Der “Telenovela-Streit”

Märchen ohne Konkurrenz

In Mexiko produziert der Medienriese Televisa (bzw. sein Vorläufer “Telesistema Mexicano”) seit Ende der fünfziger Jahre Telenovelas und verkauft sie seit Anfang der Sechziger auch in die übrigen Länder Lateinamerikas und in die USA. Televisa konnte durch aggressive Strategien die Medienkonkurrenz in Mexiko ausschalten oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilen und hat damit weitgehend eine Monopolstellung. Aus dieser Position heraus konnte die Unternehmensleitung krasse Zensurmaßnahmen vornehmen, durch die die Beschäftigten unter hohen Druck gesetzt werden, die Programme strikt nach den Interessen der Unternehmensleitung zu gestalten. Diese Unternehmenspolitik rief in Mexiko viele KritikerInnen des Fernsehens und seiner Programme auf den Plan.
Anders als in Brasilien hielten die professionellen Kulturschaffenden, die Autor-Innen, RegisseurInnen und SchauspielerInnen jahrzehntelang Abstand von dem kommerziellen Fernsehgiganten, da es als “imageschädigend” galt, bei Televisa zu arbeiten. Erst seit in den achtziger Jahren die Arbeitsmöglichkeiten für KünstlerInnen in Mexiko immer schlechter wurden, gingen mehr und mehr SchauspielerInnen, aber auch einige AutorInnen und RegisseurInnen zu Televisa. Dadurch gab es über viele Jahre hinweg gar nicht erst den Versuch, in Programmen wie den Telenovelas anspruchsvolle Innovationen vorzunehmen. Die Konsequenz war, daß die mexikanischen Telenovelas bis in die achtziger Jahre “immer die gleichen rosaroten Märchen” blieben.

Linke Kritik seit den siebziger Jahren

Ausgehend von den Diskussionen der Siebziger wurden in ganz Lateinamerika die Massenmedien als Agenten des Kulturimperialismus gebrandmarkt, die die kulturelle Autonomie der lateinamerikanischen Völker durch fremde kulturelle Werte zerstören wollten. Daneben wurde in Anlehnung an einige Vertreter der Kritischen Theorie deren negative Bewertung der Massenmedien übernommen. Die Medien, so das gängige Urteil, prägten den schlechten Geschmack und entfremdeten das Bewußtsein der Menschen.
Als Prototyp dafür galten die Telenovelas. Allein die Tatsache, daß sie zusammen mit den ähnlich konzipierten Radio- und Fotonovelas ein Massenpublikum ansprechen und in ihren Bann ziehen können, wurde als Maßstab für den Grad der Entfremdung genommen, dem das Publikum bereits unterlegen war. Ideologiekritische Produktanalysen wurden vorgenommen und die Mechanismen der Bewußtseinsentfremdung hervorgehoben. Zwar gab es Ansätze, über neue Wege kritisches Bewußtsein zu schaffen, doch für viele der KritikerInnen gilt bis heute als Alternative, die “schlechten”, als zu konservativ, zu realitätsfern, zu konsumistisch oder zu liberal bezeichneten Inhalte durch “gute” zu ersetzen, das aber unter Beibehaltung derselben Art der Beeinflussung.

Imagepflege Televisas

In Mexiko fanden die kritischen Positionen ein so großes Echo, daß Televisa reagierte. Das Ergebnis waren einige Telenovelas, die sich um Ereignisse der mexikanischen Geschichte rankten oder in denen aufgefordert wurde, an Alphabetisierungsmaßnahmen teilzunehmen oder Verhütungsmittel zu benutzen. Mit solchen “unterweisenden Inhalten” konnten dazu gewinnträchtige Geschäfte gemacht werden. Für die Propagierung regierungsfreundlicher Geschichtsschreibung und die Unterstützung der Bevölkerungspolitik erließen die jeweiligen Regierungen Steuern und Gebühren. Insgesamt gab es kaum zwanzig Telenovelas diesen Typs, aber Televisa stellt sie bis heute zur Imagepflege in den Vordergrund.
Neben der Produktion von explizit als “bildend” bezeichneten Telenovelas ging Televisa zunehmend dazu über, die schon immer präsentierten Inhalte als “gute Botschaften” zu verkaufen. Das Publikum bekäme Beispiele für “gutes” Verhalten, wie z.B. das Waschen der Hände vor dem Essen. Schlechte Gewohnheiten, wie Alkohol- und Drogengenuß, würden in der Telenovela bestraft und hätten daher abschreckende Wirkung. Das Zurschaustellen von luxuriösen Konsumartikeln würde in den armen Menschen nicht den Wunsch wecken, ebensolche zu begehren, weil sie mit ihren traditionellen Lebensformen zufrieden seien.
Gleichzeitig betonte Televisa immer wieder, daß die Telenovelas nur zur Unterhaltung seien und das Publikum dem Fernsehen lange nicht so stark ausgesetzt sei wie z.B. einem Film im dunklen Kinosaal. Seit Anfang der neunziger Jahre strahlte der Fernsehsender außerdem Spots aus, in denen das Telenovela-Schauen in scherzhafter Form als aufregendes Ereignis in allen Lebensbereichen dargestellt wird. Außerdem wurde seit Ende der achtziger Jahre immer wieder auf die hohe Qualifikation der bei Televisa Arbeitenden verwiesen und die gute Qualität der Telenovelas beteuert.

Telenovelas entfremden die Frauen

Zwischen den Fronten der Telenovela-KritikerInnen, die überwiegend aus intellektuellen Kreisen stammten, und den VerteidigerInnen Televisas verbreitete sich die Diskussion um die Telenovela in den Auseinandersetzungen der Volksmassen. Die Argumente für und wider die Telenovela wurden “popularisiert”. Aus dem Argument der kulturellen Homogenisierung wurde in Mexiko der konservative Vorwurf, daß die traditionellen mexikanischen Sitten ausgehöhlt würden, wie z.B. die Priorität der Familie. Dies galt unter anderem als Kritik an den Frauen, welche durch die Telenovela-Inhalte motiviert würden, die Autorität des Mannes in Frage zu stellen.
Eines der in Mexiko am häufigsten benutzten Wörter bei der Kritik an den Telenovelas ist der Begriff der Entfremdung. Darunter wird in den meisten Fällen eine zeitliche Fremdbestimmung verstanden. Es heißt z.B., die Frauen kümmerten sich nicht genug um Mann und Kinder, weil sie an die Telenovelas gefesselt seien. Dies führe unter anderem zur Verwahrlosung der Kinder. Darüberhinaus kämen ZuschauerInnen nicht mehr in kirchliche und soziale Einrichtungen, weil sie lieber vorm Fernseher blieben. Anstelle des Fernsehkonsums sei das Lesen eines guten Buches, die Beschäftigung mit den Kindern usw. vorzuziehen. Die inhaltliche Interpretation des Entfremdungsbegriffes richtet sich darauf, daß vor allem Jugendliche und Kinder durch Telenovelas zu Delinquenz, Drogensucht und sexuellen Ausschweifungen verleitet würden.
Die harsche Kritik an den Telenovelas wurde vor allem von den Männern gegenüber den Frauen geübt. Besonders für Männer galt es als peinlich, Telenovelas gut zu finden. Seit Anfang der achtziger Jahre versuchte Televisa daher, deren Aufmerksamkeit durch die Hinzufügung von mehr Aktions- und Krimimomenten und durch Erotisierung und Sexualisierung der Liebesbeziehungen zu gewinnen.
Die Geringschätzung eines Fernsehgenres, das zunächst vorwiegend Frauen anzog, ist nicht auf Mexiko beschränkt, sondern findet sich ebenso in den USA und anderen Ländern gegenüber Fernsehserien und anderen vor allem bei Frauen populären Medien.

Niemand schaut Telenovelas

Die Telenovela-Fans mußten angesichts der harschen Kritik an ihrem Fernsehverhalten auf die Angriffe reagieren. Glaubt mensch den Äußerungen, die in Mexiko über den eigenen Telenovela-Konsum gemacht werden, scheint es oft, als würde kaum jemand diese Programme schauen. Andere ZuschauerInnen greifen die Argumente Televisas auf und betonen, sie würden die Serien nur zur reinen Unterhaltung und Zerstreuung und nur für ein Weilchen anschauen, wenn sie ohnehin nichts anderes zu tun hätten. Wieder andere beteuern, sie selber, ihre Kinder oder ihre Eltern würden eine Menge Gutes von den Telenovelas lernen.
Sie würden beispielsweise motiviert, sozial “besser” zu handeln oder Konflikte anders zu verarbeiten. Gleichzeitig betonen alle, nicht von den Telenovelas beeinflußt zu werden. Schließlich taucht oft das Argument auf, die mexikanischen Telenovelas seien von hoher Qualität. So sei es nur recht und billig, sie zu konsumieren.

Anpassung und Subversion

Die hier skizzierte Art der Auseinandersetzung mit Telenovelas ist bis heute in Mexiko häufig anzutreffen, befindet sich allerdings seit den achtziger Jahren in einem Prozeß der Veränderung. Zum einen führte das verstärkte Aufgreifen der Lebensrealität ärmerer Bevölkerungsschichten und Jugendlicher in der Telenovela dazu, daß neue Publikumsgruppen hinzugewonnen und deren Akzeptanz erhöht werden konnte. Zum anderen ist international eine Umbewertung in den Urteilen über Fernsehserien und populäre Geschmäcker festzustellen: Es wird stärker aus der Sicht der Einzelnen über deren Umgangsweisen mit populären Genres im jeweiligen alltagsweltlichen Kontext nachgedacht. In den USA gibt es darüber hinaus zahlreiche Annäherungen an die Frage, welche Bedeutung die Fernsehserien gerade für Frauen haben.
In Lateinamerika führte die Auseinandersetzung mit den sozialen Bewegungen jenseits der traditionellen Formen von kritischen Aktionsformen dazu, daß auch im Bereich der “cultura popular” ein Umdenken stattfand. Populäre Lebensstile werden nicht mehr nur als die Frucht interpretiert, die äußere Mächte gesät haben, sondern als die jeweiligen Aneignungsformen des Vorgegebenen zwischen äußeren Zwängen und eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Dadurch sei es nach Meinung des Mexikaners García Canclini ganz und gar nicht zu einer Homogenisierung der verschiedenen lateinamerikanischen Kulturen gekommen, sondern es gäbe eine Vielzahl von traditionellen und modernen Lebensformen und -stilen, die nebeneinander ständen. Lateinamerika sei in die Postmoderne eingetreten, ohne die Moderne voll entwickelt zu haben.
Sowohl bei den spezifisch weiblichen Umgangsformen mit Fernsehserien, als auch bei den populären Herangehensweisen an Massenkultur wird eine neue Position vertreten. Danach übernehmen die Einzelnen zum Teil die von außen an sie herangetragenen Weltbilder. Auf der anderen Seite ist die eigene Alltagsrealität so bestimmend, daß Fernsehinhalte, die nicht mit den eigenen Werturteilen übereinstimmen, ignoriert werden. In Anlehnung an den Nutzenansatz in der Medienwirkungsforschung fragen seit Mitte der achtziger Jahre viele ForscherInnen in Lateinamerika danach, “was das Publikum mit den Medien macht”. Die Tatsache, daß die Fernsehproduzenten auf eine massenhafte Akzeptanz ihrer Produkte angewiesen sind, führe außerdem dazu, daß die Lebensrealität der Massen in den Telenovelas aufgegriffen und damit wiedergespiegelt und sichtbar gemacht würde.
In diesem Zusammenhang findet der in den letzten Jahren in Lateinamerika häufig aufgegriffene Begriff der “Mediación” von Martín Barbero aus Kolumbien seine Anwendung: die Telenovela ist Vermittlung. Sie ist der Ort, an dem sich Produktion und Rezeption, Rentabilität und kulturelle Heterogenität treffen und an dem diese verständlich werden.
Eine weitere Lesart von Telenovelas, die vor allem aus den feministischen Arbeiten über Soap Operas im englischsprachigen Raum angeregt wurde, betont, daß die scheinbar eindeutigen Botschaften in den Fernsehserien auf vielerlei Weise gedeutet werden können. Ein anderer Impuls kommt aus Brasilien, wo die Zurückdrängung US-amerikanischer Programme durch die Expansion nationaler Fernsehproduktion und der weltweite Export der Telenovelas hervorgehoben wird. Die Schwellenländer seien nun in die Lage gekommen, dem US-Kulturimperialismus etwas entgegenzusetzen.
Die Diskussion über Telenovelas im besonderen und Massenmedien im allgemeinen verläuft nicht in allen Ländern Lateinamerikas gleich, sondern bewegt sich mit unterschiedlicher Gewichtung der hier skizzierten Positionen: zwischen Ablehnung, dem Feiern der Telenovela als Spiegel gesellschaftlicher Realität und der Betonung der Ambivalenzen im Umgang damit. Während die Akzeptanz der Telenovelas in Brasilien in den letzten Jahren erheblich zunahm, gibt es in Mexiko weiterhin sehr viel Skepsis ihr gegenüber. Überall bleibt die Diskussion über sie jedoch in Bewegung.

Kreative Unruhe inmitten des ökonomischen Desasters

Es ist eine seltsame Sturmnacht. Wind und Regen peitschen von der Karibik her gegen das kolumbianische Festland. Krebse krabbeln aus der Gischt und retten sich an Land. Ein Baby wird unruhig. In Windeseile bedeckt das glitschige Getier den Boden der Strohhütte. Das Baby schreit. Draußen hat das Unwetter ein anderes verstörtes Wesen an den Bootssteg gespült: “Un señor muy viejo con unas alas enormes” – einen sehr alten Herrn mit enormen Flügeln. Ein Geschenk des Himmels?
Fernando Birri, Kuba, 1989

Wie jeden Tag sitzt sie in der Küche und weint beim Zwiebelschneiden, als sie spürt, daß es soweit ist: Der gewölbte Unterleib krampft sich zusammen, die Fruchtblase platzt, und ein Meer von Tränen ergißt sich über die Holzdielen, schwappt bis zur Türschwelle. Das Mädchen, das in diesem Moment das Licht der Küchenfunzel erblickt, wird den Großteil seines Lebens in diesem Raum verbringen und als Köchin kleine Wunder vollbringen. Tief im Inneren wird sie sich nach den samtigen Schlafzimmeraugen ihres Geliebten und späteren Schwagers verzehren. Sie gehören zueinander “como agua para chocolate” – wie das Wasser und die Schokolade, die sie ihm täglich in emsiger Fürsorge zubereitet…
Alfonso Arau, Mexiko, 1992

Mexikanische Knäste sind nicht besonders angenehm, dieser ist keine Ausnahme: Die Mittagshitze brennt aufs Wellblechdach, apathisch hängt die Wärterin hinterm Schreibtisch und zählt Schmiergeld. Auch der einzige Insasse langweilt sich – und sinnt auf Rache: Er weiß, wessen Verrat er diesen Aufenthalt verdankt. Da ist das Schlagen einer Autotür zu hören. Breitbeinig, die Knarre im Anschlag, betreten sie die Baracke. Damit der Chef die neue Freiheit auch genießen kann, haben sie ihm gleich was mitgebracht: einen schwarzen Gitarrenkoffer – drinnen eine kleine Waffensammlung. Der Weg ist frei für die Revanche – wenn da nicht ein unschuldiger “Mariachi”-Sänger mit einem ähnlichen Koffer wäre…
Roberto Rodriguez, Mexiko, 1992

Von einem Tag auf den anderen beschließt er, das wenige zu verkaufen, was er sich in all’ den Jahren als Sargtischler erarbeitet hat. In La Paz begreift niemand, warum er zurück will in sein Aymara-Dorf. Vor Jahren hatte ihn die Gemeinschaft verstoßen: Er hatte Geld unterschlagen. Eine rituelle Tanzmaske auf den Rücken geschnallt, macht er sich zu Fuß auf den Weg, um dort zu sterben, wo er hingehört: zur “nación clandestina” – der geheimen Nation.
Jorge Sanjinés, Bolivien, 1991

Bloß raus aus dem feuerländischen Winter, weg vom spießigen Stiefvater, der resignierten Mutter, den Schikanen in der Schule und der verwickelten Liebesaffäre. – Wohin? Mal sehen: erst mal mit dem Rad durch Patagonien, dann weiter nach Norden… Quer durch den unbekannten lateinamerikanischen Kontinent, auf den Spuren des Vaters, der vor Jahren das Weite suchte: “El viaje” – die Reise – vielleicht ist der Weg schon das Ziel?
Fernando Solanas, Argentinien, 1992

Eingangsquenzen von fünf lateinamerikanischen Filmen, die in den letzten Jahren entstanden: Ein Panoptikum unterschiedlicher Geschichten und Bildsprachen. Nicht alle haben eine klare “mensaje”, eine politische Botschaft. Im Gegenteil: “El Mariachi” und “Como agua para chocolate” stehen eher in der Tradition populärer Unterhaltungsgenres, treiben sie auf die Spitze, lavieren zwischen parodistischer Brillianz und schnöder Trivialität hin und her.
Ganz anders dagegen Filme wie “La nación clandestina” und “El viaje”. Auf sehr unterschiedliche Art und Weise befassen sie sich mit der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Identität: “La nación clandestina” des Bolivianers Sanjinés hält sich als künstlerisches Werk zurück. Der Film, der mit Aymara-Indígenas in ihrer Sprache gedreht wurde, paßt sich in Tempo und Schnittfolge der Lebensphilosophie dieses Volkes an. Ganz anders dagegen der abenteuerliche Trip von Solanas Protagonisten, einem Jungen aus dem weißen Mittelstand: “El viaje” ist vom ständigen Wechsel der Verkehrsmittel, der Umgebung, der Eindrücke geprägt: Ein surreal-dekadentes Argentinien, von Wassermassen überschwemmt und in seiner eigenen Scheiße erstickend. Ein postkartenschönes Machu Picchu, das inmitten des touristischen Rummels Ahnungen von der präkolumbianischen Vergangenheit aufsteigen läßt. Ein von grotesken Gegensätzen zerrissenes Brasilien, in dem es futuristische High-Tech-Metropolen gibt, während gleichzeitig im Amazonasgebiet Minenarbeiter sich zu Tode schuften müssen wie schon zu den Zeiten der Conquista. – Zwei Filme, der eine von stoischer äußerer Ruhe und Verschlossenheit, der andere opulent, teilweise überladen mit Eindrücken und Metaphern – Porträts der widersprüchlichen Gesichter eines Kontinents.

