential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. In­mitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” prak­tiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ih­nen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren mögli­cherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politi­scher Ebene drohen könnte.
Die Karikatu­ren der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spe­zialtruppe für innere Unruhen, aufgefor­dert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beob­achter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und des­wegen vom Großteil der Mexikaner un­bemerkt- überraschte Präsident Carlos Sa­linas de Gortari mit einer in der Ge­schichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regie­rungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, wel­cher Partei er angehört.” Politische Beob­achter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Ze­dillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzep­tiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsident­schaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von of­fizieller Seite mehrfach zugegeben wor­den. Umfragen zufolge erwarten 40 Pro­zent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Men­schen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerab­druck erstmals auch das Foto des Stimm­berechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Da­für wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte er­leben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug be­fürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschafts­kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unre­gelmäßigkeiten im Wahlregister nachzu­weisen. Die Vorwürfe wurden sogar ein­ziges Thema einer landesweit übertrage­nen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen ste­hen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Anga­ben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legen­dären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Er­gebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcom­puter stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsi­dent des nationalen Wahlinstituts, ent­sprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungün­stigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer einge­troffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahl­tou­risten) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beob­achter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwür­dige Wahlen konnte in den letzten Junita­gen nur knapp verhindert werden. Innen­minister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Auf­standes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schieds­richter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Men­schenrechtsbeauftragte und Generalstaats­anwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf ange­griffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Un­parteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Mo­nate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” gewor­den. Das politische System ist so ver­wundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Be­freiungsarmee (EZLN) sämtliche Regie­rungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern vo­tierten grundsätzlich dafür, den bewaff­neten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend ab­gelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbe­sondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chia­pas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blind­heit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weige­rung, dem demokratischen Druck nach­zugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla je­doch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem er­klärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Ur­walds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaf­ten Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschla­gen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Cama­cho Solis zurück, der Chiapas-Unter­händler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Cama­cho mehrfach für das Scheitern der Frie­densgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus ge­macht, daß er sich selbst für den geeigne­teren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Re­gierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsi­dent Salinas einen neuen Chiapas-Beauf­tragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission je­doch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armee­übergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワber­gangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewin­ner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Pro­zent erhalten. Sogar das bislang Undenk­bare scheint möglich: ein Sieg der Oppo­sition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechts­konservativen Partei der nationalen Ak­tion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsi­denten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bis­lang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnis­sen zwischen 74 und 92 Prozent gewon­nen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint mög­lich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlie­ren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabi­lität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten ge­kidnappt; eine von der Drogenmafia de­ponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.

Kasten:

Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunika­tionsmittel spielen im Kon­flikt in Chiapas eine Schlüssel­rolle. Wer Nachrichten und Bilddoku­mente produ­zieren und verbreiten kann, nimmt ent­scheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt um­somehr, seitdem die Waffen erfreuli­cherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegen­über der Regierung ist die Ein­richtung ei­ner unabhängigen Radiosta­tion der Indí­genas, die von ihnen selbst betrieben wer­den soll, um das Recht auf wahrheitsge­treue Information über lokale, regionale, nationale und inter­nationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Li­zenzvergabe in Aussicht ge­stellt. Da­mit diese mögliche Radiostation je­doch eines Ta­ges wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinhei­ten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksrepor­terinnen und -re­porter”. Und natürlich braucht es Radioge­räte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bil­dern festzuhalten. Eine eigene Vi­deoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereig­nisse jenseits presse­konjunktu­rellen Interesses fest­halten zu können, als auch um die Möglich­keit zur Verifizie­rung mögli­cher stritti­ger Vorfälle durch Bilddo­kumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die mei­sten kulturellen Aktivitäten eines Kom­munikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Platten­spieler, die wie­derum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrol­lierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaf­fungen getätigt werden kön­nen.
Spenden unter dem Stichwort “Medien­fonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiro­amt Köln (BLZ 370 100 50) überwei­sen. (Stichwort nicht vergessen!)

“Zweites Leben” mit Geld von der Drogenmafia?

