Jenseits des sozialistischen Staates

Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Arm­reifen aus Meeres­muscheln, verschieden­farbige Glasperlen, ei­nen schneeweißen Py­jama und ein wei­teres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Din­ge benö­tigt. Wenn irgend mög­lich, soll ich dies alles bei meinem näch­sten Be­such nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cou­sine, “muß sei­nen Heiligen ma­chen” Es besteht kein Zwei_fel, daß er sich in die Santería ein_weihen lassen will, in die Re_ligion, die in Kuba aus den Glau_bensvorstellungen der afri_kanischen Skla_ven hervorgegangen ist.
Die Santería
Angesichts üppiger Meldungen in deut­schen Medien über die wirt­schaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließ­lich errei­chen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in de­nen Schreiberinnen vol­ler Sinn fürs Pro­fane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Aus­gehschuhe – und auch mal um eine Sonnen­brille von Dior oder ein drahtloses Telefon – bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Nie­der­gangs der sozia­listischen Zentral­wirtschaft mit dem “Opium fürs Volkesen”. Doch erst seit einigen Jahren be­kennen sie sich im­mer mehr offen zu den bis­her vielfach dis­kriminierten Glaubens­vorstellungen, die so sehr ein Teil von ih­nen sind, daß man San­tería als die ge­heime und ver­kannte Volksre­ligion der Ku­baner an­sehen kann.
Bei meinem Besuch im August 1993 stelle ich fest, daß die Santería mittler­weile so­gar in den früher ausschließlich Diploma­ten und ausländischen Touri­sten vorbehal­tenen di­plotiendas präsent ist. Im Mo­nat zu­vor hatte die Regie­rung die Dollari­sierung der kubanischen Wirtschaft legali­siert und allen Kuba­nern den Besitz der US-Währung er­laubt. An der Kasse der größ­ten diplo­tienda von Havanna drängen sich nun neben wenigen Ausländern
gleich­falls mit Dol­lars gesegnete junge Kuba­nerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Syn­thetik­haut tragen, und ein förmlich geklei­deter Herr, der auffällt, weil er die begehr­ten und überteuerten Pro­dukte – überwieg­end US-amerikanischen Ur­sprungs – nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozia­listischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unter­hält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angeho­benen Preise für aguardiente de caña, ei­nem Zuckerrohr­schnaps, der für viele Ri­tuale der Santería un­entbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bun­ten Glasperlen ge­schmückt. Als Novi­zinnen der Santería müssen sie mehrere Mo­nate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Ent­spannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps be­ladenes Einkaufswägel­chen als näch­stes zur Kas­siererin.
Die ungewöhnlich und willkürlich anmu­tende Zusammensetzung in der Warte­schlange der di­plotienda kann man als ty­pisch kubanisch an­sehen. Sie steht für die Gleich­zeitigkeit uns widersprüchlich er­scheinender Weltan­schauungssysteme und Or­ganisationsformen des Sozialismus, Kapi­talismus und der San­tería, die nicht erst seit jüngster Zeit ge­meinsam die ku­banische Gesell­schaft prägen. Alle drei Sys­teme sind auch während des so­zialistischen Staates für die Lebensorien­tierung vieler Kubaner wichtig geblieben, er­fuhren aber im Laufe der Zeit unter­schied­liche Gewichtungen. Dies wird be­sonders deutlich bei den soge­nannten “kleinen Leu­ten”. Mit ihren Tradi_tionen, ihren Fertigkei_ten und ihrem Wissen ha_ben sie die heutige Situation Ku_bas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte we_sentlich サvon untenFehler: Referenz nicht gefundeni liefen, anderenteils diesen aber auch ent­gegen­steuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veran­schaulichen, will ich ein wenig von den Be­wohnern eines Stadt­viertels von Havanna, des barrio de los ta­baqueros, erzählen.
Die eigenen Wurzeln
Zu den Bewohnern die­ses Viertels verbin­det mich von 1981 an ein beson­deres Ver­hältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seit­her re­gelmäßig nach Kuba und besu­che dort für ei­nige Wochen auch meine Ver­wandten; denn meine Mutter war Kuba­nerin. An dieser Stelle mei­ner Familien­biographie angelangt, muß ich stets eine Erklärungerten, auf Dauer dort zu bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Re­volution, in die Posi­tion einer Exilkubane­rin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnah­mefällen be­suchen. Dieses für sie schmerzhafte per­sönli­che Schicksal hat auch meine Sicht­weise von Kuba beeinflußt. Es hat sicher­lich meine Zuneigung zu den kleinen Leu­tenFehler: Referenz nicht gefunden diese beiden Be­völkerungs­gruppen nicht zu polarisieren, son­dern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zu­sammenwirken.
Das barrio de los ta­baqueros war nie ein privi­legiertes Vier­tel. Die Bewoh­ner der Gründungszeit erzäh­len, daß es in den zwanziger Jahren von Tabak­fabrikanten an­ge­legt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusie­deln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf lei­sten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Aus­spruch hört, der Groß­vater habe damals das Grund­stück サin der Lotterie gewonnenォサFamiliengeschichte
Mein Großvater war chinesischer Abstam­mung und in Schuld­knechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätig­keit als Kleinhändler von seinem Patrón freikau­fen können. Auch während sei­ner Arbeit in der Tabakfa­brik bot er, unter­stützt von seinen äl­testen Kindern, an ei­nem fahrba­ren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Ha­vanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der サrassischFehler: Referenz nicht gefundeneßen sich die Arbeiter beim ein­tönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktober­revolution beflügelte ihre Hoff­nung auf eine gerechte, egalitäre Gesell­schaft. So verwun­dert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre gebore­nen Sohn den Vornamen Le­nin gab. Er selbst hatte bereits als Jugend­licher – mit prophetischer Weit­sicht, so könnte man meinen – den Nachnamen Ca­stro angenommen.
Auch meine Großmutter, die mit 14 Jah­ren hei­ratete, stammte aus beschei­denen Verhält­nissen. Sie wuchs we­niger bei ih­rem gutsi­tuierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als viel­mehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Her­kunft und Haut­farbe man sich in der Fa­milie hart­näckig ausschweigt. Wie viele Kubaner ver­suchen die Familienmit­glieder beharrlich, sich zu “verweß­lichen” indem sie ihre afrikani_schen Vor_fahren verdrängen und notfalls ihre Haut_farbe auf eine als edler geltende Abstam_mung von Indianern zu_rückführen. Zu diesem サVer­weißlichungsprozeßFehler: Referenz nicht gefundenulbildung karita­tiven Einrichtungen der katholischen Kir­che, deren Vertreter großen Wert auf Di­stanz zum サAber­glaubenFehler: Referenz nicht gefundenOchú: Einnehmend, ko­kett, lebenslustig, untreu
Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstel­lungen der Oberschicht orientierte, verhin­derte jedoch keines­wegs, daß die Santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich je­weils einem bestimm­ten Heiligen besonders verbunden, dessen サTochterFehler: Referenz nicht gefundenSohnFehler: Referenz nicht gefundenrd, un­ter an­derem als großzügig, einneh­mend, kokett, lebenslustig und un­treu.
Die Töchter der Cari­dad oder Ochúns tru­gen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún, wie alle Heiligen, ständig in die Angelegenheiten der Men­schen ein­greift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohl­zustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche – insbe­sondere in be­zug auf Gesundheit – erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Hei­ligen großzügige Es­sens- und Getränkega­ben dar, die anschlie­ßend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und サKindernFehler: Referenz nicht gefundenänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche wa­ren. So hielt auch ich lange Zeit die reini­genden Abreibun­gen mit Weihwasser und Köl­nisch Was­ser, die mir meine Mutter regelmä­ßig zu­kommen ließ, da­mit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Be­standteil orthodoxer katho­lischer Prakti­ken.
Vom Zentralmarkt zur Musik
Den Wunsch nach ge­sellschaftlichem Auf­stieg und wirtschaft­licher Absiche­rung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragma­tisch über Kleinunter­nehmertum zu verwirk­lichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel übli­chen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar unge­wöhnliche, aber trotz­dem nicht untypische Familienge­schichte hin. Unter gemeinsamer Anstren­gung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Ha­vanna und damit zu ei­nem bescheidenen Wohl­stand. In der Folge des Schwarzen Frei­tags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, ver­loren sie jedoch ihre ge­samten Erspar­nisse. Danach konnte sich die Familie ins­besondere durch den wirt­schaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die El­tern hatten großen Wert darauf ge­legt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch inter­national Er­folg. Die Musikerinnen verhalfen der Fa­milie wieder zu wirtschaftlichem Auf­stieg. An dessen Höhe­punkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltaus­stel­lung nach New York und er­füllte einer seiner Töchter den Le­benstraum einer Audi­enz beim Papst.
Das Liedgut der Frau­enband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, von den Glaubensvorstel­lungen der Sante­ría. Just als nach gut 30 Jah­ren das Musikge­schäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernah­men in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialisti­sche Staat förderte die Mu­sikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei ei­nem festen, relativ hohen Einkommen Aner­kennung und Beschäfti­gung als Mu­sikerinnen.
Trotz ihrer Sympathien für den Sozialis­mus und für die Proteste der Stu­denten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirt­schaftlichen und politischen Krise be­stimmt waren, ver­hielten sie sich ab­wartend und konzen­trierten sich darauf, die alltäglichen Her­ausforderungen zu be­wältigen. Wie die mei­sten in ihrem Vier­tel, ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revo­lutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wan­delte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Un­terstützung für die ersten Veränderun­gen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so er­zählt man sich, über Nacht vom Katholizis­mus zum Gue­varismus und spen­dete – zum un­gläubigen Erstaunen der Familienangehöri­gen – ih­ren Schmuck für den Aufbau des So­zialismus. Bis zu ih­rem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Cari­dad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozia­listin der Familie und somit die Speziali­stin für Behördengänge und Kon­takte mit Parteistel­len.
Sozialisten, Kapitalisten und Santeros
Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revo­lution bei vielen Fa­milien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienange­hörige bekannten sich nun öffentlich un­zwei­deutig zum Sozialis­mus und erhielten bevor­zugten Zugang zu Woh­nungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Lu­xus­gütern wie Fernse­hern, Kühl­schränken und Autos. Die Mehr­heit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regie­rung jedoch eher spo­radisch und hielt – in der für sie bewährten Art – Distanz zur Po­litik.
Bei der sozialisti­schen Staatspartei wa­ren die Werte des in­dividuellen Unterneh­mertums und des ortho­doxen Katholizis­mus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der frü­heren Oberschicht wurde die Santería auch von den neuen Re­gierenden als rück­schrittlich, primitiv und gewaltverherrli­chend verpönt. Die öf­fentliche Haltung ei­nes Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozi­oökonomische Stel­lung entscheidend. Dies be­wirkte, daß die Bewoh­ner des Viertels in ihren Dis­kursen zuneh­mend die drei für sie wichti­gen Weltanschau­ungssysteme – den ku­banischen Sozialismus, den US-ameri­kanischen Kapitalismus und die Santería – iso­lierten, einander gegenüberstell­ten und plakativ nur für ein System Partei ergrif­fen.
Der idealtypische Dis­kurs des Soziali­stenu­ser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwie­gende Miß­stände durch per­sönliche Allein­gänge zu beseitigen. In Kuba hungert nie­mand, alle haben die gleichen Bildungschan­cen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den So­zialisten im materiel­len Bereich bewunder­ten USA. Die mißliche Versorgungssituation des Alltags ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzu­führen, denn im Ge­gen­satz zu Fidel (und Che, der eine Son­der­rolle spielt) sind die normalen Men­schen äu­ßerst fehlbar.
Für den US-Kapitali­stenFehler: Referenz nicht gefundeneines jeden Kuba­ners führen muß – zu gutem Essen, makelloser Gar­derobe und einem Auto. Da die Kubaner als Un­ternehmer unübertreff­lich sind, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie be­reits in Miami unter Beweis stellen konn­ten.
Der idealtypische Dis­kurs des Santero hat es nicht nötig, die obigen Welt­anschau­ungssysteme groß gegeneinander ab­zuwä­gen, denn beide sind der Santería un­ter­geordnet. So krei­sen die Gedanken des Santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Ver­wandte, Glaubens­genossen und andere be­einflussen kann. Dies entspricht dem kubanischen Naturell, denn der Kubaner ist mandón, er kommandiert gern herum und zwar am liebsten Leute, die ihm nahe­stehen. Doch als ausgesprochener Prag­matiker behält der Santero zugleich die übergeordneten irdi­schen Kräfte im Auge und respektiert sie – solange sie auch von den Heiligen gestützt werden.
Pragmatische Allianzen
Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenflie­ßen, das zeigte sich beim Abschluß der Pan­ameri­kanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit So­jaschrot ge­streckten Hack­fleischrationen und die mit Süß­kartof­felmehl versetzten Brötchen, die nach ei­nem Tag zu backstein­ähnlicher Härte mu­tierten, war kurzfri­stig ver­gessen. Auch die dem US-Kapitalis­mus zu­getanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überra­genden Erfolg der Sportler fast aus­schließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilli­gen Einsätze mehr­fach ausge­zeich­nete Arbeiterin er­klärte dies wie folgt: サHast du bemerkt, daß er unter der Armband­uhr die farbigen Bän­der seines Hei­ligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner un­merklich die Hand ge­hoben hatte?Fehler: Referenz nicht gefundenTrotz der nach außen gekehrten Gegen­sätze zwischen den Verfech­tern des So­zialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zu­sammenarbeit zwischen erklärten Soziali­sten und “Nicht-Soziali­sten” Ihre Kum_panei ist so zentral für die Wirtschafts_weise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, son_dern von einem Sy_stem des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Koope_ratioサ der Parteigänger ange­wiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diploma­ten­viertel einnehmen zu können. Als ein­träglich erwei­sen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukom­men, um sie dann in den Schwarz­markt ein­speisen zu können. Au­ßerdem brau­chen sie für ihr ille­gales Kleinunterneh­mertum die Protektion durch die Parteigän­ger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter be­schaffen und produ­zieren, die die Zen­tralwirtschaft ent­weder gar nicht oder nicht in ausreichen­der Menge zur Verfüg­ung stellt. Die er­klärten Sozialisten wie­derum benötigen die Geschäf­temacher, um in den Genuß von illegal be­schafften Waren zu kom­men, ohne sich selbst die Hände schmut­zig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen bei­den Gruppen jedoch un­gleich verteilt. Über­spitzt könnte man sa­gen, daß, wäh­rend die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast ste­hen. Im All­tag aber ist das Zu­sammenwirken zwischen Sozial-isten und Nicht-Sozialisten meist durch die famili­äre Solidarität und die Einsicht abgesi­chert, daß die staatliche Planwirt-schaft ohne die kleinen Geschäfte­macher längst am Ende wäre.
Der Sozialismus und die “kleinen Leute”
Ob 1993, im Jahr der wirtschaftlichen Kri­se, oder 1981, dem Jahr meines ersten Be­suches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftli­chen Wohlstandes be­zeichnen): die staat­lich gelenkte Zentral­wirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der kleinen LeuteFehler: Referenz nicht gefundenDiesem Bereich widme­ten die Revolutio­näre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksam­keit. Bezüglich den Zielvor­stellungen wur­den sie mit den サkleinen LeutenFehler: Referenz nicht gefunden Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie – wie im Zentrum und an­derswo – ein Eispalast eingerich­tet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regel­mäßigkeit ein Kühlwagen auf, des­sen La­dung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbst­verständlichen monat­lichen Ratio­nen von Bier, Rum und Zigaret­ten waren während der Zeiten eines von der Sowjet­union mitgetra­genen wirtschaftli­chen Wohlstandes nicht un­wesentlich für die breite Unterstützung, der sich die soziali­stische Regierung er­freuen konnte.
Die Versorgung organisieren
Bezüglich der Organi­sation der wirtschaft­lichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Re­gierung von Anfang an die gleichwertige In­tegration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran und entmutigte eine Tätigkeit als “Nur-Hausfrau” Die soge_nannten サHausfrau­enEin Grund dafür war, daß ein in die Ar­beitswelt der Staats­betriebe inte­griertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garan­tierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaf­fung über die libreta, das Bezugs­scheinheft, war normalen Werktäti­gen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie en­gagierten Par­teimitgliedern. Neben ihrer サeigent­lichenFehler: Referenz nicht gefundenfrei­willigerFehler: Referenz nicht gefundenDie Zeit vor der período especial ge­nannten Wirtschafts­krise Anfang der neun­ziger Jahre läßt sich folgendermaßen be­schreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Män­ner in die überladenen Busse oder steigen auf Last­wagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgas­wolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ih­nen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherin­nen reihen sich mit den libretas mehrerer Fami­lienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefürchtete Brotschlange ein. In letzter Zeit versucht ein Polizist, den wachsenden Andrang auf eine sin­kende Anzahl von Brötchen in geord­neten Bahnen zu hal­ten.
Zeitraubendes Schlan­gestehen gehört je­doch nicht zu den größeren Heraus­for­derungen für die Hausfrauen. Auf­grund der unregelmäßi­gen Belieferung der bo­de­gas, der Vertei­lerstellen, müssen sie zu­nächst einmal ausma­chen, wo über­haupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Be­wohnerin­nen des Viertels nicht ganz un­gelegen. Ihre Lebensart, ihre nie en­dende Gesprächsbe­reitschaft, sowie das Sozial­leben, das sich in den meist offenste­henden Häusern und un­ter den Vordäch­ern ab­spielt, fördern die Kommu­nikation, die wahrscheinlich sowieso als das vor­herrschende Grundbedürf­nis der Ku­ba­nerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informa­tionsnetz ist so eng­maschig und reaktions­schnell, auch Dank des Gebrauchs des nicht zu­letzt deswegen hoff­nungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwa­gen, behindert durch unzäh­lige Schlaglö­cher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat.
In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaf­fung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen heran­gewachsen und füllt ein Gutteil des Vor­mittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die of­fene Haustür. Eine Nachbarin meldet auf­geregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Er­satz verwendeten rus­sischen Kartoffeln stechende Bauch­schmer­zen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Ap­petit­losigkeit ge­führt haben soll. Die Nach­barin bekommt ei­nige der frühmor­gens erstandenen Brötchen und über­nimmt da­für einen Stapel libretas für den Malanga-Ein­kauf. Eine halbe Stunde später klin­gelt das Telefon. Eine Ver­wandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gas­lastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus aus­gegangen ist, wird ei­ligst jemand zum LKW geschickt, der versu­chen muß, den Fahrer mit ein paar Geld­scheinen zu ei­nem kleinen Umweg zu bewe­gen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Um­ständlich kramt er aus einer verdeckt ge­haltenen Stoff­tasche selbstge­bastelte Pa­pierblumen heraus. Die Hausbewoh­nerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet ge­stern nacht sind einer Freundin die verstor­benen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen ange­rufen und berichtet, sie be­fürchte, die El­tern könnten eines ihrer Kinder krankma­chen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papier­blumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also wer­den sie dem Rentner abgekauft. Kurz da­nach übertritt eine andere Nachbarin ohne große For­malitä­ten die Schwelle des Hauses. Sie holt wie­der einmal die Dosen­milch ab, auf die die Kleinkinder ein An­recht haben. Die mei­sten Mütter des Vier­tels sind sich sicher, ebenso wie inzwi­schen auch viele kubanische Ernährungs­wissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömm­lich ist. Für einen relativ hohen Preis verkau­fen die Mütter die Do­senmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süß­speisen wie flan – ei­ner Art Pudding – ver­arbeiten, die sie dann verkaufen.
Das Schlangestehen wird von den Haus­frauen arbeitsteilig organisiert. Dabei ko­operieren an erster Stelle die Familien­mit­glieder. Am Rande dazu gehören die no­vios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmit­gliedern ihrer Künfti­gen in einer Art Vor­brautdienst beim Schlangestehen auf ihre Brauchbar­keit ge­testet werden. Manche Familien leisten sich professio­nelle Schlan­gesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstlei­stungssparte speziali­siert haben.
Rituelle Verwandschaft – gegen­seitige Unter­stützung
Bei der Beschaffung von Gütern beson­ders behilflich sind sich die Mitglie­der von Santería-Gemeinschaf­ten, die eine rituelle Verwandtschaft zuein­ander pfle­gen. Ähnlich wie Familien es gerne sehen, wenn ein künf­tiges Mitglied aus ei­nem attraktiven Pro­duktions- oder Dienst­leistungszweig kommt, tun dies auch Gemein­schaften der Santería. Eine der am besten funktionierenden Ge­meinschaften des Vier­tels ist bekannt da­für, daß sie mit Er­folg Vertreter der wichtigsten Berufs­sparten zur regelmäßi­gen Teilnahme an reli­giösen Treffen hat be­wegen können: Ange­stellte von Fleisch- und Wurstfabri­ken, Großbäcke­reien, Ho­tels, Restaurants und Bars. In diesen schwe­ren Zeiten, in de­nen die früher gerühmte Gastfreund­schaft des Viertels zwangsweise suspen­diert ist, fin­den die einzigen großen Einla­dungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der Santería-Gemein­schaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bo­deguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging die­ser risiko- und le­bensfreudige Mann dem Schicksal zahl­reicher bodegueros: Als bevor­zugte Sün­denböcke für den illegalen Klein­handel wurden sie nach einigen Jahren abge­setzt und kurzerhand für einige Zeit ins Ge­fängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bo­deguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichti­ger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bode­guero seinen ungewöhn­lichen Organisations- und Ge­schäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Na­menstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze auf­zustellen.
Habaneros und guajiros
Eine besondere Solida­rität gibt es auch un­ter den älteren Gründungsmitglie­dern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwan­derung nach Havanna seit den dreißiger Jahren be­herbergt das Viertel heute, neben den Nach­kommen der Zigarren­dreher, zahlreiche ehemalige “Landbewohner” Dieje_nigen, die seit der zweiten Genera_tion in Havanna ansässig sind und sich deswegen ge_trost als Habaneros ausgeben dürfen, be_zeichnen praktisch al_les, was außerhalb ih_rer kosmopolitischen Stadt liegt, gering_schätzig als el campo. Die Landbewohner, die guajiros, betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rück­ständig und mehr oder weniger unkulti­viert. Doch in letzter Zeit müssen die Habane­ros die früher herablas­send be­handelten gua­jiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Ver­wandte auf dem Land zu haben, die aller­lei nützliche Produkte be­sorgen können. Selbst die Sitte der guaji­ros, in den klei­nen Patios und Gemüsegär­ten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hüh­ner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Haba­neros geschätzt und zuneh­mend übernommen.
Im halblegalen und il­legalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händ­lerinnen meist nur サLuxusgegenständeHänd­lerinnen die bevorzug­ten Anlaufper­sonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der li­breta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der サgraue Marktォ Nach und nach mußten sich die Leute von den il_legalen Spezialistin_nen selbst Grundnah_rungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrach, und die Re_gierung den período especial ausrufen mußte, wuchs dサr ille­gale Bereich zum ei­gentlichen Versor­gungsträger heran. Nun war man selbst bezüg­lich der elementar­sten Zutaten der kubani­schen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar stan­den diese Grundnah­rungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Liefe­rungen an die bodegas immer unvollstän­diger und seltener.
Frauenrollen und Männer­rollen
Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaft­liche Situa­tion einer Familie bei weitem be­deutsamer sind als die werktäti­gen Män­ner und Frauen, die サnurFehler: Referenz nicht gefundenRestau­rants werden mitt­lerweile im Vier­tel betrieben. Andere Un­ternehmen, die vor­nehmlich von Frauen geführt wer­den, sind Schneidereien, Mani­küre- und Fri­seursa­lons. Welch wichtigen Teil der Ver­sorgung die Privathaushalte überneh­men, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe her­gestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zuneh­mend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben ar­beitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen.
In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Vier­tels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Un­terschicht ernährten als Kleinproduzen­tin­nen und -händlerinnen die matrifokalen Fami­lien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Er­scheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirt­schaft war eher unregel­mäßig. Die Män­ner der Mittel- und Oberschicht hiel­ten sich neben der Familie mit ihrer offizi­ell angetrauten Frau oft noch weitere Fa­milien mit Nebenfrauen aus der Unter­schicht. Die Männer der Unter­schicht hin­gegen durch­liefen mehrere nicht legali­sierte, mono­game Beziehungen, die unio­nes libres. Bei Pro­blemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Fami­lie selbständig ernäh­ren zu können, war es vor der Revolution üb­lich, daß Mädchen ein Handwerk lern­ten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Er­werbstätigkeit wurde als regel­rechter Be­standteil der サHausfrauentätigkeitFehler: Referenz nicht gefundenDen familiären Bezie­hungen und der Ar­beitsteilung zwischen den Geschlechtern in­nerhalb der matrifoka­len Familien ent­spricht ein spezifi­sches Selbstverständ­nis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunft­begabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe krei­sen daher die Dis­kurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwen­den seien, um einen Mann サfestzu­bindenォ Kurz vor ihrer ersten Hoch_zeit erhielt eine mei_ner Cousinen von ihren älteren Tanten folgen_den Rat: サDu mußt dei­nen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh’ ihn aber immer wieder fest an dich heran!Fehler: Referenz nicht gefundenMacht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht ent­kommen. Dabei soll er aber den Ein­druck ha­ben, er wäre völlig frei.ォ
Tatsächlich hofieren die Männer mit Vor­liebe in der Öffent­lichkeit サfremdeeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaf­tigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber pro­jizieren sie die ei­gene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne an­dere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüch­tig und rechtfertigen damit Vorschriften ih­rer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzei­ten.
Strategien gegen “Nur-Hausfrauen”
Die sozialistische Re­gierung setzte der ma­trifokalen Familienor­ganisation das Ideal einer monogamen Klein­familie im Stil des europäischen Bürger­tums entge­gen – mit dem Unterschied, daß Mann und Frau glei­chermaßen in das Ar­beitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditio­nellen Geschlech­terbeziehung auf meh­rere Weisen entgegen. So hat sie die Legali­sierung der サfreienFehler: Referenz nicht gefundenich die Gegenmaßnah­men auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensfor­men von サNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenArbeiterinnenFehler: Referenz nicht gefundenNur-Haus­frauenFehler: Referenz nicht gefundenProblemFehler: Referenz nicht gefundenanachronistische Men­talitätFehler: Referenz nicht gefundenngst die wirtschaft­liche Be­deutung dieser Struktur erkannt hatte.
Gesundheitsversorgung: Penecillin, Kräuter und Weihwasser
Auch im Bereich der Gesundheitsversor­gung ging die Regierung auf die Vorstel­lungen und die Gewohnheiten der サklei­nen LeuteFehler: Referenz nicht gefundene­ziali­stinnen und Speziali­sten gibt, die die Er­kenntnisse der Volks­medizin, der San­tería und der サwestlichen. Diese Art von Kranken­be­handlung war auch in den Zei­ten einer her­vorragend funktionieren­den staatlichen Gesund­heitsversorgung unter den Bewoh­nern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Wider­spruch zu sehen. Sogar das Renommierkranken­haus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizi­nischen Wissen­schaften der USA ausgerichtet und hervorragend aus­gestattet ist, ordne­ten die Leute ihrem eigenen Gesundheits­ver­ständnis unter. Be­zeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation die­ses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der An­sicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rech­nung mit ihrer Heili­gen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der Santería und gehörte damals zu den wenigen Glückli­chen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile be­fürchten zu müssen.
Fast immer sind le­bensbedrohende Krank­heiten der Anlaß, einen religiösen Spe­zialisten aufzusuchen und sich in die Sante­ría einweihen zu las­sen. Jetzt, wo in den staatlichen Kranken­häusern Einweg­spritzen fehlen und die Bett­wäsche selbst mitge­bracht werden muß, wächst der Stolz auf das santería-eigene サGesundheits­systemォ Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur Sante_ría zu bekennen.サDie Partei und die Religion
Lange Zeit wurde die Santería von der so­zialistischen Regie­rung vehement be­kämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mo­bilisieren und als Weltanschau­ungs­system mit dem Sozialismus zu kon­kur­rieren vermag. Sie wurde zwar offizi­ell nicht verboten, doch schloß man Par­tei- und Santería-Mit­gliedschaft gegensei­tig aus. Da die Aus­übung der Santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbe­son­dere für Familienmit­glieder, die in Regie­rungsinstitutionen ar­beiteten, gin­gen die Santeros zwangsweise mit großer Dis­kretion vor. Die Porzellan- oder Terra­kotta-Figu­ren, die Heilige re­präsentieren, die Suppenter­rinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengei­ster, das alles hatte – wie zur Zeiten vor der Revolu­tion, als Santería von der Ober­schicht und der katholischen Kir­che dis­kriminiert wurde – den Charakter des All­täglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unter­scheiden.
In den achtziger Jah­ren änderte die Regie­rung ihre rigide Hal­tung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Mu­sik und die Rituale der Sante­ría durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nut­zen und zugleich deren religiöse Bedeu­tungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Ein­hei­mische erachteten jetzt Santería als we­sentlichen Bestandteil der nationalen Identi­tät der Kubaner. Auch überstand die reli­giöse Integrität der Santeros offenbar un­beschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligen­festen in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclub­publikum dieselben hei­ligen Rhythmen wie bei den サechtenFehler: Referenz nicht gefundenrichtigenォ je_doch – im Gegen_satz zu die_sen – nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die サrichtigenFehler: Referenz nicht gefunden} Besitz er­greifen und direkt zu ihnen spre­chen.
Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mit­gliedschaft von Ange­hörigen der Santería zugelassen. Im Septem­ber 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbe­reiche für die Privatinitia­tive der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerin­nen und -produzen­tinnen im Viertel der tabaque­ros. Dies sind späte Zuge­ständnisse an die サkleinen Leuteォ die nicht nur zwischen サSozialismus oder TodFehler: Referenz nicht gefundenueva bistec – hof­fentlich regnet es Rin­dersteaks.