Filme zur Conquista: Jubiläumsspektakel oder kultureller Dialog?

Pünktlich zum Jahr 1992 entstanden auch einige Filme, die sich direkt mit der Geschichte der Eroberung Amerikas auseinandersetzen: Im Gegensatz zu den US-amerikanischen Mammutschinken “1492” und “Columbus”, die sich auf die Heldengestalt des “Entdeckers” bezogen, erzählen “Jericó” (Luis Alberto Lamata, Venezuela, 1991) und “Cabeza de vaca” (Nicolás Echevarría, Mexiko, 1991) andere Versionen vom “Aufeinandertreffen zweier Welten”, die ebenfalls auf historische Quellen zurückgehen: In beiden Fällen sind die Protagonisten spanische
Conquistadoren, die von ihrer Armee getrennt werden, nach und nach immer mehr vom alten Ich abstreifen, in die fremde Umgebung und Kultur eintauchen – bis sie gegen ihren Willen von den Spaniern “gerettet” und in die “Alte Welt” zurückgeholt werden.
Das Paradoxe ist, daß die meisten dieser “500 Jahre”-Filme nur mit Hilfe von Geldern aus Europa realisiert werden konnten. Besonders der staatliche spanische Fernsehsender TVE ließ sich das historische Gedenken schon einiges kosten und trat als Koproduzent bei der Finanzierung einiger Filme auf – unter anderem bei “La nación clandestina” von Sanjinés und “Un señor muy viejo con unas alas enormes”, den Fernando Birri nach einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez verfilmte.

Allgemein konnte im letzten Jahr durchaus der Eindruck enstehen, als ob die europäische Medienöffentlichkeit ganz wild darauf sei, die koloniale Vergangenheit durch eine hohe Durchlaufzahl von lateinamerikanischen Filmproduktionen aufzuarbeiten. Sowohl auf den Leinwänden der Filmfestivals als auch in der ersten Reihe bei ARD und ZDF waren so viele amazonische Ureinwohner und großstädtische Straßenkinder zu sehen wie nie zuvor. Jetzt, wo der Jahrestag der Betroffenheit abgefeiert worden ist, scheinen sich die Bedürfnisse des Marktes und das Angebot in den Massenmedien erst mal wieder in andere Weltregionen verlagert zu haben.

Zwischen “Ästhetik des Hungers” und Happy End für “Juliana”

Und wie sieht es in Lateinamerika selbst aus? Mehr als 30 Jahre sind seit der Entstehung des Neuen Lateinamerikanischen Films vergangen. Beeinflußt von der kubanischen Revolution und linken Bewegungen anderswo auf dem Kontinent, versuchten in verschiedenen Ländern FilmemacherInnen, neue Wege zu gehen. Stilistisch waren sie unter anderem vom italienischen Neorealismus oder vom Surrealismus Luis Buñuels beeinflußt, der damals im mexikanischen Exil lebte. Das Kino sollte keine illusionistische Traumfabrik sein, sondern Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und gleichzeitig Motor politischer Veränderungen. Entsprechend programmatisch waren die Namen: “Cine Imperfecto”, “Cine de Liberación”, “Ästhetik des Hungers”. Regisseure wie Fernando Solanas und Octavio Getino (Argentinien) propagierten ein “Drittes Kino” in Abgrenzung sowohl von der kommerziellen Filmindustrie als auch vom individualistischen Autorenkino.
Ziel war die “Entkolonialisierung der Köpfe” – Film als politisches und pädagogisches Instrument: Entsprechend groß war auch die Bedeutung, die dem Kino in Kuba und auch im sandinistischen Nicaragua beigemessen wurde. Einige dieser Filme beeindrucken nicht nur durch die “Botschaft”, sondern auch durch die expressive Bildsprache: Zum Beispiel “Lucía” von Humberto Solás (Kuba, 1968), der die Geschichte Kubas anhand dreier Frauen aus unterschiedlichen Epochen dieses Jahrhunderts zeigt. Andere Filme arbeiteten dagegen vorwiegend mit dem didaktischen Zeigefinger: Die Charakterisierung der Personen wurde dem vereinfachenden Pinselstrich des “sozialistischen Realismus” untergeordnet.
Einige RegisseurInnen oder Filmkollektive versuchten, nicht nur die Inhalte zu “revolutionieren”, sondern auch die Entstehung eines Films zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen: In den achtziger Jahren arbeitete Grupo Chaski in Peru fast ausschließlich mit LaiendarstellerInnen, die aus ähnlichen Lebensverhältnissen stammten wie die Personen des Films. Ihre Erfahrungen sollten in die Handlung einfließen. Dieser Anspruch wurde allerdings nur begrenzt realisiert – unter anderem, da es nicht gelang, mit gruppeninternen Hierarchie- und Machismo-Konflikten fertigzuwerden. Bei den Filmen von Grupo Chaski flossen Realität und Fiktion ineinander. Und auch Wunschträume hatten ihren Platz, beispielsweise bei dem Film über das Straßenmädchen “Juliana” (Peru 1989), der auf Wunsch der Kinder, die mitspielten, ein Happy End bekam. – Dies löste übrigens bei der Präsentation des Films in Europa bei vielen BetrachterInnen Befremden aus, wurde angesichts der Situation in Peru als unpolitisch und naiv angesehen…

Vor dreißig Jahren: Aufbruch trotz wirtschaftlicher und politischer Zwangsjacken

Das Neue Lateinamerikanische Kino sah sich natürlich von Anfang an mit großen ökonomischen Problemen konfrontiert. Nur in wenigen Ländern, wie etwa Argentinien, Brasilien und Mexiko, gab es eine funktionierende Infrastruktur im Filmbereich, die in erster Linie der Herstellung kommerzieller Unterhaltungsspektakel diente. In den siebziger Jahren begannen Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru und Venezuela, Gesetze zur Förderung der nationalen Filmindustrie zu verabschieden. So schreibt beispielsweise seit 1972 ein Gesetz in Peru vor, daß in den Kinos vor jedem ausländischen Spielfilm ein peruanischer Kurzfilm gezeigt werden muß und ein Teil der Kinoeinnahmen seinen ProduzentInnen zufließt. Dies führte immerhin dazu, daß zwischen 1972 und 1990 mehr als 800 Kurzfilme entstanden.
Während der Zeit der Militärdiktaturen in Argentinien, Chile, Bolivien und anderen Ländern waren viele FilmemacherInnen gezwungen, ins Exil zu gehen. Erst die Rückkehr der Länder zur formalen Demokratie brachte wieder Impulse für den Film, der zum Sprachrohr der progressiven Bewegungen wurde: In Argentinien entstanden ab Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von Werken, die sich mit der Zeit der Diktatur auseinandersetzten, so etwa “La historia oficial” von Luis Puenzo (“Die offizielle Geschichte”, 1985), “La noche de los lápices” (“Die Nacht der Bleistifte” 1986) von Héctor Oliveira und “Sur” (Süden, 1987) von Fernando Solanas.

Ökonomische Krise und Videoboom: schlechte Zeiten fürs Kino

Die neunziger Jahre sind für das lateinamerikanische Kino nicht gerade die Zeit der großen Hoffnungen, und das hat in erster Linie ökonomische Ursachen: Die in den meisten Ländern ohnehin nicht sehr stabile Filmindustrie leidet zum einen unter der immer größeren Konkurrenz durch Fernsehen und Video. Die ökonomische Krise der letzten Jahre und vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik haben gleichzeitig die Kaufkraft so weit geschwächt, daß ein Kinobesuch auch für Leute aus der Mittelschicht zum Luxus geworden ist.
Als Konsequenz des Publikumsschwundes mußten in den vergangenen sechs Jahren mehr als die Hälfte der Kinosäle in Lateinamerika schließen. Die übrig gebliebenen Lichtspielhäuser setzen vorwiegend auf US-amerikanische Massenware. Oft werden sie auch von den Verleihfirmen dazu verpflichtet, mehrere Streifen en bloc einzukaufen, was es schwer macht, unabhängig produzierte in- oder ausländische Filme ins Programm zu nehmen.
Anders als in der Fernsehindustrie gibt es im Filmbereich kaum Strukturen für den Vertrieb und Austausch lateinamerikanischer Produktionen. Mit paradoxen Folgen: Die Wahrscheinlichkeit, einen kolumbianischen Film in einem Programmkino in Köln oder einem Dritte Welt Zentrum in Münster zu sehen, ist weitaus größer als die Möglichkeit, das Werk im Nachbarland Ecuador zu Gesicht zu bekommen. Das gilt auch für viele Filme, die internationale Preise erhalten haben.
Insbesondere die brasilianische Filmindustrie wurde von den Privatisierungen unter Collor de Mello stark getroffen. Dieser löste nach seinem Amtsantritt die staatliche Filmförderungsbehörde Embrafilm auf und schaffte das Gesetz ab, das den brasilianischen Filmen eine Abspielmöglichkeit garantierte. – Mit dem Ergebnis, daß das Land, das zeitweise bis zu 90 Filme pro Jahr produzierte, seit Anfang der neunziger Jahre nur noch durchschnittlich 3 Filme herstellt. Die Programmlücken, die so im Kinoangebot entstanden, wurden rasch mit US-Produktionen gefüllt.
Lediglich Mexiko gelingt es nach wie vor, seine – größtenteils recht kommerziell orientierte – Filmproduktion relativ stabil zu halten. Dies liegt zum einen an der vergleichsweise sicheren politischen und ökonomischen Situation des Landes. Wichtig für die künstlerische Filmproduktion sind die Aktivitäten des staatlichen “Instituto Mexicano de Cinematografía” (IMCINE), das unter anderem gezielt junge FilmemacherInnen fördert. Einige Filme wurden sogar kommerzielle Erfolge im Ausland, zum Beispiel “Como agua para chocolate”: In den USA wurde das Küchendrama überraschend zum Kassenschlager und spielte allein in den ersten 16 Wochen 8,5 Millionen Dollar ein.
Und wie steht es mit Kuba? In den drei Jahrzehnten nach der Revolution entstand auf der Insel unter Federführung des nationalen Filminstitutes ICAIC eine Filmindustrie, die zwischen 1984 und 1990 ungefähr 10 Spielfilme pro Jahr sowie zahlreiche Kurz- und Dokumentarfilme produzierte. Entscheidend ist allerdings nicht die Anzahl der Filme, sondern die politischen Impulse, die vom kubanischen Film ausgingen, sowie die Infrastruktur, die der kubanische Staat aufbaute und auch Filmschaffenden anderer Länder zur Verfügung stellte.
So wurde 1986 auf Kuba die “Filmschule der drei Welten” gegründet – ein weltweit einmaliges Projekt, das jungen Leuten aus Lateinamerika, Asien und Afrika die Möglichkeit bietet, gemeinsam zu studieren und sich auszutauschen. Das Internationale Filmfestival von Havanna, das seit 1980 jährlich stattfindet, entwickelte sich schnell zum wichtigsten Forum des lateinamerikanischen Films.
Die ökonomische Krise, unter der Kuba seit dem Zusammenbruch der Länder des Warschauer Paktes leidet, hat natürlich auch Auswirkungen auf die Filmindustrie: So konnten im vergangenen Jahr nur zwei Spielfilme fertiggestellt werden. Folglich fand das Filmfestival in Havanna in den letzten beiden Jahren in einer Atmosphäre der Widersprüche statt: Inmitten des immer größer werdenden Mangels gelang den OrganisatorInnen zwar das Kunststück, einen reibungslosen Ablauf des Festivals zu organisieren. Gleichzeitig sorgte 1992 die de-facto-Zensur des kubanischen Films “Alicia en el pueblo de las maravillas” (“Alice im Wunderland”), einer systemkritischen Satire von Daniel Díaz Torres, für einen Skandal.

Lateinamerikanische Filmkooperation – erste zaghafte Schritte

Was ist aus der kontinentalen Vision der Väter – und wenigen Mütter – des Neuen Lateinamerikanischen Films geworden, die sich 1967 im chilenischen Badeort Viña del Mar zum ersten lateinamerikaweiten Treffen versammelten?
1986 wurde von Filmschaffenden aus verschiedenen Ländern die “Fundación del Nuevo Cine Latinoamericano” (“Stiftung des neuen lateinamerikanischen Kinos”) ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, “die nationalen und kulturellen Werte Lateinamerikas wiederzubeleben” und die bereits bestehenden Bewegungen auf kontinentaler Ebene zu verknüpfen. Auf Initiative der Stiftung, die ihren Sitz in Havanna hat, wurde beispielsweise 1989 die “Conferencia Iberoamericana de Autoridades Cinematográficas” CACI (“Iberoamerikanische Konferenz der Filmbehörden”) gegründet. Ziel ist, die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen und der Filmindustrien auf dem Kontinent zu verbessern und verstärkt Koproduktionen herzustellen. Mittlerweile haben 13 Länder eine “Ibero-amerikanische Film-Vereinbarung” unterzeichnet, die unter anderem die Einrichtung einer jährlichen internationalen Filmkonferenz vorsieht. Auch soll ein Exekutivorgan geschaffen werden, das die gesetzliche und praktische Umsetzung der Vereinbarung in den verschiedenen Ländern überprüft. – Ein gemeinsamer lateinamerikanischer Filmmarkt – die Patentlösung gegen die erdrückende Dominanz der US-amerikanischen Medienindustrie? Gabriel García Márquez, einer der Gründer der “Stiftung des neuen lateinamerikanischen Films”, betont, das Ziel sei nicht, die US-Konzerne aus dem Geschäft zu drängen, sondern lateinamerikanischen Filmen die gleichen Vertriebs- und Präsentationschancen zu verschaffen.
Der lateinamerikanische Film, ein schillernder Vogel, zur Zeit ziemlich gerupft, versucht, ökonomisch fliegen zu lernen. Ein schweres Unterfangen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Krise eine solch beklemmende Schwerkraft entwickelt wie in den neunziger Jahren.

Rein in die öffentliche Debatte

Radio Latacunga bildet einen integralen Bestandteil des Lebens der Bauern aus der Gegend, hält die Gemeinschaft zusammen und stärkt die lokale Kultur und Identität. Jeden Tag schalten die Indios das Radio ein, um Lokalnachrichten zu hören und Ratschläge über Landwirtschaft, Gesundheit und Hygiene zu erhalten. Andere hören begierig Radiobotschaften von Verwandten, die aus dem Dorf abgewandert sind, um in den Städten zu arbeiten.

Alternative Medien – eine Stimme für die Marginalisierten

Radio Latacunga ist ein Beispiel für die Rolle, die populäre und alternative Medien im Demokratisierungsprozeß spielen können. Populäre und alternative Medien bilden für marginalisierte Gesellschaftsschichten -zum Beispiel Frauen, Jugendliche, Bauern und Indios -ein Vehikel, um an der öffentlichen Debatte teil-nehmen zu können. Diese Projekte gehorchen nicht dem Gesetz der Profitmaximierung, sondern wollen den oft vernachlässigten Interessen und Standpunkten eine Stimme geben. Sie wollen die Gesellschaft ändern. Die Medien, von denen hier die Rede ist, sind sowohl populär -sie erwachsen aus den Graswurzeln -als auch alternativ -sie zeigen Perspektiven auf, die sich vom Mainstream unterscheiden. Um es kurz zu machen, werde ich das Wort “medios populares” benutzen. Politischer und ökonomischer Einfluß hängt vom Zugang zu Informationen ab. Parallel zum Kampf um ökonomische Ressourcen in Lateinamerika findet auch im Kommunikationsbereich ein Kampf statt. Während der siebziger und frühen achtziger Jahre kristallisierte sich dieser Konflikt in der Forderung von Dritte-Welt-FührerInnen nach einer “Neuen Weltinformationsordnung”, in der Information nicht von den westlichen Mächten monopolisiert würde. Dies sollte Hand in Hand gehen mit einer “Neuen Weltwirtschaftsordnung”, in der ökonomische Ressourcen gerechter zwischen Norden und Süden aufgeteilt werden sollten. Diese Parole implizierte auch, daß die Medien der Dritten Welt immer im Öffentlichen Interesse agieren würden. Bis in die Gegenwart haben lateinamerikanische Eliten die Medien benutzt, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben und ihre Herrschaft zu legitimieren. Heute sind die Interessen der heimischen und der ausländischen Eliten enger miteinander verknüpft als je zuvor. Nun liegt es bei den medios populares, nach einer Neuverteilung der Informationsressourcen zu rufen.

