“No pasarán” – schon passé?

Zwei Schwerpunkte sollten auf diesem BUKO-Kongress bearbeitet werden: Die geschichtlichen Bezugspunkte der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen – von den kolonialen Unabhängigkeitskämpfen über die Periode der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zum Zusammenbruch des Realsozialismus und der mehr oder weniger zeitgleichen Abwahl der Sandinisten – sowie die aktuelle Situation der linken Parteien und Bewegungen in Lateinamerika, als eines Spektrums, das von der die Massen einbindenden PT in Brasilien bis zur EZLN mit ihrer neuen Art des Diskurses und ihrer eigentümlichen und faszinierenden Rhetorik reicht.
Linke Traditionen
Zum Auftakt spannte Wilfried Dubois den geschichtlichen Bogen emanzipatorischer Bewegungen in Lateinamerika. Angefangen vom Tupac Amaru-Aufstand in Peru Ende des 18. Jahrhunderts und den Sklavenaufständen in Haiti, über die mexikanische Revolution und die Werdegänge der verschiedenen lateinamerikanischen KPs in den Zeiten der 3. Internationale, über die Rebellentruppe von Sandino, der vergeblichen Auflehnung gegen die Militärregierungen in Guatemala und El Salvador, bis zur Landung der Granma am 2. Dezember 1956 in Kuba.
Anschließend beschäftigte sich Knut Rauchfuß mit der Entwicklung der Stadt- und Landguerilla von 1959 bis 1976. Eine Periode, die in erster Linie durch den von Che Guevara und Regis Debray geprägten Begriff des foquismo gekennzeichnet ist: Die bewaffneten Aktionen ländlicher Widerstandsgruppen (foco = Brandherd, Brennpunkt) sollen schrittweise einen allgemeinen Volksaufstand auslösen.
Eine andere bestimmende Debatte dieser Zeit war die Kontroverse bewaffneter Kampf versus Revolutionierung der Gesellschaft durch das Parlament. In Chile beispielsweise wurden diese gegensätzlichen Standpunkte einerseits durch die revolutionäre MIR-Bewegung und andererseits durch die regierungsbildende Unidad Popular vertreten.

Nationaler Befreiungskampf im Hinterhof

In den 70er Jahren, zu einer Zeit als der foquismo bereits an Bedeutung verlor, betraten die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen die politische Bühne. Allen voran, aufgrund ihres militärischen Sieges eindeutige Zeichen setzend, die FSLN.
Albert Sterr ging in einem Referat über die mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen auf die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Bezugspunkte ihrer heterogenen Mitgliederschaft ein. Sie bezogen sich auf so unterschiedliche Quellen wie die der Überlebenden der Bewegungen der 60er Jahre (Nicaragua, Guatemala), der Basiskirche (El Salvador, Nicaragua), und den diskriminierten ethnischen Mehrheiten (Guatemala).
Die gemeinsame Basis, auf der diese Bewegungen wachsen konnten, war die schwindende politische Legitimation gewalttätiger Familien-/Militärdiktaturen, die durch offensichtlich gescheiterte “Modernisierungsprojekte” zusätzlich geschwächt wurden. Hinzu kam eine in weiten Teilen der Bevölkerung nationalistisch-antiimperialistische Haltung, die sich als Folge der klassischen “Hinterhof der USA”-Situation entwickelte.

Abgewürgte Konsruktivität

Eine Ende der 70er Jahre in Europa sozialdemokratisch geprägte Politik, die “sanfte” US-Außenpolitik der Carter-Regierung sowie die eigenständige, prolateinamerikanische Außenpolitik Mexikos und Venezuelas ließen Spielräume für eine revolutionäre, von den Massen akzeptierte Politik in Mittelamerika und erleichterten den Aufbau und Zusammenhalt der Befreiungsbewegungen unter Einbindung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte.
Albert Sterr verwies hier auf die Politik der FSLN sowie auf die bedauernswerte Tatsache, daß diese nach mehreren Seiten offene Herangehensweise im Grunde nach 1982/83 keine substantielle Änderung mehr erfuhr, sondern schlichtweg der externen aufoktroyierten Aggression zum Opfer fiel. Dieser Außendruck – der bereits während der Carter-Administration einsetzte – führte zu einer Militarisierung beziehungsweise Lähmung der Gesellschaft und damit zum Abbruch konstruktiver politischer Entwicklungsprozesse.

Von der Uniform zur Krawatte

In der heutigen Situation der teilweisen Einbindung der ehemaligen Freiheitskämpfer in die legale politische Bühne stellt sich, so Albert Sterr, erneut eine Legitimationsfrage. Militärische Befehlshaber werden zu kompromißfreudigen zivilen Politikern und gehen auf demagogische Verhandlungsangebote ein.
Eine Umorientierung, die sich, so Sterr, bereits vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 abzeichnete. Dieser noch keineswegs vollendete Prozeß ist widersprüchlich und schmerzhaft, ohne jedoch bislang zu direkten Auflösungserscheinungen der ehemaligen Befreiungsbewegungen zu führen. Hier spätestens stellten sich die Fragen nach dem Verbleib des ursprünglichen linken Anspruchs und den realistischen Alternativen, die diese Bewegungen heute noch haben: Ist eine Integration in die Institutionen des bestehenden politischen Systems der erstrebenswerte Kompromiß? Muß es früher oder später zu Spaltungen kommen? Ist die Teilnahme innerhalb der “Zivilgesellschaft” nicht letztendlich ein “Rübergezogenwerden”? Dies alles muß sich, speziell was die aktuelle Entwicklung in El Salvador und Guatemala angeht, noch herausstellen.

Ökonomische Programme “unter aller Sau”

Diskutiert wurden auch die wirtschaftlichen Konzepte der Befreiungsbewegungen. Klammert man den Krieg als kontraproduktiven Faktor aus, so bleibt vor allem Konzeptlosigkeit. Die SandinistInnen zum Beispiel beschränkten sich auf lediglich partielle Eingriffe in den Privatbesitz. Betrachtet man die ökonomischen Programme, die die militärisch mehr oder weniger erfolgreichen Befreiungsbewegungen auf die Beine stellten, so muß man – ungeachtet ihrer Nicht-Durchsetzbarkeit aufgrund der externen Bedrohung – feststellen, so Sterr, “daß sie unter aller Sau waren”.

Wegbereiter für Demokratie

Insgesamt läßt sich jedoch feststellen, daß es den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen immerhin gelang, die Prozesse absoluter Verarmung und Überausbeutung zumindest zu bremsen, sowie Freiräume zu schaffen, in denen Begriffe wie Demokratie und Meinungsfreiheit wieder mit Inhalten gefüllt werden. Man mag angesichts der abrupten Kehrtwendungen und Sozialdemokratisierung ehemaliger Kampfgenossen anderer Meinung sein und diese als moralische Verräter empfinden: Vom bequemen Diskussionsschemel aus verurteilt sich’s leicht. Es gilt letztendlich zu berücksichtigen, daß Politiker wie zum Beispiel Joaquín Villalobos in El Salvador immerhin jahrelang ihr Leben im Untergrund für die Bevölkerungsmehrheiten eingesetzt haben – ein Engagement ohne das heute vieles nicht denkbar wäre.
Bei der Beurteilung des Scheiterns oder Nicht-Scheiterns von lateinamerikanischen Guerillabewegungen sollte man jedoch differenzieren: was ist wo und warum gescheitert? So kann man etwa die eher pragmatischen Bewegungen Mittelamerikas nicht mit dem dogmatisch verkrusteten Sendero Luminoso in die gleiche Guerilla-Schublade stecken. Es gilt sowohl regional als auch zeitlich, und nicht zuletzt auch ideologisch, zu unterscheiden und je nachdem unterschiedliche Erklärungsmodelle zu finden.

Kontinentale Vernetzung – das Foro Sao Paulo

Alfonso Moro, ein der FZLN nahestehender, zur Zeit in Paris lebender mexikanischer Journalist und Historiker, gleichzeitig der einzige lateinamerikanische Linke unter den Vortragenden, dokumentierte aus seiner Sicht die Lage der Linken und die Ansätze zur Koordination, die sich seit 1990 im Foro Sao Paulo manifestieren. Nach Moros Einschätzung könne man von einem Scheitern der Linken in Lateinamerika nicht sprechen, obwohl Unkoordiniertheit eines ihrer Charakteristika sei. Er sieht eine dringende Notwendigkeit darin, die Heterogenität und Diversität der Linken und ihre von Land zu Land unterschiedliche Verankerung zu beachten. So stehen etwa der brasilianischen PT, mit einer Basis von 600.000 Mitgliedern, über 50 linke Splittergrüppchen im Nachbarland Argentinien gegenüber. Eine derartige Vielfalt an einen Tisch zu bringen, könnte man wohl als das Hauptanliegen des Foro Sao Paulo bezeichnen, das 1990 auf Initiative der kubanischen KP und mithilfe der PT zum ersten Mal stattfand. Das Foro sollte keine Ersatz-Internationale werden, sondern die verschiedenen linken Strömungen des Kontinents zusammenbringen. Positiv ist zu den sechs Foros, die in jährlichem Abstand stattgefunden haben, anzumerken, daß sie als Novum einen anti-dogmatischen Diskussionsraum für alle “ista’s” und “ismo’s” bieten, und die neuen Eckpfeiler linker Politik auf dem Kontinent thematisieren: den Kampf gegen den Neoliberalismus, Demokratisierung und Wiederannäherung an die Macht.

Die neuen Lehren des Don Durito

Zum Abschluß analysierte Jutta Klaß die neue Art der ZapatistInnen, linke Politik zu machen. Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen der Diskurs der EZLN, ihr an indigenen Traditionen orientiertes Demokratieverständnis sowie die aktuelle, brisante Situation in Mexiko nach dem Auftauchen der EPR-Guerilla.
Durch das Anknüpfen an Volks- beziehungsweise Maya-Mythen zeigt sich ein Lernprozeß innerhalb des zapatistischen Aufstandes. Das Aufgreifen indigener Konzepte innerhalb des Diskurses bedeutet nicht nur einen Erfrischungseffekt, sondern auch einen Bruch mit den sattsam bekannten Avantgarde-Traditionen und somit ein Bekenntnis dazu, sich tatsächlich für deren ureigenste Forderungen einzusetzen: Besagte Absage an die Machteroberung, die Impulse an die Basis zur Selbstorganisation, ein nicht nur formales, sondern an die konkrete Praxis in den Indígena-Gemeinden angelehntes Demokratieverständnis, die Eingliederung sozialer Bewegungen und die Integration eines historischen Selbstbewußtseins aus 504 Jahren Widerstand.
Letzteres ist auch treibender Motor und nach außen gekehrte Legitimation der neu aufgetretenen Guerilla EPR: sie beziehen sich auf die Guerrilla-Führer Cabañas und Vasquez aus den siebziger Jahren. Wesentliche Unterschiede gegenüber den Anliegen der EZLN liegen jedoch zum einen im Revolutionsprinzip – die EPR votiert für eine militärische Option, für die Machteroberung und gegen Verhandlungslösungen – und in den praktizierten Rekrutierungs- und Finanzierungsmethoden, die an Caudillismo erinnern. Obgleich es keine offizielle Abgrenzung zwischen EZLN und EPR gibt, warnt Subcomandante Marcos – der sich seitens der EPR den Vorwurf gefallen lassen muß, daß mit Poesie keine Kriege zu gewinnen seien – doch vor einer potentiellen Kontraproduktivität dieser neuen Guerilla, wenn auch deren Auftauchen vermutlich letztendlich unvermeidbar war.
Nach Moros Einschätzung ist es weder richtig noch angebracht von einem Scheitern der lateinamerikanischen linken Befreiungsbewegungen zu sprechen. Wenn auch das ursprünglich durchaus im Vordergrund stehende Ziel einer politischen Umwälzung in keinem der zu Popularität gelangten Fälle erfolgreich umgesetzt werden konnte, so muß man doch die Teilerfolge in Rechnung stellen. Stichworte wie Demokratisierung, Meinungsfreiheit sowie die Aufklärung von vertuschten beziehungsweise verdrängten Menschenrechtsverbrechen haben heute einen hohen Stellenwert.
Die lateinamerikanische Linke ist – so Alfonso Moro – durchaus lebendig. Sie ist jedoch auch mit einigen enormen Herausforderungen konfrontiert, unter denen als erstes der Neoliberalismus zu nennen ist. Weitere zu thematisierende Aspekte sind die Konfrontation mit der politischen Instabilität (wie derzeit in Mexiko), die Institutionalisierung linker Politik (wie etwa im Falle der brasilianischen PT), sowie die eher “neuen” Themen wie Frauen, Migration, Umwelt und kultureller Identität.
Bei der Abschlußdiskussion des Treffens in Radevormwald wurde bedauert, daß der Diskussionsteil zu kurz kam. Die Realisierung eines “Foro Remscheid Lennep” innerhalb von 2 1/2 Tagen wäre natürlich wünschenswerter gewesen als eine Bestandsaufnahme im Sinne eines “von dann … bis dann… ist dies erreicht, dies nicht erreicht worden”. Es gelang jedoch, mit dem kompakten Programm eine Aktualisierung und Verortung des linken Spektrums in Lateinamerika vorzunehmen. Eine Art Grundlage – diskutieren kann man ja immer noch.

“Das Gespenst ist lebendig”

Paco, hier in Deutschland bist Du vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt. Was hat Dich an der Fertigstellung dieses Buches über den Che in Afrika am meisten gereizt?