“Jenseits des Staates? Lateinamerika – Analy­sen und Berichte, Nr. 18 Jahrbuch 1994”, Bad Honnef: Horlemann Ver­lag, Au­gust 1994

Drei zu Zwei

Am 24. April wurde Armando Calderón Sol von der ultrarechten ARENA-Partei in einer Stichwahl ge­gen den Oppositions­kandidaten Rubén Za­mora zum neuen Präsidenten El Salvadors gewählt. Es hatte zwar ge­ringe Verbesse­rungen des Wahl­ablaufs im Vergleich zum ersten Urnen­gang am 20. März ge­geben. Doch nach wie vor waren Hundert­tausende ohne Wahlaus­weis. Das Ergebnis war aller­dings eindeutig: Calderón Sol hatte 68 Prozent, Zamora le­diglich 32 Prozent der Stimmen erhalten. Bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale gratu­lierte Rubén Zamora dem ARENA-Kan­didaten zu seinem Wahlsieg.

Die Vorgeschichte des Streits

Joaquín Villalobos hatte bereits im letzten Sommer die Nominierung des Vorsitzen­den der “Sozialchristlichen Volksbewe­gung” (MPSC), Rubén Za­mora, zum ge­meinsamen Präsident­schaftkandidaten kri­tisiert. Da die MPSC in den 80er Jahren mit der FMLN verbündet war, sei Zamora als Linker verschrien. Da es aber in erster Linie darum gehe, ARENA von der Re­gierung abzulösen, solle die FMLN Abra­ham Rodriguez von der Christde­mokra­tischen Partei (PDC) unterstüt­zen. Nach­dem dieser in den PDC-in­ternen Vor­wah­len jedoch dem PDC-Vorsitzen­den Fidel Chávez Mena un­terlegen war, hatte Villa­lobos keine Alternative mehr anzubieten. Denn Chávez Mena lehnte ein Bündnis mit der ehemaligen Guerilla ab. Das ERP (seit 1992 mit dem neuem Na­men Aus­druck der Volkserneuerung) und die RN (Nationaler Widerstand), un­terlagen dann in der Kandidatenfrage den anderen drei Parteien: FPL (Volksbefreiungskräfte), PCS (Kommunistische Partei) und PRTC (Zentralamerikanische Arbeiterpartei) stimmten für Zamora. Immerhin wurde mit Francisco Lima ein Vizepräsident­schaft­skandidat gekürt, der bis dahin noch nichts mit der linken Opposition zu tun hatte.
Doch die Spaltung in zwei Lager war of­fensichtlich geworden. ERP und RN hat­ten sich in den letzten Jahren im­mer deut­licher von ihren ursprüngli­chen sozialisti­schen Zielen entfernt und forderten für die FMLN eine sozialdemokratische Orientie­rung. Die anderen drei Organisationen woll­ten am Sozialismus zumindest als Fernziel festhalten. ERP und RN fühlten sich benachteiligt, da ihre Position bei eini­gen Entscheidungen in den obersten FMLN-Gremien, die alle paritätisch be­setzt sind, mit drei zu zwei Stimmen über­stimmt wurden.
Bereits in der Wahlnacht des 24. April wurde deutlich, daß die FMLN-Einheit der letzten Monate vor allem dem Wahl­kampf geschuldet war. ERP-Chef Joaquín Villalobos forderte in einer Pressekonfe­renz, daß die FMLN sich jetzt in die poli­tische Mitte bewegen müsse. Außerdem ließ die ERP durch­sickern, daß keine Chancen hatte, die Wahlen zu gewinnen. Klar war, daß ERP und RN sich in Zukunft nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen beu­gen wollten.

Der mißlungene Parlamentsboykott

Nachdem ARENA in der letzten Sit­zung des alten Parlaments die Ge­schäftsordnung geändert hatte, um auch nach den Wahlen die Mehrheit im Par­la­ments­prä­sidium und in den Aus­schüssen zu be­halten, entschied die FMLN – wieder mit drei zu zwei Stimmen – die Präsi­di­ums­wahl für das neue Parla­ment und die Mit­arbeit in den Ausschüs­sen so­lange zu boykottieren, bis diese Rege­lung zurück­genommen würde.
Am Morgen des 1. Mai ließen sich die 21 Abgeordneten der FMLN noch feierlich im Parque Cuscatlán “vom Volk vereidi­gen”. Dort hatten sich we­niger als 1.000 Menschen zur traditio­nellen 1. Mai-De­monstration der Ge­werkschaften versam­melt. Dagoberto Gutierrez, einer der neuen Abgeord­neten, feierte in seiner Rede “die Einheit der Arbeiter und die Einheit der FMLN”.
Mittlerweile hatte ARENA erfahren, daß die Einheit der FMLN nur noch für Sonn­tagsreden taugt und verstän­digte sich mit sieben FMLN-Abgeord­neten von ERP und RN (lediglich der RN-Abgeordnete Eu­genio Chicas hielt sich an den Be­schluß der FMLN) auf einen Kuhhandel: Die sie­ben störten den feierlichen Parla­ments­auftakt nicht durch ihren Boykott und unterstützten die Wahl der ARENA-Abge­ord­neten Gloria Salguero Gross zur Parla­ments­präsidentin. Im Gegenzug un­ter­stützte die ARENA-Fraktion die Wahl von Ana Guadalupe Martínez zur Vize­präsiden­tin und von RN-Chef Eduardo San­cho zum Vorsitzenden des Parlaments­se­kretariats. Der Eklat war da, und Ar­man­do Calderón Sol freute sich: “Diesen 1. Mai wird die FMLN nicht so schnell vergessen.”

“Geht doch wieder in die Berge”

Es kam, was kommen mußte. Die FMLN-Mehrheit war sauer, und Scha­fik Handal von der Kommunistischen Partei, der vor eineinhalb Jahren noch einstimmig zum Koordinator der FMLN gewählt worden war, verkün­dete im Namen der ganzen Par­tei (!), daß die sieben Abgeordneten nicht mehr im Namen der FMLN sprechen dürften. Ana Guadalupe Martínez und Eduardo Sancho sollten im Parlaments­präsidium nicht länger die Interessen der FMLN repräsen­tieren. Die FMLN könne diesen Verstoß gegen die Parteibeschlüsse nicht hinnehmen.
ERP und RN hielten ihr Verhalten hinge­gen für völlig legitim und erklär­ten, “daß sie sich von der FMLN nicht vorschreiben ließen, wie sie sich im Parlament zu ver­halten hätten.”
Joaquín Villalobos heizte die Stimmung noch weiter an und meinte: “Wir sind nicht im Parlament, um uns zu schlagen oder zu beschießen. Wir wer­den unsere Gegner respektieren und wollen eine kon­struktive Opposition ausüben…Wenn je­mand das Gegenteil denkt, wäre es nur konsequent, daß er wieder in die Berge geht.” In diesem Ton ging es von beiden Seiten noch ein paar Tage weiter.
Eher peinlich für ERP und RN war je­doch das Lob, daß sie von Kirio Waldo Salgado erhielten. Waldo Sal­gado ist Leitartikler der rechtsextremen Tageszeitung “El Dia­rio de Hoy”, war lange Zeit klarer Gegner des Friedens­prozesses und gilt als einer der intel­lektuellen Köpfe der Todesschwadro­nen in El Salvador. In ei­nem Kom­mentar am 5. Mai freute er sich über den Streit in der FMLN, lobte ERP und ERP für ihre “Konversion zur So­zialdemokratie” und machte ihnen die Ab­spaltung von der FMLN schmack­haft: “Wenn die Konvertiten von ERP und RN sich vom dogmatischen Fana­tismus der Kommunisten in der Frente entfernen, könnten sie eine Macht­quote im neuen Obersten Gerichtshof (der demnächst neu gewählt wird; die Red.) erhalten und, wer weiß, vielleicht sogar in der neuen Regie­rung von Dr. Armando Calderón Sol.”
Als die FMLN-Mehrheit eine außer­ordentliche Sitzung ihres Nationalrates ein­berief, machten ERP und RN deut­lich, daß sie an dem Treffen nicht teil­nehmen wür­den. PRTC-Chef Fran­cisco Jovel warnte beide Orga­nisationen davor, der Sitzung fernzu­bleiben “Die Kriterien de­mokratischer Organisation und Funtions­weise in der FMLN müssen respektiert werden. Dies heißt, daß wie in jeder Demo­kratie alle Möglichkeiten der Konsens­fin­dung ausgeschöpft werden müssen. Ge­lingt dies nicht, muß jedoch der Wille der Mehr­heit akzeptiert werdfen.” Und Orlan­do Quinteros, frisch­gewählter Vor­sitzen­der der (Mehrheits-) Fraktion der FMLN meinte, ERP und RN wollten nicht an der Sitzung teilnhe­men, “weil sie ein­fach nicht erklären können, weshalb sie die FMLN-Ent­scheidung ab­gelehnt und sich der ARENA-Mehrheit gefügt haben.”
Zusätzlich verschärft wurde die Situa­tion, als die sieben Abgeordneten und Villalo­bos von der “Salvadorianischen Revolu­tionären Front” (FRS) als Ver­räter be­zeichnet und mit dem Tode bedroht wur­den. Die FRS hatte sich im Herbst 1992 erstmals öffentlich gemeldet und das Ver­halten der FMLN-Spitze im Friedenspro­zeß ver­urteilt. Zusammensetzung und Stärke der FRS sind nicht im Detail be­kannt. Angeblich besteht sie aus einigen (ehe­maligen) FMLN-Combatientes. Sie ver­fügt aber auf jeden Fall nicht über einen größeren Rückhalt.
Wie angekündigt erschienen die Vertrete­rInnen nicht zu der außerordentlichen Sit­zung des FMLN-Nationalrats am 9. Mai. In einem Brief an FPL, PCS und PRTC begründeten sie die Politi­schen Kommis­sionen von ERP und RN ihren Schritt da­mit, daß sie an der Ent­scheidung, die Sit­zung einzuberufen, nicht beteilgt gewesen seien. Den sieben Abgeordneten und Joaquín Villalobos (der nicht für das Par­lament kandidiert hatte) wurde nun of­fiziell verboten, im Namen der FMLN auf­zutreten. RN-Chef Eduardo Sancho meinte daraufhin in einer Pressekon­ferenz am Tag nach der Nationalrats­sitzung, “FPL, PCS und PRTC sind noch keine de­mo­kratischen Organisatio­nen.” Außer­dem wür­den ERP und RN “keinerlei Be­schlüs­se des Nationalrats mehr akzeptie­ren.” Die Spal­tung schien perfekt.
Zusätzlich meldete nun die Tendencia Democrática (TD) ihr Interesse an, in die FMLN aufgenommen zu werden. Die TD ist eine Gruppe enttäuschter ERP-Mitglie­der, die sich gegen den sozialdemokrati­schen Kurs und den autoritären Führungs­stil der ERP-Spitze wenden. Einige Mit­glieder dieser Gruppe, die ihren Rückhalt vor allem in der (ehemaligen) ERP-Basis in Usulután, San Miguel und Morazán hat, wurden im letzten Jahr aus dem ERP aus­geschlossen. Viele haben ihr jedoch frei­willig den Rücken gekehrt.