Neue Probleme in der Demokratie

Während des dunklen Zeitalters der Militärdiktaturen in Lateinamerika gediehen die medios populares. Sie hatten ein festes Publikum und verbreiteten Botschaften des Widerstandes. Heute, im Zeitalter der Demokratie haben Einfluß und Zahl der medios populares abgenommen. Die Gründe dafür sind nicht Zensur und Repression, sondern die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Der Existenzkampf besteht heute nicht mehr darin, zu vermeiden, von Sicherheitskräften niedergeschossen zu werden. Heute steht im Vordergrund, in einem Zeitalter der Ernüchterung über traditionelle Politikformen relevant zu bleiben.
In vielen lateinamerikanischen Ländern hat die Öffnung der Märkte starke Auswirkungen im Kommunikationsbereich. Lateinamerikanische Medien werden zunehmend von großen Privatunternehmen dominiert. Diese Machtkonzentration wird noch verstärkt durch das verwickelte Netz persönlicher und geschäftlicher Verbindungen von RegierungsfunktionärInnen, UntemehmensmanagerInnen und EigentümerInnen von Medien. Die Nichtregierungsorganisationen-mit deren Unterstützung die meisten medios populares entstanden -haben ihre Mit-tel gekürzt oder ihre Aufmerksamkeit in andere Bereiche verlagert. Um alles noch schwieriger zu machen, richten sich die medios populares ausgerechnet an den Teil der Bevölkerung, der die geringsten Mittel hat, um Zeitschriften zu kaufen oder die alternative Kommunikation anderweitig zu unterstützen. Im Dschungel des Kapitalismus und des freien Marktes werden kleine, unabhängige Medien entweder von größeren Unternehmen geschluckt oder scheitern aufgrund mangelnder Ressourcen.

Netzwerke gegen die Zersplitterung

Medios populares müssen sich also auf diesem für alle offenstehenden Konkurrenzmarkt gegen größere und besser ausgestattete Gegner durchsetzen. Viele von ihnen sind jedoch sehr schlecht auf den Kampf vorbereitet. Die internationale Vernetzung und der Informationstransport in die entlegensten Winkel der Welt wird immer effizienter. Medios populares sind dagegen sehr zersplittert -ein wahrer Turm zu Babel verschiedener Bereiche und Interessen. Sie arbeiten vor-wiegend auf der lokalen Ebene in kleinen Gemeinden. Als eine Konsequenz davon sind sie landesweit kaum präsent.
Um die öffentliche Debatte zu beeinflussen und ein größtmögliches Publikum zu erreichen, sind eine Anzahl neuer Netzwerke geschaffen worden. Als Modell dient die Associación Latinoamericana de Educación Radiofonica (ALER), ein Dachverband freier Radios. Über diese Netzwerke wollen Organsationen Ressourcen und Information teilen.
Das lateinamerikanische Treffen der alternativen Medien und medios populares, das im April dieses Jahres in Quito stattfand, war ein erster Schritt in diese Richtung. Sechzig VertreterInnen trafen sich, um über die Herausforderungen zu diskutieren, denen sie sich gegenübersehen. Sie sprachen unter anderem über den Aufbau eines festen Kreises von JoumalistInnen, um z.B. größere Konferenzen und Ereignisse abzudecken, die Schaffung einer Datenbank und die Ein-richtung einer permanenten elektronischen Konferenzschaltung.
Auch anderswo sprießen auf kleinerer Ebene ähnliche Versuche: Zum Beispiel gründeten neun Medienorganisationen, die bei dem Treffen “Caminos de Integración U im Februar in La Paz/ Bolivien zusammenkamen, ein Netzwerk im Be reich Gewerkschaften und comunicación popular. Die TeilnehmerInnen beschlossen, Material auszutauschen, zweimal pro Jahr einen Rundbrief herauszugeben und eine Datenbank einzurichten.

High-Tech bei den Alternativmedien

Diese Informationsnetzwerke und Zusammenschlüsse werden durch die neuen Kommunkationstechnologien ermöglicht, wie etwa Telefax, Computer, Electronic Mail, Satelliten, Videokameras etc. Diese Technologien dezentralisieren den Zugang zu Informationen und beschleunigen die Nachrichtenübermittlung. Die Massenmedien waren selbstverständlich die ersten, die aus diesen technologischen Durchbrüchen Vorteile zogen. Aber genauso, wie Pancho Villa während der mexikanischen Revolution die Eisenbahnen benutzte, haben sich auch die
medios populares die neuen Technologien angeeignet, um sie für ihre eigenen Ziele zu nutzen.
Dies hat jedoch seinen Preis: Um Electronic Mail zu benutzen (siehe Kasten), braucht eine Organisation beispielsweise einen Computer, ein Modem und eine Telefonleitung -alles Dinge, die wohl jenseits der finanziellen Möglichkeiten einer ums Überleben kämpfenden lokalen Radiostation liegen. Medios populares werden sich eventuell bald danach unterteilen, ob sie Zugang zu neuen Technologien haben oder nicht. Bei dem Treffen in Quito diskutierten die TeilnehmerInnen enthusiastisch über Pläne für ein elektronisches Kommunikationsnetzwerk, bis die Diskussion von dem wütenden Kommentar einer Frau unterbrochen wurde, die sagte, daß ihr kleines vierteljährliches Magazin für soziale Bewegungen sich nicht die erforderliche Ausrüstung leisten könne, um elektronisch mitzuhalten.

Alternative Dienstleistungen für etablierte Medien

Medios populares dehnen ihre Reichweite auch aus, indem sie Kontakte zur Massenpresse pflegen: Chiles fernpress zum Beispiel, ein feministisches Kommunikations-und Informationsnetzwerk, das ein weitverbreitetes monatliches Magazin veröffentlicht, gibt Informationen und Themenvorschläge an JoumalistInnen der Massenmedien weiter, die sich für Frauenfragen interessieren. Zusätzlich brachte die Organisation Media Service letztes fast Jahr 700 fernpress-Artikel in den Massenmedien unter. In Venezuela hat die wirtschaftliche Krise viele medios populares ausgelöscht. Gleichzeitig gelang es Leuten aus den sozialen Bewegungen, ihre Standpunkte in “mainstream”-Fernseh-Programmen wie “Buenas Noticias” und “Comunidad con …” zu äußern, sowie in Kolumnen und Anzeigen in regionalen und landesweiten Zeitungen.
Medios populares haben ebenfalls begonnen, die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener optischer Aufmachungen und Druckformate zu nutzen.
Print-medien haben ein schweres Handikap, wenn sie sich an Bevölkerungsgruppen wenden, die kaum oder gar nicht lesen können. Um solche Leute anzusprechen, benutzt die kolumbianische Zeitschrift Encuentro: revista de comunicación popular große Buchstaben. Ein Teil des Heftes besteht aus einer Fotogeschichte mit Sprechblasen.
Das Radio gilt als das einflußreichste Medium in Lateinamerika. CEPALC in Bogotá schätzt beispielsweise, daß 90 Prozent der KolumbianerInnen Radio hören, zwischen 60 und 70 Prozent fern-sehen, und nur 30 Prozent Zeitschriften oder Tageszeitungen lesen.
Daher haben eine Anzahl von Printmedien begonnen, ihre Möglichkeiten im Radio-und Fernsehbereich auszuloten: Um nicht-organisierte Frauen zu erreichen, beispielsweise Hausfrauen oder Analphabetinnen, startete fernpress letztes Jahr ein Frauenradio mit Informationsservice. Das Zentrum zur Förderung der Minenarbeiter (CEPROMIN) in Bolivien hat begonnen, mit Videotechnologie zu experimentieren. Zusätzlich zu seiner traditionellen Arbeit im Radio-und Zeitschriftenbereich produziert CEPROMIN mittlerweile Dokumentarvideos für die Gemeinden im Umkreis der Minen.

Raus aus den Ghettos

Um mit kommerziellen Medien konkurrieren zu können, müssen medios populares in der Tat ein größeres Publikum gewinnen. “Haben wir nicht Basisarbeit mit Marginalität verwechselt?” -So die pointierte Frage von José Ignacio López Vigil, Vertreter Lateinamerikas im weltweiten Verband der Lokalradios (World Association of Community Radios). Medios populares haben sich traditionell an organisierte Gruppen der Bevölkerung gerichtet. Statt zu versuchen, sich an das riesige nicht-organisierte Publikum mit seinen verschiedenen Geschmäckern und Interessen zu wenden, wurde lieber auf Sicherheit gesetzt, indem für die bereits Bekehrten gepredigt wurde. Comunicación popular wurde oft als Instrument an- gesehen, um zu erziehen oder bestimmte Werte einzuimpfen. Als Folge davon war der Inhalt oft streng und pedantisch.
Medios populares können sich nicht länger den Luxus einer so engen Sichtweise leisten. KritikerInnen fordern, daß sie ein Forum für die harte Debatte zwischen Leuten verschiedener politischer Überzeugungen bieten sollen. Sie sollten nützliche Informationen auf unterhaltsame Art präsentieren. Uruguays zweiwöchentliche Zeitschrift Mate Amargo veröffentlicht beispielsweise außer prägnanten politischen und wirtschaftlichen Analysen auch einen Sportteil und druckt Fernsehprogramme und Buchrezensionen ab.

Die Professionalisierung der Alternativpresse

Die Alternativpresse schenkt mittlerweile auch der Gestaltung und Aufmachung ihrer Publikationen größere Beachtung. Viele sind auch der Meinung, daß medios populares nicht länger einzig und allein vom guten Willen freiwilliger AmateurInnen abhängen können und fordern, ausgebildetes Personal einzustellen -was auch bedeuten würde, faire Gehälter zu zahlen. Medios populares beginnen, sich die professionellen Werkzeuge und Techniken des etablierten Journalismus anzueignen. Magazine wie Colombia Hoy und La otra Bolsa de Valores aus Mexiko sind voller Großfotos und einfallsreicher Karikaturen. Cien Dias aus Kolumbien geht darin besonders weit: Das Magazin ist voller farbiger Illustrationen, Diagramme und Graphiken.

Chancen und Gefahren der Kommerzialisierung

Auch die geschäftliche Seite der medios populares wird unter die Lupe genommen. Marketing, der Verkauf von Werbeplätzen und die Rationalisierung von Arbeitsprozessen sind nicht länger tabu. Viele in den medios populares bestehen darauf, daß diese finanziellen Überlegungen nicht zur Aufgabe von Werten führen müssen. “Geld ist wie Blut”, sagt López Vigil. “Das freie Lokalradio, ein lebendiger Organismus, braucht es. Aber es lebt nicht dafür. In anderen Worten: Wir sind keine Vampire.”
Aber riskieren die Altemativmedien nicht, für den Sieg des kommerziellen Erfolges ihre Seelen zu verkaufen? “Du mußt mit der Zeit Schritt halten”, sagt Juan Serrano, Leiter von Radio Mensaje im Norden Ecuadors. “Du kannst Kapitalist werden, ohne deine Philosophie zu verändern. Sobald wir ein Publikum und eine Finanzierung haben, wird es leichter sein, unsere Botschaft unter die Leute zu bringen.”
Medios populares begehen einen gefährlichen Drahtseilakt. Die Ziele, die Kommunikation zu demokratisieren und die Kämpfe der sozialen Bewegungen zu unterstützen, werden sicher nicht immer mit den Erfordernissen des Marktes vereinbar sein. Medios populares wollen die NutzerInnen von Informationen in den Kommunikationsprozeß einbeziehen. Ein Ergebnis des Kommerzialisierungsdruckes kann jedoch sein, daß die medios populares immer weniger die Gruppen vertreten, für die sie gemacht sind. Erst die Zeit wird zeigen, ob die Kommerzialisierung ein glitschiger Abhang ist -und wie weit manche hinunterrutschen werden.

Gekürzt übernommen aus: NACLA No 2, Sept/Oct. 1993

Kasten:

Telematischer Autobahnbau

Das Zauberwort heißt E-Mail (“elektronische Post”). Um in das elektronische Universum einzutauchen braucht man einen Computer, ein Modem und ein Telefon. Die Nachricht gelangt dann über Telefonleitung und Satellit in weniger als 24 Stunden an die EmpfängerInnen – zum Niedrigpreis: Eine gesendete Seite kostet in der Regel höchstens zehn bis 20 Pfennig. In welches Land die Nachricht geht, spielt dabei keine Rolle.
Der elektronische Datenaustausch, über den ein Großteil der Informationsübermittlungen stattfindet, ist mittlerweile zum Nervensystem der Industrienationen herangewachsen. Schon in den fünfziger Jahren waren elektronische Netzwerke für diverse Vorhaben des Pentagon von großem Nutzen. Später profitierten auch Diktatoren Lateinamerikas von den neuen Informationstechnologien, mit deren Hilfe sie ihre Repressionsmethoden ausfeilen konnten.
Doch seit Beginn der 80er Jahren nisten sich auf den “telematischen Autobahnen” neben Regierungen und transnationalen Konzernen auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt ein. Sie nutzen die neuen Technologien zu einem demokratischen und egalitären Informations- und Erfahrungsaustausch auf den verschiedensten Gebieten.
Im Gegensatz zum Fax erlaubt elektronisches Networking über Konferenzen grenzenlose Diskussionen, an denen Organisationen und Fachleute via Computer teilnehmen. Für jeden Geschmack ist etwas dabei: Die Konferenz “Aibi-L@Uottawa” nimmt biblische Texte und Computer unter die Lupe, auf “Muoski-C@PV136587” unterhalten sich ein paar Dutzend MusikerInnen über Beethovens späte Symphonien, während “Bras-J@falio” die neuesten brasilianischen Witze auf Hunderte von PCs in aller Welt schickt und “argentina@asterix.eng.buffalo.edu” die besten Zubereitungsarten von Matetee sendet. Die meisten Konferenzen über Länder Lateinamerikas behandeln allerdings Neuigkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Die Möglichkeit, über PC und Telefon Gruppen aller Kontinente fast zeitgleich miteinander zu verbinden, revolutionierte die Beteiligung von NROs an internationalen Konferenzen. Auf dem Rio-Gipfel und während den UN-Menschenrechtsdebatten dieses Jahres in Genf hingen Menschenrechtsgruppen aus 95 Ländern von Australien bis Zimbabwe am direkten Draht zur Konferenz. Fast zeitgleich waren sie auf dem neusten Stand der Diskussion, konnten Ideen austauschen, Initiativen koordinieren und schnell reagieren.
Für viele Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in Lateinamerika ist das elektronische Networking heute eine Voraussetzung dafür, regionale und internationale Aktionen zu koordinieren und an wichtige Informationen heranzukommen. Fast alle Länder haben hierfür eigene Rechenzentren, sogenannte nodos (“Knoten”).
Manche lateinamerikanischen E-MailerInnen haben mit dem elektronischen Networking den Stein der Weisen im Informationszeitalter gefunden: Nord-Süd-Wissensklüfte in den Wissenschaften, so träumen sie, werden über internationale E-Mail-Fachkonferenzen und elektronisch zugängliche Datenbanken abgebaut. JournalistInnen enthüllen nach elektronischer Recherche transnationale Skandale und speisen die Meldung in entsprechende Konferenzen ein. Sofort haben betroffene Basisgruppen und NROs in Nord und Süd die Neuigkeit in ihren PCs, sprechen sich online ab, reichen Klage bei zuständigen Gerichten ein und stürmen umgehend nationale und internationale Behörden mit Stellungnahmen und Forderungen – alles auf elektronischem Wege.
Während einige die langersehnte Demokratisierung der Kommunikation mit dem Ausbau telematischer Autobahnen in Lateinamerika erahnen, sehen andere Gräben zwischen informationsarmen und -reichen NROs aufbrechen. Denn längst nicht jede Umweltgruppe hat einen PC, geschweige denn das Geld für ein Modem.

Hans Koberstein

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Die ursprüngliche Fassung des Projekts, die Vorstellungen indigener Gemeinschaften und ihrer VertreterInnen enthielt, sollte der Gleichgültigkeit ein Ende setzen, mit der traditionell den ersten BewohnerInnen des Landes begegnet wurde. Mapuches, Aymaras, Rapa, Nui, Atacamenas, Collas, Kawshkar und Yamana stellen heute ein Zehntel der chilenischen Bevölkerung und leben meistens in extremer Armut. Die Vorstellungen der 998.000 Indigenas, in der Mehrzahl Mapuches, die zunächst zur Mitarbeit eingeladen worden waren, wurden schließlich im Zuge der Beratungen in beiden Kammern des Parlaments nicht berücksichtigt.
Zwei Jahre dauerte es, ehe die Deputiertenkammer und der Senat die Ley Indígena verabschiedeten, die der ursprünglichen Fassung der Gesetzesinitiative jedoch in entscheidenden Punkten nicht mehr entsprach. Auch wenn sich die PolitikerInnen aller Fraktionen damit brüsten, einen Konsens erreicht zu haben, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor die von Indígenas geforderte Anerkennung als eigenständige Völker verweigert wird.