Zum einen war es die Art und Weise der kriminalistischen Untersuchung. Andererseits ist es die Liebe zur Figur des Che, die Notwendigkeit, den Che zu entmystifizieren, um ihn re-mystifizieren zu können, einen neuen Mythos aus Fleisch und Knochen zu schaffen. Es geht darum, diese fotografische Ikone von der Inhaltsleere zu befreien, die T-Shirts und Poster mit Inhalt zu füllen. Ich glaube, daß genau dies eine wichtige Aufgabe ist, nicht nur für meine Generation.
Immer wenn ich beginne über das Thema zu reden, entdecke ich, daß es eine richtige Leidenschaft seitens der jüngeren Generation gibt, herauszufinden, was hinter dieser Ikone steckt: der unmögliche Revolutionär und Abenteurer – oder eine Person aus Fleisch und Blut, mit Widersprüchen, Irrtümern und Vorschlägen. Und natürlich geht es um das Interesse an einer noch nie erzählten Geschichte. Man fragt sich, warum sie bisher noch nicht erzählt wurde. Vor allem, wenn man der ureigensten Logik des Che folgt: Die Geschichte darf nicht schweigen, man muß sie erzählen. Eine Position, die auch der Che vertreten hat: Schreiten wir mit der Wahrheit voran, komme was wolle.

Warum wurden nur Teile aus Che Guevaras Aufzeichnungen veröffentlicht und nicht der gesamte Text?

Das ist schnell gesagt: Das entscheidende Kriterium war die historische Information. Alle Texte des Che, die uns wichtig erschienen, sind abgedruckt. Diejenigen, in denen Che Geschichten aus zweiter Hand erzählt und zu denen wir direkte Zeugen zur Verfügung hatten, fielen raus. Wenn zum Beispiel Che von einer Geschichte schrieb, die ihm sein Mitkämpfer Viktor Dreke erzählt hat, lassen wir diesen zu Wort kommen. Denn Victor Dreke lebt und kann die Ereignisse selbst schildern.

In der “tageszeitung” vertrat der kubanische Journalist Reynaldo Escobar die Auffassung, das Buch sei wohl ein Auftragswerk Fidel Castros, da nur dieser selbst die Publikation von Ches Aufzeichnungen genehmigen könne. Was denkst Du darüber?

Die Frage ist doch: Woher will der Verfasser des Artikels das denn wissen? Falls sich Fidel entschlossen hätte, das Tagebuch des Che zu veröffentlichen, hätte er das getan. Er hätte nicht uns als “U-Boote” mit einem Manuskript vorschicken müssen. Woher will der Journalist wissen, wie das Manuskript in unsere Hände gelangt ist? Er weiß es nicht.
In Kuba existiert eine sehr zentralisierte Herangehensweise gegenüber diesen Themen der geschichtlichen Debatte. Aber Kuba ist ein Land, in dem die Leute sich unterhalten, sich gegenseitig Sachen erzählen, in dem die Geschichte lebendig ist. Was man nicht mithilfe von Freunden im Staatsapparat löst, gelingt mithilfe von unzähligen Bekannten, mit compinches und compadres, die den Che ebenfalls bewunderten.
Ich traf bei meinen Recherchen in Kuba auf zwei völlig unterschiedliche Reaktionen: auf der einen Seite Funktionäre, die mir alle Türen versperrten, mich beleidigten und mir vorhielten, ich wolle nur die Figur des Che gegen die von Fidel ausspielen. Andere wiederum waren sehr hilfsbereit, öffneten die Schubladen und zeigten uns die Dokumente, die uns von den anderen verweigert worden waren.

Das Buch ist sicher wichtig für eine Neubewertung des philosophischen und politischen Denkens Che Guevaras. Aber haben denn seine Auffassung von Internationalismus und seine Utopie vom Neuen Menschen fast 30 Jahre nach seinem Tod noch Relevanz?

Eine Gesellschaft ohne Utopie ist eine absterbende Gesellschaft. Das philosophische Gedankengut der Konservativen benötigt keine Utopien. Es operiert unter einer Logik der Verfälschung: Du streichst die alltägliche Realität grün an, und verkaufst sie weiter. Das reaktionäre Denken braucht keine Utopie, es braucht nur eine Verkleidung der Realität.
Die Linke jedoch kann ohne die Formulierung einer Utopie, die den gegenwärtigen Alltag mit der Idee der Zukunft verknüpft, nicht überleben. Deshalb ist die Suche nach einer komplexen Utopie so wichtig: simple Utopien – schwarz-weiß gefärbt und verlogen – gibt es genug. Ich glaube, daß uns Che in zweifacher Hinsicht Material bietet, anzufangen nachzudenken: Seine Idee von Gerechtigkeit und die Übereinstimmung zwischen Wort und Tat. Dies waren zwei zentrale Elemente in Ches alltäglichem und politischem Leben. Man muß nicht nur betrachten, was er sagt, sondern auch, was er macht. Das ist fundamental für die Reformulierung eines utopischen Denkens.

In Mexiko erschien vor wenigen Tagen eine umfangreiche Che-Biographie von Dir. Welchen Stellenwert hat darin die Kongo-Episode?

Die Kongo-Episode nimmt darin einen wichtigen Platz ein. Wichtiger noch ist jedoch die Geschichte des Che als Industrieminister. Diese Geschichte ist niemals in geordneter Weise dargestellt worden. Was machte Che dreieinhalb Jahre im Industrieministerium? Welches industrielle Modernisierungsmodell entwarf er? Wie sah seine Beziehung zu den ArbeiterInnen aus? Wie kämpfte er gegen die Bürokratie? Obwohl die Industrieminister-Tagebücher noch nicht veröffentlicht wurden, konnte ich all’ diese Probleme in lebendiger Form diskutieren, da ich Einblick in die Akten der Direktion des Ministeriums bekam.

Sowohl die “Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung” (EZLN) als auch das seit kurzem agierende “Revolutionäre Volksheer (ERP) beziehen sich auf den Che. Gibt es in Mexiko eine Renaissance guevaristischer Ideen?

Dies bedeutet doch vor allem, daß das Gespenst lebendig ist. Diese Renaissance gibt es jedoch nicht nur bei den bewaffnet kämpfenden Gruppen, sondern auch und vor allem auf der Ebene der städtischen Bewegungen, die das Problem der Gerechtigkeit debattieren, den Stil der Machtausübung. Anders ausgedrückt: Wichtig ist, den Che nicht auf den Guerrilla-Krieg zu reduzieren, auf eine Methodik. Wenn Du das tust, verwandelst Du ihn eine Guerilla-Option mit ziemlich abenteuerlichem und avantgardistischem Zuschnitt; mit Konzepten, wie sie in den siebziger Jahren formuliert wurden. Das ist sehr dürftig. Die historische Distanz darf den Blick nicht überschatten; die Vergangenheit darf nicht mechanisch in die Gegenwart übertragen werden. Es gibt viele Ches, man muß sie alle sehen, nicht nur einen.

Berlin, 11. Oktober 1996

Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald

“Also gut. Salud und guten Appetit. Die Lektüre ist eine Nahrung, die glücklicherweise nie sättigt.” (Subcomandante Marcos)
Mit den “Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald” stellt Edition Nautilus wesentliche Schriften der mexikanischen Guerilla vor. Die Textauswahl umfaßt die Zeit vom Aufstandsbeginn bis zum 503. Jahrestag der Eroberung Lateinamerikas am 12.10.1995 und vermag auch ohne Begleitkommentare einen spannenden und lehrreichen Überblick über Ursachen und Verlauf der bewaffneten Rebellion zu vermitteln. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Anthologie politischer Pamphlete, sondern – und das macht den besonderen Reiz der Lektüre aus – um Literatur. Gerade dieser Aspekt, die brutale Beschreibung alltäglicher Erfahrungen und die humorvolle, oftmals selbstironische Bewertung aktueller Ereignisse, macht die Zeugnisse aus der Feder des Subcomandante Marcos so wertvoll. Offizielle Erklärungen der Generalkommandantur der EZLN, Grußworte an die Gründungsversammlung des Nationalen Demokratischen Konvents (CND) und die Internationale Solidarität, Briefe an SchriftstellerInnen und Gewerkschaften, Analysen über Wesen und Art des Neoliberalismus, Ausflüge zu Traditionen und Visionen indigener Völker und surrealistische Exkursionen des Zapatistensprechers bilden einen Lesestoff, der fasziniert und gleichzeitig zum Nachdenken anregt:
“Der Vizekönig träumt, daß sein Land von einem fürchterlichen Wind durchgeschüttelt wird. Daß ihm weggenommen wird, was er geglaubt hat. Daß sein Haus zerstört wird und das Reich, das er regiert, untergeht. Er träumt und kann nicht schlafen. Also geht der Vizekönig zu seinen feudalen Herren, und die sagen ihm, sie hätten dasselbe geträumt. Der Vizekönig findet keine Ruhe, er sucht seine Ärzte auf und die sagen ihm, es handele sich um indianische Hexerei. Und sie entscheiden, er könne sich nur mit Blut von diesem Fluch befreien. Und der Vizekönig befiehlt, zu töten und einzukerkern und baut mehr Gefängnisse und Kasernen und der Traum raubt ihm weiterhin den Schlaf. In diesem Land träumen alle. Es ist Zeit aufzuwachen. Der Sturm… den es gibt. Er wird geboren aus dem Zusammenstoß der Winde, schon naht seine Zeit, der Ofen der Geschichte wird angeheizt. Jetzt herrscht der Wind von oben, schon kommt der Wind von unten, schon naht der Sturm. So wird es sein. Die Prophezeiung… die es gibt. Wenn der Sturm nachläßt, wenn Regen und Feuer die Erde wieder in Frieden lassen, wird die Welt nicht mehr die Welt sein, sondern etwas Besseres.” (Subcomandante Marcos)
Nicht unerwähnt bleiben darf, daß das Autorenhonorar dem Solidaritätsfond des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkomandantur der EZLN – zugeführt wird.

Subcomandante Marcos: Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald. Edition Nautilus, Hamburg 1996, 250 Seiten, 29,80 DM (ca. 15 Euro)

Keine Verhandlungen in Sicht

Sie kamen abends um halb acht. Mit Granatwerfern, Panzerfäusten und MG-Salven nahmen Ende August 500 Guerilleros der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) das Militärlager Las Delicias im kolumbianischen Amazonasbecken unter Dauerbeschuß. Bilanz: 27 Tote, 16 Verletzte und 60 Kriegsgefangene.
“Das war der schwerste Einzelschlag gegen Regierungstruppen in diesem Jahrhundert”, meint Antonio Navarro Wolff, gewählter Bürgermeister der Provinzhauptstadt Pasto. Der hagere Politiker weiß, wovon er spricht: In den achtziger Jahren war er führendes Mitglied der Guerilla-Organisation M-19 (Bewegung 19. April), die schließlich mit der Regierung Frieden schloß und als Partei zunächst überraschende Wahlerfolge verbuchen konnte. Mittlerweile ist die M-19 zu einer sozialdemokratischen Splittergruppe mit einer einzigen Vertreterin im Kongreß geschrumpft – allzuschnell hatte sie sich durch Ministerposten und andere Verlockungen von der früheren Liberalen Partei einbinden lassen. So zerstob der Traum von einer dritten Kraft als starker Opposition zu Liberalen und Konservativen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Regierungsmacht im Andenstaat aufteilen.
Auch ein anderes ziviles Experiment kann als gescheitert betrachtet werden: Als sich die FARC 1984 zu einem mehrjährigen Waffenstillstand entschlossen, entstand – als politisches Pendant und unter enger Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei – die UP (Patriotische Union), die seither über 3.000 tote AktivstInnen zu beklagen hat. In einem bis heute andauernden “schmutzigen Krieg” waren es vor allem paramilitärische Trupps, die unter Duldung oder Mithilfe der Armee die linken Politiker aufs Korn nahmen. Erst vor wenigen Monaten mußte sich die UP-Vorsitzende Aída Abella ins europäische Exil begeben, nachdem sie auf der Bogotaner Stadtautobahn knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Guerilla im Aufwind

“Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen”, so Alfonso Cano, zweiter Mann der FARC. Stattdessen propagiert er eine “Bolivarianische Bewegung”, die die militärischen Aktionen der Guerilla politisch flankieren soll, allerdings im Untergrund. “Wir bleiben diesmal in der Führung, als Garantie”, versichert der bärtige Chefstratege, der nach wie vor eine Machtübernahme unter sozialistischem Vorzeichen anstrebt.
Wie sich die FARC die politische Arbeit vorstellen, zeigten zuletzt wochenlange Märsche von mehreren zehntausend KokapflanzerInnen in den Amazonas-Provinzen Putumayo, Caquetá und Guaviare. Dort wollte die Regierung, gedrängt von den Vereinigten Staaten, den Kokainhandel an seiner schwächsten Stelle treffen und die Besprühung der Kokafelder mit Pflanzengift ausweiten. Die Kleinbauern und -bäuerinnen, die plötzlich ihre jahrelang tolerierte Existenzgrundlage bedroht sahen, mußten nicht lange zu den Protestmärschen überredet werden. In Florencia, der Hauptstadt Caquetás, kam es zu Straßenschlachten und Verwüstungen, an anderen Stellen wurden die campesinos brutal von der Armee gestoppt. Um die Lage zu entschärfen, einigte man sich schließlich auf eine staatlich bezahlte, manuelle Ausrottung der Kokapflanzen. In der Praxis heißt dies: Der status quo ist vorläufig gesichert, der konkurrenzlos attraktive Anbau des grünen Kokainrohstoffs geht weiter, und die Guerilla – dort wie in anderen Landesteilen unangefochtene Ordnungsmacht – hat etliche SympathisantInnen hinzugewonnen.
Bereits Mitte letzten Jahres hatte Präsident Ernesto Samper unter dem Druck der Militärs sein Vorhaben aufgegeben, Friedensverhandlungen mit FARC und ELN (Heer zur Nationalen Befreiung) aufzunehmen. Doch auch die Gesprächsbereitschaft der insgesamt etwa 15.000 Aufständischen, die sich nicht zuletzt durch Entführungen, Erpressungen und Besteuerung des Drogengeschäfts finanzieren, ist nicht allzu groß. Die jetzige Regierung sei korrupt, schwach, illegitim und kaum in der Lage, etwaige Abkommen durchzusetzen, ließ ELN-Chef Manuel Pérez, ein ehemaliger Priester, kürzlich wissen.
ELN und FARC setzen auf militärischen Druck, um mittelfristig ihre Verhandlungsposition zu stärken. Immer wieder werden in abgelegenen Dörfern Polizeistationen und Sparkassen überfallen; durchschnittlich zweimal am Tag finden Gefechte mit der Armee statt. Wie schon seit zehn Jahren setzt das ELN seine Anschläge auf Erdölpipelines fort, um eine nationalistische Rohstoffpolitik einzufordern. Im September war buchstäblich das halbe Land lahmgelegt – die Guerilla hatte Fahrverbote auf vielen Straßen verhängt und setzte diese konsequent durch: So verbrannte sie reihenweise Lastwagen und Busse, die das Verbot ignorierten, und blokkierte zehn Tage lang den Zugang zur Bananenregion Urabá nördlich von Medellín, bis sie von der Armee nach heftigen Gefechten zurückgedrängt wurde. Die Botschaften der USA und anderer Industriestaaten wiesen ihre BürgerInnen an, Bogotá nicht zu verlassen; das Nachrichtenmagazin Semana fürchtete gar eine Belagerung der Hauptstadt durch die Rebellen. Auch hinter den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen, die anläßlich der Erhöhung der Stromtarife im Bogotaner Vorort Facatativá ausbrachen, vermuteten viele Politiker und Militärs die Mitwirkung der Guerilla.