Kein Ausweg in Sicht

Erst langsam schienen alle am Streit Be­teiligten langsam zu bemerken, daß sie nur der Rechten in die Hände spielten. Schadensbegrenzung war angesagt. In der Öffentlichkeit wurde wieder freundlicher miteinander umgegangen und versucht, die Auf­merksamkeit auf andere Themen zu lenken. Die Wogen sind vorüberge­hend wie­der geglättet, doch eine Lö­sung des ei­gentlichen Problems ist nicht in Sicht. Klar ist zunächst ledig­lich, daß die FMLN so wie bisher nicht mehr bestehen bleiben kann. Das historische Projekt der FMLN ist ver­braucht, eine Neudefinition des Ver­hältnisses zwischen den fünf Mit­gliedsorganisationen notwendig.
Bislang ist es auch deshalb noch nicht zur Spaltung gekommen, weil keine Organi­sation auf den Namen der FMLN ver­zichten will. Wer ausschert, hat keinen Anspruch mehr auf den Namen und würde in der Öffentlichkeit als Spalter gelten. Au­ßerdem besitzt nur die FMLN, nicht aber die einzel­nen Mitgliedsorganisatio­nen, einen le­galen Status.
Eine Reorganisierung der FMLN könnte ein der Frente Amplio in Uru­guay ähnli­ches Bündnis ergeben. Alle Mitgliedspar­teien und Organisationen hätten ihre ei­gene politische und ideologische Identität, der Zusam­menschluß würde vor allem für Wahlen gelten. Doch auch in Uruguay ist das Projekt nicht einfach aufrechtzuerhal­ten. In El Salvador wäre Vorbedingung, daß die fünf FMLN-Organisationen in Freund­schaft aus­einandergehen. Doch daß dies gelingt, ist nicht sicher.
Momentan scheint es so, daß die ‘Dreier-Gruppe’ – die aber in sich wesentlich un­terschiedlicher als ERP und RN ist – mehr Interesse an der Aufrechterhaltung der Einheit hat und entgegen aller Unter­schiede weiter an einem gemeinsamen Pro­jekt der Lin­ken festhalten will.
ERP und RN scheinen das gemein­same Pro­jekt eher aufgeben zu wollen. Das ist verständlich, wenn man be­denkt, daß sie mit ihren Positionen oft unterliegen. Au­ßerdem wird es ihnen dann leichter fallen, in die Sozialisti­sche Internationale aufge­nommen zu werden. Nachdem die sozialdemokra­tische MNR bei den Parla­mentswahlen unter einem Prozent blieb, ist noch nicht einmal sicher, daß sie ihren le­galen Parteistatus behalten wird. So oder so muß sich die Sozialistische Internatio­nale neue BündnispartnerIn­nen in El Sal­vador suchen. Am liebsten hätte sie wohl alle drei Parteien – egal ob als Bündnis oder in Form einer neuen Partei.
Vor al­lem Joaquín Villalobos will raus aus der FMLN. Seine eigene Partei hat er nach dem Ausschluß einiger KritikerInnen fest im Griff. Doch er verträgt nicht, daß er in der gesamten FMLN nicht die “Nummer 1” ist. Es wäre gut möglich, daß er als ge­läuterter Sozialdemo­krat bei den näch­sten Wahlen in drei (Parlament) und fünf Jah­ren (Präsidentschaft) mit der PDC ge­meinsame Sache macht und mit einem Bündnis der Mitte antritt. Bereits seit letztem Jahr hofiert er die Christ­demokratische Partei. Und mit Fidel Chá­vez Mena, dem mittlerweile zu­rück­ge­tre­te­nen Vorsitzenden der PDC, war er im ver­gangenen Jahr auf Europa-Rundreise, um Geld für ein gemeinsames Zeitungs­projekt zu sam­meln. Was er aus dem ehe­ma­li­gen Guerillasender “Radio Vence­remos” gemacht hat, steht im fol­genden Artikel…

Bridge of Courage

In dem Buch “Bridge of Courage” wirft die US-Rechtsanwältin Jennifer Harbury einen sehr persönlichen Blick auf das Innere dieses Konflikts, in dessen Mittelpunkt die URNG (Unidad Revolu­cionaria Nacional Guatemalteca) steht. Dabei entsteht ein sachliches, ausdrucks­starkes Porträt eines Krieges, der weit über den Kampf der Mayas hinausgeht. Deshalb wird das Buch zweifellos seinen Platz unter den bemerkenswertesten Bü­chern über den bewaffneten Konflikt im Trikont einnehmen.
Bedauerlicherweise gibt das Buch nur wenig politischen Aufschluß. Es beant­wortet keine der klaffenden Fragen über die guatemaltekische Guerilla: was ist ihre gegenwärtige Strategie, wie sieht ihre der­zeitige militärische Stärke aus oder wieso wurden sie, im Gegesatz zu beispielsweise ihren salvadorianischen KollegInnen der FSLN, Anfang der 80er Jahre beinahe zer­stört, als sie außerstande waren, sich wirk­sam der (Militär-) Regierungskampagne der “Verbrannten Erde” und der Raserei der Todesschwadrone zu widersetzen.
Dafür bietet “Bridge of Courage” aller­dings etwas weitaus Bezwingenderes – eine Sammlung von testimonios der Guerilleros/as.
Diese Selbstporträts reichen vom Kurio­sen (Bericht eines Guerilleros über die Eskapaden eines Eichhörnchens, das seine Truppe adoptiert hatte) über das nachdenkliche Sinnieren Gaspar Iloms, einem der Generalkommandanten der URNG, bis zu den dunkel inspirierenden Sa­gen verschiedener Mitglieder der breiten Masse des Guerillaheeres.
Dies sind tatsächlich Stimmen aus dem tiefen Untergrund einer Guerilla, die An­fang der 80er Jahre am Abgrund der Ver­nichtung entlangwankte und erst nach ei­nigen Jahren wieder erstarkte.
Harbury präsentiert die Lebensberichte als Transkription von Monologen, deren Di­rektheit eloquent, aber auch beunruhigend ist. Das Buch beginnt mit Anita, einer Guerilla-Ärztin: “Hör jetzt auf, sei nicht schüchtern. Ich sehe ja, daß du die Narben in meinem Gesicht anstarrst. Eine große Kugel hat mir vor fast fünf Jahren bei ei­nem Gefecht mit den Militärs mein halbes Kinn weggerissen….Komm, setz dich hin und nimm was von diesem Kaffee und ich erzähl dir die ganze Geschichte.”
Zwei Seiten später beschreibt Anita ganz nüchtern, wie eine Ärztin, mit der sie in Guatemala-Stadt zusammengearbeitet hatte, von den Todesschwadronen der Re­gierung verschleppt wurde. “Ich fand sie schließlich im Leichenschauhaus, wie so viele andere auch. Sie war nackt und böse zugerichtet, ihr Gesicht bläulich von der Strangulation, kleine Schnitte mit der Ra­sierklinge und Zigarettenbrandmale über­säten ihre Arme und Beine.” Ihre Be­schreibung der Leiche fährt noch minu­tenlang fort und wird noch wesentlich grauenhafter, bevor sie dann weitererzählt, wie sie Vollzeit-Guerillera wurde und in die Berge ging.
Der persönliche Ton von “Bridge of Cou­rage” ist nicht verwunderlich – Harbury ist mit dem URNG-Kommandanten Efraín Bamaca Velasquez (“Everardo”) verhei­ratet, den sie während ihrer Materialre­cherche 1991 kennenlernte. Bamaca ver­schwand im Mai 1992 während eines Ge­fechts und wird Zeugenaussagen zufolge in wechselnden geheimen Militärgefäng­nissen festgehalten und gefoltert.
Auf diesem Hintergrund ist ebensowenig verwunderlich, daß das Buch idealistisch, aber überwältigend traurig ist. Für die Re­bellInnen hören die Opfer nie auf. In ei­nem anderen Kapitel des Buches über ihre Zeit als Guerillera im Landesinneren, be­schreibt Anita, wie sie in einem Militär­hinterhalt verletzt wurde und dann, mit ih­rem zerfetzten Kinn, zehn Tage durch die Berge taumeln mußte und dabei noch half, andere verwundete GefährtInnen zu tra­gen, um in Sicherheit zu gelangen. Schließlich wurde sie in ein Sicherheits­haus (d.h. ein geheimes Haus der URNG) gebracht, wo sie auch operiert wurde.
Aber der Alptraum endete noch nicht dort: Das sichere Haus wurde vom Militär ent­deckt, und Anita schaffte es gerade eben noch auf die Straße und in eine Bar zu entkommen, wo sie, in eine dunkle Ecke gekauert, in einer Liveübertragung im Fernsehen sah, wie das Sicherheitshaus von Armeekugeln durchsiebt und bis auf die Grundmauern abgebrannt wurde.
Während Anita beschreibt, wie sie in jener Nacht durch die Straßen irrte, auf der Su­che nach einem neuen Zufluchtsort, stößt sie eine kräftige und traurige Klage aus, die nicht nur für die URNG zutrifft, son­dern für all diejenigen, die versuchen, das Übel herauszureißen, das so fest in Gua­temala verankert ist: ” Das ist schwer, so schwer zu erzählen. All diese wunderba­ren Menschen in dem Haus, ich bin die einzige Überlebende…Der schlimmste Schmerz für mich ist zu denken, daß sie vielleicht eines Tages vergessen wer­den…Weiß irgendwer, wieviel diese Men­schen für ihr Heimatland gegeben haben?”
Jennifer Harbury widmet derzeit ihre ganze Kraft dem Bemühen, die Freilas­sung ihres Mannes zu erreichen. Unge­achtet ihrer Anstrengungen ist es ihr bis­lang nicht gelungen seinen Aufenthaltsort zu erfahren und ob er überhaupt noch lebt.
Wo ist Everardo?

Jennifer Harbury: Bridge of Courage, Common Courage Press, P.O.Box 702, Monroe ME 04951, 265 Seiten, 14.95 US-$

Die Jahrhundertwahlfarce

“ARENA hat die absolute Mehrheit ver­fehlt. Damit haben wir einen klaren Sieg bei den heutigen Wahlen errun­gen.” Als Rubén Zamora, Präsident­schaftskandidat des linken Oppositi­onsbündnisses aus der ehemaligen Guerilla FMLN und den bei­den klei­nen Parteien Demokratische Kon­vergenz (CD) und National-Revolutio­näre-Bewegung (MNR) in der Wahl­nacht des 20. März gegen 22 Uhr vor die Presse tritt, sind ihm nicht nur die Strapazen des Wahlmarathons anzumer­ken. Auch seine optimistische Einschät­zung des Wahler­gebnisses wirkt vor der versammelten Journa­listInnenschar ge­zwungen. Zumal sich zu diesem Zeit­punkt, als vor allem Einzelergebnisse aus der Hauptstadt San Salvador vorlagen, noch eine ab­solute Mehrheit für den rechtsextre­men ARENA-Kandidaten Ar­mando Calderón Sol abzuzeichnen schien.
Über­zeugender wirkte da schon Za­moras Kritik an den vielen “Unregelmäßig­keiten”, die es bei der Vorbereitung der Wahlen und am Wahltag selbst gegeben hatte (und die sich bei der Auszählung der Stimmen in den nächsten Tagen noch fort­setzen sollten). Unterstützt von den Mitglie­dern der ehemaligen General­kommandantur der FMLN, de­monstrativ hinter Zamora postiert, rief er die Wahl­helferInnen der Oppo­sitionskoalition dazu auf, bei der Aus­zählung in den Wahllo­kalen weitere Betrugsmanöver zu verhin­dern: “Wir wer­den mit friedlichen Mitteln um jede Stim­me kämpfen.”
In der Wahlnacht war noch unklar, ob es überhaupt einen zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen geben würde, dann dauerte es fast drei Wo­chen, bis für die Präsidentschafts-, Parlaments- und Gemeindewahlen ein offizielles Ender­gebnis feststand. Eigentlich als Jahrhun­dertwahlen ge­plant, geriet der Wahlgang vom 20. März zunehmend zur Jahrhun­dertwahlfarce. Hauptverantortlicher des skandalösen Ablaufes der ersten Wah­len nach dem Friedens­schluß zwischen Regie­rung und FMLN vor zwei Jahren ist der von den rechten Parteien dominierte Oberste Wahlrat (TSE).

Die wichtigsten Ergebnisse

Nachdem ARENA-Rechtsaußen Calderón Sol am 20. März bereits über 49 Prozent der Stimmen erreicht hat, ist nicht mehr zu erwarten, daß ihm die Präsidentschaft noch streitig ge­macht werden kann. Weit abgeschlagen landete Zamora mit 24,9 Prozent auf dem zweiten Platz. Die ChristdemokratInnen, die mit Napoleón Duarte bis 1989 noch den Präsidenten ge­stellt hatten, erzielten mit ihrem Kandida­ten Fidel Chávez Mena lediglich 16 Pro­zent. Entgegen der Absprache mit der FMLN/CD/MNR-Koalition rief die PDC-Führung ihre AnhängerInnen im zweiten Wahl­gang nicht zur Wahl von Zamora auf.
Bei der Sitzverteilung im Parlament sieht das Panorama etwas besser aus. Hier hat ARENA 44 Prozent und damit 39 Sitze erzielt. Doch die rechtsextreme PCN, de­ren Militärkan­didaten in den 60er und 70er Jahren sämt­liche Präsidenten stellten, konnte lediglich vier Mandate erringen. Damit haben die beiden rechten Parteien nur eine denkbar knappe Mehrheit von 43 der 84 Parla­mentssitze.
Die linke Opposition trat bei den Parla­mentswahlen – genauso wie bei den Ge­meindewahlen – getrennt an. Die FMLN erreichte mit fast 22 Prozent der Stimmen auf Anhieb 21 Sitze und ist damit auch im Parlament in Zukunft die größte Kraft der Opposition. Die Demokratische Konver­genz konnte nicht davon profitieren, daß ihr Vorsitzender Rubén Zamora Präsident­schaftskandidat der Oppositionskoalition war. Sie blieb unter fünf Prozent der Stimmen. Nachdem sie auch noch ihre Landesliste (64 Abgeordnete wurden auf Provinzlisten, 20 Abgeordnete auf einer landesweiten Liste gewählt) nicht recht­zeitig eingereicht hatte, verlor sie im Ver­gleich zu den letzten Wahlen acht ihrer neun Parlamentssitze. Die sozialdemokra­tische MNR blieb unter einem Prozent und wird im Parlament nicht mehr vertre­ten sein.
Der Niedergang der Christdemokratischen Partei, die heillos zerstritten ist und der noch immer die Korruptionsskandale aus ihrer Regierungszeit in den 80er Jahren anhaften, setzte sich weiter fort. Sie er­reichte nur noch 18 Parlamentssitze. Der einzige Abgeordnete der evangelikalen “Bewegung der Einheit” (Movimiento de Unidad – MU) wird wahrscheinlich mit der Opposition stimmen. Die MU kam auf 2,4 Prozent, die andere erst­mals bei Wah­len angetretene evangelikale Partei, die “Bewegung der Nationalen So­lidarität” (MSN), blieb unter einem Pro­zent und verlor deshalb ihren legalen Sta­tus als Partei. Nachdem mittlerweile 20 Prozent der Bevölkerung evangelikalen Sekten und Kirchen angehören, war mit einem höheren Ergebnis für die MU und vor al­lem für die MSN gerechnet worden.

ARENA-Durchmarsch bei den Gemeindewahlen

Bei den Gemeindewahlen reichte eine re­lative Stimmenmehrheit aus. Deswegen konnte ARENA, die landesweit ein sehr ausgegli­chenes Ergebnis erzielte, 207 der 262 BürgermeisterInnenposten erringen. Doch für die Opposition fiel das Ergebnis kata­strophal aus. Die FMLN erreichte in le­diglich 15 Gemeinden die Mehrheit. Diese liegen hauptsächlich in den ehemals kon­trollierten Zonen von Morazán und Cha­latenango. Immerhin konnte sie so sym­bolisch wichtige Gemeinden wie Per­quín, Arcatao und San José Las Flores gewin­nen. Doch außerhalb ihrer traditio­nellen Hochburgen (in der sie längst nicht alle Gemeinden gewann), wird sie nur in eini­gen wenigen Gemeinden (u.a. Suchi­toto und Nejapa) regieren. Dabei war ein Grundpfeiler der FMLN-Strategie, insbe­sondere von den Kommunen aus in den nächsten Jahren eine Gegenmacht von unten aufzubauen. Selbst in zurückhalten­den Schätzungen ging die FMLN davon aus, in mindestens 40 Gemeinden zu ge­winnen. Schmerzlich ist dabei auch, daß sie in keiner der Gemeinden des Armen­gürtels um die Hauptstadt wie Mejicanos, Soyapango oder Ciudad Delgado gewann. Während der Großoffensive im November 1989 hatte sie dort eine hohe Unterstüt­zung erfahren. In San Salvador profitierte der allgemein als schwach angesehene ARENA-Kandidat Mario Valiente von der hohen Stimmenzahl bei den Präsident­schaftswahlen für Calderón Sol und ge­wann mit 44 Prozent klar vor dem FMLN-Kandidaten Schafik Handal, der auf 21 Prozent kam.