Röntgenbild der Tauben

1990 kehrte Chile zur formalen Demokratie zurück. Der frisch gewählte Präsident, der Christdemokrat Patricio Aylwin, berief die “Sonderkommission indigener Völker” (Cepi), zu deren offiziellen Zielen es gehörte, den lange mißachteten Rechten indigener Völker Geltung zu verschaffen. Die Cepi stützte sich dabei auf ein Übereinkommen, das die spätere Regierungskoalition der “Parteien für die Demokratie” im Zuge ihres Wahlkampfes mit Indígena-Organisationen getroffen hatte. Die Concertación versprach damals “die verfassungsmäßige Anerkennung indigener Völker samt ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte”.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessenvertretungen von Indígenas bereitete die Cepi einen Entwurf für die neue Ley Indígena vor. Die VertreterInnen der verschiedenen Völker sowie BeraterInnen der Regierung behandelten Themen wie die Anerkennung einer eigenen Identität, die Landfrage, Wasserrechte und den Zugang zu einer Erziehung, die Kultur und Sprache der Indígenas fördert. Außerdem sollte es ermöglicht werden, Konflikte auf der Grundlage indigenen Gewohnheitsrechtes beizulegen. “Die schweren Versäumnisse der bisherigen Gesetzgebung sollten beseitigt werden. Es ging nicht nur darum, sich lediglich auf dem Papier gegen Rassismus zu wenden, sondern auch darum, die Geschichte dieses Landes zu bewältigen, die in höchstem Maße durch Intoleranz gegenüber den Existenzrechten indigener Völker geprägt war”, erklärt José Bengoa, der Direktor der Cepi. Seiner Meinung nach war der Gesetzentwurf, der im Oktober 1991 dem Parlament vorgelegt worden war, durch den Willen gekennzeichnet, den indigenen Völkern das Recht zuzugestehen, den Entwicklungsweg zu wählen, der in ihren eigenen Traditionen und Vorstellungen wurzelt. Ausgehend vom Prinzip der “positiven Diskriminierung” sollte die neue Gesetzgebung der ungerechten juristischen Praxis ein Ende bereiten, die Indígenas stets nur im Zusammenhang mit Besitzrechten auf Ländereien betrachtet hat.

Von der Sünde, ein Volk zu sein

Aylwin beabsichtigte, gemeinsam mit der Ley Indígena die Verfassung von 1980 zu verändern, die die Gleichheit aller ChilenInnen vor dem Gesetz festlegte. Hinter diesem Rechtsgrundsatz der von der Militärdiktatur hinterlassenen Verfassung verbirgt sich in Bezug auf indigene Völker das Prinzip: “Wir alle sind Chilenen”. Dieses dogmatische Gebot als wichtigster Baustein juristischer Interpretation verhindert die Anerkennung der Existenz indigener Völker in der chilenischen Verfassung.
In der ursprünglichen Version der Ley Indígena hieß es: “Der Staat wird sich für den juristischen Schutz und die Entwicklung der indigenen Völker einsetzen, die Bestandteile der chilenischen Nation sind”. Für Ricardo Navarrete von der Radikalen Partei, die dem Regierungsblock angehört, ist es unverzichtbar, “die Existenz indigener Völker ausdrücklich anzuerkennen, weil es sich bei ihnen um einen Bestandteil der Bevölkerung mit einem eigenen kulturellen Wert handelt”. Doch gerade der Begriff “Volk” war es, der die erste Fassung des Gesetzes scheitern ließ. Die politische Rechte lehnte diesen Begriff mit der Begründung ab, er gefährde die innere Sicherheit des Staates und verletze das Prinzip der einheitlichen chilenischen Identität. Sergio Diez, der Senator der rechten “Nationalen Erneuerung”, erklärte: “Ich bin ein entschiedener Anhänger der Integration aller Wurzeln des chilenischen Volkes in das chilenische Volk. Ich glaube, daß wir uns alle als Chilenen fühlen und uns in die nationale Gemeinschaft eingliedern wollen. Der Begriff ‘Volk’würde hingegen einer separatistischen Tendenz Vorschub leisten, die einer Politik zuwider läuft, die auf die harmonische Integration dieser Gruppen abzielt.”
Der politische Diskurs weckte in dramatischer Weise Erinnerungen an den Jahrhunderte währenden Versuch, “das Indigene auszumerzen”, die Indígenas koste es was es wolle zu assimilieren, einer in kultureller Hinsicht homogenen Gesellschaft zuzustreben. Statt im neuen Indígena-Gesetz von Völkern zu reden, wurde der unverfängliche Begriff “Gemeinschaft” oder “Ethnie” gewählt. Die Concertación mußte schließlich eingestehen, “daß die verfassungsgemäße Anerkennung der Existenz indigener Völker noch solange ausstehen wird, bis innerhalb der chilenischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse ein größeres Maß an Verständnis existiert”.
Unter den Indígenas, die sich an der Ausarbeitung des ursprünglichen Gesetzentwurfes beteiligt hatten, breiteten sich Mißtrauen und Enttäuschung aus. Cesar London von der Organisation “Xawun Ruca” stellte fest, “daß das Gesetzesverfahren von Anfang an von der politischen Macht bestimmt wurde, an der wir Mapuches nicht teilhaben”. Der Ratgeber der Cepi und Vertreter von Ad Mapu, José Santos Millao, fällte ein vernichtendes Urteil über das neue Gesetz: “Ohne die verfassungsmäßige Anerkennung als Volk samt Territorium wird uns auch das Recht auf politische Teilnahme verwehrt. Wir haben nicht mehr als ein Anhörungsrecht.”
Der fehlende politische Wille der ParlamentarierInnen hat die Ley Indígena zu einem Gesetzwerk gemacht, das weit hinter den Standards internationaler Rechtsprechung zurückbleibt. Viele lateinamerikanische Staaten verfügen über Verfassungen, in denen sich die Gesellschaften wenigstens auf dem Papier als pluriethnisch und -kulturell bezeichnen. In Panamá existiert dieser Verfassungsgrundsatz seit vierzig Jahren, und auch in Kolumbien, Brasilien, Nicaragua, Ecuador und Peru wird das Konzept unterschiedlicher Nationen in einem Staat akzeptiert. Der Druck internationaler Standards scheint die chilenische Politik nicht sonderlich zu beeindrucken. Noch während des Wahlkampfes versprach die Concertación, der “Konvention 169 über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten” der Internationalen Arbeitsorganisation beizutreten. In dieser Konvention wird “die Notwendigkeit anerkannt, den Schutz indigener Völker zu gewährleisten und ihren eigenständigen Charakter anzuerkennen”. Das zitierte Dokument stellt den fortschrittlichsten internationalen Vertrag in Bezug auf indigene Völker dar, weil es die traditionelle ethnozentrische, auf Assimilation gerichtete Perspektive überwindet und moderne Sichtweisen von Menschenrechten umsetzt. Noch immer wurde dieses Vertragswerk vom chilenischen Parlament nicht ratifiziert. Seit 1991 liegt die Ratifizierung auf Eis, enthält die Konvention doch dasselbe Konzept von indigenen Völkern, das jüngst die Nueva Ley Indígena zum Scheitern brachte.

Die wichtigsten Punkte der Ley Indígena

Offiziell trägt das neue Gesetz den Titel “Gesetz zum Schutz, zur Förderung und zur Entwicklung der Indigenas” und fügt sich in das Konzept “Ethnoentwicklung” ein, das auf den Möglichkeiten indigener Kultur aufbaut. Ein zentraler Gesichtspunkt des Gesetzes behandelt die Landfrage. Die Eigentumsrechte auf im Augenblick von Indígena-Gemeinschaften genutztem Land sollen abgesichert werden. Mit dem Verbot, Indígena-Land an Privatpersonen zu verkaufen, soll verhindert werden, daß diese Territorien über den Immobilienmarkt auf legale Art und Weise enteignet werden.
Der “Fonds für Land und Wasser” soll dazu dienen “Indígena-Ländereien” zu schützen, für deren angemessene Nutzung zu sorgen, ein ökologisches Gleichgewicht zu gewährleisten und auf die Ausweitung von Indígena-Eigentum hinzuwirken”. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung sollen die Indígenas die Schwierigkeiten des Minifundismus überwinden. Außerdem soll der Fonds dazu dienen, die Bodenqualität zu verbessern und Probleme der Bewässerung zu lösen. Die gesamte Indígena-Politik wird von der Nationalen Vereinigung Indigener Entwicklung (CONADI) koordiniert, die neben ihrer Zentrale in Araucania Zweigstellen überall im Land haben soll.
Darüber hinaus soll es unter Strafe gestellt werden, Indígenas aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Kultur zu beleidigen. Die Meldebehörden werden angewiesen, in den Geburtsregistern jene Namen festzuhalten, die Indígena-Eltern angeben. Dieser etwas grotesk anmutende Artikel soll der Politik der “Chilenisierung” vorbeugen, die vielfach von Verwaltungsbeamten betrieben wird.
In Regionen mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil sollen zweisprachige Schulen eingerichtet werden. Forderungen nach politischen Mitbestimmungsrechten wurden von der Rechten als angeblich verfassungwidrig abgelehnt. Immerhin stehe der Zugang zu politischen Ämtern allen ChilenInnen offen, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft. Andererseits wurde ein Artikel angenommen, der besagt, “Indígenas sollen an der lokalen und regionalen Verwaltung beteiligt werden”.

Kritik der Mapuches an der neuen Gesetzgebung

Die Mapuche-Organisationen, die in der Cepi mitarbeiten, stimmen in der Einschätzung überein, daß die Landfrage nur unzureichend geklärt wurde. Dagoberto Cachána von Ad Mapu kritisiert, “daß das Gesetz uns nicht die Eigentumsrechte der Ländereien zubilligt, die uns auf der Grundlage damaliger Rechtssprechung weggenommen wurden. Darum wird das neue Gesetz für uns ebenso schädlich sein wie das alte.”
Im Hinblick auf den Schutz von Indígena-Territorien weist die neue Ley Indígena eine entscheidende Lücke auf. Nach ziviler Rechtssprechung existiert nach wie vor die Möglichkeit, Land für längstens neunundneunzig Jahre zu verpachten, was de facto einer völlig legalen Enteignung entsprechen würde. Der Erfolg dieses Gesetzes wird zudem entscheidend davon abhängen, mit welchen finanziellen Mitteln die Regierung bereit ist, für dessen Umsetzung zu sorgen. Nachdem das Finanzministerium für die Ausstattung des “Fonds für Land und Wasser” lediglich eine Zusage von 500.000 US-Dollar gemacht hat, muß an dieser Bereitschaft gezweifelt werden. Selbst die staatliche Behörde Cepi stellt in Frage, ob der Fonds für die Umsetzung der ehrgeizigen Zielsetzungen des Gesetzes ausreichen wird.

Die Indígena-Politik unter der Militärdiktatur

Jahrhundertelang wurden die Territorien der Indígenas unter dem Vorwand kolonialisiert, es existierten keine juristisch abgesicherten Besitztitel. Erst 1972 wurde unter Salvador Allende ein Gesetz erlassen, das Indígenas als eigenständige menschliche Wesen akzeptierte und nicht nur als Teil der von ihnen besessenen Ländereien. Dieser Fortschritt wurde mit dem Militärputsch von 1973 zunichte gemacht. Den Prinzipien des Neoliberalismus getreu ging es der Militärdiktatur vor allem darum, das Prinzip des Privateigentums durchzusetzen. 1978 wurde per Dekret der Prozeß der Zersplitterung von in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Ländereien beendet: “Von heute an gibt es weder Indígena-Land noch Indígenas”. Die Schöpfer dieses Dekrets gaben vor, mit der Einführung des Individualbesitzes den entscheidenden Schritt für den Fortschritt und die Modernisierung im ländlichen Bereich zu unternehmen. Sozialstudien in der Region Auracania zeigen jedoch, daß durch die Aufteilung der Ländereien ein Minifundismus gefördert wurde, der vielen Mapuche-Familien allenfalls das Existenzminimum sichert.
Im Interesse nationaler Politik wurden die Indígenas zu chilenischen Bauern und Bäuerinnen erklärt. Offiziell hieß es unter der Pinochet-Diktatur, “daß das eigentliche Problem der Mapuche nicht in ihrer kulturellen Andersartigkeit besteht, sondern im ihrem Mangel an Erziehung und Kultur”. Außerdem wurde hartnäckig die Position vertreten, in Chile gäbe es keinen Unterschied zwischen Indígenas und dem Rest der Bevölkerung. Ein bedeutender Anteil der Indígenas, hauptsächlich Mapuches, ist seit den fünfziger Jahren in die größeren Städte emigriert, um vor allem der Armut auf dem Land zu entfliehen. In den Städten sahen sie sich dem Druck ausgesetzt, ihre Tradition und ihre Sprache abzulegen. Sechsundsiebzig Prozent der Indígena-MigrantInnen ziehen nach Santiago und arbeiten dort mehrheitlich in Brotfabriken, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Ohne entsprechende Ausbildung und aufgrund ihrer Herkunft geringgeschätzt, vergrößern sie den marginalisierten Sektor der urbanen Bevölkerung.

“Marri cliwe” – oder der Kriegsruf

Mit dem Beginn der siebziger Jahre entstand in Lateinamerika eine starke indigenistische Bewegung, die sich für die “ethnische Autonomie” einsetzte. Konzepte wie die “Integration aller Ethnien” wurden von dieser Bewegung abgelehnt, weil mit ihnen stets Ungleichheiten verschleiert wurden und sie als Vorwand dienten, indigenen Völkern eine fremde Kultur aufzuzwingen. Dem wurde das Recht entgegengestellt, kulturelle, ökonomische, soziale und politische Systeme zu entwickeln und zu bewahren, die sich von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Auf dem gesamten Kontinent neigte die indigenistische Bewegung dazu, Verbindungen zu Teilen der mestizischen Gesellschaft zu kappen. Die häufig eingegangenen Verbindungen mit Sektoren der Linken hatten nie dazu geführt, daß die Probleme von Indígenas losgelöst von der allgemeinen Problematik gesehen wurden. Im Unterschied zu seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten hat der Indigenismus in Chile in intellektuellen oder fortschrittlichen Kreisen kaum Widerhall gefunden. Das Scheitern der ursprünglichen Ley Indígena machte einmal mehr deutlich, daß es die chilenische Gesellschaft nicht vermag, ihr Verhältnis zu indigenen Völkern zu lösen.
Die Frage des Landbesitzes bleibt indessen das zentrale Moment bei der Mobilisierung der Indígenas. Notfalls auch mit Waffengewalt will der “Consejo de Todas las Tierras” die den Mapuche genommenen Ländereien zurückerlangen. Darüber hinaus verlangt der Consejo einen Status politischer Autonomie gegenüber dem chilenischen Staat. Die Haltung der Regierung lehnt der Rat vollständig ab. “Nachdem er bemerkt hat, daß man die Existenz der Indígenas nicht länger verleugnen kann, bittet der Staat heute um Verhandlungen, an denen zwar alle teilnehmen, aber nur wenige entscheiden. Der kulturelle Genozid drückt sich heute anders aus. Er trägt nicht länger das Merkmal physischer Gewalt, militärischer Intervention. Die Maßnahmen der Regierung laufen darauf hinaus, den kulturellen Zusammenhalt der Mapuche zu zerstören, und sie will die Regeln festlegen, nach denen wir mit ihr verhandeln sollen.”
In diesen Zusammenhang stellt der Consejo auch das neue Indígena-Gesetz. “Das Gesetz wurde uns von außen diktiert und ist ein wirkungsvolles Instrument des Kolonialismus, an dessen Herstellung leider auch Indígenas beteiligt waren. Indem sie uns den Status als Volk verweigern, drücken sie aus, daß es keine Gleichberechtigung mit den Chilenen gibt. Nach wie vor werden unsere Rechte verletzt, verweigert man unsere Existenz”, faßt Aucan Huilicaman zusammen. Das Versprechen, die Urbevölkerung Amerikas in ihren Rechten zu respektieren, wurde in Chile noch immer nicht erfüllt. Mit der Ley Indígena hat es wiederum die mestizische Bevölkerungsmehrheit versucht, die Geschichte der Indígenas zu schreiben – auch im 501. Jahr nach der sogenannten “Entdeckung” Amerikas.