Dialog nicht in Sicht

Im Gegenzug kündigte die ziemlich ratlos wirkende Regierung Samper die Mobilmachung von Reservisten und eine Kriegsanleihe bei den Unternehmen an. Antonio Navarro, Bürgermeister von Pasto, sieht in der massiven Ausweitung der Kampfaktionen auf das ganze Land eine neue Qualität: “Die Angriffs- und Verhandlungsformen ‘salvadorisieren’ sich”. In der Tat versuchen die FARC, die Übergabe der 60 Kriegsgefangenen von Las Delicias zu einer internationalen Aufwertung als Kriegspartei mit politischem Charakter zu nutzen. Für die Regierung ist diese Vorstellung ein rotes Tuch. Sie spricht immer noch von “Entführten” und hat bereits einige US-Kongreßabgeordnete dazu gebracht, ihre Sprachregelung von den FARC als kriminellem “drittem Kartell” zu übernehmen.
Daß eine der beiden Seiten den Krieg für sich entscheiden könnte, glaubt niemand. Doch Guerilla wie Armee – jeweils ohne ernsthaftes Gegengewicht auf ziviler Seite – setzen darauf, sich bis zu Verhandlungen strategische Vorteile erkämpfen zu können. Deshalb blicken viele KolumbianerInnen neidisch nach Guatemala, wo gerade ein ebenso jahrzehntelanger blutiger Krieg erfolgreich beendet zu werden scheint – mit internationaler Hilfestellung.

Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Kommt mit Arzú der Frieden?

Eigentlich schien nach dem ersten Wahlgang am 12. November die Sache klar zu sein: Alvaro Arzú von der Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) verfehlte zwar mit 36 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit, der Abstand zu seinem schärfsten Konkurrenten war aber mit über 14 Prozent ausreichend groß, so daß er beruhigt der notwendig gewordenen Stichwahl gegen Alfonso Portillo der Republikanischen Front Guatemalas (FRG), der Partei des ehemaligen Putschgenerals Efraín Ríos Montt, entgegensehen konnte. Wenige Wochen vor dem zweiten Wahlgang mehrten sich jedoch die Anzeichen, daß es vielleicht noch einmal spannend werden könnte. Arzú konnte sich schließlich nur mit einem knappen Vorsprung von 31.950 Stimmen ins Ziel retten. Sein Wahlsieg stützte sich dabei fast ausschließlich auf eine deutliche Mehrheit in Guatemala-Stadt. Dort erhielt er mit 65,23 Prozent über 130.000 Stimmen mehr als Portillo (34,77 Prozent). Dagegen konnte sich Arzú im Inneren des Landes nur in drei Departamentos durchsetzen (El Progreso, Petén und Jalapa). In allen anderen 18 Departamentos gewann Portillo, zum Teil mit klarem Abstand. Insgesamt vereinte der Kandidat der FRG in den Gebieten außerhalb der Hauptstadt 55,68 Prozent der Stimmen auf sich. An der Südküste und besonders in den indianisch geprägten Regionen konnte der weiße Städter Arzú kein Bein auf den Boden bekommen, zu eng ist er mit den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen verbunden und wird mit ihnen auch identifiziert, und zu weit ist er von den Problemen des Lebensalltags auf dem Land entfernt. In Guatemala-Stadt kehrt sich dieses Bild um: Arzú genießt dort durchaus gutes Ansehen, das sich vor allem aus seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt von 1986 – 1990 nährt, als er gezielt und mit gewissem Erfolg versuchte, die Stadtverwaltung effizienter zu gestalten und gegen die schlimmsten Auswüchse der Korruption vorzugehen.
Ähnlich wie nach dem ersten Wahlgang bemühten sich die offiziellen internationalen WahlbeobachterInnen, den sauberen Ablauf der Wahlen zu bestätigen. Diesmal war am technischen Ablauf des Wahlvorganges auch wirklich wenig auszusetzen, hielt doch selbst das nationale Stromnetz im Gegensatz zum ersten Wahlgang den Belastungen der Stimmenauswertung sowie fallenden Bäumen und Ästen stand. So waren dann in der Wahlnacht auch viele Stimmen zu hören, die diese Wahlen als einen Meilenstein in der Demokratisierung des Landes sahen. Löst man sich aber von einer rein technischen Betrachtung des Wahlvorganges und wertet die Wahlen als Gradmesser für das Vertrauen, das die Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen und der politischen Entwicklung des Landes entgegenbringt, so muß insbesondere der zweite Wahlgang als Debakel bezeichnet werden. Im ersten Wahlgang brachte zumindest die FDNG (Frente Democratico Nuevo Guatemala) frischen Wind: Sie konnte mit einem unerwartet guten Ergebnis überraschen und mit 6 Abgeordneten in den Kongreß einziehen. Dieser Achtungserfolg einer oppositionellen Kraft konnte aber nur kurze Zeit über das Mißtrauen hinwegtäuschen, das die große Mehrheit der guatemaltekischen Bevölkerung den “demokratischen” Institutionen des Landes entgegenbringt. Im zweiten Wahlgang war mit 63,12 Prozent die höchste Wahlenthaltungsquote bei Präsidentschaftswahlen seit 1985 zu verzeichnen.

Die ersten Schritte

In der Woche vor seinem Amtsantritt am 14. Januar verkündete Arzú, daß er für seine persönliche Sicherheit nicht den eigentlich zuständigen Generalstab des Präsidialamtes (EMP) in Anspruch nehmen werde, sondern einen privaten israelischen Sicherheitsdienst, der schon seit längerem für ihn arbeitet. Ferner gab er bekannt, er und seine Familie würden nicht in der offiziellen Residenz wohnen. Allgemein wurden diese Äußerungen als ein Versuch gewertet, sich der Kontrolle des Militärs, das den EMP stellt, zu entziehen. Nach heftiger Kritik von seiten führender Militärs, die es als eine “Schande” bezeichneten, wenn Ausländer für die Sicherheit des Präsidenten zuständig seien, nahm Arzú seine Ankündigung zurück. Er blieb jedoch dabei, nicht in die Residenz des Präsidenten einzuziehen, da seine Familie zu groß sei. Auch Ex-Präsident De León Carpio hatte zu Beginn seiner Amtszeit versucht, sich der Kontrolle des Militärs zu entziehen und nicht im Präsidentenpalast zu wohnen. Letztlich mußte er jedoch dem Druck des Militärs nachgeben. Arzú scheint widerstandsfähiger zu sein. Nicht nur durch diesen mehr als symbolischen Akt versucht er, sich dem Einfluß der Militärs zu entziehen. Einige Wochen nach seiner Amtsübernahme wurden ca. 50 hohe Armeeoffiziere entlassen beziehungsweise suspendiert, bei einer Hausdurchsuchung im Privathaus des Militärkomandeurs des Quiché wurden Utensilien zur Kokainherstellung sichergestellt. Diese Maßnahmen spiegeln die Bemühungen Arzús und seiner Militärführung wieder, seine Macht gegenüber ultra-konservativen Militärs, den sogenannten Hardlinern, durchzusetzen.
In seiner Antrittsrede definierte Arzú die wichtigsten Handlungslinien seiner Regierung: Neben einem möglichst schnellen Abschluß der Friedensverhandlungen mit der Guerilla kündigte er Reformen zur Dezentralisierung kommunaler Regierungsstrukturen sowie zur Umgestaltung der Sicherheitskräfte an. Ferner sagte er der Diskriminierung der Indígenas und der Frauen, den Privilegien bestimmter Gesellschaftsgruppen, der Armut sowie der Straffreiheit den Kampf an. Zudem versprach er ein 180-Tage-Programm zur Bekämpfung der Kriminalität. Der neue Innenminister Rodolfo Mendoza legte noch in derselben Woche der Öffentlichkeit Pläne zur Vereinheitlichung der zivilen Sicherheitskräfte vor. Danach sollen die Nationalpolizei, die Zollpolizei und die Gefängnispolizei nach dem Vorbild der spanischen “Guardia Civil” zusammengefaßt sowie die Mobile Militärpolizei (PMA) in die zivilen Sicherheitskräfte integriert werden. Die spanische Regierung und die Europäische Gemeinschaft haben Unterstützung zugesagt und Mitte April sind die ersten spanischen Spezialisten im Land eingetroffen.
Aufschlußreich ist ein Blick auf die Personalentscheidungen. In sein Kabinett hat Arzú Repräsentanten der ihn stützenden Machtsektoren berufen. “Verteidigungsminister” Balconi ist Teil des reformbereiten, sogenannten “Institutionalisten-Flügels” innerhalb des Militärs, Landwirtschaftsminister Luis Reyes Mayén ist einer der führenden Köpfe des Zusammenschlusses von alteingesessenen Großgrundbesitzern UNAGRO, Arzú selbst, mit seinen engen Verbindungen zu den Zuckerfinqueros, repräsentiert die Interessen derer, die sich ihre Chancen am Weltmarkt ausrechnen. Zudem hat er mit Peter Lamport einen Botschafter nach Washington entsandt, der wie alle anderen genannten – außer Balconi – dem mächtigen Unternehmerverband CACIF angehört und dessen Agrarexportinteressen in den USA vertreten wird, in die nach wie vor mehr als 70 Prozent der Exporte Guatemalas gehen. Mit der direkten Vertretung verschiedener Interessengruppen dürfte Arzú zwei Ziele verfolgen: Zum einen kann er sich so der Unterstützung der unterschiedlichen Machtgruppen gerade bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen versichern, zum anderen verschafft er sich einen starken Rückhalt bei seinen Bemühungen, die Militär-Hardliner in ihrer Macht zu beschneiden.

Volksbewegung im Kongreß

Mittlerweile hat auch die Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) die ersten drei Monate Parlamentsarbeit hinter sich. Mit den sechs Abgeordneten der FDNG, einem Bündnis von Gewerkschaften, Indígenaorganisationen, Menschenrechtsgruppen u.a. sind erstmals RepräsentantInnen der Volksbewegung im Kongreß. Die Frente-Abgeordneten müssen sich in der neuen, ungewohnten Umgebung erst noch einarbeiten. Es ist aber bereits abzusehen, daß die FDNG sich in Richtung einer konstruktiven Oppositionsarbeit orientiert. Die Abgeordneten versuchen, eher über Verhandlungen mit der Regierung als über konfrontative Fundamentalopposition vorhandene politische Spielräume zu erweitern. Inwiefern diese Strategie angesichts der absoluten Kongreßmehrheit der PAN Erfolg haben kann, bleibt jedoch abzuwarten.

Der Anfang vom Kriegsende

Nach wie vor ist die FDNG aber auch noch damit konfrontiert, daß sie in der Öffentlichkeit gedrängt wird, ihr Verhältnis zur URNG zu klären. In der Presse wird immer wieder gemutmaßt, die Frente sei nur eine Filiale der URNG – was für die AktivistInnen eine große Gefährdung darstellt, da dies trotz politischer Öffnung des Landes massive Repressalien nach sich zieht. Die Äußerungen von URNG und FDNG tragen zur weiteren Konfusion bei: Während aus der URNG immer mal wieder verlautet, die FDNG sei in irgendeiner Weise “ihr” Parteiprojekt, dementiert diese solche Äußerungen umgehend. Eine Klärung muß wohl auf die Zeit nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verschoben werden, wenn die URNG sich in das zivile politische Leben des Landes integrieren wird.
Und dieser Zeitpunkt scheint gar nicht so fern zu sein – auch wenn mit solchen Einschätzungen sehr vorsichtig umzugehen ist, denn seit Jahren wird dieser Satz wiederholt. Einen Monat nach Amtsantritt benannte Arzú die Mitglieder der Verhandlungskommission der Regierung (COPAZ). Zum Chefunterhändler bestimmte er seinen Wahlkampfleiter und persönlichen Sekretär Gustavo Porras Castejón, der den Ruf eines fortschrittlichen Intellektuellen genießt. Des weiteren arbeiten Richard Aitkenhead, Wirtschaftsminister zu Beginn der Regierungszeit Jorge Serranos, und Raquel Zelaya, Direktorin des Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung ASIES, das u.a. enge Kontakte zu der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält, in COPAZ mit. Gleichzeitig wurde sowohl von Regierungsseite als auch von der URNG bekanntgegeben, daß es seit Anfang Dezember bereits insgesamt fünf vertrauliche Treffen zwischen Kommandanten der URNG und Alvaro Arzú bzw. mit dessen politischen Vertrauten gegeben habe. Und seit Ende Februar wird auch wieder auf offizieller Ebene mit Volldampf verhandelt. Zwar gab es noch kein neues Abkommen zwischen Regierung und URNG – seit über einem Jahr wird das Thema “Sozioökonomische Aspekte und Agrarsituation” diskutiert -, aber dennoch wurde schon der Anfang vom Ende des Krieges konkretisiert. Am 19. März gab die Guerillaführung die vorläufige Einstellung aller Offensivaktionen ihrer Einheiten bekannt. Zwei Tage später reiste Arzú öffentlichkeitswirksam in den Ixcán, eine der Konfliktzonen im Nordwesten Guatemalas, um den dort versammelten Militärkommandanten, stellvertretend für die gesamte Armee, den Befehl zu geben, alle Aktionen gegen die Guerilla auszusetzen. Am 23. März fügte Arzú hinzu, die Regierung sei bereit, Propagandaaktionen der URNG zu erlauben, sofern sie friedlich und ohne Risiko für die Bevölkerung durchgeführt würden. Allgemein wurde diese Entwicklung als ein großer Fortschritt auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Noch stehen allerdings fünf Teilabkommen zu verschiedenen Themen aus, unter denen beispielsweise auch solch komplexe Probleme wie die zukünftige Rolle des Militärs und Amnestiebedingungen sind.