Technischer Wahlbetrug

Auch wenn es keinen Urnenklau und an­deren “offensichtlichen” Betrug wie noch in den 70er Jahren gegeben hat, waren die Unregelmäßigkeiten doch so gravierend, daß von einem “technischen Wahlbetrug” ge­sprochen werden muß. Lediglich bei den Präsidentschaftswahlen ist das Ergeb­nis so deutlich ausgefallen, daß Calderón Sol höchstwahrscheinlich auch bei saube­ren Wahlen gewonnen hätte. Im Parlament und in den Gemeinden sähe die Situation ohne den fraude técnico jedoch ganz an­ders aus. In vielen Gemeinden haben die ARENA-Kandidaten mit einem äußerst geringen Vorsprung gewonnen, manchmal nur durch wenige Stimmen. Und in den wenigen Gemeinden, in denen die Wahl­beteiligung sehr hoch war, konnte die FMLN oft sehr gute Ergebnisse erzielen. Im Landesdurchschnitt nahmen nur circa 53 Prozent der Stimmberechtigten an den Wahlen teil. In Cinquera im Department Cabañas erreichte die FMLN bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent 55 Pro­zent der Stimmen, und in El Rosario in Morazán kam sie bei 78 Prozent Wahlteil­nahme auf eine relative Mehrheit von 33 Prozent.
Diese Teilergebnisse sind deutliche Indi­zien dafür, daß die FMLN (und die ande­ren Oppositionsparteien) bei einer höheren Wahlbeteiligung um einiges besser abge­schnitten hätte. Insbesondere auf dem Land – und dort vor allem in den ehemali­gen Konfliktgebieten – warten viele Men­schen bis heute vergeblich auf ihren Wahlausweis (der im übrigen ab dem 1. Mai zusätzlich zum Personalausweis ein obligatorisches Dokument ist, um bei­spielsweise Geschäftsabschlüsse zu täti­gen oder um Anträge bei Behörden zu stellen).
Mindestens 350.000 Menschen waren erst gar nicht in die Wählerverzeichnisse auf­genommen worden beziehungsweise hat­ten keinen Ausweis erhalten, obwohl sie im Verzeichnis waren. Der Oberste Wahl­rat (TSE) hatte seit dem letzten Jahr auf vielfältige Weise den Einschreibungspro­zeß behindert. Die USA hatten deswegen sogar vorübergehend ihre Hilfe an El Sal­vador eingestellt. Aber auch am Wahltag selbst durften viele Menschen nicht wäh­len, obwohl sie einen Ausweis hatten. Al­lein aus Guarjila, einer Rücksiedlung in Chalatenango, sind mindestens 15 Fälle bekannt, in denen die dort fast geschlos­sen in der FMLN organisierten Bewohne­rInnen noch zwei Wochen vor den Wah­len im Verzeichnis standen, ihre Namen am Wahltag jedoch nicht mehr aufzufin­den waren. Die UN-BeobachterInnenmis­sion ONUSAL erklärte, daß rund 25.000 Menschen auf diese Art vom Urnengang ausgeschlossen wurden. In fast der Hälfte der Wahllokale sei es zu “Unregel­mäßig­keiten” gekommen”, die jedoch nur in wenigen Fällen schwerwie­gend gewesen seien.
Dabei tauchten ver­einzelt Urnen mit über 600 Stimmen auf, obwohl an keiner Urne mehr als 400 WählerInnen in den Listen standen. Ob­wohl die Wahllokale teilweise mit mehre­ren Stunden Verspätung geöff­net worden waren, wurden Tausende WählerInnen bei der Schließung der Wahllokale um Punkt 17 Uhr abgewiesen. Die Wahlprozedur zog sich so langsam hin, daß während der ersten fünf Stunden nur ein Viertel der re­gistrierten WählerIn­nen ihre Stimme ab­geben konnte. In vielen Fällen gaben die Menschen nach zweistündigem vergebli­chen Warten in der sengenden Sonne auf und gingen nach Hause.

Vorzeitige Absolution durch die Vereinten Nationen

All dies läßt vermuten, daß die ONUSAL-Zahlen viel zu niedrig angesetzt sind. Nach anderen Schätzungen durften 10-15 Prozent der WählerInnen nicht wählen. Doch ONUSAL-Missionschef Ramiro Ocampo hatte bereits am Tag nach den Wahlen erklärt, die Wahlen seien trotz der Unregelmäßigkeiten “akzeptabel”. Da vor allem auch die Christ­demokraten bereits signalisiert hatten, daß sie das Wahlergeb­nis akzeptieren würden, war es der Oppo­sitionskoalition aus FMLN, CD und MNR unmöglich, die Wahlen nicht zu akzeptie­ren und auf die Repräsentanz im Parla­ment zu verzichten. Eine Anfechtung der Wahl wäre nur mit einem geschlossenen Vorgehen der ge­samten Opposition mög­lich gewesen. Die FMLN hat die Wahlen in 65 Gemeinden angefochten, der TSE hat die Einwendun­gen jedoch in sämtli­chen Fällen zurück­gewiesen. ONUSAL und TSE beeilten sich denn auch zu versi­chern, daß sie die Probleme des ersten bis zum zweiten Wahlgang beheben würden. In den letzten Tagen vor der zweiten Runde gingen noch Gerüchte um, daß die Oppositionskoali­tion die Stichwahl boy­kottieren würde.
Die Vereinten Nationen, darauf fixiert, El Salvador als erfolgreiches Beispiel ihrer Arbeit darzustellen, haben sich zum wie­derholten Mal in diplomatische Zurück­haltung geflüchtet, statt Druck auf Regie­rung und TSE zu entwickeln. Denn daß der TSE nichts von alleine ändern würde, war abzusehen. So wurden bis zur Stich­wahl lediglich 20.000 zusätzliche Wahl­ausweise ausgestellt. Auch Rafael López Pintor, Chef der Wahlabteilung von ONUSAL, befand die Änderungen für “unzureichend”.

Viele wollen zurück in die Berge

Die vielen Hürden, die aufgebaut wurden, damit möglichst wenig Menschen, erst­mals an den Wahlen teilnehmen können, reichen allein jedoch nicht aus, um die niedrige Wahlbeteiligung und den Sieg von ARENA zu erklären. Der Opposition ist es nicht gelungen, einen bedeutenden Anteil der traditionellen NichtwählerInnen für sich zu mobilisieren. Die Zahl der WählerInnen ist im Vergleich zu den letzten Wahlgängen nur unwesentlich ge­stiegen, obwohl die FMLN diesmal selbst bei den Wahlen antrat und nicht mehr, wie bei früheren Wahlgängen, zum Boykott aufgerufen hat. Die Stimmen für die FMLN sind in erster Linie auf Verluste der Christdemokraten und der Demokrati­schen Konvergenz zurückzuführen. ARENA konnte die eigene Stimmenzahl sogar noch steigern. Über eine halbe Mil­lion SalvadoriannerInnen haben erneut der Rechten ihre Stimmen gegeben. Der FMLN und den anderen Oppositionspar­teien ist es nicht gelungen, sich diesen WählerInnen als glaubwürdige Alternative zu präsentieren. Natürlich hatte ARENA wesentlich mehr Geld zur Verfügung und hat dieses Geld im Wahlkampf geschickt eingesetzt. Offensichtlich hat die Partei den Regierungsapparat für Wahlkampf­zwecke mißbraucht.
Vor allem aber ist festzustellen, daß sich Hunderttausende von SalvadorianerInnen nicht für Politik interessieren . (Daß dies bei uns ge­nauso ist, tut nichts zur Sache. Immerhin gab es vor wenig mehr als einem Jahr­zehnt ein hohes Maß an politi­scher Mobi­lisierung in El Salvador. Und wenn 1979 oder 1980 die Regierung von unten ge­stürzt worden wäre, dann wäre es tatsäch­lich durch eine “Massenbewegung” ge­schehen.) Will die FMLN aber eines Ta­ges die Regierungsmacht erringen, muß sie dieses Problem lösen. Viel wird davon abhängen, ob die FMLN-Führung den Kontakt zur eigenen Basis, vor allem auf dem Land, weiter verlieren wird. Denn die Unzufriedenheit der Basis ist in allen Or­ganisationen groß. Der Friedensprozeß kommt nur schleppend voran, die Land­verteilung stagniert, Kredite bleiben aus, und die soziale Lage der KämpferIn­nen ist oft schlechter als während des Krieges. Zusätzlich fühlen sich die Leute von ihren Comandantes im Stich gelassen, die sie meist nur noch im Fernsehen zu Gesicht bekommen. Gerüchte – teils wahr, teils unwahr – über den neuen plötzlichen Wohlstand der Führung gedeihen in die­sem Klima besonders gut. Die Unzufrie­denheit wächst mit jedem Tag. Nicht we­nige wünschen sich, in die Berge zurück­zukehren und den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.

Kasten:

“Ein unbeschreibliches Chaos”

Julie Scheer, Mitarbeiterin des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerech­tigkeit in München, arbeitete in den letzten Monaten im Wahlkoordinations­büro des Na­tionalen Kirchenrates (CNI) von El Salvador. Am 20. März war sie Wahlbeobachte­rin im “Instituto Arce, Escuela de Brasil”, einem der zentralen Wahlorte der Hauptstadt San Salvador. In ihrem Augenzeugenbericht, den sie unmittelbar nach den Wahlen anfertigte, berichtet sie über eine Vielzahl von Verstößen gegen das Wahlgesetz.

Um Punkt sechs Uhr wurden die Wahlhelfe­rInnen und 18 VertreterInnen der neun teil­nehmenden Parteien, je zwei mit den Emblemen ihrer Parteien, einge­lassen. Um sieben Uhr hätten die Wahllo­kale geöffnet werden sollen, die Vorbe­reitungen verzö­gerten dies aber bis 8.15 Uhr. Tausende warteten schon seit Stunden. Als die Türen geöffnet werden sollten, kam es zum völligen Chaos. Es war unmöglich, die vorgese­henen Abstände zwischen den oft nur Zentimeter voneinander entfernten “Wahltischen” einzuhalten. Die Wahllisten wurden ir­gendwo hinter der Wahlkabine aufge­hängt, so daß die Wählenden erheblich behin­dert wurden, weil Andere vor­beidrängten, um auf der ent­sprechenden Liste ihren Namen zu suchen. Zwischen den Urnen und den Wahlhelfe­rInnen am Wahltisch drängten sich die Leute in der Warte­schlange, so daß diese gar nicht se­hen konnten, ob die Wahlzettel eingewor­fen wurden. Die Schlange der Wartenden blockierte den ganzen Hof. Der Durchgang war gerade fünf Me­ter breit, und just hier hingen die Gesamt­register für das Wahlzentrum. Hier also hätten die Leute eigentlich feststellen müssen, an welcher Urne sie sich anstel­len müßten. Dort – an der Urne – mußten sie ihre Namen in einem weiteren Re­gister suchen.
Am Eingang war nicht zu erkennen, in welcher der bei­den Schulen man/frau regi­striert war. Wir versuchten dem durch Zettel, die wir auf­hängten, abzuhelfen. Unsere Aufgabe war, den Leuten zu helfen. Schon die dritte Per­son, die ich suchte, war in den Listen nicht vorhanden. Drei anderen Wahlhelfe­rInnen ging es genauso. Ich habe zehn solcher Fälle dokumentiert, darunter von Leuten, die schon lange einen Wahlausweis besit­zen, mit dem sie auch schon gewählt hat­ten. Es gab den Fall eines Mannes, des­sen Name nicht auftauchte, der aber seinen 1973 verstorbenen Vater und seinen 1992 verstorbe­nen Bruder auf der Liste ent­deckte. Manche Leute standen nur auf der Liste ihrer Urne, nicht aber im Gesamtre­gister, oder die Nummer ihres Wahlaus­weises stimmte nicht mit ihrer Nummer im Register über­ein. In all diesen Fällen konnten die Leute nicht wählen. Die Wahlkabinen waren in den Lokalen zu 80 Prozent so aufge­stellt, daß sie ohne Pro­bleme eingesehen werden konnten. Sogar der Vertreter von ONUSAL an unserem Hauptstützpunkt meinte daher, daß von einer geheimen Wahl nicht die Rede sein könne.
ARENA hatte wesentlich mehr Beobach­ter in den Lokalen als zulässig (die opti­sche Wirkung war überwältigend), ver­teilte Fähnchen und anderen Klimbim vor den Zen­tren. Im Instituto Brasil brachten sie unentwegt Parteiaufkleber an den Ur­nen an., was zu größeren Turbulenzen führte. Wahlpropaganda im Lokal ist ver­boten, davon abge­sehen war jede Art von Wahl­kampf seit dem 16.3 untersagt. An einer Urne wurde eine solche Turbulenz offen­bar dazu genutzt, neun Wahlzettel zu stehlen. Um 17.30 Uhr begann die Aus­zählung, bei der wir dabei sein konnten. Es gab nicht die erwarteten Hakeleien darüber, ob die Stimmen nun gültig seien oder nicht.

Niederlage im Frieden

Regierungsbeteiligung als Knackpunkt

Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittel­bar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kom­mentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditio­nellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die Wäh­lerInnnen der AD-M19 ent­täuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die tradi­tionellen Parteien zu sein ver­sprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltun­gen erpicht sind. Die Altpar­teien, die Li­berale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquen­wirtschaft und Kor­ruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regie­rungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahr­zehnten polarisierten Land einen Friedens­prozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Se­nator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidie­ren und zu beweisen, daß friedliches Zu­sammenleben möglich ist.” Er selbst er­hielt – aus der Guerilla in seine Heimat­stadt Cali zurückgekehrt – mehrere Mo­nate lang täglich mehrfach Mord­drohungen. Die Partei wollte bewei­sen, daß auch andere Kräfte das Land re­gieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “gei­sti­gen Entwaffnung” des Landes im Inte­resse des Friedens.

Fehlendes Profil

Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpie­rung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeits­ver­lustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vor­würfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Mini­ster seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfas­sungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Ge­sundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letz­ten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Man­gel an einem klaren Profil aus: “Das Pro­blem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar ma­chen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der So­zialversicherung (mit Renten- und Kran­kenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Ge­genstand der öffentlichen und parlamenta­rischen Debatte war. “In dieser sehr wich­tigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentanten­hauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteili­gung gerade an diesem wichtigen sozial­politischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lö­sungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozial­versicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen kon­struktiv daran mitgearbeitet.”

Viele Listen, wenig Stimmen

Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konn­ten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichti­gung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen ge­wannen mit 30.000 Stimmen einen siche­ren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im gan­zen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altpar­teien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewin­nen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blie­ben jedoch auch dann die deutlichen Stim­menverluste von 700.000 auf 150.000.

Zu viel persönlicher Ehrgeiz…

Die Vielzahl der Listen hat mit einer Aus­einandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandi­dieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur er­neuten Kandidatur auf­gefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu in­teressant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Le­bensunterhalt im informellen Sektor ver­dienen muß.

…und zu wenig Disziplin

Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitver­breiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander an­gewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Diszi­plin bei den ParlamentarierInnen ge­herrscht. “Im Parlament gab es keine Lei­tung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Anse­hen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individuali­sierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Viel­falt bezeichnet, allerdings für unvermeid­lich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierIn­nen unabhängige Parteistruktur aufzu­bauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Ver­fügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentra­tion auf die Arbeit im Parlament. “Wir ha­ben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Füh­rung und dem normalen Bürger geschaf­fen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirt­schaftskonzepte, die einseitige wirtschaft­liche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öff­nung für Importe hat die einheimische In­dustrie und Landwirtschaft einem Wett­bewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fort­setzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Ent­wicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.

Die Liberalen – die großen Sieger

Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherr­schen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Sam­per, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Ko­lumbiens sein wird. Er verspricht den Kolumbiane­rInnen einen sozialen Kapita­lismus, setzt auf die menschliche Arbeits­kraft und will eineinhalb Millionen Ar­beitsplätze schaf­fen. Der Staat soll wieder stärker eine so­ziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neolibera­lismus, wie In­ternationalisierung oder Privatisierung ne­giert, sondern nur einige Korrekturen vor­nehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozia­len Kapitalismus vielen KolumbianerIn­nen attraktiver er­scheint, als die Kritik an der wirtschaftli­chen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.

Trübe Aussichten

Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zu­gang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinan­derzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewe­gungen, die sich in Kolumbien als soge­nannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den tra­ditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Libe­ralen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschie­denen Flügeln, die teilweise auch fort­schrittlichere Positionen vertreten und Re­formkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Ba­sis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der ein­fachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Auf­bau einer funktionierenden Parteiorgani­sation. Notwendig sei ferner eine von al­len bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lo­kaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”

Rückfall in den “bipartidismo”

Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteili­gung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.

Sicherheitskräfte außer Kontrolle

Daß auch die neue Verfassung von 1991,in der einige wichtige Punkte zur Einhaltung der Menschenrechte festgelegt sind,keine großen Veränderungen bewirkte,beweist die unverminderte Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer werden im Zuge von “sozialen Säuberungen” getötet, die meist von Todesschwadronen ausgeführt werden und sich gegen “sozial unerwünschte” Personen wie Homosexuelle, Prostituierte oder Straßenkinder richten.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich die Todesschwadronen überwiegend aus”Sicherheitskräften” zusammensetzen,wobei ungewiß ist, ob bei den “sozialen Säuberungen” ebenso auf Befehl gehandelt wird, wie es im Kampf gegen dieGuerilla der Fall ist. Allerdings ist bekannt, daß die Todesschwadronen Unterstützung von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten erhalten.
Aber nicht nur Menschen, die nicht in das soziale Wunschbild einiger Personen passen, sind in Kolumbien ernsthaft gefährdet. Auch MenschenrechtsaktivistInnensind massiven Drohungen ausgesetzt. Den
Menschenrechtsorganisationen werden Kontakte zu den Guerillas nachgesagt, weshalb bereits viele Mitglieder solcher Organisationen von Militärs oder paramilitärischen Gruppierungen ermordet wurden oder spurlos “verschwanden”.

Wer Kritik übt, ist ein Terrorist

Im Kampf gegen Drogenmafia und Aufständische haben Polizei und Militär eine weite Spanne an Handlungsmöglichkeiten. Anti-Terrorismus-Gesetze, die verschärfte Strafbestimmungen beinhalten, garantieren eine große Freiheit im Umgang mit “TerroristInnen”. Der Begriff “Terrorist” kann sehr willkürlich gedeutet werden,
und häufig fallen Personen, die lediglich Kritik an der Regierung üben, in diese Kategorie. Außerdem werden Angehörige von Gewerkschaften oder BewohnerInnen kleiner Dörfer beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen, weshalb auch sie vor Verhaftung, Folter und dem “Verschwinden- lassen” nicht geschützt sind. Für brutale Mißhandlungen sind auch die “Mobilen Brigaden” bekannt, Sondereinheiten der Armee zur Aufstandsbekämpfung.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, liefern sich Armee und Polizei Gefechte mit angeblichen Guerilleros. Dabei getötete ZivilistInnen werden meist als “im Kampf gefallene Guerilleros” bezeichnet, oder es wird behauptet, sie seien während des Schußwechsels zwischen die Fronten geraten. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Massaker an ZivilistInnen nachträglich der Guerilla, wie beispielsweise der FARC, oder der Drogenmafia, zugeschrieben wurden.
Die Armee bedient sich brutaler Foltermethoden, um von Kleinbauern, die sie der Mithilfe bei der Guerilla verdächtigt, Informationen über Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten. Jene Bauern, die keine Informationen geben können, werden kurzerhand dazu verpflichtet, der Armee als Träger oder Wegweiser zu dienen. Wer sich weigert, muß damit rechnen, er- mordet, gefoltert oder verschleppt zu werden.
Obwohl es bei den meisten politisch motivierten Verbrechen viele Indizien, häufig sogar klare Beweise für die Schuld von Polizei oder Militär gibt, bleiben ausreichende Nachforschungen nach den Tätern meist aus. Auch wenn die Namen der Verantwortlichen bekannt sind, kommt es in den wenigsten Fällen zu Urteilen, was dann mit der “mangelnden Beweislage” begründet wird. Eine der wenigen Aus- nahmen ist der Fall des Oberstleutnant Luis Felipe Becerra Bohórquez, der 1993 aus dem Dienst der Armee entlassen wurde, nachdem ihm die Verantwortung für ein Massaker nachgewiesen wurde, bei dem ZivilistInnen ums Leben gekommen waren. Im Zuge von Aufstandsbekämpfungsmaßnahrnen hatten Truppen des Bataillons Palacé, dessen Kommandeur Becerra war, im Oktober 1993 das Dorf Alto de la Loma umstellt. Bei einer Razzia im Haus der Familie Ladino wurden mehre Personen geschlagen, junge Frauen vergewaltigt und daraufhin sieben Familienmitglieder erschossen. Auch die Nachbarn der Ladinos verloren bei diesem Übergriff fünf Familienmitglieder.
Doch dies war nicht das erste Mal, daß Becerra an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Bereits zuvor war er in einige Massaker verwickelt gewesen, hatte aber nie Konsequenzen ziehen müssen -im Gegenteil: Nachdem er 1991 vom Gericht für ein anderes Massaker zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wurde der Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt. 1992 wurde Becerra, nachdem das Verfahren auf die Militärjustiz übergegangen war, sogar zum Leiter der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Armee ernannt. Im April 1993 kam der Generalstaatsanwalt zu dem Schluß, daß die Beweise für einen Antrag auf Dienstentlassung nicht genügten. Erst als Becerra im Oktober 1993 erneut ein Blutbad angerichtet hatte, wurde er dafür zur Rechenschaft gezogen, jedoch lediglich vom Dienst suspendiert.