Wenn die Rede von Machos ist…

Wenn die Rede von Machos ist, sind sich die meisten darüber bewußt, daß sie ein Fremdwort aus dem Spanischen benutzen. Der “Machismo” ist eins der verbreitetsten Klischees über Lateinamerika. Darauf spielen Kampmann und Koller-Tejeiro vermutlich an, wenn sie als Untertitel zu ihrem Buch “Madre Mía” die Frage stellen, ob Lateinamerika der Kontinent der Machos sei.(Wer so etwas thematisiert, sollte mir einen Kontinent ohne Machos nennen, da würde ich nämlich sehr gerne hingehen!). Leider war eine Antwort darauf anscheinend nicht so einfach zu formulieren wie die Frage selbst, denn auf sie geht keine der Autorinnen ein, die zu dem Buch beigetragen haben.
Im Buch sind Aufsätze von verschiedenen Autorinnen über den Frauenalltag und die Frauenbewegung in Lateinamerika gesammelt. Themen wie Verhütung, sexuelle Aufklärung, Geschlechterrollen, Identität, Arbeitswelt und der Kampf ums Überleben und um Anerkennung werden oft aus der Perspektive der betroffenen Frau gezeigt, entweder in Interviews oder durch ihre Biographien, was die Lektüre lebendig und leicht macht. Dabei werden Frauen aus unterschiedlichen Schichten dargestellt: Von der Karrierefrau in Mexiko über das Dienstmädchen in Kolumbien bis zur “Indiofrau” in Ecuador. Allerdings wird dem/r LeserIn nicht klar, welche Repräsentativität die Fallbeispiele haben und nach welchen Kriterien die Auswahl verlief.
Es wird gezeigt, wie die Frauen ein neues Bewußtsein entwickeln, indem sie sich selbst organisieren und verwalten, sei es in Volksküchen, in Betrieben oder in BäuerInnenprojekten, und wie sie nach neuen Wegen suchen, um voranzukommen, da sich die Männer von jeder Verantwortung fernhalten.
Das Buch gibt einen Einblick in die Lebensverhältnisse der Frauen in Lateinamerika, da die Berichtenden die Rolle passiver Beobachterinnen einnehmen und im Reportagestil (begleitet von großen und künstlerisch schönen Bildern) schreiben. Wer also befürchtet, durch diese Lektüre seine eigene Lebensweise in Frage stellen zu müssen, kann unbesorgt sein, erzählt wird nur über “das Fremde”.

Martina Kampmann, Yolanda M. Koller-Tejeiro (Hrg.) – Madre Mía! Kontinent der Machos? Frauen in Lateinamerika. Elefanten Press, Berlin 1991.
ISBN 3-88520-387-1.

Geschichten vom transplantierten Intellektuellen

“Der Markt in den Köpfen” ist das Hauptthema des diesjährigen Lateinamerika-Jahrbuchs. Ein Thema, das den HerausgeberInnen wohl auf den Nägeln brannte, ,sind sie doch “verblüfft oder enttäuscht, wenn wir langjährige Weggefährten, Kolleginnen, Forschungspartner ganz unvermutet im neoliberalen Gewande wiedertreffen”, in Lateinamerika, versteht sich. Um die lateinamerikanischen Intellektuellen also geht es, und um die Frage, wie es zu erklären ist, daß so viele, die noch vor wenigen Jahren als schärfste KritikerInnen der kapitalistischen Ausbeutung auftraten, heute die “Marktgesetze” uneingeschränkt gelten lassen. Daß dies das Thema sei, verheißen jedenfalls Titel und Einführung, doch nicht alle Texte halten, was die Ankündigung verspricht.
Urs Müller-Plantenberg beschreibt in seinem Text die Wandlungen der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika. Die CEPAL “hat sich in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg mit der offensiven Vertretung einer wirtschaftspolitischen Strategie für die lateinamerikanischen Länder einen solchen Namen gemacht, daß es noch heute schwerfällt, sich unter Cepalismo etwas anderes vorzustellen als eben jene Entwicklungsstrategie einer binnenmarktorientierten, importsubstituierenden Industrialisierung.” Das aber muß man wohl, denn nach Jahren der konzeptionellen Abstinenz wartet die CEPAL nun mit einem Programm auf, das, wie Müller-Plantenberg eindringlich schildert, mit allen wesentlichen Grundprinzipien des Neoliberalismus voll in Einklang zu bringen ist. Aber die CEPAL leistet einen eigenen Beitrag damit, “daß sie zusätzlich zur Forderung nach Markteffizienz und Eingliederung in den Weltmarkt weitere Ziele formuliert (..), die nicht im Mittelpunkt des Interesses des Neoliberalismus stehen, gleichwohl aber von ihm akzeptiert werden können.” Namentlich geht es um die soziale Abfederung der Härten neoliberaler Programme. Daß die CEPAL auf neoliberalem Kurs schwimmt, nimmt nicht wunder, denn nach Meinung des Autors konnte sie erst dann überhaupt ein neues Konzept vorlegen, als sie sich wieder auf eine einheitliche Denkströmung in den lateinamerikanischen Ländern stützen konnte -und das ist heute der Neoliberalismus.

Wie kommt der Markt in die Köpfe?

Wieso das so ist, das erfahren wir deutlicher aus dem Aufsatz von Juan Gabriel Valdes “Die Chicago-Schule: Operation Chile”. Haargenau -und im Jahrbuch doch nur in einem Ausschnitt aus einem Buch Valdes’ -belegt der Autor den “Ideologietransfer von Chicago nach Santiago”, der in der Zeit der Pinochet- Diktatur stattgefunden hat. Die ideologische Diktatur der “Autorität der ökonomischen Wissenschaft” hat sich bis heute fortgesetzt. Der Autor braucht keine Verschwörungstheorie zu konstruieren, er beschreibt schlicht anhand von Personen und Vorgängen, wie eine ganze Reihe Hochschulabsolventen der University of Chicago die wesentlichen Positionen der staatlichen Wirtschaftspolitik und der Ideologiebildung in Chile übernahmen. Ziel: Das Ersetzen von Politik durch Technologie, von Politikern durch Ökonomen. Mit der Machtübernahme der Militärs wurde die kontrollierte Zerstörung des Alten -unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung des neoliberalen Denkens in allen lateinamerikanischen Ländern -rasant vollzogen. “Nirgendwo wandte man die neoklassische Theorie in größerer Reinheit und mit mehr Radikalismus an als hier. Und was noch wichtiger ist: In keinem anderen Fall hatte man die Kühnheit, mit ihr die Gründungsphilosophie einer neuen Gesellschaft verfassen zu wollen.” Wohl diese “Kühnheit”, dieses nicht durch vorgebliche “Sachzwänge”, sondern mit einem positiv formulierten Gesellschaftsmodell vermittelte Programm, ist es, was Chile zum “Modell” werden ließ -und was letztendlich auch die CEPAL-Strategie maßgeblich beeinflußt hat.
In seinem Beitrag “Die Intellektuellen und der mexikanische Staat im verlorenen Jahrzehnt” beschreibt Sergio Zermeño den allmählichen Wandel der Intellektuellen. Er geht von einer Spaltung der Gesellschaft in drei Teile aus: Den “harten Kern”, die “Integrierten” und die “Ausgegrenzten”. Seiner Ansicht nach hat es der harte Kern im Falle der Intellektuellen geschafft, sie durch diverse Mechanismen zu korrumpieren, ihre Kommunikation mit dem Volk zu brechen, und in den Kreis der “integrierten Minderheit” mit einzubeziehen, unter Ausnutzung des intellektuellen Frusts über die Entwicklung. “Es ist vielleicht der Kontrast zwischen den modernen Konzepten, mit denen wir.aufgewachsen sind, und einer Zukunft, die immer weniger mit ihnen übereinstimmt, der dazu führt, daß Wissenschaft und Technik (die Universität) sich immer weiter von der Gesellschaft (und der Natur) entfernten und sich der Macht annähern, vor allem, wenn diese eine Zukunft der Modernisierung verspricht.” Und: “Die Organisationen und die Führungsspitzen der Integrierten vollziehen eine Wende zum Parlamentarismus, zu den Gemeinderäten, zu den Parteivorständen und Leitungsposten in den Ministerien, Universitätsinstituten und Fakultäten, zu Beraterverträgen, Fernsehauftritten und festen Kommentarspalten. Der Sog wirkt von unten und von oben: Politbürokratisierung oder Verelendung.” Nach Zermeño müssen sich die Intellektuellen “die Rekonstruktion der sozialen Identitäten zum Ziel setzen und die fieberhafte Aktivität in den Bereichen des politischen Systems, wo es um Einfluß, um Repräsentation, kurz »politische Demokratie« geht, ein wenig drosseln, die den Ausgegrenzten nur spärlichen Nutzen bringt (…)”
Die anderen Beiträge des ersten Teiles konzentrieren sich auf die -zweifelsohne sehr kompetente -Beschreibung der Auswirkungen neoliberaler Politik in den verschiedenen Ländern. Wolfgang Gabbert beschreibt mit dem mexikanischen PRONASOL-Programm sicherlich eines der wichtigsten Modelle sozialpolitischer Schein-Abfederung neoliberaler Politik. Die Hauptfragestellung der mexikanischen Regierung war nach Gabbert: “Wie läßt sich eine Wirtschaftspolitik, die zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich führt, politisch absichern?” Vor dem Problem stehen nun alle lateinamerikanischen Regierungen, und PRONASOL “hat in seiner fünfjährigen Laufzeit seine stabilitätssichernden Kapazitäten bewiesen und ist mittlerweile zum Exportschlager avanciert.” Gerade deshalb ist der Beitrag von Wolfgang Gabbert so wichtig.

Und wie kommt er wieder heraus?

Franz Hinkelammert beschreibt in seinem essayistischen Aufsatz die Parallelität zwischen Stalinismus und Neoliberalismus: Beide stellen sich als einzig gangbare, beziehungsweise einzig rationale Alternative gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Wer es auch nur wagt, Alternativen zur derzeitigen Wirtschaftsweise anzudenken, wird ins Reich des Irrationalen verbannt, als Utopist und Träumer aus der Gesellschaft ausgeschlossen -der Totalitarismus des Marktes.
Hinkelammerts Schlußfrage ist so weniger: Wie ist der Markt in die Köpfe gekommen? Sondern: Wie kommt er wieder heraus? “Zunächst einmal sich weigern, verrückt zu werden, wenn unsere Gesellschaft den Wahnsinn zur Rationalität erklärt. (…) Dann aber kommt der Widerstand.” Und dieser müsse nicht immer legal sein, sondern legitim. Das klingt erfrischend revolutionär, aber die Ratlosigkeit, mit der man den Ausführungen Hinkelammerts zustimmt, führt die eigene längst vollzogene Vereinzelung erschreckend vor Augen.
Der Themenschwerpunkt des Buches hält nicht völlig, was er verspricht. Taz- Japan-Korrespont Georg Blume soll beschreiben, wie Japan als “Vorbild auf Lateinamerika wirkt, erklärt aber eher, wie Japan als Handelspartner Anteil an der lateinamerikanischen Entwicklung hat. Enzo del Bufalo kritisiert die neoliberale venezolanische Wirtschaftspolitik als idiotisch und inkohärent -doch die zentrale Fragestellung des Buches berührt er kaum. Und Rainer Dombois schreibt in seinem Artikel über “Arbeitswelt und neoliberale Wende in Kolumbien” zwar, wie sich die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen vollzogen haben und die Privatwirtschaft darauf reagiert hat, auch hier aber bleibt die Frage ausgespart, warum es von intellektueller Seite aus so wenig Gegenvorstellungen oder wenigstens Kritik gibt.
Ausgespart, und dies ist ein deutliches Manko, bleiben auch jene Länder, wo neoliberale Anpassungsprozesse zu großen politischen Konflikten geführt haben. Nicaragua, wo sich die Gewerkschaften der Überführung ehemals staatlichen in Belegschaftseigentum verschworen haben und dabei selbst zu Unternehmern werden; Uruguay, wo ein Referendum gegen die Privatisierung nicht nur durchgesetzt, sondern gewonnen wurde -keine Themen im Jahrbuch.
Das ist schade, soll aber von der uneingeschränkten Leseempfehlung nicht abhalten. Der siebzehnte Band, gerade erschienen, lohnt sich allemal. Und daß inhaltliche Konzepte nicht immer bis ins letzte durchgehalten werden können, sollten wir als LN-Redaktion ohnehin besser nicht zu laut kritisieren…
Erstmals erscheint das Jahrbuch nun beim Horlemann-Verlag aus Bad Honnef, endlich wieder im gewohnten Design, von dem man in der zweijährigen Eskapade zum Lit-Verlag hatte abweichen müssen. Erleichternd ist, daß die Länderberichte, die wie immer den zweiten Teil des Buches füllen, diesmal noch nicht völlig veraltet sind -elf AutorInnen berichten mit längerem Atem, aber aktuell, aus ebenso vielen Ländern Lateinamerikas. Erfreulich für die HerausgeberInnen: Das Buch erscheint pünktlich zur Buchmesse -marktgerecht.

Markt in den Köpfen. Lateinamerika -Analysen und Berichte 17, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Unkel/Rhein; Bad Honnef: Horlemann 1993; ISBN 3-927905-80-1

Weniger Öffentlichkeit

Genau wie mit der El Salvador-Solidaritätsbewegung ging es auch mit dem ides steil nach oben. Erst ein Jahr zuvor waren die SandinstInnen in Managua eingezogen und hatten die Somoza-Diktatur weggefegt, und so lautete die Parole nicht nur in Zentralamerika: “Wenn Nicaragua gesiegt hat, dann wird auch El Salvador siegen!” Allerorten entstanden neue Komitees und Soligruppen und so wuchs auch die Zahl der LeserInnen des ides. In seinen besten Tagen erschien er Woche für Woche mit einer Auflage von über 4.000 Exemplaren.
Bezeichnend für die Zeit zu Beginn der achtziger Jahre war auch, daß von fast allen Engagierten für die vom ides initiierte Kampagne “Waffen für El Salvador” gesammelt wurde: GewerkschafterInnen, StudentInnenorganisationen und selbst Kirchenleute unterstützten explizit den bewaffneten Kampf der FMLN. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch die taz, die die Kampagne von Beginn an unterstützte und damals auch personell noch mit der Solibewegung verflochten war. (So verlor die Kampagne später nicht nur deshalb an Schwung, weil die FMLN den Triumph der FSLN nicht wiederholen konnte, sondern auch, weil die taz zunehmend ihre Unterstützung entzog. Auf dem Weg in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft sollten potentielle neue LeserInnen nicht verschreckt werden.)
Seit 1982 berichtete der ides auch über die anderen zentralamerikanischen Länder, später kamen schwerpunktmäßig noch Mexiko und Kolumbien dazu. Der ides war für die Zentralamerika-Solidaritätsbewegung ein unverzichtbares Medium, die wenigsten ließen sich von den wöchentlichen Bleiwüsten abschrecken. Das Informationsbedürfnis war groß und Mailboxen in der Szene noch unbekannt.
Infos aus erster Hand, direkt von den zentralamerikanischen Befreiungsbewegungen und Volksorganisationen, waren die große Stärke des ides. Eine solidarische Diskussion über den revolutionären Prozeß in Zentralamerika gelang hingegen nur selten. Rückblickend schreibt einer vom ides dazu: “Wir taten uns schwer, die Widersprüchlichkeiten der revolutionären Prozesse in LA darzustellen. Wir diskutierten sie, hatten aber oft Schiß, das, was wir als Wahrheiten begriffen hatten, im ides zu benennen.” So schwieg der ides – wie fast die gesamte Bewegung – auch erstmal zur Ermordung der Guerilla-Comandantin Melida Anaya Montes durch ihre eigenen GenossInnen im März 1983. Der Mord, Resultat von Machtkämpfen innerhalb der FPL (eine der fünf FMLN-Organisationen), bedeutet nicht nur einen Einschnitt in der Geschichte der FMLN. Auch in der El Salvador-Solidaritätsbewegung ändertes sich einiges. Über Monate hinweg wurde von Seiten der FPL die Wahrheit verschwiegen oder je nach politischem Kalkül eine andere Version geliefert. Die Solibewegung reagierte anfangs mit Nicht-wahr-haben-wollen und Verdrängen. Die Auseinandersetzung mit dem Ungeheuerlichen kam nur langsam in Gang und hatte unterschiedliche Konsequenzen: ein Teil der Gruppen löste sich auf, andere unterstützten nicht mehr ausschließlich die FMLN. Die Bewegung hatte in der BRD ihren Zenit überschritten. Der ides war zumindest teilweise Forum dieser Diskussionen.
Das Ringen um die richtige Haltung und die Suche nach einer möglichen solidarischen Kritik beschäftigte den ides immer wieder. So auch in der Nummer 300: “Wir müssen endlich Kriterien erarbeiten, mit denen wir weg von der Jubelsolidarität kommen, nach der alles richtig, weil in der Situation verständlich ist, was die Befreiungsbewegungen unternehmen. (…) Aber auch weg von den ‘Kritischen’, die hinter der Kritik ihren eigenen Unwillen verstecken, weiterzuarbeiten, die heimlich eben doch ein bißchen den Kloses glauben, die Gewalt, wie die Ausweisung von Vega [reaktionärer nicaraguanischer Bischof, den die sandinistische Regierung vorübergehend nicht mehr ins Land ließ, nach dem er in den USA auf Unterstützungstournee für die Contra gegangen war; Anm. LN], schon immer verabscheut haben.”
Damals (1986) war die Zahl der zahlenden AbonentInnen jedoch bereits auf ca. 500 gesunken. Die El Salvador-Solidaritätsbewegung war klein und für die wesentlich größere Nicaragua-Solidarität war der ides nie von großer Bedeutung. Der ides verstand sich immer als Teil der Solibewegung, doch die löste sich in West-Berlin nach und nach auf, so im Herbst 1990 auch das El Salvador-Komitee. Die direkten Verbindungen nach Zentralamerika gingen zunehmend verloren und die meisten Informationen waren auch über andere Medien zu bekommen. Außer einigen Einzelpersonen arbeitete zum Schluß nur noch das Guatemala-Komitee beim ides mit.
In diesem Sinne ist die Entscheidung, den ides dicht zu machen, richtig. Für die wöchentlichen Infos gibt’s den Nachrichtendienst Poonal. Wieso also eine Zeitschrift machen, die keine LeserInnen mehr hat? In der BRD des Sommers 1993 gibt es genug zu tun.