Hartes Durchgreifen gegen Landbesetzungen

Und erst einmal geht es noch um das Abkommen zum Wirtschaftsthema, das nicht nur ein Punkt auf der Agenda ist, wie die vielen Landbestzungen in letzter Zeit zeigen. So waren im Februar letzten Jahres insgesamt 124 Fincas von organisierten Campesinos/as besetzt. Einige dieser Besetzungen dauern nach wie vor an, bei anderen wurden die BesetzerInnen von der Polizei vertrieben. Auch in den letzten Monaten haben Campesinas/os, die in der Nationalen Koordination der Indígenas und Campesinas/os CONIC organisiert sind, immer wieder Fincas besetzt, um ihre Forderungen nach würdigen Lebensbedingungen durchzusetzen. Gerade im nordwestlichen Hochland erfahren sie dabei auch Unterstützung seitens der katholischen Kirche. Die Regierung Arzú hat in den Landkonflikten, im Gegensatz zu ihrer ansonsten recht liberal wirkenden Politik, klar Farbe bekannt. Vizepräsident Flores Asturias erklärte, die Regierung werde künftig weder Besetzungen von Land noch von sonstigem Privateigentum hinnehmen und rekurrierte dabei auf die Einhaltung einer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Mission der Vereinten Nationen in Guatemala (MINUGUA) bat er um Begleitung bei Landräumungen, um gewaltsame Auseinandersetzungen zu verhindern.
Am 17. April marschierten etwa 150 Polizisten einer Schnellen Eingreiftruppe (FRI) in der Nähe der Finca El Tablero/Departamento San Marcos auf, um die dortige Besetzung durch mehrere hundert Campesinos/as zu beenden. Bei dem Räumungsversuch, der letztlich am Widerstand der BesetzerInnen scheiterte, wurden mindestens drei Besetzer durch Schüsse verletzt, einer starb einige Tage später an seinen schweren inneren Verletzungen. Daß bei den Auseinandersetzungen auch ein Polizist getötet wurde, hat zu einem entsetzten Aufschrei in der guatemaltekischen Presse geführt. Alvaro Arzú kündigte an, gegen die “Wildheit” der LandbesetzerInnen nun erst recht mit “harter Hand” durchzugreifen. Aus Regierungskreisen verlautete, man werde die Räumung von Landbesetzungen in Zukunft forcieren.
Nach Meinung der FDNG sind die Verantwortlichen für die Eskalation der Landkonflikte unter denen zu suchen, die einer Lösung der grundlegenden Probleme wie der Landverteilung, der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Armut der Landbevölkerung entgegenstehen.
Auch wenn, wie aus verschiedenen Quellen verlautet, dieses Jahr noch ein abschließender Friedensvertrag unterzeichnet wird, so fehlt dann noch dessen Umsetzung. Die Erfahrungen El Salvadors haben die Probleme dabei überdeutlich gemacht. Arzú könnte als der Präsident in die Geschichte Guatemalas eingehen, in dessen Amtszeit der Frieden “ausbricht”. Bisher hat er viel Wert auf sein liberales Image gelegt. In der Landfrage ist allerdings von seiner sonst so hochgepriesenen Dialogbereitschaft nichts zu spüren. Langsam aber sicher bröckelt sein Image.

Guategate

Jennifer Harbury, Rechtsan­wältin aus New York, war mit einem Führer der Guerilla Natio­nale Revolutionäre Einheit Gua­temalas (URNG), Efraín Bámaca Velásquez, verheiratet. Seit Bá­maca 1992 auf Anordnung eines guatemaltekischen Oberst ver­haftet und ermordet wurde, ver­suchte Harbury, die Wahrheit über den Tod ihres Mannes zu erfahren. Durch einen Hunger­streik im März vor dem Weißen Haus erzwang sie, daß endlich Licht ins Dunkel kam: Der de­mokratische Kongreßabgeord­ne­te Robert Torricelli, gut unter­rich­tetes Mitglied des Geheim­dienstausschusses, trat am 22. März mit wichtigen Informatio­nen an die Öffentlichkeit.
Gehaltsempfänger des CIA gibt Mordaufträge
Zunächst ging es um zwei Mordfälle. Michael DeVine, US-amerikanischer Staatsbürger, war Hotelbesitzer in Poptún, Provinz Petén, und wurde 1990 von gua­temaltekischen Militärs umge­bracht. Für seinen Tod wie für den des erwähnten Efraín Bá­maca Velásquez ist in erster Li­nie Oberst Julio Roberto Alpírez verantwortlich. Alpírez wurde in Argentinien und den USA “nach­rich­tendienstlich” ausge­bildet und war unter Präsident Vinicio Ce­rezo (1986-1991) Chef der Si­cherheitsabteilung des Ge­ne­ral­stabs. Er wurde spä­ter zum Lei­ter der Truppenaus­bil­dungs­stätte Kaibil in der nördlichen Pro­vinz Petén er­nannt, wo er den Mord an De­Vine in Auftrag ge­ge­ben hat. Außerdem war Al­pí­rez stellver­tretender Komman­dant der Mi­litärzone San Marcos im Südwe­sten Guatemalas, wo die Kaserne liegt, in der Bámaca ge­foltert und ermordet wurde. Bei beiden Morden war Alpírez per­sönlich anwesend. Mittler­wei­le ist er zweiter Leiter der Mi­litärbasis La Aurora in Gua­temala-Stadt.
Den Informationen Torricellis zu­folge war Alpírez vom CIA für Spionagetätigkeit bezahlt wor­den. Daß die USA dem gua­te­maltekischen Militär seit Mitte der achtziger Jahre offiziell Mil­lionenbeträge überwiesen, ist be­kannt. Die Hilfe wurde erst ge­stoppt, als sich 1990 Menschen­rechtsverletzungen durch das Militär häuften und die Aufklä­rung des Mordes an DeVine von der Regierung Cerezo behindert wurde.
CIA zahlt
trotz Zahlungsstopp
Der CIA hat jedoch entgegen der offiziellen Politik weiter an Alpírez gezahlt, obwohl er wußte, daß dieser die Verant­wortung für DeVines Tod trug. Wie Torricelli in einem anony­men Brief mitgeteilt wurde, habe der CIA seit Monaten ver­sucht, die Angelegenheit zu ver­tuschen. Nach Angaben des US-Justiz­mi­ni­steriums haben Ge­heim­dienst­ler bereits bela­stendes Ma­terial ver­nichtet, um die Auf­klä­rung der beiden Mor­de zu er­schwe­ren.
In der US-Presse erschienen daraufhin Meldungen, die weit über den konkreten Fall Alpírez hinausgingen. Auch der frühere Ver­teidigungsminister Héctor Gra­majo, der bei den diesjähri­gen Präsidentschaftswahlen kan­di­dieren will, stand auf der Ge­haltsliste des CIA, ferner die drei letzten Chefs der militärischen Todesschwadron G-2, die den ver­harmlosenden Titel “Militär­nach­richtendienst” trägt. Der ehe­malige G-2-Chef Edgar Go­doy Gaitán beispielsweise war im Amt, als 1990 die US-ameri­kanische Anthropologin Myr­na Mack ermordet wurde.
Das US-Wochenmagazin “The Nation” gab am 31. März an, daß jahrzehntelang Agenten des CIA als Ausbilder in der G-2 tätig waren. Finanziell hat der CIA das guatemaltekische Heer mit fünf bis sieben Millionen US-Dollar jährlich unterstützt – trotz des Zahlungsstopps seit 1990 und der Kenntnis über die brutalen Morde der Geldemp­fänger. Laut ai töteten G-2 und ei­ne Todesschwadron na­mens Archi­vo, innerhalb der letz­ten 17 Jahre über 110.000 ZivilistInnen.
Die bekanntgewordenen Ver­bindungen zwischen Regierun­gen, Militärs und Geheim­dien­sten beider Länder und den im Bür­gerkrieg verübten Morden brach­ten einige Untersuchungen und Gerichtsprozesse in Gang. Die Zahlungen des CIA an Gua­te­mala sind laut US-Außenmini­ster Christopher sofort eingestellt worden. CIA-Direktor William Stu­deman wies indessen den Vor­wurf der direkten Beteili­gung an den Morden an DeVine und Bámaca zurück. Er räumte je­doch ein, daß Alpírez dem CIA seit 1991 als Hauptverantwortli­cher am Tod DeVines bekannt ge­wesen sei, daß man den Kon­takt zu ihm jedoch aufrechter­halten und ihm 1992 44.000 US-Dollar ausgezahlt habe, um ihn in die USA zu locken und vor ein Strafgericht zu bringen.
Clinton beruft Ermittlungs­ausschuß
Am 30. März hat Bill Clinton in Washington Ermittlungen über die eigenmächtigen Aktivi­täten des CIA in Guatemala an­geordnet und einen Ausschuß einberufen. Vorsitzender ist der Staatsanwalt von Washington, Anthony Harrington, der ein vorläufiges Ergebnis binnen 90 Tagen in Aussicht stellte. Der Ausschuß wird sich in besonde­rer Weise mit der Geheimhal­tungspraxis des CIA beschäfti­gen müssen. Den zuständigen Stellen in der US-Regierung wa­ren wichtige Informationen vor­enthalten worden. Bereits im Fe­bruar hatte die US-amerikani­sche Botschafterin in Guatemala, Marilyn McAfee, den örtlichen CIA-Chef aus ihrer Botschaft abberufen lassen, weil er sie mangelhaft informiert hatte. Zugleich sind Kreise in der US-Armee und der Nationalen Si­cherheitsbehörde NSA in den Fall verwickelt, und die frühere Regierung von George Bush steht unter dem Verdacht, die geheimen Zahlungen überhaupt erst angewiesen zu haben.
Warren Christopher bot Gua­temala Anfang März an, bei der Aufklärung der Morde an De­Vine und Bámaca durch Agenten der Bundespolizei FBI zu helfen. Die Hilfe stehe zur Verfügung, sobald Guatemala seine Politik der Straffreiheit aufgebe.
Die USA fordern seit Jahren eine konsequente Strafverfol­gung von Menschenrechtsverlet­zungen in Guatemala ein, beson­ders im Zusammenhang mit dem Mord an DeVine. Aber auch diesmal sind die Aussichten auf ein ordentliches Gerichtsverfah­ren gegen Alpírez und andere Beschuldigte nicht gut. Alpírez wurde zwar gerichtlich verhört, danach aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Er arbeitet nach wie vor in der hauptstädtischen Mi­litärbasis La Aurora.
Präsident Guatemalas gibt Schützenhilfe
Der frühere Menschenrechts­beauftragte und jetzige Präsident Ramiro de León Carpio hat un­terdessen erneut bewiesen, daß die Hoffnungen auf Demokrati­sierung und Rechtsstaatlichkeit, die sich mit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verbanden, nicht aufgehen. Er stellte sich hinter Al­pírez, bestritt wie der Oberst selbst des­sen Beteiligung an den Morden, empfahl ihm, eine Ver­leumdungsklage einzuleiten, und beschuldigte im Gegen­teil den CIA, die Morde verübt zu haben.
Es müßte ein Wunder gesche­hen, wenn wirklich einmal Tat­sachen über die eigenmächtige Politik des CIA an die Öffent­lichkeit kämen. Das es diesen dunklen Bereich gibt, ist klar, aber selten ist er konkret faßbar geworden. Ausgelöst durch die Beharrlichkeit der engagierten Rechtsanwältin Jennifer Harbury und den Mut eines eher rechtsge­richteten Kongreßabgeordneten be­steht jetzt die Chance dazu. Es ist mit großer Spannung abzu­warten, was der Untersuchungs­ausschuß und andere von der Geschichte Betroffene zutage fördern.
Das Angebot der USA, mit FBI-Leuten in Guatemala aufklä­ren zu helfen, gibt dennoch An­laß zur Besorgnis. Es hieße, den Teufel mit dem Beelzebub aus­zutreiben, denn die verschie­denen Geheimpolizeien und Nachrichtendienste beider Län­der sind offenbar zu eng inein­ander verzahnt, als daß man auch nur halbwegs Objektivität er­warten dürfte. Aufklärungsarbeit können hier nur unabhängige, in­ter­nationale Kräfte leisten, und die Nachforschungen werden zu kurz greifen, wenn sie sich nicht zu­gleich auf CIA, G-2, gua­te­maltekisches Militär und an­dere In­stitutionen richten. Die Aus­sich­ten dafür stehen be­kanntlich schlecht. Wird statt dessen das FBI in Guatemala aktiv, dürfte sich die Entmilitari­sierung des ge­schundenen Lan­des weiter hi­naus­zögern.