Eine Anmerkung vorweg: Bei der Recher­che für ein Porträt des auf internationalem Parkett nicht allzu bekannten Politikers stolperten die LN über so viele Wider­sprüchlichkeiten in den biographischen Angaben, daß man fast meinen könnte, es handele sich bei dem pragmatischen Mu­sterkarrieristen Samper um eine rätsel­hafte Gestalt.
1950 geboren, stammt Samper laut dpa aus “einfachen Verhältnissen”, nach An­gaben der taz aus einer “Politikerfamilie”. Erst 25jährig, nach anderen Angaben als 29jähriger stieg Ernesto Samper 1978 nach Beendigung seines Jura- und Öko­nomiestudiums zum Präsidenten des Ver­bandes der Finanzinstitute ANIF auf. Er­stes Aufsehen erregte er wenig später durch seine linksliberalen Wirtschafts­analysen und kritischen Kommentare. Unter anderem plädierte er für eine Frei­gabe des Haschischkonsums – ein Um­stand, auf den er heute ähnlich ungern an­gesprochen wird wie Bill Clinton auf sein Kiffen zu Studentenzeiten.
Seine politische Bilderbuchkarriere be­gann 1981: In den folgenden Jahren war er unter anderem Generalsekretär der Li­beralen Partei, Botschafter Kolumbiens bei den Vereinten Nationen und Chef ei­nes Forschungsinstitutes seiner Partei. Ab 1986 vertrat er die Liberalen im Senat.
1989 trafen ihn auf dem Flughafen von Bogotá 17 Kugeln, die – je nach Interpre­tation – aus dem Gewehrlauf eines Recht­sextremen oder eines Drogenkillers vom Medellín-Kartell stammten. Fast wie durch ein Wunder überlebte der Schwer­verletzte das Attentat. Zu Beginn seines “zweiten Lebens”, wie Samper selbst die Phase nach der Genesung bezeichnet, holte ihn der liberale Präsident Gaviria als Minister für wirtschaftliche Entwicklung in sein Kabinett. Später wurde er als Bot­schafter nach Spanien entsandt.
Kapitalismus mit sozialem Antlitz?
Während des Wahlkampfes ging Samper in einigen Punkten auf Distanz zu der neoliberalen Kahlschlagpolitik seines Parteifreundes Gaviria. “Ich werde den sozialen Kapitalismus einführen”, ver­sprach er vollmundig. Unter anderem plä­dierte er gegen eine weitere Privatisierung staatlicher Großunternehmen. Durch ge­zielte staatliche Investitionen in die Infra­struktur sollen mehr als eine Million neue Arbeitsplätze entstehen. Ebenso kündigte er den Bau von Sozialwohnungen an.
Im Bereich Drogenpolitik wird erwartet, daß Samper die Linie seines Vorgängers im großen und ganzen beibehält.
In Sachen Guerilla verkündete Samper, die Aufstandsbekämpfung verschärfen zu wollen, gleichzeitig aber zum Dialog be­reit zu sein – “aber nur, wenn der Gegner zu schießen aufhört”. Im Klartext bedeutet dies die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand – ein alter Streitpunkt, an dem auch in den letzten Jahren schon im­mer Verhandlungen gescheitert sind.
Auf parlamentarischer Ebene sind Sam­pers Startbedingungen nicht schlecht. So kann er auf eine liberale Mehrheit im Se­nat und im Repräsentantenhaus zurück­greifen, wo ein Großteil der Abgeordneten aus seinen Gefolgsleuten besteht. Ande­rerseits ist er wie alle seine Vorgänger mit einem starken parteiinternen Filz und Kli­entelismus konfrontiert, der seine politisch Bewegungsfreiheit erheblich einschränken dürfte.
Wird ein Tonband zum Fallstrick?
Am 22.Juni. wurde verschiedenen kolum­bianischen Medien ein Tonbandmitschnitt zugespielt. Als die Bänder kurz darauf in mehreren Fernsehsendungen vorgespielt wurden, erwartete die bereits vom Fiasko der kolumbianischen WM-Fußballmann­schaft gebeutelte Nation eine weitere Ne­gativsensation: Die Aufzeichnungen do­kumentierten Gespräche zwischen dem Journalisten Alberto Giraldo, der bekann­termaßen als Mittelsmann des Cali-Kar­tells tätig ist, und den Wahlkampfmana­gern von Samper und Pastrana. Wenn das Material authentisch ist, würden sich die bereits vorher kursierenden Gerüchte be­wahrheiten, wonach der Wahlkampf bei­der Präsidentschaftskandidaten von der Drogenmafia gesponsort worden wäre. In den Tonbandgesprächen ist von 3,7 Mil­lionen Schmiergeld für Samper und 2,5 Millionen für Pastrana die Rede. Giraldo, der seine Tätigkeit für die Drogenmafia eingestanden hat, erklärte mittlerweile, seine damaligen Bestechungsversuche seien ohne Erfolg geblieben.
Mittlerweile hat die Oberstaatsanwalt­schaft, die pikanterweise von Sampers Vorgänger Gaviria als zu nachsichtig ge­genüber den Drogenkartellen beschimpft wurde (siehe Artikel), die Ermittlungen übernommen. Für die Liberale und die Konservative Partei handelt es sich laut El Pais bei der Veröffentlichung der Ton­bänder um einen “angekündigten Skan­dal”, von dem sie bereits eine Woche vor­her Kenntnis hatten. Zwar hat Samper selbstverständlich seine Verwicklung in den Skandal dementiert, gleichzeitig wurde aber in der Öffentlichkeit mit Stau­nen registriert, daß er und seine Partei die Verbreitung des kompromittierenden Materials fast tatenlos hinnahmen. Steht dem Präsidenten in spe das Wasser schon bis zum Hals?
Wenn sich die Verdächtigungen als be­rechtigt herausstellen sollten, wird das “zweite Leben” Sampers um ein berufli­ches Highlight ärmer: Vor der Wahl hatte er angekündigt, er werde das Präsidenten­amt nicht antreten, wenn ihm Geschäfte mit Drogenhändlern nachgewiesen wür­den.

Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten

Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regie­rung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwie­gend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fen­ster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzu­stellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten Ko­lumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttäti­gen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Tri­umph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräf­tigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Di­strikt der Stadt Medellín, einem dicht be­siedelten Gebiet, das bis an steile Berg­hänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe be­gann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande be­fohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein be­zahlter Killer im Dienste der Drogen­händler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, ver­schwendete, vergaß er nicht das Verspre­chen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele sei­ner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende ge­funden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebzi­ger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armen­vierteln als sicarios rekrutiert. Spä­ter, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die glei­chen Jungen Polizisten und Richter zu er­morden. 1983 feuerte ein Sechzehnjäh­riger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt wer­den. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontli­nie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren ar­beitslos. Junge Männer mit ähnlichen so­zialen Profilen ermordeten Zeitungsverle­ger, linke Politiker und staatliche Funktio­näre.
Eine der für die KolumbianerInnen er­schreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Prä­sidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Par­tei formiert und angefangen, sich am par­lamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leib­wächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führ­ten ihre Aktionen auf eine so überra­schende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu ga­rantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte die­ses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern ge­schätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die bluti­gen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der acht­ziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Me­dellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben wür­den? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, son­dern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Verände­rungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wur­den in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne die­ser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus ledig­lich die Polizei zu tun hatte. Als die Be­völkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu prote­stieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politi­scher Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der kor­rupten traditionellen liberalen und konser­vativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zu­sammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebzi­ger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort an­derer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrot­tungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu be­mühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach nieder­geschossen. Nach Berichten der General­staatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen To­desschwadronen. Auf diese Weise be­gann der Staat seine grundlegendsten öf­fentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Ver­waltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Grup­pen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wur­den in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die viel­fältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitäts­krise der sozialen Institutionen. Die Ak­tionen dieser jungen Leute stellten die Be­deutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtli­che Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythi­sche Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Re­bellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobi­lienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollie­ren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis ope­rieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logi­scherweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu We­stentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem In­dividuum und der sozialen Ordnung ver­antwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebens­stilen spielten jetzt neue Akteure eine ent­scheidene Rolle. Blutrachen wurden im­mer häufiger, ebenso die Aktionen pa­ramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen anspra­chen. Die Banden wurden zum alternati­ven Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundle­gende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Dro­genabhängigkeit, der Mangel an Verant­wortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten ver­schwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt ge­gen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familien­wohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in je­dem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuel­lem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswir­kungen von Gewalt auf Kinder und die Ef­fekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Model­len von Autorität. Dies ist besonders of­fenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsper­son, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Le­bensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in eini­gen Regionen auch sicarios, ideali­siert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesell­schaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Me­dien geächtet wurde, von vielen, insbe­sondere armen Kolumbianer­Innen my­thologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfai­rerweise al­les Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler ge­fragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Be­fragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Pro­zent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Es­cobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn ge­zwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohl­täter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemein­schaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wach­sen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu le­ben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerken­nung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundle­gende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Por­tion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Auto­ritätsbeziehungen mit Loyalität und Soli­darität kombiniert. Innerhalb einer Sub­kultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim ange­sehen. Die Subkultur bezieht die Jugendli­chen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Kon­zeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr ei­genes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Aben­teuer wie von einem Magneten angezo­gen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies bein­haltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenan­führer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnli­che Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Her­anwachsenden aufgestellt, um ihr Territo­rium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonen­futter in ihren Konfrontationen unterein­ander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Ge­winnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu be­schaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsident­schaftskandidaten Luís Carlos Galán star­tete die Regierung 1990 eine frontale At­tacke gegen das Medellín-Kartell. Die Si­cherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Re­servearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie be­diente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Ge­meinden wurden zu Feinden der Gesell­schaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Of­fensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, ver­stärkte die Abneigung gegen die Sicher­heitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhänd­lern und radikalisierten sich gegen die Re­gierung. Zu spät wurden sich die nationa­len und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von coun­terinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grund­legende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwar­ten. Trotzdem gibt es einige “soziale Ak­tions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoff­nung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichti­gung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewalt­ausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue For­men der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeu­tung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jun­gen, die vorher gefürchtete Kriminelle wa­ren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedens­abkommen unterzeichnet und sich zu­sammengetan, um für soziale Entwick­lungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl in­teressanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhan­dels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden wer­den, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten ver­langen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wis­sen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist un­erbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Le­ben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Ju­gendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stell­ten die jungen Bandenmitglieder die so­ziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Ge­walt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.

Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Me­dellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM

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