Ein Tröpfchen auf den glühenden Stein

Die scheinbar gute Nachricht kam Anfang März 1993 aus Bolivien. Den Unterhändlern des Landes ist es gelungen, mittels mehrerer Mechanismen die Schulden gegenüber den ausländischen Privatbanken auf Null zu reduzieren. Im Kern laufen diese Mechanismen darauf hinaus, daß es Bolivien gestattet wird, die Schuldentitel zu einem Preis von 16 Prozent des ursprünglichen Wertes von den Gläubigerbanken zurückzukaufen, was praktisch einem Erlaß von ungefähr fünf Sechsteln der Schulden gleichkommt. Vergleicht man das damit, daß 1953 der unter den Kriegsfolgen leidenden Bundesrepublik nur gut die Hälfte der Schulden erlassen wurden, so scheint das eine generöse Geste der ausländischen Privatbanken zu sein, die der Nachahmung und Ausdehnung wert wäre.
Scheint aber nur. Um die Grenzen und die wirkliche Bedeutung dieses Verhandlungsergebnisses zu ermessen, bedarf es einiger zusätzlicher Informationen:

Nichts mehr zu holen

Erstens machen die Schulden Boliviens gegenüber den ausländischen Privatbanken überhaupt nur einen geringen Teil der Auslandsschuld des Landes aus. Nominell betrugen sie vor einem Jahr etwa 680 Millionen US-Dollar, während sich die Gesamtschuld bis heute auf 3,7 Milliarden US-Dollar beläuft. Die übrigen Schulden bestehen bei internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) sowie bei anderen Staaten. Die Finanzorganisationen sind von ihren Statuten her gezwungen, auf die Durchsetzung von Zahlungsdisziplin – um der “Kreditfähigkeit” der Länder willen – zu drängen und erlassen deshalb grundsätzlich keine Schulden. Und die anderen Staaten kennen immer noch ärmere Länder, denen aus Gründen der “Gerechtigkeit” zuerst die Schulden erlassen werden müßten. Da das aber seine Zeit braucht, wird nie was draus. Kurz: Bolivien behält den größten Teil seiner Schulden.
Zweitens ändert sich nichts Entscheidendes – im Unterschied zu London 1953. In den letzten zehn Jahren hat Bolivien als Ergebnis seiner Auslandsschuld durchschnittlich jedes Jahr 250 Millionen US-Dollar netto an Zinsen und Kapitalerträgen ins Ausland transferiert. Da der Wert der Warenexporte des Landes in dieser Zeit zwischen 500 und 800 Millionen US-Dollar schwankte und für unbedingt erforderliche Einfuhren draufging, waren die Zinsen nur zu bezahlen, indem die Gläubiger die notwendigen Summen erneut zur Verfügung stellten. Mit anderen Worten: Es wurde nur noch die Fiktion aufrechterhalten, daß das Land zahlungsfähig und damit “kreditwürdig” sei. In Wirklichkeit sind die Schulden längst unbezahlbar.
Das ist nun drittens nichts Neues, und deshalb hätte eigentlich schon 1987, als die Verhandlungen zwischen Bolivien und den Privatbanken begonnen, mit der Einsicht gerechnet werden dürfen, daß da nichts mehr zu holen sei. Aber es hat noch ganze sechs Jahre gedauert, bis eine Einigung zustandekam. Insgesamt 131 Banken mußten ihren Segen zu dem Deal geben, wobei peinlich darauf zu achten war, daß keine besser behandelt wurde als die andere. Ein Teil der Schuldentitel wurde in dieser Zeit auch im Rahmen sogenannter “debt for nature swaps” zu niedrigen Kursen von internationalen Organisationen aufgekauft und für Zwecke des Naturschutzes in Bolivien eingesetzt.
Während die Bundesrepublik mit dem Londoner Abkommen von 1953 ihre Kreditfähigkeit wiedergewann und die deutschen Unterhändler mit dem Bankier Hermann Josef Abs an der Spitze darüber besonders stolz waren, ist die Abmachung Boliviens mit den ausländischen Privatbanken geradezu die Besiegelung der totalen Kreditunwürdigkeit des Landes. Schon 1987 erklärte der Botschafter des Landes in den USA: “Die Banken machen das Geschäft mit uns nur, weil wir ihnen zugesagt haben, auf lange, lange Jahre hinaus nicht mehr mit Kreditwünschen an sie heranzutreten.” In der Tat: Ein Land, das nur ein Sechstel seiner Schulden begleichen kann und danach immer noch hohe Schulden hat, ist kein seriöser Partner.
Für die zehn oder elf beteiligten deutschen Banken war der lange Zeitraum der Verhandlungen noch einmal ein besonderer Gewinn, weil sie die Kredite schon vor langer Zeit zu 80 bis 90 Prozent steuersparend abgeschrieben hatten, gleichwohl aber in der ganzen Zeit die Zinsen und jetzt noch einmal 16 Prozent der Gesamtschuld einstreichen konnten.

Das gibts nur einmal, das kommt nicht wieder

Zur Nachahmung taugt das Beispiel nicht, weil die Banken nicht auf Dauer zulassen können, daß die verschuldeten Länder ihre Schuldentitel selbst zu dem Preis zurückkaufen, der auf dem freien Markt dafür gezahlt wird. Denn dann bräuchten die Länder nur keine Zinsen mehr zu zahlen, und schon wären die Schulden nichts mehr wert. Dieser traurige Zustand ist gegenwärtig in Nicaragua, dessen Schuldentitel zu sechs Prozent ihres ursprünglichen Wertes gehandelt werden, beinahe erreicht.
Länder, die auf die zukünftige Zufuhr von privatem Kapital noch Wert legen, müssen deshalb darauf achten, daß ihre Schuldentitel auf dem sogenannten Sekundärmarkt zu einem möglichst hohen Prozentsatz gehandelt werden. So ist denn auch die chilenische Regierung ganz besonders stolz, daß die chilenischen Schuldenpapiere inzwischen zu 90 Prozent gehandelt werden. Kolumbien mit seinen Drogengeldern und Uruguay haben inzwischen über 75 Prozent erreicht, Mexiko, Costa Rica und Venezuela liegen bei über 60 Prozent, und Argentinien nähert sich inzwischen auch den 50 Prozent.
Würden diese Länder ihre Schulden zu diesen Prozentsätzen zurückkaufen wollen, dann wären sie sofort pleite. Sie werden also mit ihren hohen Schulden weiterleben müssen. Sobald sie aber trotz der schweren Zinsenlast wirtschaftliche Erfolge erreichen, verschwindet die Bereitschaft der Gläubigerbanken zu einem Schuldenerlaß völlig.
“Germanwatch” ist zuzustimmen: Ein Schuldenerlaß für die Länder Lateinamerikas und überhaupt der Dritten Welt nach dem Vorbild von London 1953 wäre nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch ein Zeichen ökonomischer Vernunft. Der Deal Boliviens mit den ausländischen Privatbanken aber ist nur ein winziges Tröpfchen auf einen glühenden Stein.

Markige Entdecker

Da schaukeln drei Schiffchen auf dem Meer, eine Palme gibt das Lokalkolorit, und die nackten Menschen auf dem Land gehen im Halbprofil zur Seite. Ihre ausdruckslosen, nicht individualisierten Gesichter sehen nicht so aus, als ob sie flüchten würden; eher, so scheint es, machen sie den ankommenden Menschen mit den bunten Hüten Platz, einfach so. So wollte man’s halt sehen, damals in Europa. Denn das Motiv, das die Bundespost uns da anbietet, ist immerhin schon 499 Jahre alt. Die Perspektive ist die gleiche geblieben.
Nur der König, der damals im Vordergrund saß, fiel bei der Übernahme durch die Post den demokratischen Zeiten zum Opfer. Der Rest war prima.
40 Pfennig weiter, auf dem Eine-Mark-Motiv, nun wirklich: Die “Begegnung zweier Kulturen”. Der exotische Amerikaner legt seinen linken Arm brüderlich um seinen Entdecker, seine rechte weist einladend in sein Land. Come together. Während das Gesicht des Spaniers menschlich-fleischfarben ist, ist die Haut des Indianers geisterhaft weiß, sein ganzer Körper ist verziert mit Tätowierungen. Eine Schale prallvoll mit Obst symbolisiert den Reichtum, den er seinem Gast bietet. Friedlichist er, sein Bogen und der Köcher mit den Pfeilen bliegen am Boden. Der Spanier hingegen weiß was zählt, macht keine große Geste sondern hält in seiner linken den Dolch mit Kreuz-Form und in seiner rechten die Lanze – die natürlich nicht wie böse Waffen wirken, sondern gleichsam als schmückende Dekoration für’s historische Bild.
War’s etwa nicht so vor 500 Jahren? Mäkelt da wer? “Diese Marken tragen dazu bei, die wirkliche Geschichte Amerikas nach der Invasion durch Christoph Kolumbus zu beschönigen und zu verschleiern”, findet die Bonner Informationsstelle Kolumbien, und schreibt dies den sehr geehrten Damen und Herren von der Generaldirektion der Deutschen Bundespost. Und bittet sie, die beiden Briefmarken aus dem Verkehr zu ziehen.
Um der so in Verlegenheit gebrachten Post aus der Patsche zu helfen, wollen wir von der LN ihr zwei neue, ebenfalls historische Motive zum Thema vorschlagen.

Abbildung:
Das Frontspitz des Kolumbus-Briefes in der italienischen Übertragung des Giulano Dati, von 1493.

Mr. Clean, Mr. Washington und Mr. Broker

Nationale und internationale Reaktionen

Ob der Wunschkandidat der USA bei den Präsidentschaftswahlen von 1990 die Aufhebung des von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Embargos erreichen wird, muß angesichts der fast einhelligen internationalen Ablehnung seiner Wahl zumindest vorerst bezweifelt werden. Mit Ausnahme des Vatikans weigerten sich alle Staaten, VertreterInnen zur offiziellen Amtseinführung Bazins zu schicken.
Auch innerhalb Haitis stieß Bazins Ernennung zunächst auf breite Ablehnung. Nach der Bestätigung durch das Parlament hielten die Proteste der haitianischen Bevölkerung an. Während Teile der “sozialistischen” PANPRA offenbar mit den neuesten Entwicklungen zufrieden sind, bemüht sich die dem legitimen Staatspräsidenten Aristide nahestehende FNCDH (Nationale Front für Veränderung und Demokratie), nach außen ein geschlossenes Bild der Ablehnung zu geben. Ein Senatsmitglied, das für Bazin gestimmt hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Jedoch weisen Berichte aus Haiti darauf hin, daß es auch innerhalb der FNCDH Sympathien für das Regierungsprogramm des neuen Ministerpräsidenten gibt.

Herausragende Eigenschaft: Politische Flexibilität

Mit Bazin haben die Militärs einen Mann zum Ministerpräsidenten erkoren, der bereits in der Vergangenheit bewiesen hat, sich mit den jeweils dominierenden Machtinteressen in Haiti arrangieren zu können. Als Finanzminister unter dem Diktator Duvalier machte sich Bazin mit einer Anti-Korruptionskampagne einen Namen: Mr. Clean. Ebensowenig brachte der Sturz Duvaliers 1986 Bazin in Verlegenheit. Durch seine enge Anlehnung an die USA galt Bazin in seiner neuen Rolle des Mr. Washington als Fürsprecher des sicheren Übergangs Haitis in eine Demokratie westlichen Zuschnitts. 1990 bei seiner Kanditur bei den Präsidentschaftswahlen gegen Aristide klar gescheitert, spielte Bazin auch nach dem Militärputsch vom vergangenen September keine Hauptrolle auf der politischen Bühne, bis er vor wenigen Wochen als Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in die Diskussion gebracht wurde. Als – nach eigenen Worten – ehrlicher “Makler” für die Interessen aller HaitianerInnen stellte er unter seinem neuen Pseudonym, Mr. Broker, am 12. Juni sein neues Kabinett vor, in dem ausschließlich PolitikerInnen stehen, die den Staatsstreich unterstützt haben.

“Der Putsch war ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie”

Mit den Worten, der Putsch sei nur ein Betriebsunfall auf dem Weg zur Demokratie gewesen, machte Bazin klar, daß er die Position der Militärs vorbehaltlos anerkennen würde. Gleichzeitig erklärte Mr. Broker seine Bereitschaft, mit Aristide über dessen Rückkehr zu verhandeln. Zentrale Bedingung sei allerdings Aristides Verzicht auf die Forderung, Raoul Cédras, den Anführer des Putsches, als Oberkommandierenden der Streitkräfte zu entlassen. Angesichts dieser nahezu unzumutbaren Bedingung wird die Strategie der MachthaberInnen in Port-au-Prince überdeutlich. Sollte Aristide an seinen Forderungen festhalten, könnte er der Weltöffentlichkeit als derjenige vorgeführt werden, der jede Lösung der Krise in Haiti blockiert. Für den eher unwahrscheinlichen Fall der Zustimmung Aristides wäre die Spaltung der Lavalas-Bewegung absehbar, während gleichzeitig ein seiner Kompetenzen beraubter Präsident als Beruhigungsmittel für die Bevölkerungsmehrheit noch immer tauglich wäre.
Doch ganz egal, welchen Verlauf die Verhandlungen mit Aristide nehmen werden: die Machtcliquen in Port-au-Prince spielen erneut auf Zeit und hoffen, zumindest mittelfristig die internationale Anerkennung des gewaltsam hergestellten Status quo zu erreichen. Nach der Aufhebung des OAS-Embargos könnte Bazin dann endlich sein Wirtschaftsprogramm in die Tat umsetzen, das einerseits umfassende Privatisierungen und andererseits den Aufbau einer Exportwirtschaft durch die Ansiedlung von Billiglohnindustrien vorsieht. Um sich dabei der Hilfe der USA zu vergewissern, hat Bazin bereits von der Möglichkeit eines US-Militärstützpunktes im Norden Haitis als Ersatz für das kubanische Guantánamo gesprochen.

Verstöße gegen das Embargo

Bisher zeigten die Präsidenten der amerikanischen Staaten offiziell wenig Bereitschaft, das Embargo zu lockern. Die New York Times berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juni sogar über Pläne, eine multinationale Eingreiftruppe nach Haiti zu entsenden. US-Präsident George Bush dementierte diese Berichte umgehend und sprach sich stattdessen dafür aus, das Handelsembargo zu verschärfen. Bei einem Treffen in Caracas am 14. Juni arbeiteten die Präsidenten Venezuelas, Frankreichs und der USA, Carlos Andres Pérez, François Mitterand und George Bush, sowie Brian Mulroney, der Ministerpräsdent Kanadas, neue Pläne zur strikteren Anwendung des Embargos aus. Die mit Abstand skurrilste Begründung für diese Maßnahme gab Andres Pérez, der die Putschversuche in Peru und in seinem eigenen Land auf den “perversen Einfluß” der PutschistInnen in Port-au-Prince zurückführte.
Nach Angaben des US-Bundesrechnungshofes in Washington wird das Embargo fortwährend durchbrochen. Nicht nur Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die sich offiziell nicht dem OAS-Embargo angeschlossen hat, verstießen gegen die Handelsblockade, sondern auch Mitgliedsländer der OAS. Brasilien liefert Stahl, Argentinien Chemikalien, Kolumbien Öl, Venezuela Verbrauchsgüter und die Dominikanische Republik Reifen und Dieselmotoren.

Kritik an der Flüchtlingspolitik der USA

BeobacherInnen in Washington sehen im Eintreten der Bush-Administration für eine schärfere Handhabung des Embargos ein Manöver, das von der Auseinandersetzung um die eigene Flüchtlingspolitik ablenken soll. Nachdem Bush die Schließung des US-Stützpunktes in Guantánamo für haitianische Flüchtlinge verfügt hatte, mehrten sich die kritischen Stimmen innerhalb des Kongresses, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. Sie verwiesen darauf, daß die EinwanderungsbeamtInnen in Guantánamo einem Drittel der Flüchtlinge gestattet hätten, einen Asylantrag in den USA zu stellen. Mit der Schließung Guantánamos und dem Abfangen von Flüchtlingsbooten in internationalen Gewässern verstoßen die USA sowohl gegen das eigene Einwanderungsgesetz als auch gegen die internationale Flüchtlingskonvention. Auch der zynische Ratschlag des Regierungssprechers Boucher, die HaitianerInnen könnten schließlich direkt in der US-Botschaft in Port-au-Prince einen Asylantrag stellen, hat den Protest von Oppositionellen und Menschenrechtsgruppen in den USA entfacht. Sie verweisen darauf, daß die Botschaften in der haitianischen Hauptstadt einerseits durch hohe Zäune und andererseits durch Kontrollen des Militärs absolut unzugänglich sind. Es gibt eine Vielzahl von Berichten über Menschen, die beim Versuch, in die US-Botschaft zu gelangen, verhaftet wurden und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind.
Auch die Staaten in der Karibik reagierten auf den Beschluß der USA, Guantánamo zu schließen, mit Ablehnung. “Die US-Entscheidung könnte ein großes Problem für andere Länder schaffen”, kommentierte ein Angehöriger des Außenministeriums von Jamaika. Die Bahamas haben ihre Küstenwache angewiesen, Flüchtlinge noch auf hoher See abzufangen und zurück nach Haiti zu schicken. Menschen, denen es trotzdem gelingt, die Bahamas zu erreichen, werden unter dem Vorwurf der illegalen Einreise inhaftiert. Auch Kuba kündigte an, haitianische Flüchtlinge auf dem Luftweg zu repatriieren.