Hunger als Waffe

Der Presse und interna­tio­nalen BeobachterInnen, die nur unter gro゚en Schwie­rigkeiten die zahlreichen Militär­sperren pas­sieren können, bieten sich Schrec­kensbilder in den ins­gesamt 152 von der Armee be­setzten Ortschaften. Nur in An­sätzen können wir erfassen, was sich dort abgespielt hat und weiter abspielt. Der Großteil der etwa 26.000 Flüchtlinge hält sich weiter­hin in den Bergen vor der Armee versteckt, ohne Nah­rungsmittel und ausreichend Klei­dung.
Er­schöpft von der ta­gelangen Flucht, geschwächt durch Unter­ernährung und krank vom Trin­ken verschmutzten Wassers ste­hen sie vor dem Hungertod. Be­sonders die Ver­fassung alter Menschen – viele müssen von ih­ren Familienange­hörigen getra­gen werden – und von Säug­lingen ist dramatisch. Da auf­grund der Entbehrungen unzäh­lige Mütter ihre Kin­der nicht mehr stillen kön­nen, sind viele Babies ver­hungert oder er­froren. Trotzdem ziehen viele Men­schen dieses Schicksal einer Rückkehr in die von der Armee besetzten Orte vor – Ausdruck der bitteren Er­fahrungen, die sie mit den Soldaten gemacht haben.
Die von den Regierungstrup­pen in der Offensive vom Januar 1994 durchgeführten Massener­schießungen, Fol­terungen und Vergewalti­gungen sind noch in leidvoller Erinnerung. Zu­dem sind die Nachrichten über das brutale Vorgehen der Besat­zungstruppen mittlerweile auch bis in die letzten Winkel der Selva La­candona vorgedrungen.
Rückkehr in völlig zerstörte Heimatorte
Internationale BeobachterIn­nen haben in den letzten Wochen ins­gesamt 70 Fahrten in die Selva Lacandona gemacht. Überall bot sich ihnen das glei­che Szenario: verlassene und völlig zerstörte Dörfer. Inzwi­schen sind die ersten Bewohne­rInnen wieder in ihre Heimat­orte, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist, zurück­gekehrt. Oft sind es nur die Männer, da die Frauen und die Kinder eine eventuell noch ein­mal notwendige Flucht nicht mehr durchste­hen würden.
Einer der wenigen Orte, in den die BewohnerInnen fast ge­schlossen zurückgekehrt sind, ist Prado Pacayal im Verwaltungs­bezirk Ocosingo. Bei der Ar­meeoffensive vom 9. Februar waren die meisten BewohnerIn­nen in die Berge geflüchtet. Mehrere Frauen, die in der Ge­meinde zurück­geblieben waren, sind von Regierungssoldaten verge­waltigt worden. Alle Häu­ser wurden geplündert, zwei brannnten völlig ab. Den Men­schen in Prado Pacayal und an­deren Orten der be­setzten Zone wurde alles Lebenswichtige ge­raubt oder zerstört. Erntereife Felder wurden abgebrannt oder mit MG-Salven niedergemäht. Die neue Saat – im Februar wer­den Mais und Bohn ge­säet – wurde gestohlen oder vergiftet.
Die Viehbestände sind unter dem Schutz der Armee von Groß­grundbesitzerInnen wegge­schafft worden. Allein Prado Pa­cayal hat so 600 Kühe und 200 Pferde verlo­ren. Hühner wurden abge­schlachtet und einfach lie­gengelassen. Systematisch wur­den alle Kleidungsstücke und Schuhe aus den Häusern geholt, aufgeschichtet und angezündet. Persönlich wertvolle Dinge wie Fotos sind verschwunden, Mais­mühlen oder Küchengeräte nicht mehr auffindbar. Selbst die Kli­nik wurde völlig ver­wüstet. Der Stromgenerator hat nur noch Schrottwert, die Wasserleitungen sind zer­hackt und der Trink­wasser­brunnen vergiftet, Fahr­zeuge zertrümmert oder ein­fach gestohlen.
Die Zerstörung in Prado Pa­cayal ist kein Einzelfall. In vielen Ortschaften stehen die BewohnerInnen vor dem Nichts. Vor dem Einmarsch der mexika­nischen Armee hatten sie kaum etwas, jetzt können sie ohne Hilfe von außen nicht mehr überleben.
Armee hat die Kontrolle über­nommen
Das, was wir Internationalen hier erle­ben, sehen, hören, ist nur ein kleiner Ausschnitt, und den­noch fällt es mir schwer, es zu beschreiben. Die Besatzungs­truppen sind all­gegenwärtig. Permanente Patroullien, jeder Schritt wird überwacht, Häuser werden von der Armee ge­filmt und numeriert.
Wenn die Männer die Fel­der bestellen wollen, werden sie durch zahlreiche Kontrollen schikaniert. Viele von ihnen ver­lassen ihre Häuser erst gar nicht, um bei ihren Frauen zu bleiben, die begründete Angst vor Ver­gewaltigung haben.
In vielen Orten müssen Be­wohnerInnen Zwangs­arbeit ver­richten: Die Frauen müssen für die Sol­daten kochen und die Uni­formen waschen, die Männer werden zum Straßenbau heran­gezogen. Denn die Armee schlägt mit Bulldo­zern große Schneisen in die Selva, um ihren Panzern und Artilleriefahrzeugen das Vorrücken zu ermöglichen. In der offiziellen Version heißt das “humanitäre Hilfe der Ar­mee”.
Präsident Zedillo brachte den menschenverachtenden Zynis­mus seiner Politik auf den Punkt: “Der Rechtsstaat ist wieder her­gestellt.” Die mexikanische Ar­mee hat in vielen Orten Bordelle einge­richtet – Rechtsstaat? Frauen werden permanent von den Be­satzungstruppen belästigt und bedroht. Müttern wird Geld für den “Verkauf” ih­rer Töchter ge­boten.
In den Municipios Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas werden von der Armee nach guatemalte­kischem Vorbild re­gierungstreue Campesinos ange­siedelt und in sogenannten Pa­trullas de Autodefensa Civil (PAC) organisiert. Diese be­waffneten Gruppen über­nehmen die Kontrolle und Einschüchte­rung der Bevöl­kerung. Opposi­tionelle wer­den unterdrückt, be­droht, überfallen, vertrieben und teilweise, wie am 15. März in Salto de Agua, umgebracht. Dort hatten Mitglieder der PRI mit Waffen Angehörige der PRD an­gegriffen, Er­gebnis: 6 Tote.
Großgrundbesitzer fordern Revanche
Aber der Krieg findet nicht nur in der sogenannten “Kon­fliktzone” statt. Mit den Verbre­chen der Regie­rungs­truppen in der Selva haben diejenigen Auf­wind bekommen, denen nicht an einer friedlichen Lösung ge­legen ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem die ver­schiedenen Vereini­gungen der Großgrundbesitzer nicht zur großen Revanche aufru­fen. Sie fordern die Wieder­herstellung der Zustände vor dem 1. Januar 1994 – angeb­lich einer Zeit des Friedens. Auf ih­ren sonntägli­chen Demonstratio­nen rufen sie offen zum Mord an Bischof Sa­muel Ruíz auf und fordern auf Transparenten: Massen­ver­ge­wal­tigung von Ma­risa Kraxsky. Ma­risa Kraxsky ist die Koordinato­rin der Frie­dens­grup­pe in San Cristóbal.
Unverhohlen drohen die Ga­naderos mit ihren To­des­schwadronen, den Guardias Blancas, um die Räumung der etwa sieben­hundert Fincas au­ßerhalb der Selva zu erreichen. Zu­sammen mit der Polizei wer­den Fincas geräumt, die Campesinos verschleppt, ge­foltert und inhaftiert. Be­sonders in der Region Fraylesca hat sich die Lage zugespitzt. In der Nähe der Ortschaften Liquidánbar und Prusia hält die Unión Campesina Popular Francisco Villa mehrere Fincas der deutschen Kaffeemil­lionäre Marianne Schimpf, Lau­rence Hudler und Felke von Knoop be­setzt. Starke Militär- und Polizeieinheiten ließen nicht auf sich warten.
Das in Chiapas vorherr­schende Thema ist natürlich der erwartete Beginn direk­ter Frie­densgespräche zwischen Regie­rung und EZLN. Dabei sind die ver­änderten militärischen Bedin­gungen von besonderer Bedeu­tung. Die EZLN hat die Auf­nahme des Dialogs von einem Rückzug der Re­gierungstruppen auf die Positionen vom 8. Fe­bruar abhängig gemacht. Aus Militärkreisen wurde be­kannt, daß die Armee einen Rückzug überhaupt nicht nötig habe und jederzeit je­den Ort in der Selva erreichen könne.
Armeeoffensive verhindert Frie­densgespräche
Die EZLN er­widerte darauf, daß die militäri­sche Strukur der Guerilla intakt sei. Offensive Maßnahmen wur­den nur deshalb nicht durchge­führt, um die Zivil­bevölkerung nicht noch weite­rem Terror durch die mexikani­sche Ar­mee auszusetzen. Ober­stes Ziel sei der Frieden. Jedoch würde ein weiteres Vorrüc­ken der Regie­rungstruppen sofortige Gegenre­aktionen der EZLN herausfor­dern. Ein weiterer Rückzug der EZLN sei ebenso­wenig denkbar wie eine Kapitu­lation.
“Wenn wir uns weiter zu­rückziehen” so Subcomandante Marcos am 11. März, “werden wir an ein Schild mit der Auf­schrift “Willkommen an der Grenze Ecuador/Peru” kommen. Nicht, daß uns eine Reise nach Südamerika mißfallen würde, aber zwischen drei Feuern zu stehen, scheint wenig ange­nehm.”
Am 14. März wurde von Prä­sident Ernesto Zedillo der Rück­zug der Truppen aus den besetz­ten Orten und die Auflösung der Straßen­sperren angeordnet. Be­folgt wird dieser Befehl jedoch kaum. Die internationalen Beob­achterInnen können bezeugen, daß sich die Truppen, wenn überhaupt, nur auf Sichtweite zurückge­zogen haben. Patrouil­len werden nach wie vor durch­geführt. Auch gehen die Fahn­dungen, Verhöre und Ein­schüchterungen durch Militär und Polizei weiter, obwohl ein Erlaß der Regie­rung jede Verfol­gung vermeintlicher Zapatistas für die Dauer eines Monats aus­setzt. Die Staatsanwalt­schaft ar­beitet weiter daran, inhaftierten Menschen eine Mitgliedschaft in der EZLN vorzuwerfen. Selbst die staatliche Menschenrechts­organisation Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) mußte einräumen, daß die Ge­fan­genen unter Folter zum Un­terschreiben vorgefer­tigter “Ge­ständnisse” gezwungen wur­den. Jeden­falls werden der Öf­fent­lich­keit mehrere inhaf­tierte Sub­comandantes präsen­tiert. Das kom­mentiert der Sub­comandante Marcos, der einzige Subcoman­dante der EZLN, so:

“Ich las, daß es eine Sub­comandante Elisa, einen Subco­mandante Daniel, einen Subco­mandante Genaro und einen Subcomandante Eduardo gibt. Daher habe ich folgen­den Be­schluß gefaßt: Wenn die PGR (Generalstaatsanwaltschaft) noch mehr Subcomandantes hervor­bringt, werde ich in den Hunger­streik treten.”
So heiter die in den letzten Wochen vom Sub geschrie­benen, mit Gedichten von Pablo Ne­ruda, Federico Garcia Llorca, Shakespeare und anderen ge­würzten Briefe auch erscheinen, die Lage ist verdammt ernst.
Frank Kreuzer

Dringend werden Spenden für den Kauf von Werkzeugen, Me­dikamenten, Kleidung und Nah­rungsmitteln benötigt. Weiterhin ist von vielen Comunidades die Präsenz von internationalen Be­obachterInnen erbeten worden, um Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu verhin­dern.
Insgesamt sind bisher neun­zehn