Regierung gesteht Menschenrechtsprobleme ein

1992 wurden vom Generalstaatsanwalt neue Zahlen über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Ihm lagen 2618 Beschwerden sowie Berichte über 3099 Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor. Der größte Teil dieser Beschwerden richtete sich gegen die Nationalpolizei, aber auch der Armee wurden einige Mißhandlungen angelastet, überwiegend die besonders schweren Delikte, wie Massaker und “Verschwindenlassen”.
Präsident Gavina und andere führende Politiker leugnen zwar nicht die von den “Sicherheitskräften” begangenen Menschenrechtsverletzungen und erkennen das Problem der Straflosigkeit durchaus an. Doch zeigen sie keine ernsthaften Bemühungen, Grundlagen für eine bessere Kontrolle der “Sicherheitskräfte” und Möglichkeiten zur härteren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Sie begründen dies mit Mängeln im Justizwesen, wie zum Beispiel fehlenden Finanzmitteln oder unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten. Der Generalstaatsanwalt nennt allerdings noch einige andere Gründe dafür, warum Nachforschungen auf diesem Gebiet nur sehr schleppend vorangehen. Ein Grund sei, daß viele Vergehen in ländlichen Gegenden begangen werden, wo sich die Sicherung von Beweismitteln recht schwer gestaltet. Darüber hinaus stellen auch die armeeinternen Strukturen ein Problem dar. Befehle ohne rechtliche Grundlage werden nicht schriftlich festgehalten, werden aber wegen des Befehlsgehorsams und aufgrund von Beförderungschancen ausgeführt. Der Korpsgeist, der innerhalb der Streitkräfte herrscht, verhindert eine Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Zudem wird bei Ermittlungen im Normalfall den Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten Glauben geschenkt, im Gegensatz zu den Aussagen der Zeuginnen, die nicht nur als nicht glaubhaft an- gesehen werden. Im Gegenteil: Aussage- willigen drohen massive Repressalien. Auch die Ermittlungsbeamten werden häufig eingeschüchtert. Einige wurden sogar ermordet.
Von seiten der Militärbefehlshaber wird versucht, Verfahren zu verzögern oder gar vollständig einstellen zu lassen, indem sie keine Namen von Angehörigen der Streitkräfte weitergeben, versuchen, Beweismaterial zu manipulieren, beziehungsweise zu vernichten oder Haftbefehle nicht vollstrecken. Häufig werden auch Armeeoffiziere, gegen die ein Verfahren anhängig ist, befördert oder in andere Gegenden versetzt, damit sie in einen anderen Gerichtszuständigkeitsbereich kommen. Wenn es allerdings doch einmal zu einem Verfahren kommt, meldet die Militärjustiz sofort ihre Zuständigkeit an. Damit ist ein Freispruch der Angeklagten so gut wie gewiß, es sei denn, ein Fall erlangt so viel Publizität, daß ein angemessenes Urteil aufgrund des öffentlichen Drucks nicht ausbleiben darf. Die Möglichkeit des Militärgerichts, Verfahren gegen Mitglieder der “Sicherheitskräfte” selber zu übernehmen, blieb 1991 trotz Änderung der Verfassung weiterhin bestehen.
In seltenen Fällen werden Verurteilungen ausgesprochen, die sich dann allerdings meist gegen rangniedrigere Mitglieder der Sicherheitskräfte richten, da es sehr schwierig ist, die für die Befehle verantwortlichen Vorgesetzten ausfindig zu machen, auch wenn eindeutig belastende Aussagen von Untergebenen vorliegen. Beispielsweise wurden 1992 gegen 191 Angehörige der Streitkräfte und gegen 512 Beamte der Nationalpolizei Disziplinarverfahren eingeleitet. 403 davon zogen Schuldsprüche und Sanktionen nach sich (in 373 Fällen gegen die Nationalpolizei und 31 gegen die Streitkräfte). Es gab aber nur wenige Dienstentlassungen. Meist handelte es sich um geringe Geldstrafen oder zeitlich befristete Dienstsuspendierungen.

Militärjustiz deckt Täter

Objektive Ermittlungen und Urteilssprüche werden vom Militärgericht selten gewährleistet, was nur mit politischen Beweggründen zu erklären ist, da oft genug Urteile gegen Soldaten ausgesprochen werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung stehen.
Auf formaler Ebene wurden in den letzten Jahren durchaus Maßnahmen getroffen, um die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. So wurde zum Beispiel 1990 das Amt des örtlichen Bürgerbeauftragten geschaffen, der die Aufgabe hat, Berichte über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und gegebenenfalls erste Ermittlungen durchzuführen. Polizei und Militär sind dazu verpflichtet, ihm alle in den letzten 24 Stunden erfolgten Festnahmen mitzuteilen, sowie ihm Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, damit er sich über Aufenthaltsort und Zustand von Gefangenen in- formieren kann. Doch in vielen Fällen wird die Arbeit des örtlichen Bürgerbeauftragten durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft stark eingeschränkt. Außerdem ist auch er Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Durch die Gemeinderäte kann die Arbeit des Bürgerbeauftragten politisch beeinflußt werden, da diese sein Budget festlegen.
Mit Inkrafttreten der Verfassung von 1991 ist auch das Amt des Volksanwalts entstanden, der Teil der Generaistaatsanwaltschaft ist und eine gewisse Überwachungsfunktion über die Einhaltung der
Menschenrechte hat. Er führt keine Ermittlungen durch, dient aber als Anlauf- stelle und Berater für Opfer von Mißhandlungen und deren Angehörige, die die Möglichkeit haben. den Staat auf Schadensersatz zu verklagen. Der Staatsrat hat bereits vielen solchen Klagen stattgegeben, auch in Fällen, in denen die Verantwortlichen freigesprochen oder ihre Verfahren eingestellt worden waren.
Als weitere Maßnahme entstanden in Städten, in denen eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, auf Initiative von Generalstaatsanwalt und I Volksanwalt Menschenrechtsbüros. Das erste wurde 1991 in Medellín eingerichtet und nahm bereits in den ersten 16 Monaten 3563 Beschwerden entgegen. In 3554 Fällen, die meisten davon willkürliche Festnahmen oder Mißhandlungen, wurde es tätig.
Außer einigen praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Gewalt, wurden 1991 einige formale Aspekte in der Verfassung eingeführt, die – würden sie eingehalten – eine erhebliche Reduzierung von Menschenrechtsverletzungen herbeiführen könnten.
Die drei verschiedenen Stufen der Notstandsgesetzgebung können vom Präsidenten nicht mehr ohne Zustimmung aller Minister und auf unbegrenzte Zeit ausgerufen werden. Bei der dritten Stufe, dem Notstand, werden die Menschenrechte, Grundrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Außerdem wurden, die Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Verbot der Folter sowie Vorkehrungen gegen willkürliche Verhaftungen und Mindeststandards für einen fairen Prozeß in die Verfassung aufgenommen.
Weitere wichtige Punkte wie das Verbot der Incomunicado-Haft, die Habeas-Corpus-Rechte und die Unabhängigkeit der Justiz wurden nicht mit in die Verfassung aufgenommen.
Die blutige Geschichte Kolumbiens der letzten Jahrzehnte hat gezeigt. daß viele Gesetze wirkungslos sind. Auch die juristischen Fortschritte im Menschenrechtsbereich, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, scheinen bisher eher Ali- bicharakter zu haben. Nach wie vor wer-den MenschenrechtsaktivistInnen, wie etwa Mitglieder der kirchlichen Kommission “Justicia y Paz”, bei ihrer Arbeit schikaniert, bedroht und oft von Regierungsseite der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt.
So beurteilt Javier Giraido auch die gesetzlichen Änderungen skeptisch: “Wenn auch neue Institutionen zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden, so hat uns die tägliche Praxis gezeigt, daß keine von ihnen mit wirksamen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, um die Rechte tatsächlich zu schützen. Eher könnte man sagen, daß die Verwielfachung der Institutionen die Anklageprozesse und die Suche um Schutz verlängert, erschwert und durcheinander bringt. Alle diese neuen Institutionen fühlen sich ermächtigt, einander die Anklagen durch schriftliche Anordnungen zuzuweisen, wobei keine sich dazu im Stande sieht, die Probleme wirksam anzugehen.”

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Abschied vom Comandante

“Wenn es mal so wäre”, kommentiert der sandinistische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal die Frage, ob die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Zapatistas unterstützen würde. Denn sie tun es nicht. Die FSLN hat genauso wie die guatemaltekische URNG jahrelange Unterstützung von der mexikanischen Regierung erfahren, sei es materiell oder diplomatisch. Die PRI-Regierung erkannte die Guerilla-Bewegungen als “kriegführende Parteien” an, und in Mexiko-Stadt fanden viele Asyl, die als politische FührerInnen von Befreiungsbewegungen fliehen mußten.
Das ist verständlicher Grund für vornehme Zurückhaltung. Zuneigung korrumpiert die Analyse. Unverständlich aber ist, was ein “legendärer” Revolutions-Comandante sich an politischem Unsinn so leistet: Der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge, einziger noch lebender Mitbegründer der FSLN. Der ist richtig sauer über den Chiapas-Aufstand. Die Zapatistas stehlen seinem gerade veröffentlichten Buch die Show: Die Biografie von Mexikos Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, ein Buch über “den großen Staatsmann und Modernisierer Mexikos.” Nun zeigt Chiapas, wie Borge drucksend zugibt “ein Schwarzes Loch” in der ansonsten “substantiellen wirtschaftlichen Entwicklung” Mexikos. Es könnte ja egal sein, würde Borge nicht die ganze FSLN mit ins politische Schlamassel ziehen. Im Interview mit dem El Nuevo Diaro meint der Alt-Revolutionär, er wolle “nicht den geringsten Zweifel lassen: Die FSLN ist die Freundin der Regierung Mexikos und der PRI.” Und setzt nach: “An der Atlantikküste meines Landes ereignete sich eine ethnische Rebellion unter Führung der Miskitos. Was die Regierung Mexikos in den ersten Tagen nach Beginn der Ereignisse in Chiapas tat, hat gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir nach einigen Jahren Krieg taten. Deshalb begrüßen wir den Versuch der Regierung Mexikos, eine Verhandlungslösung zu finden.” Als ob nicht lediglich der Druck der Öffentlichkeit und der Gewehre die Regierung Salinas davon abgehalten hätte, die aufständischen Zapatistas kurzerhand zusammenzuschießen.
Daß Salinas seinen Innenminister auswechselte, nachdem dieser für tagelange Menschenrechtsverletzungen in den vom Militär abgesperrten Gebieten in Chiapas Anfang Januar verantwortlich war und der öffentliche Druck riesig wurde, ist für Borge “praktische Selbstkritik” der Regierung Salinas, aber nicht “am Gehalt ihrer Amtsführung oder der globalen Strategie der Regierung, sondern eine kühne und notwendige Selbstkritik an bestimmten, jetzt ganz offensichtlichen Fehlern.”
Borge erklärt kurzerhand, die Aufständischen in Chiapas müßten wohl über sehr gute Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen weltweit verfügen. Und überhaupt sei, wie man höre, eigentlich Bischof Samuel Ruiz für all das verantwortlich. Der habe seit zwanzig Jahren an der Vorbereitung des Aufstandes gearbeitet. Aber Borge sieht Hoffnung. Der neue PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio sei “ein Freund der Antworten vor Ort, weniger der bürokratischen Formalitäten.” So werde schon eine Lösung gefunden werden, die für ganz Lateinamerika Vorbild sein werde.
Eigentlich schade. Irgendwie war Tomás Borge, der alte, der radikale, doch sympathisch. Zeit, Abschied zu nehmen.

Chiapas oder die Verzweiflung

Die Normalität kann manchmal beleidigend sein: Man lebt sein Leben, seine Routine, und plötzlich ergibt nichts mehr einen Sinn, nicht einmal das Schreiben. Die einzigen Leben, die in diesem Moment in Mexiko Sinn haben, sind diejenigen, die dabei sind zu verschwinden: Die der Indígenas und Campesinos in den Bergen von Chiapas. In der Zeitung erscheinen verwesende Leichen, auf dem Markplatz gestapelt, direkt neben den armseligen Früchten, die auf der nackten Erde ausgebreitet sind, den vier Zwiebeln, den drei Tomaten. Niemand holt die Körper ab. – Wo sind die Familienangehörigen? Haben die Kinder der Erde, des Dschungels, der Berge überhaupt welche? Wo ist das Rote Kreuz? Wo die Staatsanwaltschaft? Wo bleiben die Nachtschattengewächse der Beerdigungsinstitute oder diejenigen, die kommunalen Sammelgräber ausheben?
Wie weit ist Chiapas entfernt! Wie entlegen, wie allein. Zur Zeit wird dort eines der brutalsten Massaker unserer Geschichte begangen, es wird seit Jahrhunderten begangen, und erst jetzt nehmen wir zur Kenntnis: Chiapas, Chiapas, Chiapas…

Zwei Welten: gewollte Diät und erzwungener Hunger

Wir reden über nichts anderes als über Chiapas. Plötzlich verwandelt sich der ärmste Staat unserer Gegend in den allerwichtigsten, Ocosingo in die bekannteste Gemeinde des Landes. Wir entdekken die Chamula als die bedürftigsten Indígenas und stellen fest, daß die Lacondónen dabei sind zu verschwinden – wie die Bäume, die von den Viehzüchtern und Holzhändlern gefällt werden.
Die Schuld befällt uns, macht das Vergessene bewußt: Wir lebten zufrieden dahin, es ging uns recht gut, viel besser als all’ den Ländern weiter südlich. Mexiko, das stand fest, bewegte sich auf die Erste Welt zu. Wir kauften Milky Ways und Diät-Cola an jeder Ecke – bis plötzlich die Ohrfeige kam, nicht nur für die Regierung, sondern für die Ignoranten, die Indifferenten, die Zufriedengestellten, uns, die wir Diät machten und uns Stipendien verschafften. Wie war es vorstellbar, daß Mexikaner andere Mexikaner bombardierten?

1994: Das schlimme Erwachen

Als die Bomben über den Hütten von Ocosingo abgeworfen wurden, kam auch etwas in unserem Bewußtsein zur Explosion. Mexiko ist ein anderes Land geworden. Von einem Tag auf den anderen hat sich alles verändert. 1994 wachten wir in einem anderen Land auf, einem Land, das wir nun von einer anderen Seite erleben, mit all’ der Konfusion, der Traurigkeit, dem Kummer, der Verzweiflung, den Maschinengewehrsalven, der Guerilla. Der Frieden wurde ausgelöscht und das Schlimmste an seine Stelle gesetzt: der Terrorismus.
Kaum der Betäubung entronnen, sehen wir nun die Chiapaneken als Beispiel für all’ das, was menschliche Wesen ertragen und überleben können. Chiapas hat 3,3 Millionen EinwohnerInnen. Die Mehrheit lebt von der Landwirtschaft, und ihr Problem war immer die Bodenfrage und die Grundbesitzer. Seit Hunderten von Jahren regiert der Hunger unter ihnen. Allein 1993 starben nach Informationen des Bischofs der Armen, Samuel Ruiz, 17.000 Indígenas an den Folgen von Unterernährung. 45 Prozent der Bevölkerung von Chiapas sind Kinder, jünger als 14 Jahre. Seit dem vergangenen Jahr sind 12.000 Soldaten ständig in der Region stationiert, da Chiapas ein strategisch wichtiger Punkt ist, wo verschiedene Staaten aneinandergrenzen. Darüber hinaus endet hier Zentralamerika, und es beginnt das Mexiko, das sich “modern” gibt, aktuell, glänzend, auf die Gegenwart bezogen etcetera etcetera.
Chiapas ist ein Zentrum der Erdölausbeutung, täglich werden 60.000 Barrel gefördert. Reforma, Pichucalco und Oxtoacán sind wichtige Zentren. Die vier Wasserkraftwerke von Chicoasén, Malpaso, Angostura und Penitas produzieren elektrisches Licht für Zentralamerika und den Rest der mexikanischen Republik, während gleichzeitig die Indígenas, die 500 Meter von den Kraftwerken entfernt leben, keinen Strom haben. Warum? Weil die Versorgung Geld kostet und sie es nicht bezahlen können.

Koloniale Finca, Rohstoffreservoir und Armenhaus

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie viele verschiedene Interessen in Chiapas aufeinandertreffen. Der Neurologe Manuel Velasco Suárez, der zu Zeiten Echeverrías Gouverneur der Region war und die Verhandlungen mit den Guerilleros der Liga 23. September führte, gibt zu, daß “das Land Schulden gegenüber Chiapas hat, die nicht bezahlt worden sind”.
Es gibt große Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen des Landes. Uns Hauptstädter des Zentraldistriktes ist die Denkweise der Bevölkerung des Südens Mexikos unbekannt. Dies bestätigt auch Juan Bañuelos, ein in sozialen Fragen leidenschaftlich engagierter Dichter aus Chiapas: “Wir Chiapaneken sind sehr stolz, mexikanische Bürger zu sein. Geografisch und historisch sind wir allerdings Zentralamerikaner. Das ganze koloniale System ist in dieser Region immer noch gültig. Chiapas funktionierte immer wie eine immense Finca – und tut es immer noch im Sinne der “chiapanekischen Familie”, des Clans der Reichen. Zu diesem gehörten auch die beiden letzten Gouverneure, welche für ihre Taten und ihre schlechte Regierung vor Gericht gestellt werden sollten: Absalón Castellanos Domínguez und Patrocinio González Garrido, zwei Privilegierte, die der indianischen Bevölkerung gegenüberstanden, die von den Weißen ungeniert ausgebeutet wurde. Ich glaube, daß diese Situation von den mexikanischen Bundesregierungen während all der Jahre seit der Revolution nicht begriffen worden ist.
Was für häßliche Tage! Ein schlechtes Jahr, dieses 1994. Die Zeiten sind blutig. Das Blut, das im lacandonischen Urwald und in den Dörfern von Chiapas vergossen wurde, fließt vor unseren Augen und durchtränkt das Bewußtsein. Das, was wir hier weiter im Norden sagen können, ist recht armselig, recht unbefriedigend und wird sich bald in nutzlose Rhetorik verwandeln.
Die Autorin ist mexikanische Schriftstellerin und Journalistin
gekürzt übernommen aus:
La Jornada, 9.1.94

Explosive Komponenten

Die bewaffnete Erhebung in Mexiko ist die wichtigste in diesem Land seit der Revolution von 1910. Die Explosion übersteigt bei weitem alle anderen bekannten Erfahrungen mit Guerillagruppen auf aztekischem Boden, einschließlich der ländlichen und städtischen Bewegungen der 70er Jahre.
Noch nie zuvor wurde ein Kontingent von 3.000 Aufständischen gesehen, die, von Frauen und Kindern begleitet, mit einem Schlag vier Ortschaften besetzten, unter ihnen solch große wie San Cristóbal de las Casas und Ocosingo.
Bei Lichte betrachtet, handelt es sich weniger um eine klassische Guerilla-Operation als um einen bewaffneten Massenaufstand. Mit explosiven Bestandteilen, wie etwa der klaren sozialen und ethnischen Identifikation der Kämpfenden: arme Campesinos aus dem ärmsten Staat Mexikos, und Indígenas vom Volk der Maya, in einer Provinz, in der sich die Großgrundbesitzer der Jagd von Indios widmen.