Bazin: Der Weizsäcker der Karibik?

Nachdem nun nahezu alle Fluchtwege abgeschnitten sind, hat sich die Lage der HaitianerInnen rapide verschlechtert. Das OAS-Embargo hat mehr als 150.000 Menschen den Arbeitsplatz gekostet, ohne die wirtschaftlichen Eliten des Landes empfindlich zu treffen. Infolge einer Dürrekatastrophe steht dem Land eine Mißernte bevor, die unausweichlich zu einer Hungersnot führen wird, wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht ihre Hilfslieferungen ausdehnt.
Die Militärs reagieren mit unverminderter Brutalität auf jede Form des Protests gegen die neuen MachthaberInnen. ZeugInnen berichten immer wieder von nächtlichen Gewehrsalven in den Armenvierteln der Städte sowie von Leichen, die am nächsten Morgen auf offener Straße gefunden werden. Trauriger Höhepunkt der Repression war ein Anschlag auf “La Fami Se Lavi”, ein Heim für Straßenkinder, das von Aristide eingerichtetet worden war und am Abend der Bestätigung Marc Bazins durch den haitianischen Senat in Flammen aufging.
Während sich auf der politischen Bühne mit der Wahl Bazins vordergründig betrachtet Bewegung ergeben hat, droht die Krise für die Bevölkerung Haitis unvorstellbare Ausmaße anzunehmen. So wird der deutsche SPIEGEL wohl noch lange vergeblich nach einem “Weizsäcker der Karibik” suchen müssen, der den Weg aus der Krise weist. Marc Bazin, alias Mr. Clean, alias Mr. Washington, alias Mr. Broker, taugt zu wenig mehr als zu einem karibischen Mr. Zelig, einem politischen Chamäleon, das sich geschickt jedem politischen Wandel anzupassen weiß.

Der Krieg ohne Öffentlichkeit

Kolumbien: Die Mauer von Medellín

Hinter der Nationaluniversität beginnt das andere Me¬dellín, das der barrios populares: unvollendete Hütten ohne Strom und Wasserversorgung, eingeschlagene Fensterscheiben, aufgebockte Autos und die BewohnerInnen, meist arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie nennen die Trennung zwischen Reich und Arm, zwischen Kommerz und Slums die “Mauer von Medellín”.
Pablo Escóbar, Chef des Kartells von Medellín, hat hier in den barrios Straßen, Häuser und sogar einen Sportplatz gebaut und gibt den Leuten Arbeit im Drogengeschäft: “Wenn dir hier jemand eine Arbeit anbietet, wenn du z.B. etwas basuco (umgangssprachlich für pasta básica de cocaina = Vorprodukt von Kokain) verkaufst und damit deiner Familie überleben hilfst, dann fragst du nicht, ob das legal oder illegal, moralisch oder unmoralisch ist. Mann, das kannst du dir gar nicht leisten, sonst macht jemand anders den Job und du hörst noch Vorwürfe, daß du faul seist usw.. Außerdem, hat irgendjemand von Moral geredet, als Escóbar Kongreßabgeordneter war und die Kartelle die politischen Kampagnen der Liberalen und Konservativen finanziert haben?”
Die staatliche Antwort auf die Machtposition des Kartells im Stadtviertel ist rein repressiv. Zum einen werden die barrios zu illegal besetzten Zonen erklärt und so von der Versorgung abgeschnitten, zum anderen findet eine Militarisierung des Gebietes statt. So wurden vermehrt sog. Centros de Atención Inmediata, CAIs, errichtet, feste Polizeiposten zur Verbrechensverhütung und -bekämpfung. Ein Sportplatz wurde von der 4.Brigade des Heeres als Stützpunkt besetzt. Drei Blöcke entfernt vom CAI im barrio 12 de octubre fand vor etwa einem Jahr ein Massaker in der Kneipe Billar Acapulco statt. Drei schwarze Wagen fuhren vor, fünf bis sechs in Zivil gekleidete Männer stiegen aus und eröffneten das Feuer auf die Gäste. AnwohnerInnen beschuldigen das für den Drogenkrieg gebildete Elitekorps der Nationalpolizei der Tat, das damit wieder einmal eine “soziale Säuberung” durchgeführt habe. Auf die Frage nach Beweisen für die Verwicklung der Polizei und anderer Sicherheitskräfte in solche Massaker entgegnet ein Sozialarbeiter: “Was nützt denn ein CAI, wenn drei Blöcke weiter ein Massaker stattfindet und die Polizisten, die die Schüsse und Schreie hören, nicht zu Hilfe kommen?” In einem Flugblatt der hier arbeitenden Organisationen werden zwischen Januar und August 1990 120 Tote in Medellín gezählt, die meisten in den barrios: “Welch ein -Widerspruch”, so das Flugblatt, “je mehr Polizei, Soldaten und Waffen, umso mehr Unsicherheit, Gewalt und Tote in Medellín.”
Die immer wieder reißerisch von den Massenmedien dargestellte unpolitische Bandenkriminalität haben die von den BewohnerInnen der barrios gebildeten Selbstverteidigungskomitees erfolgreicher uner Kontrolle, als die Polizei, zu der hier ohnehin niemand Vertrauen hat. Gegenüber der politischen Kriminalität der gekauften Killer fühlen sich die Menschen nur als Opfer der von oben inszenierten Gewalt. “Für die Menschen hier, die Armen der kolumbianischen Gesell¬schaft”, so eine Sozialarbeiterin, “ist dieser sog. Drogenkrieg der Regierung ein Krieg, der sie nichts angeht, in dem sie aber die meisten Opfer bringen.”
Es handelt sich um einen Krieg zwischen der traditio¬nellen kolumbianischen Oligarchie und dem Medellín-Kartell, das sich erlaubt hat, politische Teilhaber-Ansprüche zu stellen, deren Erfüllung einen Machtverlust der etablierten Eliten bedeuten würde. Alvaro Camacho Guizado, Drogensoziologe aus Cali, beschreibt das sich aus Angehörigen der Unterschicht rekrutierende Medellín -Kartell als “aufstrebende Bourgeoisie”, das der traditionellen Bourgeoisie und dem ihr entstammenden bzw. mit ihr verbundenen Cali-Kartell die politische und wirtschaftliche Macht streitig macht und deswegen bekämpft wird. So erklärt sich auch, daß polizeiliche Erfolge nur gegen das Medellín-Kartell zu verzeichnen sind; niemand spricht in diesem Krieg von den Kartellen von Cali, Bogotá oder der Küste.
Es heißt, es habe Verhandlungen auf höchster Ebene zwi¬schen Escó¬bar und der Regierung gegeben. Es mag dadurch in Medellín zeit¬weise ruhiger geworden sein. Es ist eine Ruhe für das Medellín der Privilegierten. In den barrios gehen die Exzesse des Elitekorps und der 4.Brigade weiter, es interessiert sich nur niemand mehr dafür.
Bolivien: Koka, was denn sonst?
Von Cochabamba, der drittgrößten Stadt Boliviens, aus sind es rund 200 km bis ins Herz des Chapare, der größten Kokaanbauregion des Landes, und zu dem aus einigen Häusern und Projekten des Fonds der Vereinten Nationen zur Bekämpfung des Drogenmißbrauchs (UNFDAC) bestehenden Dörfchen Chimoré.
In Isinuta, das etwa zwei Stunden nördlich von Chimoré liegt, findet die bolivianische Variante des US-Drogenkrieges statt. Offiziell spricht hier zwar niemand von Krieg, sondern von “integraler Entwicklung durch Substitution des Kokablattes” oder, so der Slogan der Koalitionsregierung Paz Zamora-Banzer, “Koka für Entwicklung”. Aber die Realität sieht anders aus: “Die Regierung”, so ein Bauer aus der Region, “nimmt uns auf den Arm. Seit drei Jahren sprechen sie von Substitution und versprechen uns Entwicklung. Wir warten vergeblich darauf.” Im Rahmen des “integralen Plans zur Entwicklung und Substitution” hat die Regierung pro zerstörtem Hektar Koka 2000 US$ bezahlt. Die campesinos haben auch Tausende von Hektar zerstört, aber Entwicklung in Form von rentablen Alternativprodukten blieb aus. “Statt Entwicklung”, so ein anderer Bauer, “findet Zerstörung statt.”
Bomben auf Straßen
Die Zerstörung läßt sich auf dem Weg nach Insinuta erkennen: große Schlaglöcher an den Wegrändern, zerstörte Häuser, herumliegende Gebäudeteile. Am 20.August des vergangenen Jahres hat UMOPAR, die bolivianische Landesdrogenpolizei, zusammen mit der US-amerikanischen Drogenbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) zuletzt die von den Bauern und Bäuerinnen als Verbindung hergestellte Straße bombardiert, weil, so ihre Version, diese “als Piste von Drogenhändlern genutzt werden kann.” KennerInnen der Region behaupten, die wirklichen Pisten lägen versteckt in dichtem Dschungel, aber man müsse nun einmal der US-Öffentlichkeit gewisse Erfolge im Drogenkrieg vorweisen. Die von der DEA geleisteten Entschädigungen in Höhe von 200 US$ reichen kaum für neue Dächer, geschweige denn für neue Häuser.
Doch die Bombardierungen sind nur ein Element der von der DEA dirigierten Politik. Die von der Menschenrechtsversammlung von Cochabamba dokumentierten Menschenrechtsverletzungen reichen von direkter Körperverletzung bis zu willkürlichen Verhaftungen. Zwei Beispiele:
– Am 15.8.1990 wurde der Busfahrer Lucio López Claros von der Drogenpolizei ohne Haftbefehl verhaftet und mehrere Stunden verhört. Danach wurde sein Haus einschließlich ihm nicht gehörender Räume durchsucht, schließlich wurden Fingerabdrücke genommen und eine schriftliche Erklärung angefertigt.
– Am 26.7.1990 wurde Víctor Soria Galvarro von der Drogenpolizei festgenommen, danach wurde eine Haussuchung durchgeführt. Bei der Protokollaufnahme auf der Wache wurde ihm bedeutet, daß er für 5000 US$, die von seiner Schwester, einer Apothekerin, in ihrer Apotheke übergeben werden sollten, freigelassen würde. Falls er dieses “Angebot” bekannt werden ließe, würde er erneut festgenommen und ins Gefängnis geworfen.
In vielen dieser Fälle werden einfache Bauern und Bäuerinnen als schwächstes Glied in der Drogenkette Opfer der Korruption in Poli¬zei und Militär. Wer mit Dollars oder pasta básica zahlen kann, wird laufengelassen, wer nichts hat, wird dem Richter übergeben.
Die im Ansatz richtige Substitutionsstrategie leidet aber nicht nur an den oft willkürlichen Verboten durch die DEA und die UMO¬PAR, sondern vor allem unter dem Fehlen wirklicher Produktionsalternativen für die Bauern. “Wir haben”, so Evo Morales von einer der Bauernorganisationen, “den politischen Wil¬len zur Kokareduzierung bewiesen. Die Regierung hat uns jedoch keine wirklichen und praktikablen Lösungen angeboten. Wir sind zur Zeit einfach gezwungen, Koka anzupflanzen, um zu überleben.” So gibt es auf fast jedem Hof in der Region neben den anderen Produkten wie Mais, Reis, Zucker, Kakao, Kaffee etc. ein bis zwei Hektar Koka als eine Art “Überlebensversicherung”, da die Kokapflanze leichter anzubauen ist und einen weit höheren Verkaufspreis hat. Dabei handelt es sich um ein rein marktwirtschaftliches Verhalten.
Trotzdem spricht das “Subsekretariat zur alternativen Entwicklung”, das dem Landwirtschaftsministerium untersteht, vom Erfolg der Substitutionspolitik. “Wir haben”, meint Rechtsberaterin Nancy Romero, “die gesteckten Ziele bei weitem übertroffen, was die Reduzierung angeht.” Das ist zwar richtig, doch gleichzeitig ist die Gesamtanbaufläche ständig gestiegen, was Romero auf weitere illegale Anpflanzungen zurückführt. “Nur wenn wir den Bauern mittels technischer und ökonomischer Hilfe reale Alternativen bieten, werden sie die Substitution unterstützen.” Damit appelliert sie an die Mitverantwortung der Industrienationen, denn nur sie können für eine profitable weltweite Vermarktung der Alternativprodukte sorgen, etwa durch direktere Vermarktungsmechanismen.
Peru: Im Gefängnis San Jorge in Lima
Vom nationalen Strafvollzugsinstitut (INP) geht man am Justizpalast vorbei durch La Victoria, ein unfreundliches Armenviertel mitten im Zentrum von Lima, und gelangt nach etwa 15 Minuten zum Gefängnis San Jorge. Das Tor wird von einem Mitglied der Guardia Republicana widerwillig geöffnet, der Ausweis eingezogen und das Tor wieder geschlossen. Da hilft es auch nichts, daß man vor¬her den Gefängnisdirektor angerufen hat und dies der Guardia mit¬teilt: Seit den Gefängnismassakern von 1986 ist die Guardia alleine für die “innere und äußere Sicherheit” der Gefängnisse zuständig, eine vom zivilen INP und Fachkreisen als “krasse politische Fehlentcheidung” des Ex-Präsidenten García charakterisierte Situation. So bedarf es großer Überredungskunst, um überhaupt zum Chef der Gefängnispolizei zu gelangen, der wiederum die Erlaubnis zum Eintritt in den Innenbereich erteilen muß.
Im Innenbereich mit Polizeibegleitung (zu wessen Sicherheit?) und ohne Kamera und Aufnahmegerät (warum so viel Mißtrauen?) sieht man das typische Bild lateinamerikanischer Gefängnisse: Überfüllung (bis zu acht Personen in einer Zelle), katastrophale hygienische Bedingungen, fehlende Waschgelegenheiten und unzureichende Wasserversorgung, mangelhafte medizinische Versorgung und Gefangene, die zu 80% nicht einmal verurteilt sind und sich – teils auf Hilfe hoffend, teils deprimiert – über die Situation beklagen. “Wir haben alle das Recht, glücklich zu sein”, so ein Gefangener, der wegen “illegaler Ausübung der Medi¬zin” in Untersuchungshaft sitzt: “Der Coronel, der mich festgenommen hat, wollte 5000 US$. Weil ich nicht zahlen konnte, bin ich hier. Seit 40 Tagen habe ich keinen Richter gesehen.” Jeder und jede prangert hier die Korruption an, als ob es etwas ganz Selbstverständliches wäre: “Wenn Du Geld hast, regelst du hier alles, du hast eine bessere Zelle, Frauen, Drogen und du kommst auch früher raus.” Der Satz ist stereotyp, findet auf alle in Kolumbien, Peru und Bolivien besuchten Gefäng¬nisse Anwendung: Ob “El Modelo” in Bogotá, das Frauengefängnis in Medellín, “San Pedro” in La Paz oder “San Jorge” – das System krankt an Korruption, Willkür der Sicherheitsorgane, einer zu langsamen Justiz und der allgemeinen wirtschaftlichen Misere (in den Strafvollzug wird zuletzt Geld investiert, das brächte kaum Wählerstimmen).
Nie war es so leicht, an Drogen heranzukommen, wie im Gefängnis…
Und der Drogenkrieg? Der endet an den Toren der kolumbianischen, peruanischen oder bolivianischen Gefängnisse. In keinem der Länder existiert ein Rehabilitationsprogramm für Drogenabhängige im Strafvollzug, nur in Kolumbien wird zur Zeit ein Entwurf diskutiert. In der Praxis werden die Gefangenen wahllos auf die Zellen verteilt. Die aufgrund der Drogengesetze Festgenommenen werden nicht von den übrigen Gefangenen getrennt, geschweige denn beson¬ders behandelt. Das Ergebnis ist erhöhter Drogenkonsum in den Ge¬fängnissen auch durch Mitgefangene, die vorher keine Schwierigkeiten mit Drogen hatten. Die wenigen PsychologInnen sind völlig überfordert. “Ich kann”, so eine von ihnen, “vielleicht sechs bis acht Patienten am Tag sehen, aber das sind nicht nur Leute, die Probleme mit Drogen haben. Es gibt überhaupt keine Kontrolle. Wenn der Gefangene nicht selbst auf sich aufmerksam macht, wissen wir überhaupt nicht, ob er ein und welches Problem er hat.” Außerdem gibt es überall Drogen: “Ich bekomme”, so ein Gefangener, “hier jeden Tag meine Dosis pasta básica. Du brauchst nur etwas Geld und gute Beziehungen zur Guardia. Hier ist der Konsum viel leichter als draußen.”
Die Frage, wie denn die Droge ins Gefängnis gelangt, wird mit vielsagenden Gesten und Augenzwinkern beantwortet. Es gibt nicht viele Möglichkeiten: BesucherInnen werden in der Regel sehr genau kontrolliert – außer in “San Pedro” in La Paz -, das zivile Personal hat wenig direkten Kontakt mit den Gefangenen, aber die Guardia…Da gibt es jedenfalls genügend Indizien: kaum zum Leben reichendes Gehalt und Verzehn- oder Verzwanzigfachung mit geringem Risiko, niedrige Schulbildung, direkter Kontakt mit den Gefangenen. Im übrigen beschuldigt jeder die Guardia.
Weiter ist interessant zu sehen, wie die soziale Zusam¬mensetzung der Gefange¬nen ist. Nach offiziellen Statistiken verfügt die Mehrzahl über keine oder nur geringe Schulbildung, fast alle stammen aus den Armenvierteln der großen Städte, sie sind diejenigen, die der Polizei ihre Freiheit nicht bezahlen können. Das gilt auch für die aufgrund von Drogendelikten Festgenommenen, was einen Rechtsanwalt beim Gefängnisbesuch in Medellín zu der Bemerkung veranlaßte: “Siehst du, hier wird die Armut bestraft, die Tatsache, daß du kein Geld zur Bestechung hast….deswegen wirst du nie einen größeren Dealer im Gefängnis treffen.
Von denen werden, so ist zu ergänzen, allerdings viele an die USA ausgeliefert und einige, jedenfalls in Kolumbien, ohne Verfahren liquidiert. Tatsache ist jedoch, daß nur ein einziger wirklich “Großer” sitzt, und zwar Roberto Suárez, ehemaliger Kokainkönig Boliviens, in La Paz. Er genießt jedoch eine Sonderbehandlung, lebt in einem eigens für ihn eingerichteten Kellergeschoß und empfängt alle alle BesucherInnen, einschließlich JournalistInnen, sofern er will (bei mir wollte er nicht). Im übrigen, so wird erzählt, hat er sich freiwillig der Polizei gestellt, da er auf der Todesliste des Medellín-Kartells stand (sein Sohn war schon liquidiert worden). Als die Polizei schwerbewaffnet sein Haus betrat, soll er, eine Zigarre rauchend und ein Glas Wein trinkend, sie mit den Worten empfangen haben: “Meine Herren, ich habe Sie etwas früher erwartet.”