Vergeben kann nur das Volk

Mit einem nervtötenden Schrei gibt ein Hahn das Zei­chen, daß die Nacht zu Ende ist. Oben am Hang antwortet ein Hund mit wüstem Gebell, dann fallen weitere Tiere in das Spek­takel ein. In der Dunkelheit nur schemenhaft zu erken­nen, regen sich vor den Hütten aus Brettern oder Well­blech die er­sten men­schlichen Gestalten. Mit Ma­cheten und Hacken auf den Schultern machen sich ein paar Bauern auf den Weg zu ihren oft weitab gelege­nen Maisfeldern. Frauen klatschen den aus Mais, Wasser und Salz zusam­men­ge­kne­teten Teig auf flache Steine und for­men die Masse zu hand­tellergroßen, run­den Fladen, den Tortillas. Für die meisten Leute in Guar­jila, einem Dorf in der sal­vadorianischen Provinz Cha­latenango, be­ginnt der Arbeitstag schon vor dem Mor­gengrauen.
Auch für die sechs Mit­arbeiter von Ra­dio Sumpul, die sich um halb fünf vor dem kleinen Ge­bäude am Ortsrand ver­sammelt haben. Ein kaum achtjähriger Junge schleppt einen Eimer mit Dieselöl heran und gießt den dickflüssigen Kraft­stoff in den Einfüll­stutzen des Motors, der in einem Bretterverschlag hinter der Hauswand un­tergebracht ist. Minuten später rumpelt das Ag­gregat, zwei an schlecht isolier­ten Drähten von der Decke bau­melnde Glühbir­nen beginnen zu flackern und tauchen den Innen­raum in ein trübes Licht.
Wilfredo Zepeda, Chefredak­teur und Leiter des vor einem knappen Jahr ge­gründeten Ra­dios, nimmt an einem wak­keligen Holztisch Platz, gießt Kaf­fee in schmutzige Plastikbe­cher und eröffnet die Redakti­onskonferenz. In einer knap­pen halben Stunde, um fünf Uhr, be­ginnt die Morgensendung. Zen­trales Thema die­ses Ta­ges sind die Schwierigkeiten bei der Land­übertragung an ehemalige Regie­rungssoldaten und Gueril­leros der Befrei­ungsfront FMLN. Die beiden Re­porterinnen haben Inter­views mit Betrof­fenen und einem Vertreter der UN-Beob­achtertruppe ONUSAL, der am Vortag Guarjila besucht hat, vor­bereitet und stel­len ihre Bei­träge vor. Juan, der Techniker, schaltet für einen Sound-Check das Mischpult und die Verstär­ker­anlage ein. Radio Sum­pul ging vor zehn Monaten zum er­sten Mal auf Sen­dung. Vier Stun­den täg­lich bestrahlt die auf einem Berg in der Nähe mon­tierte An­tenne weite Teile der nördlichen Pro­vinz Chala­tenango und einige Nach­barbezirke. Die niederländi­sche Nichtregie­rungs­organi­sa­tion World-Com hat die Technik in­stalliert, ein schwedi­sches Hilfs­werk führt seit dem Herbst ein Ausbil­dungs­programm für die Journali­sten und Jour­nalis­tin­nen durch.
“Unsere Leute hatten über­haupt keine Ahnung, wie Radio gemacht wird”, sagt Wilfredo Zepeda. Alle MitarbeiterInnen stam­men aus Dörfern in Chala­tenango. Einige verbrachten die Bürgerkriegsjahre mit ih­ren Fa­milien im Exil in Honduras, an­dere gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Eine Schule ha­ben sie, wenn überhaupt, nur für ein oder zwei Jahre besu­chen können. Das Schulge­bäude von Guarjila wur­de 1982 bei einem Angriff der Regie­rungs­armee zerbombt, die beiden Lehrer flohen in die Haupt­stadt. Ausgebil­dete Jour­nalisten aus San Salvador oder dem Ausland zu verpflich­ten, kam für Radio Sumpul von An­fang an nicht in Frage. “Die hät­ten wir gar nicht bezah­len kön­nen,” so Zepeda. “Und das hätte auch unse­rem Konzept wi­der­sprochen, ein Radio für die Bevölke­rung zu machen.” In Guarjila gibt es we­der Zei­tungen noch Fernsehen, aber in je­der Hütte steht ein batteriebetriebe­nes Radio­gerät. In der einmal pro Woche ta­genden Junta Directiva, einer Art Auf­sichtsrat von Radio Sumpul, haben die Landarbeiter­gewerkschaft, eine Frauen­gruppe und an­dere Basisor­ganisationen Sitz und Stimme.
Unterbrochen von schwung­vollen Ran­cheros läuft im Radio das Inter­view mit einem Vertre­ter des Gemeinderates von Guarjila. Etwas holperig infor­miert Caesar Ibarra über die Verzögerungen bei der Land­übertragung. Seit Anlaufen der Agrarreform vor drei Jahren dür­fen Großgrundbesitzer nur noch 245 Hektar Wirt­schaftsland be­sitzen und müssen alles, was darüber liegt, günstig an Nicht­ver­wandte verkaufen. Das meiste Land kauft der Staat auf und ge­währt ehemali­gen Gueril­leros, entlassenen Regierungssol­daten und Kleinbauern, die wäh­rend des Krieges in den Kon­fliktzonen verlassenes Land an sich genommen hatten, günstige Kredite. Bis zum April dieses Jahres soll der Prozeß der Land­übergabe abgeschlos­sen sein – so steht es in dem im Januar 1992 unterzeichneten Friedensab­kom­men.
Schwierigkeiten bei der Landverteilung
Doch die Wirklichkeit in Chalatenango und den an­deren früheren Konfliktregio­nen sieht an­ders aus. Bis heute haben noch nicht einmal 40 Pro­zent der fast 50.000 regi­strierten Antragstelle­rInnen Land er­halten, die mei­sten weniger als die ver­sprochenen 2,5 Hektar. Viele Bauern ha­ben sich nicht recht­zeitig bei den Behör­den gemel­det, andere wurden nicht als Be­günstigte anerkannt. In Guarjila und den umliegen­den Gemein­den, die im Krieg von der FMLN kon­trolliert wurden, ist die Si­tuation noch krasser.
Hier hatten sich die meisten ehemaligen Großgrund­besitzer nach Aus­bruch des bewaffneten Konflik­tes ins Ausland ab­gesetzt und sind deshalb oft nicht mehr aus­findig zu ma­chen. Ohne ihre rechts­gültige Unterschrift, so ar­gumentiert die Regierung, kann das Land aber nicht verkauft werden. Eine ge­meinsame Kommission der Gemeinde­räte aus Chala­tenango hat jetzt die ONUSAL aufgefordert, bei der Regierung auf eine Beschleuni­gung der Landübertra­gung zu drän­gen. “Wenn wir weiter hin­gehalten werden, gibt es massi­ven Krach,” warnt Caesar Ibarra.
Politische Absicht wäh­nen die Leute von Guarjila auch hinter der Tatsache, daß die im Krieg zerstörte Infrastruktur in ih­rer Re­gion noch nicht wieder in­takt ist. Trinkwasser, Strom und Telefonan­schlüsse hat die Regie­rung allen Gemein­den in ihrem von der Europäischen Union mit­finanzierten Nationalen Wieder­auf­bauprogramm ver­sprochen. In Guarjila zapfen die Menschen das Wasser weiter­hin aus selbst­gebohrten Brunnen. Und es gibt auch noch keine elektrische En­ergie, obwohl eine Leitung nur wenige hundert Meter ent­fernt am Ort vorbei­führt. Bei ei­ner Versammlung im Januar forder­ten aufge­brachte EinwohnerIn­nen, der Regie­rung eine letzte Frist für die Installie­rung der Kabel zu setzen. Ande­renfalls werde man die Strom­masten in die Luft spren­gen.
Trotz der verbreiteten Unzu­friedenheit in den ländlichen Re­gionen hat sich die politische Situation in El Salvador in den ver­gangenen drei Jahren spür­bar ent­spannt. Rubén Za­mora, der bei den Prä­sidentschaftswahlen im ver­gangenen März für eine Mitte-Links-Koalition ins Ren­nen ging, dabei aber dem Kandi­daten der rechtsgerichteten Partei ARENA unterlag, hält den Frie­densprozeß für unumkehr­bar. “Die Gefahr, daß der Krieg wie­der aus­bricht, existiert praktisch nicht,” sagt der 52jährige Rechts­anwalt, den wir in seinem Büro am Boulevard de los He­roes im Zentrum San Salvadors treffen. “Die Ent­militarisierung hat große Fortschritte ge­macht.”
In den vergangenen drei Jah­ren wurde die Regie­rungsarmee von über 60.000 auf 32.000 Mann reduziert. Die alten Sicherheits­organe, während des be­waff­neten Konfliktes für zahlrei­che Men­schenrechts­ver­letzungen verantwort­lich, sind auf­ge­löst worden. Eine neue Polizei­einheit, die unter zi­vilem Kom­mando steht, ist inzwischen im gan­zen Land prä­sent.
Konsens mit der Opposition in Grundfragen
Auch “Elemente einer neuen Streitkul­tur” hat Za­mora ausge­macht. “Der alte Stil, als die Re­gierung be­fohlen hat und die Be­völkerung gehorchen mußte, exi­stiert so nicht mehr.” In we­sentlichen Fragen müsse die Re­gierung den Kon­sens mit der Opposi­tion suchen, insbesondere mit der FMLN, der zweit­stärksten Fraktion im Parla­ment.
Präsident Armando Calderón Sol sieht El Sal­vador ebenfalls “auf dem Weg in eine bessere Zu­kunft.” Die Abkommen seien zu neunzig Prozent erfüllt, er­klärt er bei einer Kundgebung zum dritten Jah­restag des Friedensvertrages. Die Re­gierung werde alles tun, die noch offenen Punkte so rasch wie möglich umzusetzen. Die ver­sammelten Minister und Bot­schafter nicken beifällig und wenden sich dann den von emsi­gen Kellnern auf sil­bernen Ta­bletts gereichten Häppchen und Getränken zu.
Frieden heißt auch soziale Gerechtigkeit
Kritik an der gegenwärtigen Entwick­lung kommt vor allem von der Kirche. “Für die Ärm­sten ist der Frieden noch lange nicht erreicht”, sagt der Interims-Erzbischof von San Salvador, Rosa Cha­vez, in der Sonntags­messe in der großen Kathedrale. Frieden bedeute mehr als das Schweigen der Waffen. “Frieden heißt auch: Mehr soziale Ge­rechtigkeit, mehr und besser be­zahlte Arbeit, mehr Woh­nungen.”
Zur selben Zeit predigt Jon Cortina in San José Las Flores, einem Nachbardorf von Guarjila. Nur weil er sich damals nicht in der Hauptstadt aufhielt, entging der Jesuiten-Pater im November 1989 dem von ranghohen Mili­tärs befohlenen Mas­saker an sei­nen Kollegen auf dem Gelände der UCA, der Zentralamerikani­schen Universität. Cortina pran­gert das von der Regierung erlas­sene Amnestiege­setz an, durch das auch die schwersten Men­schen­rechtsverletzungen der Bürger­kriegsjahre ungesühnt blei­ben. Die Mas­saker und Morde könne nur das Volk ver­geben, nicht aber die Politiker.
Der Gottesdienst in San José Las Flores muß an diesem Tag im Freien stattfinden. Die Kir­che, die in den Kriegszeiten Be­schuß und Bomben standgehal­ten hatte, ist vor ein paar Wo­chen eingestürzt. Cortinas Worte erreichen nicht nur die Men­schen auf dem Dorfplatz. Radio Sum­pul über­trägt die Messe direkt.

“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

“Anatomie einer Niederlage”