Gerüchteküche – je nach Gusto wird analysiert und interpretiert

Wer an einen klassischen “Guerilla-Foco” (Aufstandsherd, Anm. d. Red.) denkt, irrt sich. Ebenso derjenige, der ein Schema nach Art von Sendero Luminoso im Kopf hat. Das Zapatistische Befreiungsheer EZLN, das mit diesem Aufstand sein formales Debut gab, ist ein Heer, das sich bereits vorher angekündigt hat. Seit mehr als sechs Monaten reden Presse und politische Gerüchtebörse von Aufständischen, die sich still und heimlich in den bewaldeten und nebligen Hügeln von Chiapas vorbereiten. Schon vor sechs Monaten kündigten Campesinos, die heute Mitglieder der Milizen sind, in den Versammlungen ihrer Organisationen an, daß sie nicht wie sonst aussäen würden.
Ebenfalls vor sechs Monaten hörte ich während eines Abendessens im Hause von Jorge Castañeda, wie der Senator Porfirio Muñoz Ledo, Präsident der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD) sagte, es gäbe keine derartige Guerilla. Vielmehr handele es sich um eine gigantische Provokation von Seiten des mexikanischen Innenministers Patrocinio González Garrido, der im Einvernehmen mit der Regierung von Chiapas handele. Ziel sei laut Meinung des Oppositionsführers, den Konflikt zu militarisieren, damit die Leute sich nicht der PRD anschlössen. Obwohl normalerweise recht scharfsinnig und gut informiert, scheint Muñoz Ledo sich in diesem Fall geirrt zu haben.
Auch wenn noch nicht alles vorüber ist, übersteigen die schwerwiegenden Geschehnisse schon jetzt den Rahmen einer möglichen Verschwörung, die einige dem militärischen Geheimdienst unterstellen. Laut letztgenannter Hypothese hätte ein Teil des mexikanischen Militärs, entrüstet über die wenig glanzvolle Rolle, die die Armee in den letzten sechs Jahren spielte -unter anderem wurde sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht – das “zapatistische” Phänomen wachsen lassen, um politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dies klingt mir entschieden zu machiavellistisch.
Plausibler erscheinen dagegen andere Erklärungsansätze. Seit vielen Jahren – zehn Jahre sagen die einen, zwanzig die anderen – sollen sich einige überlebende Kader der Stadtguerilla “23. September” und der Landguerillas “Genaro Vázquez” und “Lucio Cabanas” in Chiapas festgesetzt haben, um ihre heimlichen Aktivitäten mit langfristiger Perspektive fortzusetzen. Die furchtbaren Rahmenbedingungen sozialer Ungerechtigkeit und politischer, ethnischer und sogar religiöser Verfolgung, die seit Jahrhunderten in dieser Grenzregion zu Guatemala herrschten, erleichterten der Guerilla die Arbeit. So soll es ihnen gelungen sein, sowohl der Regierungspartei PRI als auch der oppositionellen PRD einige Bauernorganisationen zu entreißen. Einige dieser Keimzellen hätten die Reihen der EZLN genährt. Die Regierung von Chiapas hat nach anderen Erklärungen gesucht. Sie beschuldigte die lokale Kirche und den Bischof Samuel Ruiz, mit dem sich die regionalen Autoritäten seit Jahren in einer erbitterten Konfrontation befinden.

Politikreflex: Wem nützt das alles?

Für die PRD, angeführt von dem Ingenieur Cuauhtémoc, erscheint die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Einige Beobachter rechnen damit, daß bestimmte Kreise aus dem Umfeld der Regierung versuchen werden, die “Cardenistas” mit der EZLN zu identifizieren. Andere glauben dagegen, daß der PRD das Entstehen einer Guerilla links von ihr gelegen kommt, um das extremistische Profil abzuschütteln, das ihr angehängt werden soll, und sich dem magischen Zentrum anzunähern, wo sie die Wahlstimmen vermuten (oder vermuteten).
Die Regierung sieht auch , daß sich ein repressives Vorgehen im Zuge des kommenden Wahlkampfes kontraproduktiv auswirken könnte. Daher überrascht es nicht, daß Salinas zum Dialog aufgerufen hat. Paradox ist, daß Mexiko während der ganzen letzten Jahre im zentralamerikanischen Konflikt der vermittelnde und schlichtende Staat war. Jetzt, wo sich in der gesamten Region Friedensabkommen durchsetzen, explodiert der Krieg auf seinem eigenen Territorium.
Und nicht nur in Chiapas: In den letzten Monaten drangen mehr und mehr Meldungen an die Öffentlichkeit, daß es Guerillagruppen gibt, die sich seit Jahren im Hochland von Guerrero vorbereiten – in den gleichen Bergen, die die Guerilla von Lucio Cabanas beherrbergten, den gleichen, wo seit den achtziger Jahren der Drogenhandel seine blutige Spur hinterlassen hat. Haben die Zapatistas eine Verbindung zu den Guerilleros, die sich zur Zeit noch in den Bergen von Guerrero verbergen? Wird es nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auch in Guerrero zu einer Explosion kommen?
Es ist schwierig, Voraussagen für Mexiko zu machen. Vor sechs Monaten besuchte der glänzende Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donado Colosio, Las Margaritas, eine der vier Ortschaften, die zur Zeit von dem Zapatistischen Heer besetzt sind. Dort verteilte er wichtige Spenden. – Kurioserweise war Chipas der Staat, der im Rahmen des “Programa Nacional de Solidaridad” die meiste Unterstützung bekam.
So was soll vorkommen.

Der Argentinier Miguel Bonasso ist ehemaliges Mitglied der “Montonero”- Guerilla und arbeitet mittlerweile als Journalist.

gekürzt übernommen aus: Pagina/12 (Argentinien)

Menschenrechte und Repression in Chiapas

LN: Die Repression in Chiapas hat ja schon eine längere Geschichte. Worauf beruht sie?
Barragán: Das Regierungssystem hat immer die privilegierten Familien oder Kasten begünstigt, das politische Kazikentum in allen öffentlichen Ämtern gestärkt, die ohnehin von derselben politischen Klasse kontrolliert werden.
Im allgemeinen wurde den Indiogemeinschaften die Möglichkeit, Landkonflikte gerichtlich klären zu lassen, verwehrt. Die bundesstaatliche Justiz wird nach wie vor von der herrschenden Klasse verwaltet.
Jeder Widerstand und jeder Protest wurde mit Waffengewalt durch die Polizei, und in den letzten Monaten das Militär, unterdrückt.

Hat das Eingeifen der Militärs in der Region nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen?
In der Tat ist der militärische Eingriff in der Region illegal, da er eigentlich der Genehmigung des Kongresses bedarf, so wie es in der Verfassung steht.
Nach Zeugenaussagen, die wir erhalten haben, wird bestätigt, daß Zivilisten ermordet wurden, daß Verletzte sterbend liegen gelassen wurden oder ihnen eine medizinische Behandlung nur bei dem medizinischen Personal des Militärs erlaubt war.

Hat es in Mexiko schon früher ähnlich bedeutende Guerilla-Bewegungen gegeben?
Die letzte wichtige Guerillabewegung war vor 20 Jahren im Bundesstaat Guerrero, die damals zuerst von Génaro Vázquez und dann von Lucio Cabañas angeführt wurde. Der General, der Lucio Cabañas besiegte, hieß Absalón Castellanos, und er wurde zur Belohnung Gouverneur von Chiapas. Daher kann seine Entführung zu Beginn des Aufstandes der EZLN in Verbindung mit den Ereignissen von damals gebracht werden.

Worin unterscheidet sich denn die EZLN von der damaligen Guerilla?
Vielleicht liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die EZLN besser vorbereitet ist und über einen größeren Anhang verfügt.

Kam der Aufstand der Zapatisten überraschend?
Schon vor 6 Monaten war bekannt, daß es Guerilla-Aktivitäten gab. Es gab sogar Konfrontationen mit dem Militär. Dies teilte die stellvertretende Innenministerin Socorro Díaz mit, und der neue Innenminister Carpizo bestätigte es.

Inwieweit haben die Militärs sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt?
Immer gab es eine starke Militärpräsenz wegen der Gefahr, daß die guatemaltekische Guerilla in Chiapas eindringen könnte. Doch die Repression gegen die Indios und Bauern ging hauptsächlich von den “guardias blancas” (paramilitärische Einheiten, Anm. d. Red.) aus, die im Dienste der Großgrundbesitzer arbeiten. Diese “guardias blancas” genießen die Unterstützung der staatlichen Behörden. Genaue Angaben über ihre Stärke gibt es nicht, da sie immer wieder neu rekrutiert werden.

Was hat die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) gegen die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas getan?
Die Kommission hat sich vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit vielen Problemen in Zusammenhang mit den Landkonflikten, der Repression und dem Zugang zu den Justizbehörden befaßt. Sie veröffentlichte zahlreiche Studien dazu. Sie hat sogar 29 schriftliche Empfehlungen zu über 200 Beschwerden gemacht, aber ohne Erfolg, da niemand sie beachtet. Nun hat sich die Kommission aufgrund der bewaffneten Konflikte um humanitäre Hilfen bemüht: wie durch die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften, durch die Registrierung von Übergriffen, z.B. der Erschießung von Guerilleros und Zivilisten. Sie hat aber nichts getan, um die Massaker gegen die Zivilbevölkerung und die Repression gegen JournalistInnen und die Presse zu verhindern.
Unabhängige Menschenrechtsgruppen haben über Menschenrechtsverletzungen berichtet und sind nach Chiapas gereist, doch sie werden ebenso wie die Presse zurückgehalten. Für viele MexikanerInnen ist die CNDH nur eine Fassade, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Regierung dahinter zu verbergen.

Was kann sich in Bezug auf die Menschenrechtssituation durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verändern?
Einen politischen Richtungswechsel wird es praktisch nicht geben, da die USA auf ihre wirtschaftlichen Interessen achten werden. Und das Fehlen einer wirklichen Demokratie in Mexiko interessiert die USA zumindest zur Zeit nicht, nicht einmal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Das Freihandelsabkommen wird für das Land andere Veränderungen bringen, vor allem wirtschaftliche und juristische. In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich die Handelsbilanz nachteilig verändern und die Arbeitslosigkeit verstärken, wodurch der informelle Sektor weiter anwachsen wird. In Sachen Justiz werden die Veränderungen sehr wichtig sein, da das mexikanische Recht dem kanadischen und US-amerikanischen untergeordnet wird. Auf diese Weise kann ein Mexikaner (im wirtschaftspolitischen Bereich, Anm.d.Red.) in Zukunft seine Konflikte vor den Gerichten dieser beiden Länder schlichten lassen und so die sehr schlechte mexikanische Justiz übergehen.

In welcher Weise kontrolliert die Regierung die Opposition? In welcher Weise wird sie vereinnahmt?
Die Regierung charakterisiert sich durch ihr Bemühen, sozialen Protest über die Kontrolle der institutionellen Organe zu vereinnahmen. Daher wurde zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode das Nationale Solidaritätsprogramm (PRONASOL) geschaffen, das wie CARITAS oder eine Einrichtung für das öffentliche Wohl wirkt, aber letztendlich Wahlziele (für die PRI, Anm. d. Red.) verfolgt. Doch selbst die Studien von PRONASOL verdeutlichen, wie schwierig es für die Regierung ist, den Unmut in der Bevölkerung abzubauen.
Die Kontrolle über die politischen Parteien ist zudem komplett, nicht zuletzt wegen der jüngsten Wahlreform, die Parteikoalitionen verbietet. Diese Wahlreform begünstigt die PRI, die auch, wenn Unvorgesehenes eintreten sollte, die Wahlgerichte kontrolliert, da diese dem Innenministerium unterstellt sind. Mensch kann sagen, daß, wenn Wahlbetrug notwendig werden sollte, dieser wie bisher auch ohne Schwierigkeiten und ohne Verstösse gegen geltendes Recht stattfinden kann.

Innerhalb der mexikanischen Regierung scheinen Veränderungen stattgefunden zu haben, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chiapas stehen. So wurde beispielsweise als neuer Innenminister Jorge Carpizo ernannt, der vormals Vorsitzender der CNDH war. Gleichzeitig wurde Camacho Solís, der dem linken Flügel der PRI angehört, als Emissär nach Chiapas entsandt. Welche Bedeutung haben diese Veränderungen? Könnten sie zu einer Demokratisierung führen?
Im allgemeinen wurden die Veränderungen, die zur Ernennung von Jorge Carpizo geführt haben, sehr begrüßt. Insgesamt scheint jedoch die Regierung mit Ausnahme von Camacho über keine guten Politiker zu verfügen. Jorge Carpizo ist ein sehr schlechter politischer Unterhändler, wie er bewiesen hat, als er Rektor der UNAM (Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) war. Er ist hervorragend, um die Korruption aufzudecken und um auf die Schlechtigkeiten des Systems hinzuweisen, aber dann trägt er zu nichts Nützlichem bei, da er sich zurückzieht und sich dem System anpaßt, das ihn begünstigt. So war es, als er Präsident der CNDH und der Bundesstaatsanwaltschaft war: in letzterer Funktion brachte er in Mexiko das Corcuera Gesetz ein, das ja sehr kritisiert wurde.

Was beinhaltet dieses Gesetz?
Dieses Gesetz ermächtigt das Innenministerium (ministerio público), das über der Justizpolizei steht, in schweren Fällen oder in solchen, wenn es kein Gericht in der Nähe gibt, Haftbefehle und Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen. Darüber hinaus ermöglicht es, MexikanerInnen und AusländerInnen bis zu 96 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung in Haft nehmen zu können.

Was ist die Regierungsstrategie, um die Probleme in der Region zu lösen und den Konflikt zu beenden?
Zunächst setzte die Regierung nur auf Repression und entsandte deswegen Truppen dorthin.
Danach bildete sie einen runden Tisch, um eine Lösung für die sozialen Probleme der Region zu suchen. An diesen runden Tisch wurden Vertreter des Verteidigungs-, Sozial-, und Innenministeriums und der Bundesstaatsanwaltschaft berufen.
Wie man sieht, handelt es sich hier – mit Ausnahme des Sozialministeriums – um eine Repressionsrunde. Es gibt bis jetzt keinen tiefgreifenden Vorschlag. Zum Beispiel müßte eine echte Agrarreform in Chiapas durchgeführt werden, die die Indiogemeinschaften und generell die Bauern begünstigt. Es muß eine politische Initiative unternommen werden, mit dem Ziel, die Ethnien anzuerkennen, mehr Selbstbestimmung und politische Partizipation einzuräumen. Ihnen muß ein Minderheitenvotum bei allen lokalen und bundesstaatlichen Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Und es muß eine tiefgreifende Sozialreform begonnen werden, die ihnen die minimalen sozialen Dienstleistungen (Trinkwasser, Strom, medizinische Versorgung, Schulen usw.) garantiert. Nichts von dem wird jedoch gemacht, da die Haushaltsmittel in die Präsidentschaftswahlkampagne fließen werden, und weil solche Reformen dem neoliberalen Kurs der Regierung widersprechen. Hier sagt man, daß zuerst Reichtum geschaffen werden muß, damit die Reichen den Armen gegenüber wohltätig sein können. Dies ist absurd.

Was wird aus den guatemaltekischen Flüchtlingen?

Die Antwort von Ricardo Curtz, einer der Vertreter der CCPP, ist immer die gleiche: “Mit den Vorgängen in Chiapas haben die Flüchtlinge nichts zu tun”. Um dies zu unterstreichen, betont ein Kommuniqué der CCPP: “Falls ein/e JournalistIn, ein/e RepräsentantIn einer Institution oder irgend eine andere Person in den Lagern nach der aktuellen Situation fragt, muß man/frau klarstellen, daß die guatemaltekischen Flüchtlinge dazu keine Informationen oder Meinung haben.”
Die abweisende Haltung der CCPP zu dem Aufstand der Zapatistas ist verständlich und drückt die schwierige Lage der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, aber auch in Mexiko überhaupt, aus. Auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen auf die GuatemaltekInnen in Mexiko noch nicht abzusehen ist, hat sich deren Situation ohne Zweifel verschlimmert.
Obwohl die Flüchtlinge in dem Abkommen zwischen den CCPP und der guatemaltekischen Regierung vom Oktober 1992 eindeutig als Zivilbevölkerung anerkannt sind, ziehen mexikanische und guatemaltekische Behörden, aber auch die Presse im In- und Ausland, erneut eine angebliche Verbindung zwischen den Flüchtlingen, der guatemaltekischen Guerilla URNG und den Zapatistas der EZLN.
Sprecher der Regierungen in Mexiko und Guatemala behaupten immer wieder, GuatemaltekInnen und SalvadorianerInnen seien an dem Konflikt beteiligt. Der einzige “Beweis” ist bislang die Festnahme von Jesús Sánchez Galicia, von dem gesagt wird, er sei Guatemalteke und einer der Chefs der EZLN. Der guatemaltekische Arzt Rubén Alejandro Bailey, der in Mexiko ein Stipendium zur Ausbildung zum Facharzt hat, wurde unter ähnlicher Anschuldigung verhaftet.

Propaganda gegen Flüchtlinge

Da nach Meinung der mexikanischen Regierung der Konflikt “importiert” wurde, berichteten guatemaltekische JournalistInnen aus Chiapas von einer aggressiven Stimmung gegenüber ihren Landsleuten. “Wenn wir uns als GuatemaltekInnen zu erkennen gaben, wurden wir von vielen Leuten in Comitán und San Christobal de las Casas beschimpft”, so Mariano Gálvez von der Radiostation Patrullaje Informativo.
Die Flüchtlingslager in Chiapas liegen nicht direkt in dem umkämpften Gebiet. Da jedoch die Zufahrtswege zu den Lagern während der ersten Tage des Konflikts abgeschnitten waren, war die Besorgnis um die Flüchtlinge sehr groß. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, daß es dort keine Zwischenfälle gegeben hat.
Nach Angaben einiger BeobachterInnen in Guatemala-Stadt ist nicht auszuschließen, daß guatemaltekische Flüchtlinge an dem Aufstand der Zapatistas beteiligt sein könnten. Als Mayas fühlen sie sich mit ihren Brüdern und Schwestern in Chiapas, die sie nach ihrer Flucht aus Guatemala vor 10 Jahren solidarisch aufgenommen hatten, eng verbunden. Und die soziale und ethnische Problematik im Hochland Guatemalas und in Chiapas unterscheidet sich nur unwesentlich.
Aus einigen Lagern wird berichtet, daß sich mehrere mexikanische Familien aus den Kampfgebieten dorthin geflüchtet hätten, eine genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt.
Wie sich der Konflikt auf die Arbeit der humanitären Organisationen in den Lagern auswirken wird, läßt sich nicht absehen. Dort ist es vor allem der Bischof Samuel Ruiz von der Diözese in San Cristobal de las Casas, der sich seit Anfang der 80er Jahre stark für die humanitäre Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt hat. Es wird befürchtet, daß die Arbeit der Kirche in Chiapas in Zukunft streng kontrolliert wird. Auch eine Absetzung von Monseñor Ruiz, die schon vor Monaten im Gespräch war, ist nicht auszuschließen.
In diesem Zusammenhang fordert auch die Nationale Koordinationsstelle der mexikanischen NROs zur Unterstützung der Flüchtlinge in Mexiko (CONONGAR) die Respektierung ihrer Arbeit in den Lagern und Sicherheitsgarantien für ihre MitarbeiterInnen, von denen die NROs lange Zeit keine Nachricht hatten.
Auch für die Flüchtlinge in den Bundesstaaten Campeche und Quintana Roo bleibt der Konfllikt nicht ohne Folgen. Mitglieder einer Delegation von Flüchtlingen aus diesen beiden Gebieten, die für den 10. Januar eine Reise nach Guatemala zur Vorbereitung der für April geplanten Rückkehr in die Provinz Petén beabsichtigten, erhielten von den mexikanischen Behörden keine Erlaubnis, ihre Lager zu verlassen.