LN: Beim Anschauen des Films stellt sich der Eindruck ein, als hätte sich Che Guevara von vornherein auf ein recht aussichtsloses Unternehmen eingelassen. Ist das so gewollt?
Richard Dindo: Der Che war Südame­rikaner, Argentinier, ein von Natur aus sehr generöser und optimistischer Mensch, sehr zukunftsgläubig, überzeugt, daß die Geschichte den Völkern gehört und daß der Sozialismus unumgänglich ist in den Ländern der Dritten Welt. Seine Strategie war, in Bolivien eine kontinen­tale Revolution anzufangen. Sein eigentli­cher Traum war, in seinem Heimatland Argentinien eine Revolution zu machen. Alle diese Dinge hat er in einem sehr großen Zeitrahmen gesehen, auf Jahre hinaus, vielleicht sogar Jahrzehnte. Und er hatte den Eindruck, daß er hier nur einen Anfang macht, und daß er vielleicht hier auch sterben wird. Er war jemand, der im­mer wieder auch mit dem Tod rechnete. Sei­ne Energie, seinen eisernen Willen, hat er auch bekommen durch den jahrelangen täglichen Kampf gegen sein Asthma, das dann ja auch wieder dramatisch wurde während der Kämpfe in Bolivien, als er keine Medikamente mehr hatte und immer kranker wurde.
Die Situation wurde nach und nach immer verzweifelter, aber Che selbst hat immer und bis zum Schluß seinen Opti­mismus behalten. Er hat noch einen Tag vor seiner Verhaftung von der idyllischen Atmosphäre geschrieben, in der sie ge­frühstückt haben.
Nun hat Che Guevara sich aber in den Tagebüchern sehr verzweifelt und frustriert über die Reaktion der bolivia­nischen Landbevölkerung geäußert. Die schien dem revolutionären Kampf ja eher gleichgültig oder gar ablehnend ge­genüberzustehen. War das Unternehmen ei­ne Kopfgeburt?
Ich muß wieder die Begriffe verzweifelt und frustriert ablehnen. Das sind deutsche Begriffe. Das hat mit Che Guevara nichts zu tun. Ich habe das Tagebuch dutzende­mal gelesen, weil ich für meinen Film Sät­ze auswählen mußte. Natürlich hat er fest­gestellt, die Bauern machen nicht mit. Das hat ihn nicht in Verzweiflung ge­stürzt. Er war viel zu zukunftsgläubig. Aber der Che hat­te überhaupt keine Mög­lichkeit, mit der Be­völkerung zu kommu­nizieren. Die Me­dien waren ihm völlig verschlossen, wur­den vollständig von der Armee und dem US-amerikanischen CIA kontrolliert. Nicht wie der Marcos, der heute über Fernsehen, Radio und Zeitun­gen ständig mit der Öffentlichkeit kom­muniziert. Das heißt, alles, was die Be­völkerung wußte von Che Guevaras Kampf, das wußten sie von der Armee, und die hat gesagt, das wä­ren alles Ver­brecher und Ausländer und Mörder und Vergewaltiger und Diebe usw.. Die Be­völkerung hatte geradezu Angst vor dieser Guerilla.
Natürlich, mein Film ist auch eine Ana­tomie einer Niederlage. Und durch dieses Sys­tematische, Unaufhörliche, Bild für Bild, Satz für Satz im Nachhinein er­zäh­len, kommt etwas Zwangsläufiges, Fatales in die Ereignisse. Im Nachhinein ist man im­mer schlauer, ist es einfacher, eine Ana­lyse zu machen. Aber an Ort und Stelle sind die Dinge immer komplizierter. Das hat man ja gesehen im Sozialismus. So­bald man die Geduld nicht hat, die es braucht, um diesen unglaublich komple­xen Apparat einer Gesellschaft in Bewe­gung zu setzen, dann kommt die Diktatur oder die Niederlage, eines von beidem. Im Sozialismus war es die Diktatur und bei Che war es die Niederlage.
Warum wurde der Film ausschließlich aus Che Guevaras Perspektive gedreht? Wa­rum hast du kein Feature gemacht, keinen analytischeren oder kritischeren Film?
Ich bin ein Geschichtenerzähler, ein Erinnerungsarbeiter, auch ein Trauerar­beiter. Ich wollte nicht analysieren, was er für Fehler gemacht hat. Ich mag nicht die­se Arroganz derjenigen, die alles im Nach­hinein wissen. Ich gehe eigentlich im­mer von der autobiographischen Mate­rie aus, das heißt, von der Selbstdarstel­lung der Person. Deshalb ein Film über das Tagebuch, ein Film über die Ereig­nisse in Bolivien aus der Sicht des Che. Ich bin solidarisch mit ihm von Anfang an, die bürgerliche Objektivität interes­siert mich nicht.
Ich wollte den Che heute in die Erinne­rung zurückrufen, weil ich glaube, daß er in Würde und in Größe verloren hat. Der Che ist einer der wenigen in der Ge­schichte des Sozialismus, der es verdient, mo­ralisch und historisch zu überleben.
Gibt es keine Punkte, wo du Schwierig­keiten mit Che Guevaras Position hast?
Was das Tagebuch angeht, habe ich überhaupt keine Bruchstellen. Ich bin zu­erst und vor allem Filmemacher. Ich muß nur überlegen, wie mache ich mit meiner eigenen Philosophie, die identisch ist mit der Philosophie meines Darstellers, einen Film. Von einem bestimmten Moment an stelle ich mir nur noch filmische Fragen. Wohin gehe ich, welche Sätze zitiere ich aus seinem Tagebuch, mache ich noch ein Interview mit einem Augenzeugen, was für Dokumente zeige ich, wie mache ich mei­ne filmische Arbeit, meine Wiederher­stellung der verlorenen oder der vergan­genen Zeit.
Warum ausgerechnet jetzt ein Film über Che Guevara?
Eigentlich wollte ich das schon in der 68er Zeit machen. Heute will ich mit mei­nem Film eine Debatte über Che Gue­vara provozieren, ihn in die Aktualität zu­rückzurufen. Ich habe übrigens während meiner Arbeit mehrere Leute getroffen, ei­nen Amerikaner in Havanna, eine Ar­gen­tinierin in London, einen Franzosen in Pa­ris, die daran sind, größere Biographien zu schreiben über Che Guevara, die auch spü­ren, daß er eine aktuelle Bedeutung hat.
Wie waren die Reaktionen auf den Film in Bolivien?
Die Leute waren sehr bewegt. Da kam nichts von Analyse.
Was für ein Publikum hat den Film ge­sehen?
Der Film hatte etwa fünftausend Zu­schauer in zehn Vorführungen. In Santa Cruz hatte ich ein mehr bürgerliches Pu­bli­kum, in Cochabamba waren es sehr viele ar­me Leute, Arbeiter und Bauern, und in La Paz wieder mehrheitlich Intel­lektuelle. Viele haben zum ersten Male er­fahren, was damals genau geschehen ist. Die Bo­li­vianer waren sehr betroffen von den Au­gen­zeugen, die alle zum ersten Mal vor einer Kamera reden. Sie haben den Film vor allem auch als Aktualität emp­funden. Es wurde der Eindruck geäußert, es habe sich eigentlich nichts verändert in den letzten fünfundzwanzig Jahren.
Zurück nach Europa: Sagt der Name Che Guevara heute jüngeren Leuten noch etwas, außer daß es wieder in Mode kommt, T-Shirts mit seinem Porträt zu tragen?
Ich glaube, Jugendliche, die den Film an­schauen, haben vage etwas gehört von ihm, und kommen mit dieser diffusen Neu­gierde und Sehnsucht nach einer Fi­gur, die irgendetwas wie Utopie repräsen­tieren könnte. Ich glaube, viele Junge ha­ben das Bedürfnis nach einer neuen Poli­tik, einer neuen Zukunftsvision. Für mich ist der Che eine Figur, die so etwas wie die gestorbene Utopie wiederbeleben könn­te, der uns daran erinnert, worum es in der sozialen Revolution ursprünglich ge­gangen ist, bevor Leute wie Ulbricht und andere kleinbürgerliche Despoten an die Macht kamen. Es ist darum gegangen, daß Intellektuelle sich mit dem Volk ver­bünden und gegen die Ausbeutung und die Armut kämpfen.
Aber mittlerweile scheint ja auch in Lateinamerika die Zeit der Utopien vor­bei. Die Guerillagruppen, die es noch gibt, führen mehr oder weniger eine mar­ginale Existenz. Was würde Che Guevara denn tun, wenn er heute leben würde?
Ich glaube, Marcos in Mexico ist ganz klar jemand, der in der Nachfolge von Che Guevara lebt. Eine chilenische Filmema­cherin, die für das französische Fernsehen einen Film über die Zapatisten gedreht hat, hat mir erzählt, daß dort überall Por­träts von Che Guevara hängen.

Die Suche nach den verschwundenen Kindern

Die Flugzeuge kamen kurz nach Son­nenaufgang. Zum Auftakt der später als “Mai-Massaker” in die blutige Geschichte des salvadorianischen Bürgerkrieges ein­gegangenen Militäroperation bombar­dierten Maschinen der Luftwaffe am Morgen des 28. Mai 1982 mehrere Dörfer im Norden der Provinz Chalatenango. Dut­zende BewohnerInnen starben schon bei diesen ersten Angriffen. Die übrigen – Campesinos und ihre Frauen, Alte, Kinder – packten schnell ein paar Habseligkeiten und verließen ihre brennenden Hütten.
Obwohl sie in Chalatenango eine ihrer Hochburgen hatte, war die Rebellenbewe­gung FMLN damals militärisch zu schwach, um die Bevölkerung wirksam zu schützen. Mehr als tausend Soldaten der Vierten Infanteriebrigade sowie der Elite-Bataillone “Atlacatl” und “Ramón Bel­loso” setzten den fliehenden Menschen über den Sumpul-Fluß nach und kesselten sie zwei Tage später auf einem Hügel nahe der Ortschaft Santa Anita ein. Sämt­liche Männer wurden ohne weitere Um­stände erschossen, die Frauen und Kinder in einem Bachbett zusam­mengetrieben. Über Funk forderten Offiziere einen Hub­schrauber an.
Unter den Eingeschlossenen befanden sich auch die damals 19jährige María Magdalena Ramos und ihr sechs Monate alter Sohn Héctor Aníbal. Die Frau erin­nert sich, wie die Soldaten begannen, die schreienden Kinder aus den Armen der Mütter zu reißen und in den wartenden Helikopter zu verfrachten. “Wir wurden mit Gewehrkolben gestoßen und geschla­gen. Mir drehte ein Uniformierter den Arm so fest auf den Rücken, daß er brach, und stieß mich mit einem Fußtritt zu Bo­den.”
Kinder für die Regierung
Trotzdem rappelte sich María Magda­lena Ramos noch einmal auf und rannte zum Hubschrauber, in dem Hector Aníbal und “mindestens fünf­zig” andere Mädchen und Jungen übereinander gestapelt lagen. “Eure Kinder werden zukünftig der Regie­rung gehören”, hatte ein Soldat gebrüllt und sie an­schließend mit dem Gewehr auf den Kopf geschlagen. Die Frau verlor das Bewußtsein. Als sie am nächsten Morgen aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die Truppen abgezogen. “Um mich he­rum”, sagt sie, “lagen hunderte von To­ten.” Mit den wenigen Überlebenden des Massakers floh María Magdalena Ramos nach Honduras, wo sie die nächsten Jahre eingesperrt in einem Flüchtlingslager ver­brachte. Erst 1988 kehrte sie nach El Sal­vador zurück.
Die Suche nach den verschwunden Kindern verlief zunächst ergebnis­los. Die Behörden hätten ihr und anderen Müttern jede Auskunft ver­weigert, Offiziere sie mehrfach aus den Kasernen gejagt, be­richtet Frau Ramos. Das zuständige Be­zirksgericht in Chalatenango-Stadt drohte mit einer Klage wegen Verleumdung. Erst die allmähliche poli­tische Öffnung in El Salvador seit Abschluß des Friedensab­kommens im Januar 1992 ermöglichte ge­nauere Nachforschungen.
“Den ersten Hinweis, daß Héctor Aní­bal Ramos und einige andere der während des ‘Mai-Massakers’ geraubten Kinder in salva­dorianischen SOS-Kinderdörfern le­ben, erhielten wir vom Roten Kreuz”, er­zählt der Jesuiten-Pater Jon Cortina. Ge­meinsam mit ande­ren Geistlichen und ei­nigen RechtsanwältInnen hat Cortina im vergangenen September die Organisation “Asociación Pro-Busqueda de los Niños Desaparecidos” gegründet, die den Eltern bei den Recherchen und Behördengängen behilflich ist. Mitarbeite­rinnen des Roten Kreuzes hätten sich er­innert, wie ihnen Militärs im Sommer 1982 mehrere Dut­zend Kinder übergaben. Sie seien von ih­ren Eltern verlassen und von den Soldaten in Guerilla-Lagern auf­gefunden wor­den, habe der kommandie­rende Offizier damals mitge­teilt. Das Rote Kreuz brachte die Jungen und Mädchen in den SOS-Kinder­dörfern in El Salvador unter.
Leiterin der vier salvadorianischen SOS-Horte ist María de García, die haupt­beruflich als Chefsekretärin in der Deut­schen Botschaft ar­beitet. Eine Bitte der Gruppe um Jon Cortina, den in einem SOS-Heim in der Stadt Santa Tecla unter dem Namen “Juan Carlos” lebenden mut­maßlichen Sohn von María Magdalena Ramos besuchen zu dürfen, lehnte die Leiterin der Kinderdörfer zunächst ab. “So weit wir wissen, wurde Juán Carlos im Alter von ungefähr einem Jahr zu uns ge­bracht”, teilte de García in einem Fax mit, um dann die Behauptungen des Militärs zu wiederholen: “Er befand sich damals in Begleitung von anderen Kindern, die alle in einem Guerilla-Lager von ihren Eltern verlassen worden waren.”
Mütter identifizieren ihre
Töchter und Söhne
Anfang Oktober veröffentlichte die “Asociación Pro-Búsqueda de los Niños Desaparecidos” in der größten Tageszei­tung des Landes, der “Prensa Gráfica”, eine Anzeige, in der nach dem Verbleib von achtzig namentlich genannten Kin­dern gefragt wurde, die das Militär allein in Chalatenango entführt hatte. Andere Medien wie der ehemalige FMLN-Unter­grundsender “Radio Farabundo Martí” griffen das Thema auf, und das SOS-Kin­derdorf stimmte daraufhin einer Gegen­überstellung der “Jugendlichen ungeklär­ter Herkunft” mit ihren wahrscheinlichen Eltern zu. Das von der UN-Beobachter­mission in El Salvador (ONUSAL) und Mitgliedern der sogenannten “Wahrheits-Kommission” – ein Zusammenschluß un­abhängiger Persönlichkeiten zur Untersu­chung von Kriegsverbrechen und Men­schenrechtsverletzungen während der achtziger Jahre – vermittelte Treffen fand drei Wochen später in der Gemeinde Guarjila in Chalatenango statt. Mehrere Mütter identifizierten dabei ihre Söhne und Töchter. Auch María Magdalena Ra­mos war sich ganz si­cher, in “Juan Carlos” ihr eigenes Kind wiedererkannt zu haben. Doch die Kinderdorf-Leitung glaubte der Mutter nicht. “Das war für mich fast ge­nauso schmerzhaft wie der Moment, als die Soldaten mir das Baby wegnahmen”, sagt Frau Ramos.
Durch Blut- und Genanalysen haben US-amerikanische Wissenschaftler jetzt die Identität des angeblichen Waisenkin­des fest­stellen können. Nach den Worten von Dr. Eric Stover, dem Leiter der in Bo­ston ansäs­sigen Organisation “Ärzte für Menschenrechte” (Physicians for Human Rights), besteht an dem Verwandt­schaftsverhältnis zwischen “Juan Carlos” und María Magdalena Ramos “überhaupt kein Zweifel”. Das kom­plizierte Verfah­ren, bei dem zen­trale Bausteine des Erbin­formationsträgers Desoxyribonukleinsäure (DNS) aus wei­ßen Blutkörperchen der untersuchten Per­sonen extrahiert und mit­einander vergli­chen werden, sei “zu 99,81 Prozent” si­cher und werde weltweit von Gerichten als Beweismittel anerkannt. Die Wissen­schaftler hatten die der Mutter und dem Sohn kurz vor Weihnachten ent­nommenen Blutproben in die USA ge­schickt. In ei­nem Laboratorium in Chi­cago wurden sie von dem Erbforscher Dr. Charles Strom ausgewer­tet.
Kinderhandel im Auftrag
der Regierung?
Doch längst nicht alle der im Krieg ge­waltsam entführten Kinder – Jon Cortina schätzt die Zahl insgesamt auf “weit über 200” – befin­den sich noch im Land. Der Pater will von “zahlreichen Fällen” wis­sen, in denen die Jugendlichen bei Adop­tiveltern in Europa wohnen. Allein in Frankreich seien es mehr als fünfzig. Ein Mitglied der “Asociación Pro-Busqueda de los Ninos” habe Ende vergangenen mehrere betroffene Jugendliche in der Nähe von Paris besucht. “Ihnen geht es gut, ihre Adoptiveltern lieben sie, aber sie haben ein Anrecht dar­auf, zu erfahren, wer ihre richtigen Eltern sind.” Andere im Kleinkindalter geraubte Mädchen und Jungen leben nach Cortinas Informationen in England und Italien.
Ungeklärt ist derzeit noch, ob das Mi­litär die Kinder seinerzeit auf eigene Rechnung entführte und später zu verkau­fen versuchte oder im Auftrag der Regie­rung handelte. Die Rechtsanwältin Mirna Perla Anaya will jedenfalls “nicht aus­schließen”, daß sich die salvadorianische Militärführung und Regierungsbehörden damals “bewußt und gezielt am Kinder­handel beteiligt und dabei viel Geld ver­dient haben.” Beweisen läßt sich das bis­lang allerdings nicht. Doch scheint zu­mindest si­cher, daß die zuständigen Mini­sterien für Inneres und Äußeres bei den damaligen Adoptionsverfahren Unterlagen manipuliert haben müs­sen. Einer Adop­tion, zumal durch ausländische Paare, ha­ben auch nach salvadorianischem Gesetz die leiblichen Eltern zuzustimmen. Eine solche Zustimmung hat es jedoch in kei­nem der betreffenden Fälle ge­geben. Des­halb, so Mirna Perla Anaya, “wurden die notwendigen Bescheinigungen entweder gefälscht, oder aber die Regierung hat wahrheitswidrig behauptet, daß die Väter und Mütter gar nicht mehr leben.”
Das vom ehemaligen Präsidenten Al­fredo Cristiani und der rechtsextremen Regierungspartei ARENA kurz nach Frie­densschluß durchgedrückte Amnestiege­setz, das vor allem Offiziere der Regie­rungsarmee und der Polizeieinheiten vor einer Strafverfolgung wegen Menschen­rechtsverletzungen schützt, gilt nicht für die Beteiligung an Entfüh­rungen. Frau Anaya ist deshalb zuver­sichtlich, daß der Kindesraub “irgendwann nicht nur aufge­klärt, son­dern auch straf­rechtlich geahndet wird.”
Um weitere Fälle dokumentieren zu können, erwartet die Rechtsanwältin von den SOS-Kinderdörfern in El Salvador mehr Entgegenkommen. Doch dazu be­steht wenig Bereitschaft. “Juan Carlos” wurde bis auf weiteres nur ein weiteres Treffen mit seiner “angeblichen” Mutter erlaubt. Man fühle sich, erklärte María de García, in dieser Angelegenheit von Me­dien und Men­schenrechtsgruppen “gewaltig unter Druck ge­setzt.” Dabei seien die SOS-Kinderdör­fer “eine unpoli­tische Einrichtung, die nur das Wohl der uns anvertrau­ten Kinder im Auge hat.”
Dabei wird von den betroffenen Müt­tern und Vätern gar nicht angezwei­felt, daß ihre Kinder in der Einrichtung den Umständen entsprechend gut ver­sorgt worden sind. “Man soll uns nur die Kon­taktaufnahme mit unseren Söhnen und Töchtern erlauben”, bittet María Magda­lena Ramos. “Ich verlange ja auch nicht, daß Héctor Aníbal für immer zu mir zu­rückkehrt. Ich möchte ihn nur ab und zu besuchen dürfen, vielleicht einmal im Monat. Wenn er das überhaupt will.”