Verkehrte Verhältnisse: Flucht nach Guatemala

Die guatemaltekische Zeitung “La República” berichtete am 10. Januar, Hunderte von Familien, guatemaltekische Flüchtlinge, guatemaltekische SaisonarbeiterInnen und mexikanische Campesinos/as seien aus Angst vor der Repression aus Chiapas nach Guatemala geflohen. Offiziell wurde diese Meldung nicht bestätigt, doch auch ein Mitglied der CCPP in Guatemala-Stadt vermutet, daß viele der nicht anerkannten und verstreut lebenden Flüchtlinge von sich aus nach Guatemala zurückgekehrt, und nun Flüchtlinge im eigenen Land sind.
Lange Zeit war die für den 12. Januar geplante Rückkehr von 201 Familien (947 Personen) aus Lagern im Landkreis Comalapa in Chiapas unklar. Anfang Januar sprachen sich VertreterInnen der UNHCR und der mexikanischen Flüchtlingsorganisation COMAR für eine Verschiebung der Rückkehr aus. CCPP, mit Unterstützung von Rigoberta Menchú, hielten jedoch an dem ursprünglichen Termin fest. Schließlich erklärten sich die mexikanischen Behörden bereit, einige der Vorbereitungen von Comitán zum Grenzort La Mesilla zu verlegen, und die Flüchtlinge kehrten ohne nennenswerte Probleme zurück. In Chaculá, im Landkreis Nentón der Provinz Huehuetenango, werden sie sich neu ansiedeln. Nach der Rückkehr von 350 Familien im Januar vergangenen Jahres in die Region Ixcán, Provinz Quiché, war dies die dritte organisierte und kollektive Rüchkehr von guatemaltekischen Flüchtlingen.

Der Druck wächst – Die Schwierigkeiten bleiben

Die Ereignisse in Chiapas werden den Druck der Flüchtlinge auf die CCPP, möglichst schnell die Bedingungen für die Rückkehr weiterer Gruppen zu eröffnen, verstärken. Doch die beiden Hauptprobleme für sie in Guatemala bleiben bestehen: Die Schwierigkeiten, Land zu bekommen und die Militarisierung, die ihr Leben bedroht.
Als Beispiel sei hier die Situation der 200 Mitglieder der Kooperative “Ixcán Grande” in Quiché genannt, die am 8. Dezember 1993 in die Ortschaft “Tercer Pueblo” ihrer Kooperative zurückkehren wollten. Hier befindet sich ein Stützpunkt des Militärs, und die Streitkräfte zeigten sich nicht bereit, diesen zu verlegen, angeblich “zum Schutz der Bevölkerung”. Aus diesem Grund mußten die RückkehrerInnen provisorisch und unter unwürdigen Bedingungen in der Ortschaft Vera-cruz untergebracht werden.
Die Flüchtlinge stammen meist aus den Grenzregionen zu Mexiko, die nach wie vor Gebiete des militärischen Konfliktes zwischen dem Militär und der URNG sind. Mit dem Konflikt in Chiapas und unter dem Vorwand, das Eindringen von Zapatistas nach Guatemala zu verhindern, hat die militärische Präsenz im Grenzgebiet der Provinzen Huehuetenango, San Marcos, Quiché und Petén zugenommen. Die guatemaltekischen Streitkräfte schließen auch gemeinsame Aktionen mit dem mexikanischen Militär nicht aus.
Rigoberta Menchú, die nach Guatemala kam, um die Rückkehr der Flüchtlinge am 12. Januar zu begleiten, drückte ihre Besorgnis aus, daß das guatemaltekische Militär den Konflikt in Mexiko als Vorwand benutzen könnte, die Rückkehrer stärker zu kontrollieren und die Repression in den Konfliktgebieten zu verstärken.
Der Konflikt in Chiapas macht eine verstärkte internationale Aufmerksamkeit für die Situation der guatemaltekischen Flüchtlinge, offiziell anerkannt oder nicht, und die der RückkehrerInnen in Guatemala dringend notwendig.

“Wir sind keine Politiker, die Kunst spielen”

LN: Als erstes natürlich die Frage: Was ist “das neue gua­temaltekische Lied?”
Fernando: Am besten, ich erkläre das mal an meinem Bei­spiel: Ich bin eigentlich zufällig dazu gekommen. Zuerst wa­ren da die südamerikanischen Vorbilder: Victor Jara, Violeta Parra, später die kubanischen Trovadores Silvio Rodríguez und Pablo Milanés und die Nicaraguaner, Luis Enrique und Carlos Mejía Godoy. Und Mitte der 70er Jahre hatte die Stu­dentenbewegung in Guatemala einen gro­ßen Aufschwung. Also gründeten wir Kulturgruppen zu ihrer Unterstützung, und ich begann wie viele an der Universität zur Gitarre zu singen. Ich erinnere mich an eine berühmte Gruppe, die kopierte den Kubaner Carlos Puebla und sang: “Se acabó la diversión. Llegó el comandante y mandó a parar, param, pa­ram, param!” (Schluß mit dem Vergnügen, der Kom­mandant ist aufgetaucht und hat Befehl gegeben aufzuhören).
José: Das war die erste Etappe des “neuen Liedes”. Wir imitierten die latein­amerikanischen Vorbilder, und die Lieder waren reine Pamphlete, reine Propaganda. Anfang der 80er Jahre zerschlug das Militär mit der Aufstandskampagne die Volks- und Guerillabewegung. Die mei­sten Liedermacher mußten ins Exil gehen. Seit einige von uns Mitte der 80er Jahre wieder zurückgekehrt sind, wollen wir musikalisch und politisch unabhängig sein. Trotz der politischen Verän­derungen gibt es in der Volksbewegung immer noch die gleiche Engstirnigkeit wie früher. Die linken Organisationen haben uns benutzt, und das hat die Entwicklung des Liedes in Guatemala gebremst. Wir wurden so lange von der Linken gegängelt, daß wir jetzt unsere eigene Bewegung aufbauen wol­len: eine Interessenvertretung der Kün­stler als Arbeiter. Wir wollen nicht mehr nur spielen, um die Leute zu einer politischen Veranstaltung zusammenzuho­len und uns die Seele aus dem Leib singen ohne Mikrofon und Verstärker. Wir wol­len bezahlt werden und die Anerkennung un­serer intel­lektuellen Arbeit. Auch wir wollen die Gesellschaft verän­dern, aber nicht hinter Parteifahnen. Wir sind Kün­stler, nicht Politiker, die ein bißchen Kunst spielen. Die Kunst hat eigene Kri­terien und eine eigene Ästhetik und das ist eine große Chance, denn die Leute sind den immergleichen politi­schen Diskurs leid.

Was bedeutet die musikalische Unab­hängigkeit, von der Du sprachst?
Fernando: Sie bedeutet, unsere guate­maltekischen und indi­viduellen Wurzeln zu finden. Musikalisch heißt das, traditio­nelle guatemaltekische Rhythmen, Har­monien und Instrumente einzusetzen, oh­ne folkloristisch mit ihnen umzugehen. Wir haben hier den Son Guatemalteco, den Reggae und die Salsa. Wir wollen zei­gen, daß die Marimba und indianische Percussioninstrumente keine Instrumente der Großväter sind. Wir spielen die Ma­rimba auch in einer Rockballade. Über die Texte kann José etwas sagen.
José: Wir schreiben eigene Texte, früher haben wir bereits vorhandene vertont. Die Themen sind urbane, weil wir in der Stadt lebende Ladinos sind. Wir singen über Straßen­kinder, Bettler, über Homose­xualität. Manchmal werden wir kriti­siert, weil wir nicht über die Indígenas singen. Aber wir stehen zu unserer Identität. Indí­genas können in unse­ren Liedern ein Symbol für Veränderungen sehen, auch wenn sie ihre eigene Lebensweise nicht darin wiederfinden. Wir nehmen Themen aus den alten Mythen der Maya auf. Aber wir wollen uns weder opportunistisch ih­rer Kultur be­dienen noch sie kopieren, sondern in den Liedern unsere Gesell­schaft individuell verarbeiten.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit welchem Stolz ihr Guatemalteken sagt: “Ich bin Künstler”. Wenn Deut­sche das sagen, klingt es anders. Man sagt eher: “Ich spiele Klavier”, oder “Ich male”, aber bei Euch klingt es wie ein Lebenskonzept. Vielleicht ist die Auffassung hier individuali­stischer.
José: Ich glaube, das ist durch unter­schiedliche politische Erfahrungen ge­prägt. Ich weiß nicht, wie sich die Kün­stler der Elite verstehen; ich kenne sie nicht, obwohl ich sie re­spektiere. Die Volkskünstler (artistas populares) mußten im­mer dagegen kämpfen, hinter die poli­tische Sache zurückge­stellt zu werden. Auch der Solidaritätsbewegung haben wir sagen müssen: Wir sind keine Politiker. Und das haben sie manchmal falsch ver­standen. Aber wenn Du mich nach Eu­ropa einlädst, wenn Du ein Interview mit mir machst, dann mach es über meine Arbeit! Nicht, weil ich irgendeiner lin­ken Orga­nisation angehöre. Deswegen sagen wir mit solchem Nachdruck: “Ich bin Kün­stler”. Ich kann Dir Informationen über Guatemala geben, aber ich will von mei­ner Arbeit aus­gehend über Guatemala re­den. Anfang der 80er Jahre, als der Krieg tobte, da war es egal, ob ein Kir­chen­mensch oder Gewerkschafter ins Ausland reiste, er wurde nach dem Krieg gefragt. Und ich glaube, hier behauptete jeder, er sei Co­mandante der Guerilla und lieferte die gefragten politischen Ana­lysen.
Fernando: Wenn Du Gelegenheit hattest, guatemaltekische Ge­werkschafter zu in­terviewen, wirst Du gemerkt haben, daß auch sie sich so definieren: “Ich bin Ge­werkschafter!”. Es gibt einfach unter­schiedliche Rollen innerhalb einer politi­schen Bewegung. Auch ich habe wegen der Ungerechtigkeit angefangen zu sin­gen, bin deswegen Künstler geworden, aber meine Rolle ist eben die des Kün­stlers.
Es gibt einen Unterschied zu Deutsch­land: Wenn hier je­mand sagt: Ich spiele Klavier oder ich male, dann sagen sie das vor dem Hintergrund der Musik­schulen, die jeder­man besuchen kann. Hier arbeite ich sechs Monate hart in einer Cafeteria und kann mir ein Mu­sikinstrument kaufen, in Gua­temala nicht. Bisher heißt Künstler sein bei uns, fast zusammenzubrechen, auf ein unwürdiges Niveau herabzufal­len, da­mit die Leute dich als Künstler ernst­nehmen und sa­gen: “Wie konsequent!”
José: “Geh bis zum Tod, damit sie dir glauben!”
Fernando: Aber die Jünger der Märtyrer müssen verschwin­den! Wir wollen ein würdigeres Konzept von “Künstler”, auch wenn wir unser Geld mit etwas anderem verdienen müssen.

Welche Erfahrungen habt Ihr bei Eu­ren Konzerten hier ge­sammelt?
Fernando: Das waren sehr eindringliche Erfahrungen. Wir sind mit unserem so­zialen und künstlerischen Anliegen hier­hergekommen, das in Guatemala große Anerkennung genießt. Aber hier ist der gesellschaftliche Kontext ein anderer, und die Leute verstehen unsere Texte nicht. So wurden wir auf einmal nur noch an ästhe­tischen Kriterien gemessen. Viel­leicht kommen auch kulturelle Gründe hinzu, aber in Gua­temala ist der Kontakt zum Publikum wärmer, sie klatschen und schreien und pfeifen. Das war hier ein großer Kon­trast.
José: Diese Tournee war ein Traum und eine ästhetische Herausforderung für uns. Wir wollten keinen Applaus aus politi­scher Solidarität. Früher hätte es Applaus gegeben, weil der Kampf um die Revolu­tion in Guatemala brannte. Aber wir dachten uns vorher: Wenn sie nicht klat­schen, dann taugen wir hier nichts, dann funktioniert der Kontext nicht.

In Eurem Konzert bemerkte ich zwei­erlei: Erstens das ernste Publikum und zweitens mein unwiderstehliches Be­dürfnis, Euch in Guatemala singen zu hören. Eben wegen des Kon­textes. Und ich begann über politische Lieder nach­zudenken und darüber, daß sie in Deutschland eine sehr wider­sprüchliche Rolle spielen. Hier haben auch die Na­zis politi­sche Lieder und Volkslieder benutzt, um die Herzen und Köpfe leichter zu fangen, als mit politischen Parolen. Ich denke, daß es seither in Deutschland keine leicht zugängli­chen, schönen, politischen Lieder mehr geben kann, sondern daß sie mit inhaltlichen und musikalischen Brüchen arbeiten müssen, um Denkprozesse anzuregen. Das ging mir bei Eurem Konzert durch den Kopf. Nicht nur, daß der gua­temaltekische Kontext fehlte, sondern Eure Lieder prallten auch noch auf den spezifisch deutschen Kontext.
Fernando: Jetzt wird mir einiges klar. Aber ich fühle mich darin bestärkt, daß es unterschiedliche Realitäten sind. Daß un­sere Lieder nur hier nichts taugen, wenn die Leute hier nicht klatschen. Je­mand er­zählte uns, daß die Utopien hier vorbei sind. Da wurde uns klar, daß Uto­pien für uns sich ständig erneuernde Ideale sind. Sie sind das Licht am Ende des Tunnels, weswegen wir weiterma­chen. Hier war es ein Ziel, das erreicht wurde oder nicht, und jetzt ist keine Hoff­nung mehr und Schluß. Aber das geht bei uns nicht. Wir müssen mehr vom Leben erwarten.

Ein weiterer grundlegender Unter­schied ist die Auffassung von Volk. In Deutschland ist “Volk” ein rechtes Wort. Im Augenblick wird es sogar wie­der mit faschistischen Konnota­tionen benutzt. In Guatemala glaubt die Linke an das Volk, und wenn Ihr von einem Wandel in Guatemala singt, dann singt ihr mit einer Vision von Eu­rem Volk, die es hier nicht gibt. Auch das ist etwas sehr Deutsches, denn in an­deren euro­päischen Ländern gibt es andere ge­schichtliche Konzepte von Na­tionalismus oder Volk.
Fernando: Dann hoffe ich, daß unsere Lieder einigen Deut­schen klarmachen, daß ihr Konzept von Volk relativ ist. Bei uns ist Volk beinahe ein verbotenes Wort! Wir benutzen es mit dem Gedanken an soziale Veränderungen. Und die Herr­schenden wissen, daß das Volk das Volk ist.
José: Aber natürlich diskutieren auch wir darüber. Denn manche setzen bei uns “Volk” mit “populär” gleich. Aber die Lieder in den Radios sind auch populär. Dann gibt es einige Radikale, die uns sa­gen: Deine Texte haben nichts mit der Re­alität des Volkes zu tun, sie sagen nichts.
Fernando: Was ich für mich privat kom­poniere, kann ich im Augenblick in Gua­temala nicht singen. Es wäre zu merkwür­dig. Mir gefällt der Existentialismus. Wenn ich damit ankäme, würden die Leute sagen: “Der ist abgehoben!” Für viele der Lieder, die ich 1986 komponiert habe, ist auch jetzt noch der richtige Mo­ment. Es gibt einen Schriftsteller, der uns sagt: “Hört auf, dieses soziale Zeug zu singen, macht Liebeslieder!” Ich habe es ein paar Mal versucht, und peng! merke ich, wie mich die Realität wieder einholt. Auch unser Konzept von Liebe ist nicht individualistisch, sondern Liebe ist ein weiter Begriff von Menschlichkeit. Und außerdem können wir nicht ruhig lieben, wenn über uns der Schatten des Krieges schwebt!
José: Und nun ist Schluß mit dem Inter­view und ich habe einen Haufen neuer Fragen.

Neue Terrorkampagne gegen die Opposition

Der Mord an Francisco Veliz

Wie jeden Tag brachte Francisco Veliz am 25. Oktober seine eineinhalbjährige Tochter zum Kindergarten. Kurz nachdem er aus dem Auto gestiegen war, näherten sich zwei Männer, die aus einem rotem Pick-Up mit verdunkelten Scheiben gestiegen waren und schossen ihm aus nächster Nähe in den Kopf. Veliz brach tödlich getroffen zusammen, seine Tochter, die er in seinen Armen hielt, lag blutüberströmt neben ihm. Die Täter flohen in Begleitung weiterer Autos in ihrem Pick-Up – es wurde nichts gestohlen. Zwei Polizisten, die in unmittelbaren Nähe des Tatortes waren, gaben an, nichts bemerkt zu haben. Ein Mord in klassischer Manier der Todesschwadronen.
Francisco Veliz war während des Krieges in der Politisch-diplomatischen-Kommission der ehemaligen Guerilla FMLN und aktuell Vorstandsmitglied der PRTC (eine der fünf FMLN-Organisationen), Mitglied des Nationalrates der FMLN und Kandidat für die Hauptstadt San Salvador bei den Parlamentswahlen am 20. März 1994. Er war damit der bisher hochrangigste FMLN-Repräsentant, der seit Abschluß des Friedensvertrages Anfang 1992 ermordet wurde.
Nur zwei Tage später wurden zwei ehemalige KämpferInnen der FMLN in der Nähe des Guazapa-Vulkanes brutal ermordet. Die 18-jährige Justa Victoria Orellana Cortez wurde in ihrem Haus durch einen Schuß in den Kopf ermordet, als sie gerade ihr einmonatiges Baby stillte.

Die Diagnose der Regierung: Eifersuchtsdramen und Raubüberfälle

Im letzten Jahr wurden vier Mitglieder der FMLN von Todesschwadronen ermordet, in den ersten zehn Monaten diesen Jahres sind es bereits 21. Die Regierung hat offensichtlich kein Interesse, die Morde aufzuklären und den Ex-Guerilleros ausreichend Schutz zu gewähren. Ihr Tenor ist: es gibt keine Todesschwadronen mehr, die Morde seien auf Raubüberfälle, Eifersuchtsdramen oder persönliche Streitigkeiten zurückzuführen. Die Untersuchungen der Morde blieben bislang ergebnislos. Nach dem Mord an Francisco Veliz mußte Präsident Cristiani reagieren. Das diplomatische Corps verurteilte den Mord und Augusto Ramírez Ocampo, Chef der UN-Beobachtergruppe ONUSAL, nahm am Trauerzug für Veliz teil. Präsident Cristiani drückte öffentlich “sein Bedauern über die Vorfälle” aus und bat die Regierungen der USA, Spaniens und Großbritaniens um Unterstützung bei der Aufklärung der Morde.
Die Regierung kann die Existenz von Todesschwadronen nicht mehr glaubhaft bestreiten. Gleichzeitig kann sie aber kein Interesse an einer wirklichen Aufklärung der Strukturen der Todesschwadronen haben. Während des zwölfjährigen Krieges in El Salvador haben die Todesschwadronen immer eng mit den staatlichen “Sicherheitskräften” zusammengearbeitet. Die Kommandozentrale war beim militärischen Geheimdienst DNI und dem Generalstab angesiedelt, und es deutet nichts darauf hin, daß sich seit Abschluß des Friedensvertrages daran grundsätzlch etwas geändert hätte. Die Todesschwadronen sind für die Dreckarbeit zuständig: Folter, Mord und das Verschwindenlassen von politischen GegenerInnen.

Unmut an der FMLN-Basis

Auch die FMLN ist in einer verzwickten Situation. Nicht nur, daß ihre Mitgleder wieder Opfer der Todesschwadronen werden, beunruhigt die Führungsspitze der ehemaligen Guerilla. An der Basis wächst der Unmut über den Friedensprozeß. Vielen ehemaligen KämpferInnen geht es heute schlechter als während des Krieges. Es gibt bereits einige Gruppen, die sich gegen den erklärten Willen der FMLN-Spitze wiederbewaffnet haben und die Anschläge der Todesschwadronen nun ihrerseits mit Attentaten gegen Militärs, Großgrundbesitzer und bekannte Mitglieder von Todesschwadronen beantworten wollen, beziehungsweise teilweise bereits damit begonnen haben.
Der Mord an Comandante Carmelo

FMLN-Koordinator Shafik Handal bereitete sich gerade auf eine Reise zu einer Krisensitzung mit UN-Generalsekretär Boutros Ghali in New York vor, als die Ermordung von Heleno Hernán Castro Aviles bekannt wurde. Castro Aviles – bekannter unter seinem Guerillanamen Carmelo – war am 30. Oktober auf dem Weg zu einem Treffen mit Vertretern der Europäischen Gemeinschaft, als sein Wagen gerammt wurde, er anhalten mußte und aus nächster Nähe in Mund und Kopf geschossen wurde. Carmelo war während des Krieges einer der wichtigsten militärischen Chefs der FMLN-Organisation ERP gewesen. Als FMLN-Vertreter in der “Comisión de Tierras” war er für die Übergabe von Land an ehemalige FMLN-KämpferInnen vor allem in der Region Usulután zuständig, wo die Großgrundbesitzer wegen der guten Böden der Landübergabe besonders ablehnend gegenüberstehen. Carmelo hatte bereits seit einiger Zeit Todesdrohungen erhalten. ERP-Chef Joaquin Villalobos meinte dann auch bei der Beisetzung von Carmelo, daß “wahrscheinlich Großgrundbesitzer” für den Mord verantwortlich seien.
Der bekannte Anwalt José María Méndez, ein guter Freund des FMLN-CD Vizepräsidentschaftskandidaten Francisco Lima, erhielt von der berüchtigten Todesschwadron “Maximiliano Hernández Martínez” einen Brief mit der Aufforderung, Francisco Lima bis spätestens 15. Dezember zum Rücktritt von seiner Kandidatur zu bringen – andernfalls würde seine Familie entführt und seine Ehefrau ermordet. Auch Lima und seine Familie erhielten Todesdrohungen.

Die geheimen Dokumente der USA

Selbst die USA, die über Jahrzehnte jedes Verbrechen früherer Regierungen in El Salvador mitgetragen haben, geben jetzt an, sich an der Aufklärung der Morde und der Aufdeckung der Strukturen der Todesschwadronen beteiligen zu wollen. Der neue US-Botschafter in San Salvador, Alan Flanigan, sicherte der FMLN in einem Gespräch die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten zu, in denen genaue Verbindungen zwischen salvadorianischen Todesschwadronen und ihren Helfershelfern in den USA belegt werden. Die “Wahrheitskommission”, die im Auftrag der Vereinten Nationen bis zum März 1993 die Menschenrechtsverletzungen in El Salvador zwischen 198o und 1991 aufdecken sollte (vgl. LN 226), hatte noch vergeblich versucht, Einsicht in die brisanten Dokumente zu erhalten.

Von der Todesschwadron in den Präsidentenpalast?

Anfang November wurde Parteichef Armando Calderón Sol, bis vor kurzem noch Bürgermeister von San Salvador, offiziell zum Präsidentschaftskandidaten von ARENA nominiert. Calderón Sol gehört zum rechten Flügel innerhalb der Partei. Erst vor wenigen Wochen hatten elf inhaftierte Militärs, die bei der Amnestie im März 1993 nicht freigelassen wurden, im Gefängnis von Santa Ana ausgesagt, daß Calderón Sol früher selbst Mitglied einer Todesschwadron gewesen sei. Calderón Sol habe unter anderem mit dem im letzten Jahr verstorbenen ARENA-Gründer Roberto d’Aubuisson Anfang 1980 in der “Breiten Nationalistischen Front” (FAN) zusammengearbeitet. Die FAN hatte beispielsweise im März 1980 beschlossen, Bomben im Landwirtschaftsministerium, das wenige Tage vorher eine Agrarreform initiiert hatte, zu legen. Am 17. März 1980 explodierten tatsächlich Sprengsätze in den Büros des Landwirtschaftsministeriums in San Salvador, Zacatecoluca, Ahuachapan und San Miguel. Auf der entscheidenden Sitzung hatte auch Calderón Sol teilgenommen. Ziel der Aktivitäten der FAN war es, die “Regierungsjunta” zu destabilisieren und die bescheidenen Reformen, die die Junta in Gang gesetzt hatte, zu torpedieren.
Isidro López Sibrián, früher Offizier der berüchtigten Nationalgarde und seit 1986 wegen Entführungen – er war bereits seit 1984 aus der Nationalgarde entlassen- und illegalem Waffenbesitz inhaftiert, sagte in einem Interview, daß er bereits Anfang des Jahres der “UN-Wahrheitskommission” Angaben über Verbindungen von Politikern und Geschäftsleuten zu den Todesschwadronen gemacht habe, diese aber im Abschlußbericht der Kommission nur teilweise auftauchten.
Einiges weist darauf hin, daß die Wahrheitskommission gerade im Bereich der Todesschwadronen wichtige Informationen zurückgehalten hat, die führende salvadorianische Politiker aber auch die US-Administration belastet hätten. Calderón Sol ist einer von ihnen. Noch hat er gute Chancen, der nächste Präsident El Salvadors zu werden. Zumal in den weitgehend von der Regierung und der extremen Rechten kontrollierten Medien über Calderón Sols Beteiligung am rechten Terror gegen die Regierungsjunta Anfang 1980 nichts zu erfahren war. Im Fernsehen und in fast allen Radios wurden die Aussagen der in Santa Ana inhaftierten Militärs verschwiegen, nur die kleine Tageszeitung “Diario Latino” hatte darüber berichtet.

Cristiani leugnet und bestätigt ARENA-Beteiligung an den Todesschwadronen

Mitte November haben die USA tatsächlich wie angekündigt einen Teil der geheimen Dokumente des CIA und des Pentagon veröffentlicht. Diesmal kann die salvadorianische Regierung die Verbindung ihrer Leute zu den Todesschwadronen nicht mehr leugnen. Sowohl Calderón Sol als auch der derzeitige Vizepräsident, Francisco Merino, haben demnach Verbindungen zu den Todesschwadronen. Auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz verwahrten sich Cristiani, Merino und Verteidigungsminister Humberto Corado gegen die Beschuldigungen aus den USA. Dabei bestätigten sie aber indirekt die Richtigkeit der Enthüllungen, als Cristiani ankündigte, daß die Regierung juristisch prüfen werde, ob nicht eine Verletzung internationaler Verträge in Sachen Spionage vorliege.

Wir bitten darum, die beigeheftete Postkarte abzuschicken, um die Vereinten Nationen dazu aufzufordern, endlich alle Informationen über die Strukturen der Todesschwadronen offenzulegen und gemäß den Empfehlungen der “UN-Wahrheitskommission” eine genaue Untersuchung der Todesschwadronen durchzusetzen.

Zuviel gesiegt

Das ganze Jahr hindurch hatte der “CCD”, der “Demokratische Verfassungsgebende Kongreß”, getagt, nun lag dem Volke am 31.Oktober das Ergebnis seiner Arbeit zur Abstimmung vor: der Entwurf für eine neue peruanische Verfassung. Überraschungen enthält dieser nicht, hatte Fujimori doch bei der Wahl des Kongresses im November letzten Jahres mit nicht unbedingt demokratischen Mitteln klare Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten sichergestellt. Und so erschienen denn auch alle öffentlich umstrittenen Anliegen des Präsidenten in der Vorlage: die Stärkung der präsidentiellen Macht gegenüber dem Parlament, die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl des Präsidenten bis hin zu einer maximalen Amtszeit von zehn Jahren. Vor allem der letztgenannte Punkt setzte Fujimori heftiger Kritik aus, denn man darf davon ausgehen, daß er an sich selbst als ersten Nutznießer dieser Verfassungsänderung denkt.

Der “Präsident von Lima”

Für Fujimori war das Referendum damit auch schon ein erster Vorlauf für die Präsidentschaftswahl 1995. Mit der knappen Zustimmung der peruanischen Bevölkerung am 31.Oktober ist der Weg für eine erneute Kandidatur zwar formal frei, aber Fujimori kann mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Nur in der Hauptstadt Lima konnte er mit über 60% noch eine solide Mehrheit erreichen, während in vielen anderen Departements das “No” gewann. Schon tituliert die Zeitschrift “Sí” Fujimori als “Präsidenten von Lima”.
Drei Jahre lang hatte er es immer wieder geschafft, im richtigen Moment durch spektakuläre Erfolge Popularitätswerte von über 70% zu erzielen, obwohl er seinen WählerInnen einiges zumutete. Angefangen mit dem wirtschaftlichen Schockprogramm 1990 bis zu seinem “Selbstputsch” am 5.April 1992, als er Parlament und Obersten Gerichtshof auflöste, enthielt seine Regierungszeit allerhand Schwerverdauliches. Aber Fujimori traf mit seinem Auftreten meist ins Schwarze der öffentlichen Meinung. Bei seinem Putsch präsentierte er sich als starker Präsident, der mit dem korrupten Sumpf in Parlament und Justiz aufräumt. Den Höhepunkt des Erfolges bildete der 12.September 1992: Abimael Guzmán wurde verhaftet.
In jedem Fall konnte Fujimori für das Referendum auf die ungewollte Unterstützung der Opposition zählen. Die Kampagne für das “No” war ein Zankapfel zwischen mehreren Oppositionsparteien, von denen pikanterweise ausgerechnet die Ex-Regierungspartei von 1985 bis 1990, Alan Garcías populistische APRA, Führungsansprüche anmeldete. Die bloße Erwähnung der APRA sorgt bei der großen Mehrheit der PeruanerInnen nach wie vor für spontanes Entsetzen, so gesehen konnte die APRA-Spitze Fujimori keinen größeren Gefallen tun, als sich öffentlich vehement gegen den Verfassungsentwurf auszusprechen.

Vom Triumph ins Dilemma

Das wichtigste Element der Kampagne Fujimoris vor dem Referendum war die angebliche Kapitulation Sendero Luminosos. Sorgfältig hatte er die Veröffentlichung der Briefe Guzmáns inszeniert, um sich wieder einen Popularitätsschub in der öffentlichen Meinung zu verschaffen. Guzmán hatte dabei offensichtlich seine eigenen guten Gründe, das Spiel mitzuspielen (siehe LN 233). Fujimori, scheinbar im Besitz aller Trümpfe, könnte allerdings zu sorglos gepokert haben.
Peinlich genug war schon die Vorgeschichte. Unter Berufung auf vertrauliche Palastquellen hatten zwei große Zeitungen in Lima schon im Juli angekündigt, zum Nationalfeiertag am 28.Juli sei eine spektakuläre Äußerung von Abimael Guzmán zu erwarten, er werde die Kapitulation verkünden. Das ganze Land saß während der Präsidentenrede vor dem Fernseher, aber Fujimori erwähnte die Meldungen mit keinem Wort. Auch vor dem ersten Jahrestag der Festnahme Guzmáns am 12.September kochte wieder die Gerüchteküche. Als Fujimori am 1.Oktober vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen den ersten Brief Guzmáns präsentierte, war dieser zwar in Peru immer noch eine Sensation, aber trotzdem blieb der Eindruck, der Präsident habe mit den Guzmán-Briefen taktiert, um sie erst im für ihn geeigneten Moment des Verfassungswahlkampfes an die Öffentlichkeit zu bringen.
Mit seinem Triumphalismus angesichts der angeblichen Kapitulation Senderos hat sich Fujimori, ob es nun von Guzmán beabsichtigt war oder nicht, in ein Dilemma manövriert. Fujimori weiß, daß er mit seinem autoritären Regierungsstil auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung angewiesen ist, will er nicht im eigenen Land als einsamer Diktator dem protestierenden Volk gegenüberstehen. Um diese Unterstützung zu behalten, braucht er beides: den Sieg über Sendero Luminoso und die weitere bedrohliche Existenz der Guerilla.
Der Sieg ist die nachträgliche Rechtfertigung aller undemokratischen Maßnahmen. Die Bevölkerung hatte Sendero tatsächlich als so große Bedrohung wahrgenommen, daß sie fast jede beliebige Initiative des Präsidenten mehrheitlich mitzutragen bereit war, solange sie Erfolg gegen den Terrorismus versprach. Ohne eindeutige Erfolgsmeldung mußte die Popularität des Präsidenten bröckeln, deshalb die bombastische Inszenierung des Postverkehrs zwischen Hochsicherheitsgefängnis und Präsidentenpalast.
Darüberhinaus war der Erfolg essentiell für das wichtigste Ziel Fujimoris: Er mußte ein Signal an das bisher so investitionsunwillige internationale Kapital aussenden. Schon als er 1990 das Amt antrat, formulierte er zwei zentrale Anliegen: den Sieg über den Terrorismus und die Anwerbung massiver Investitionen aus dem Ausland. Das Kapital kommt erst, wenn der Ausnahmezustand von Stabilität abgelöst ist und damit die Investitionsrisiken vermindert werden. Nicht zufällig war es die internationale Bühne der UNO, die Fujimori für die Bekanntgabe des ersten Briefes nutzte.
Genauso wichtig wie der Sieg über Sendero ist für den Erfolg Fujimoris in der öffentlichen Meinung allerdings auch die Existenz des Terrorismus. In dem Maße wie das subjektive Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch den Terrorismus bei den Menschen abnimmt, sinkt auch die Selbstverständlichkeit der Unterstützung für den Präsidenten. Fujimori hat seinen Zweck gewissermaßen erfüllt, für die immer weitere Konzentration der Macht in seiner Person fehlt ihm zunehmend die Legitimation. Der Präsident ist dabei, einen der wichtigsten Pfeiler seiner Macht eigenhändig zu untergraben. Die Möglichkeit, mit einer Angstkampagne vor einem Wiederaufleben Senderos die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu behalten, birgt ein hohes Risiko, denn in dieser Argumentation läge das Eingeständnis, daß der Sieg nicht ganz so triumphal war, wie noch vor kurzem verkündet. Unbeschädigt kann Alberto Fujimori kaum noch aus diesem Dilemma herauskommen.

Nicht alle Senderistas sind verhaftet

Noch schwieriger wird Fujimoris Position durch die jüngsten Attentate Sendero Luminosos. Die noch aktiven Kader unterstrichen im Vorfeld des Referendums mit einer ganzen Serie von Anschlägen, daß sie keineswegs an Aufgabe denken. Es ist unklar, wie schlagkräftig die Reste Sendero Luminosos noch sind, ob es ein gemeinsames Oberkommando gibt oder ob einzelne “Säulen” isoliert voneinander handeln. Über die Entwicklungen in den noch funktionierenden Strukturen Senderos nach den Briefen Guzmans kann nur spekuliert werden. Interne Spaltungen sind ebenso denkbar wie eine Distanzierung der neuen Sendero-Elite, wenn es sie denn gibt, von der verhafteten Führungsschicht.
Fest steht, daß die Briefe Guzmáns nicht eine allgemeine Demoralisierung der verbliebenen Senderisten bewirkt haben, daß sie aber ganz offensichtlich weit davon entfernt sind, die Kraft für eine neue umfassende Offensive aufzubringen.
Die Frage ist, wie die Lage nun von der Bevölkerung wahrgenommen wird und wie das so heftig umworbene internationale Kapital reagiert. Die neuen Attentate Senderos machen Fujimori nicht völlig unglaubwürdig, aber das Image des “starken, kompetenten Führers” ist schon angekratzt. Auch die potentiellen Investoren dürften mit Aufmerksamkeit registriert haben, daß der offizielle Diskurs Teile der Realität sorgfältig ausspart.

An der Leine der Streitkräfte

In der öffentlichen Meinung hat Fujimori, wie das Ergebnis des Referendums zeigt, seine Mehrheit noch nicht verloren. Aber Fujimori ist ein Präsident, der von kurzfristigen Konjunkturen lebt. Er hat keine stabile soziale Basis und keine starke, ihn stützende Partei. Eine solche Herrschaft ist auf die plebiszitäre Zustimmung der Bevölkerung angewiesen, egal, ob diese den Präsidenten aus tiefster Überzeugung oder als kleineres Übel unterstützt. Wenn, wie in Peru, der Großteil der Unterstützung aus der pragmatischen Entscheidung für das kleinere Übel resultiert, kommen dabei Mehrheiten heraus, die in kürzester Zeit wieder verlorengehen können. Für Fujimori heißt das, daß auch kleine Anzeichen von Mißerfolg und Schwäche schon zu einem rapiden Popularitätsverlust führen können.
Angesichts dieser Gefahr muß sich Fujimori verstärkt auf andere Stützen seiner Macht verlassen, vor allem auf die Militärs, die ihn bisher vorbehaltlos unterstützten. Sie aber fordern für ihre Unterstützung einen Preis: Der Präsident soll ihnen den Rücken gegenüber Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen freihalten. Der Fall der verätzten Leichen von La Cantuta könnte dabei für Fujimori zum Prüfstein werden.
Am 18.Juli 1992 waren neun StudentInnen und ein Professor der Universität La Cantuta in Lima entführt und ermordet worden. Erst ein anonymer Brief an eine peruanische Zeitschrift ein Jahr später sorgte dafür, daß die Überreste der Leichen gefunden wurden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Täter aus den Streitkräften kamen. Fujimori weiß, daß international die Menschenrechtssituation in Peru sehr aufmerksam verfolgt wird. Negative Schlagzeilen sorgen schnell für eine schwächere Verhandlungsposition Perus gegenüber anderen Ländern und den großen internationalen Finanzinstitutionen. Auch zwischen der gewachsenen Abhängigkeit von den Militärs einerseits und dem internationalen Druck in Sachen Menschenrechten andererseits sind die Spielräume Fujimoris außerordentlich klein geworden.
Fujimori hatte, ebenso wie Abimael Guzmán, große Pläne zur Schaffung einer “neuen Demokratie”, eines neuen Staates, der die marode Parteiendemokratie ablösen sollte. Guzmán hat seine Pläne bereits verschieben müssen. Vielleicht liegt für Fujimori in dem Triumph, seine Präsidentschaft bis ins Jahr 2000 verfassungsrechtlich möglich gemacht zu haben, gleichzeitig der Anfang seines politischen Endes. Wer davon profitieren wird, ob die alten politischen Parteien oder andere Kandidaten, ist eine Frage für sich. Aber die Jahre der absoluten Herrschaft Fujimoris scheinen vorbei zu sein. Der Spielraum für andere politische Optionen, welcher Couleur auch immer, ist größer geworden.

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