…und wieder herrscht Krieg

4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Kon­vent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wur­de der Beschluß gefaßt, die Or­ganisa­ti­onsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Be­freiungsbe­wegung” zu bilden, die einer po­litischen Opposi­tionsbewegung gleich­kommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Über­gangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals be­kräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waf­fenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinen­gewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschie­denen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcom­mandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa er­klärte später, sie sei unter Drohungen ge­zwungen worden, ein vorgefertigtes Ge­ständnis zu unter­schreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedil­los, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Seba­stian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs ge­gen die Za­patisten; in einem Kom­munique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogan­gebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee mar­schieren in die von Za­patisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Mili­tärfahrzeuge und Luft­einheiten. Ungefähr zwölf Orte wer­den durch Pan­zereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzu­gängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Per­sonen teil. Unter der Pa­role: “Wir sind alle Mar­cos”, for­derten sie ein sofortiges Ende des Krie­ges, die Freilassung aller bisherigen Gefange­nen und eine friedliche Lösung des chia­panekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein ge­töteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regie­rungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Mo­relia und Las Guarrachas von vier Kampfhub­schrau­bern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das In­nenministerium bekannt, daß alle wichti­gen Po­sitionen in Chiapas wie­dererobert seien. Mili­tärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommu­nalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung sei­ner Person durch die Regierung. Er be­hauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indí­genas auf der Flucht: Nationale Men­schenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterun­gen, Vergewaltigungen und Erschießun­gen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Ein­reise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gou­verneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistel­lung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indí­gena-Organisationen, daß es keine weite­ren Offensiven gegen die za­patistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Pa­trouillen gegen Gewalt­taten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Er­klärung, in der der me­xikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Men­schen­rechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien will­kür­lich verhaftet und ge­foltert worden, ei­nige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundge­bung in einer Woche findet diesmal vor dem National­palast in Mexiko-Stadt statt. Wieder neh­men mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rück­zug der Bun­desarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befin­den sich immer mehr Menschen aus chia­panekischen Dörfern auf der Flucht (siehe aus­führlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zu­rückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grund­vor­aussetzung für den Dialog.

“Wir schaffen eine neue Realität”

In dieser Zone, in der die Zapatistische Befrei­ungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisa­tionen ver­schiedenster politischer Rich­tungen zahlreiche Län­dereien von Groß­grundbesitzern besetzt, um dem histori­schen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Gel­tung zu verschaffen. Eine dieser Organisatio­nen ist die “Unión de Campesinos y Po­pular Francisco Villa”, die in 14 Gemein­den der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer be­waffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldner­truppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem interna­tionalen Jour­nalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jah­res besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbe­waffneten Kampf für ein menschenwürdi­ges Leben auf eigenem Land führt”, er­klärte Eduardo, Füh­rungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidi­gungen ist jetzt Schluß.” Unser er­ster Weg führt uns in das Verwaltungsge­bäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethno­logen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexika­nern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn ab­holten, prangt ein Aufkleber, der zy­nischer kaum sein kann: “Dinero en ma­nos del pobre”, übersetzt: “Geld in Hän­den der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfas­sende Kaf­feeplantage, steht das Haus der Ex-Besit­zerInnen. Die Villa “der Rei­chen”, wie die deut­schen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres ange­sichts der rebellierenden Cam­pe­sinos/as fluchtartig Liquidambar ver­ließen. “Wenn die Rei­chen in ihr Haus wol­len, können sie kommen und mit uns le­ben. Aber sie wer­den nicht mehr Land er­halten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Ge­bäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Be­setzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bo­dybuilding-Center, Hausbar, Weinkel­ler. “Die Getränke, vor allem Cham­pagner und französische Weine, wur­den nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alko­holverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausge­geben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herr­schaftssitz und betreten die Sied­lung der Finca. Während in den weni­gen Steinhäu­sern die Verwalter lebten, waren die Kaf­fee­pflückerInnen, in der Ern­tezeit etwa 2000 Per­sonen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr wa­ren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Ge­henkten” beschreibt. Neben der klei­nen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem La­den konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die gelei­stete Arbeit ausge­gebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billi­gen Fusel eintau­schen. Für den Ar­beitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die Kaffeear­beiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Es­sen – Tor­tillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizini­sche Versor­gung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten die­jenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-Be­sitzerInnen aufnehmen. Als Gegen­leistung mußten den Deutschen die Be­sitztitel über­lassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Li­quidambar gelegenen Ortes Nueva Pale­stina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” ver­fügten, läßt ein im Wald der Finca ange­legter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisie­ren das Ende der Leidenswege zerschun­dener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Fami­lien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salva­dorianer. Diesen illegalen Wanderarbei­tern wurden bei Arbeits­beginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzah­lungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhält­nisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonn­tag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff er­tränkten, wurden sie von Auf­pas­sern in das Gefängnis der Finca ge­worfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die Kaffee­pflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Le­ben arbeiten die Menschen in Li­quidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis ge­stiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflück­ter Menge Kaffee. Da die Produktionsan­lage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-Be­sitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Troc­knungs­vor­gang relativ reibungslos. Auch beim Ver­kauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Groß­grund­be­sitzer sind in dieser Region ge­schei­tert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Ge­schäft nicht entgehen las­sen wollen. Al­lerdings werden die Vil­listas in Liquidam­bar höchstens die Hälfte des reifen Kaf­fees ernten kön­nen. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Le­bens­formen unterschiedlich. Hier in Li­qui­dam­bar wird alles kollektiv ver­waltet und be­arbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir be­zahlen uns, Män­nern und Frauen, die glei­chen Löhne, das Essen ist für alle um­sonst, und die Häuser – die Baracken wer­den nicht bewohnt – stehen den Fami­lien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organi­siert, über­wiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist je­doch erst bei den Besetzungen von Li­quidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Un­se­re ersten Aktionen waren die Beset­zungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Rei­fung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räu­mungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wie­derbesetzungen wechsel­ten einander ab. In dieser Region ist die Repression ge­gen sich organisie­rende Campesinos/as durch die traditio­nell enge Verflechtung von Groß­grundbesitzerInnen, Poli­tikerIn­nen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders aus­geprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Pa­niagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-ge­tre­tener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mit­glied der UCPFV von Pistoleros der Fin­queros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, ge­gen die Unterdrük­kung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die un­bewaffnete Organisierung, ver­trauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Vil­listas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierun­gen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes An­gebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Land­kreis zur Verfügung zu stel­len, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sol­len. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzu­nehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV be­setzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehan­delten Waffen­stillstandes durch die mexikanische Regie­rung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Groß­grund­besitzervereinigungen haben die Exi­stenz einer 700 Mann starken Ar­mee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der re­gionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die be­setzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergrei­fen. Unsere Ak­tionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Fren­te Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem An­führer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. An­gesichts dieser Bedrohungen ist es ver­ständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichts­schutz fotografieren lassen.

Editorial Ausgabe 248 – Februar 1995

‘El pueblo unido, jamás será vencido!” In Zentralamerika war die Idee vom “Vereinten Volk, das niemals besiegt wird” seit den achtziger Jahren untrennbar mit der Einheit der revolutionären Bewegungen verbunden. Ob in Nicaragua, wo die FSW 1979 durch einen Volksaufstand an die Macht gekommen war, in E1 Salvador, wo die FMLN in einem langen Krieg das mörderische Regime aus Christdemokratischer Partei und US-gesponsorten Militärs bekämpfte, oder in Guatemala, wo die URNG einen zähen Kampf gegen die Militärstrategie der verbrannten Erde führte -stets war die Einheit der Befreiungsbewegungen eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Stärke.
Das revolutionäre Zeitalter in Zentralamerika ist -zumindest mittelfristig -zu Ende. In Nicaragua wurde die sandinistische Regierung, die sich jahrelang erfolgreich der unter dem Deckmäntelchen der Contra versteckten US-Aggression erwehrt hatte, vom eigenen Volk abgewählt. In EI Salvador hat die Guerilla ihre Waffen abgeliefert und kämpft nun unter großen Mühen für die Einhaltung der ohnehin begrenzten Reformen, die im Friedensvertrag von Chapultepec vereinbart wurden. Und in Guatemala spricht niemand mehr von der Revolution. Die Verhandlungen zwischen URNG und Regierung kommen nur zäh voran und dürften -sollten sie eines Tages zum Abschluß gebracht werden -weit hinter den Ergebnissen in E1 Salvador zurückbleiben.
Der Spaltpilz, der sich seit einiger Zeit in den (ehemals) revolutionären Bewegungen breitgemacht hat, ist ein weiteres Zeichen für das Ende der revolutionären Hoffnungen in Zentralamerika. Guatemalas Guerilla Ist wohl eher aus der Notwendigkeit des Krieges heraus noch vereint. Über die Spaltung der FMLN war bereits in den Lateinamerika Nachrichten des Vormonats zu lesen. Diesmal gilt es, über die Spaltung der FSLN zu berichten: Sergio Ramírez und andere prominente Sandinistlnnen haben die FSLN verlassen. Die Gründung einer neuen Partei steht unmittelbar bevor.
Das Schlimme am Zerwürfnis innerhalb der FSW ist jedoch weniger die Spaltung -die Einheit der Frente Sandinista war seit langem nur noch ein Mythos. Wirklich erschreckend ist die Art und Weise, wie mit parteiinternen GegnerIn- nen umgegangen wird. Statt einer politischen Debatte wird eine miese Schlammschlacht voller persönlicher Beleidigungen und infamer Unterstellungen ausgetragen. Der Hombre Nuevo, der einst durch die Revolution entstehen sollte, entpuppt sich als Macho Viejo. Wem die Argumente ausgehen, der behilft sich mit Intrigen oder mit dummen und sexistischen Sprüchen.
Die Solidaritätsbewegung muß sich ebenfalls vom gewohnten Freund-Feind-Denken verabschieden. Wenn Sergio Ramirez und andere die FSLN verlassen, ist es eben nicht unbedingt, weil sie “rechts” sind und ihren Frieden mit der Bourgeoisie gemacht haben. Sowohl der Mehrheitsfrügel um Parteichef Daniel Ortega als auch die Minderheit, die jetzt Ramirez folgen und die Partei verlassen wird, huben bei unzähligen Gelegenheiten mal mit und mal gegen die Regierung gestimmt. Und ob Daniel Ortega eine größere Nähe zur Basis hat als etwa die “Reformerln” Dora Maria Téllez, darf bezweifelt wer-den. Das lnfobüro Nicaragua in Wuppertal bemüht sich erfreulicherweise um eine Debatte über die Zustände in -und mittlerweile außerhalb -der FSLN. Die Konstruktion eines Links-Rechts-Gegensatzes beim Streit der Sandinistlnnen, wie sie von einem Teil der Solibewegung vorgenommen wird, ist dagegen blanker Unsinn. Die Dinge sind weit komplizierter, den eindeutigen Bündnispartner gibt es in Nicaragua nicht mehr.

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