Die schier unglaubliche Mobilisierung eines Volkes

LN: Wie erklärst Du die neu erwachten Hoffnungen auf Haiti?

Pierre Toussaint ROY: Auch wenn es seltsam klingt, der erste Grund sind die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich durch die Gewalt gegen das Volk aufgestaut hatten.
Der zweite Grund ergibt sich daraus, daß die neue Regierung wirklich ein Ausdruck des Volkes ist. Es hat keine politische Partei gewonnen, an die das Volk sowieso nicht glaubt, sondern die Volksorganisationen haben ihren Kandidaten durchgesetzt. Inmitten der Hoffnungslosigkeit haben sich seit ein paar Jahren innerhalb der Kirche BäuerInnen-, Frauen- und Jugendgruppen gebildet. Die konservativen Kreise der katholischen Kirche haben den Armen ihre Strukturen zur Verfügung gestellt und kleine Entwicklungsprojekte gestartet. aber die Leute haben innerhalb dieser Strukturen ihre eigenen Organisationen geschaffen.
Die Volksorganisationen sind jetzt an die Macht gelangt, diese Regierung ist ein Produkt der Arbeit des Volkes. Zuerst waren sie gegen die Wahlen, weil es keine Alternative zu dem Kandidaten der USA gab. Doch als die Tontons Macoutes einen Kandidaten aufstellten, gingen sie auf die Suche nach einem aussichtsreichen Gegenkandidaten.
Aristide hatte schon einige Male abgelehnt. Als er diesmal zusagte, erfüllte er einen ausdrücklichen Wunsch des Volkes. In seiner Arbeit ist er mit dem Volk gegangen, hat mit dem Volk gekämpft und mit dem Volk gelitten. Deshalb stellt er eine Hoffnung dar. Auch wenn kaum Zeit war, um ein klares Regierungsprogramm auszuarbeiten, weil alles so schnell ging.

LN: In welcher Form hat das Volk Aristide unterstützt?

P.T.R.: Das läßt sich an drei Momenten der letzten Monate verdeutlichen, an den Wahlen, dem Putschversuch und der Amtsübergabe.
Haiti hat sechs Millionen EinwohnerInnen. Davon sind drei Millionen wahlberechtigt. Als die USA ihren Kandidaten, Marc Razin, einen ehemaligen stellvertretenden Direktor der Weltbank, aufstellten, erwartete man zwischen 30 und 40 Prozent Wahlbeteiligung. Als die Volksorganisationen Aristide als Kandidaten präsentierten, hatten sich 2 Millionen WählerInnen ins Wahlregister eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt blieb nur noch eine Woche bis zur verlangten eine Million Menschen, eingeschrieben zu werden, sodaß die Frist um eine Woche verlängert werden mußte. Es war also von vornherein klar, daß über ein Drittel der WählerInnen für Aristide stimmen würde. Und kein Kandidat konnte auf Wahlveranstaltungen nur ein Zehntel der Menschen zusammenbringen, die zu Aristide kamen.
Genauso spontan mobilisierte sich das Volk beim Putschversuch am 7. Januar. Dort war es deutlich: Ihr Kandidat hatte schon gewonnen und viele Hoffnungen geweckt.
Als die konservativen Kräfte mit dem Putsch versuchten, die Machtübernahme zu verhindern, gingen die Leute auf die Straße. Es war völlig erstaunlich: Ohne irgendeine Koordination reagierten die Leute in allen Landesteilen in gleicher Weise. Sie wissen genau, wer ihr Feind ist. Sie wissen genau, wer ein Tonton Macoute ist. Und so griffen sie sie sofort an. Sie zerstörten ihre Häuser, griffen sie auf und verbrannten sogar viele von ihnen.
Es gibt Versionen, denen zufolge die Militärs ihre Unterstützung für die Tontons Macoutes zurückzogen, als sie sahen, daß die Menschen auf den Straßen zum Äußersten bereit waren. Denn anstatt die reignisse vor dem Fernseher zu verfolgen, griffen die Leute ein. Einige mit ihren Fäusten, andere mit Stöcken. Sie gingen auf die Straßen, blockierten sie mit brennenden Autoreifen und bauten Barrikaden, um die Tontons Macoutes an der Flucht zu hindern. Das Volk bewachte die Barrikaden, verfolgte die Macoutes und bewegte sich auf den Nationalpalast zu. Dort hatten sich die Putschisten verschanzt.
So wurde das gemacht. Und es wurde in Port-au-Prince, in Capo Haitien und an vielen Orten überall so gemacht. Die Leute haben in den letzten sechs Jahren seit dem Sturz der Diktatur darin Erfahrungen gesammelt.
Und vor dem Nationalpalast sammelten sich immer mehr Menschen. Offiziell und auch in den Zeitungen wird behauptet, daß die Militärs nicht am Putsch teilnahmen, daß das Militär nach einem Schußwechsel den Nationalpalast besetzte und die Tontons Macoutes festnahm. Aber die Version der Volksorganisationen ist eine andere.Als der Anführer der Putschisten sich zum Präsidenten erklärte, beschlossen die Leute, zu kämpfen. Die Militärs, die sich nach dieser Version sehr wohl am Putsch beteiligt hatten, verließen den Nationalpalast und zogen sich in ihr Hauptquartier zurück. Von dort aus sahen sie, daß die Menschen viele Tontons Macoputes verbrannt hatten und dabei waren, den Nationalpalast zu stürmen. Mit all ihren Waffen hätten sie nicht Tausende von Menschen aufhalten können, die von allen Seiten kamen. Deshalb beschlossen die Militärs, die Tontons Macoutes zu verhaften.
Die gleichen Menschen gingen auch bei der Amtsübernahme auf die Straße. Dadurch, daß sie schon Tage zuvor die Wohnviertel säuberten, die Straßen schmückten und die Mauern mit Bildern bemalten, zeigten sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, sich an der Regierung zu beteiligen.
Und auch Aristide drückte dies bei seiner Rede vor dem Nationalpalast aus. Noch nie hat ein Präsident während einer offiziellen Zeremonie so geredet wie Aristide. Wie auf seinen Predigten fragte er etwas und die Leute antworteten. Zum Beispiel: “Viele Hände?”, und die Menge antwortete: “Erleichtern die Last!”.
Diese ganzen Mobilisationen sind eine Warnung an die konservativen Kräfte und auch an die USA. Sie sollen sehen, daß die Menschen mit ihrem Leben diese Volksregierung verteidigen werden.

LN: Die drei Hauptpunkte in Aristides Programm sind Gerechtigkeit, Transparenz und Partizipation. Auf welche Weise wird sich das Volk an der Regierung beteiligen?

P.T.R.: Dazu muß nur die Verfassung angewandt werden. Sie stammt von 1987 und wurde damals von fast 100% der HaitianerInnen befürwortet. Darin ist festgelegt, daß es außer dem nationalen Parlament mit zwei Kammern auch eine Nationalversammlung der Volksorganisationen geben soll. Sie setzt sich aus RepräsentantInnen der neun Provinzversammlungen zusammen. Diese wiederum werden aus den Kreisversammlungen gebildet. Die neue Regierung sieht vor, daß die Provinzversammlungen von den Gemeinde- und Stadtteilkomitees ausgehen sollen. Diese Komitees gibt es im ganzen Land und sind der vielfältige Ausdruck der Volksbewegung. So ist es im Regierungsprogramm festgelegt, das übrigens “Die Gelegenheit am Schopfe packen” heißt.

LN: Und wie gestaltet sich das Verhältnis zur Kirche?

P.T.R.: Es gibt wie fast überall in Lateinamerika den konservativen Teil der Kirche, dem die Kirche der Armen gegenübersteht, die die Theologie der Befreiung vertritt. In Haiti gibt es drei Bischöfe auf der Seite der Armen, einige Unentschiedene und drei völlig Konservative. Der schlimmste ist der Erzbischof von Port-au-Prince, Francois Ligondé. Und auch hier hat das Volk reagiert.
Am 1. Januar hat Ligondé Aristides beschimpft. Einen Bolschewisten, Sozialisten, Diktator nannte er ihn. Sechs Tage später, beim Putschversuch, erinnerte sich das Volk sofort an diese Worte und bewertete sie im Nachhinein als Signal für die Vorbereitung des Putsches. Deshalb war der Bischof einer der ersten, der am siebten Januar angegriffen wurde.
Zuerst hieß es, er sei im Sitz der Bischofskonferenz. Die Leute gingen hin, plünderten und zerstörten den Sitz. Dann hieß es, Ligondé sei in seinem Haus. Als die Leute dort angelangten, war es schon von Polizisten besetzt, und so gelangten sie nicht hinein. Aber die Polizisten meinten, er halte sich in der alten Kathedrale versteckt. Also gingen die Manschen dorthin und brannten die alte Kathedrale nieder. Und so zog die Menge zu allen Orten, an denen sie den Bischof vermutete, durchsuchte und plünderte sie. Es heißt, daß Ligondé mittlerweile das Land verlassen hat.
Dies zeigt, daß die konservativen Teile der Kirche es nicht leicht haben werden. Außerdem ist die Mehrheit des Volkes innerhalb der Kirche organisiert. Das muß die Kirchenhierarchie akzeptieren. Ihre Beziehungen zur Regierung sind eine andere Sache, das läßt sich noch nicht voraussehen.

LN: Welche Hindernisse wird die Regierung zu bewältigen haben?

P.T.R.: Ein ist völlig klar, den USA geht diese Regierung gegen den Strich. Aber diese Regierung weiß, daß die USA großen Einfluß haben. Sie hat erklärt, daß sie zur Zusammenarbeit bereit ist, gegenseitigen Respekt immer vorausgesetzt. Doch die USA warten erst einmal ab, wie sich die Haitianische Regierung “benimmt”.
Das zweite Problem sind die Tontons Macoutes. Natürlich werden auch sie alles tun, um die Regierung zu stürzen. Aber durch den langen Kampf des Volkes sind sie geschwächt. Der beste Beweis dafür ist ihr gescheiterter Putschversuch vom siebten Januar. Außerdem sind dabei die Anführer der Tontons Macoutes verhaftet worden, und das Volk hat viele von ihnen umgebracht. Und die Regierung hat vom ersten Tag an Schritte gegen die terroristischen Banden unternommen; über einhundert Personen, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, dürfen das Land nicht verlassen.
Doch das größte Problem ist die Wirtschaftslage. Es müssen Entwicklungsprogramme gestartet werden. Im Regierungsprogramm steht, daß die Mittel innerhalb Haitis ausgenutzt werden sollen. Doch für Haiti ist internationale Hilfe lebensnotwendig. Viele lateinamerikanische Länder, zum Beispiel die “Gruppe der Drei” (Mexiko, Venezuela, Kolumbien) haben angekündigt, wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen zu Haiti zu verstärken. Venezuela wird Öl liefern.
Doch trotzdem wird es viele Probleme geben. Die wirtschaftliche und soziale Situation in Haiti ist fürchterlich. Daher betone ich immer wieder, wie wichtig internationale Solidarität ist. In erster Linie muß es Solidarität von Volk zu Volk geben. Volksorganisationen, Institutionen und Personen, die für das Volk arbeiten, sollen direkten Kontakt zu den haitianischen Volksorganisationen aufnehmen und ihre Projekte unterstützen. Denn unzählige BäuerInnen-, Frauen- und StudentInnengruppen haben Entwicklungsprojekte.
Zweitens muß es auch Unterstützung von Regierung zu Regierung geben. Die Volksorganisationen und die Personen in allen Ländern sollten ihre Regierungen bitten und sie unter Druck setzen, damit sie die Regierung von Haiti unterstützen, aus dieser Misere herauszukommen.

Quellen: Sergio Ferrari, El Dia Latinoamericano 18.2.91

“Wir werden unseren Namen nicht ändern”

Frage: Die FMLN wird die Wahlen nicht boykottieren. Heißt dies,daß sie die Convergencia aktiv in ihrem Wahlkampf unterstützen wird? Die UDN wird sich ebenfalls an den Wahlen beteiligen. Ist das nicht eine Zersplitterung der Linkskräfte? Warum konzentriert man sich nicht auf ein Bündnis?

Tatsächlich hat sich die FMLN entschieden, die Wahlen nicht einseitig zu boykottieren. Die Teilnahme der UDN ist keine Zersplitterung der Linken in E1 Salvador. Die Oppositionsparteien haben eine einheitliche Plattform vereinbart. Eine Plattform, die eine Demokratisierung auf der Grundlage der Demilitarisierung propagiert, und die im wesentlichen mit den Forderungen der FMLN übereinstimmt. Warum also keine formale Koalition? Nach dem bei uns herrschenden Wahlsystem werden die kleineren Parteien, wenn sie eine Listenverbindung eingehen, benachteiligt. Es gehen in dieser Form bei der Auszählung Parlamentssitze verloren. (Anders sieht es bei den Präsidentschaftswahlen aus.) Es gibt also einen gemeinsamen Block der Opposition, aber keine Einheitsliste.

Diesmal geht es – vielleicht…

Zurück zum Anfang der Frage; warum boykottiert die FMLN die Wahlen nicht, was unterscheidet diese von all den vorangegangenen Wahlen? Nicht etwa, daß diese Wahlen frei und demokratisch seien. In der aktuellen Konjunktur hat sich ein breiter Zusammenschluß oppositioneller Strömungen ergeben. Wie auch immer das Regime sich dazu verhalten wird und ob sich die Oppositionsparteien im letzten Augenblick noch dazu entschließen, sich aus dem Wahlprozeß zurückzuziehen oder nicht, dieses Zusammengehen der Opposition wird die Kräfteverhältnisse in E1 Salvador nachhaltig verändern. Es handelt sich bei der augenblicklichen Konjunktur um eine große politische Schlacht, und die Aufgabe der FMLN ist es natürlich, sie zu fördern, nicht sie zu behindern. Wollte man in dieser Situation fragen, ob diese Wahlen nicht die Gefahr in sich bergen, das Regime zu legitimieren oder ob sie demokratisch sind oder nicht, würde man von der realen und konkreten Konjunktur abstrahieren. Die Antwort müßte zweifelsohne dazu führen, die Wahlen zu boykottieren. Die FMLN wird dies nicht tun, um sich der aktuellen politischen Mobilisierung und dem Zusammenströmen der Kräfte nicht in den Weg zu stellen.
…trotz tiefgreifender Kritik

Gleichzeitig hält die FMLN eine sehr tiefgreifende Kritik an dem herrschenden Wahlsystem und diesen Wahlen aufrecht. Die politische und soziale Opposition verfährt in diesem Punkt genauso. Sie säen keine Illusionen und falsche Hoffnungen, was den Charakter der Wahlen angeht. Gleichzeitig hat die FMLN beschlossen, nicht dazu aufzurufen, die eine oder andere Partei zu wählen. Wenn sich je doch die Parteien entschließen sollten, von einer Wahlteilnahme abzusehen, wird die FMLN diese Entscheidung mittragen. Und so kann es zu einem Boykott kommen, der mehr ist, als ein rein militärischer Boykott. Festzuhalten bleibt, daß wir auf keinen Fall unsere Meinung geändert haben und nun proklamieren, daß die Wahlen der Weg zur Demokratie sei. Es geht vielmehr darum, alle Formen des Kampfes möglichst optimal zu kombinieren, so daß alle je nach ihren Möglichkeiten zu diesem Kampf beitragen können.

Frage: Noch vor kurzem vertrat die UNTS die Meinung, daß sie sich nicht an den Wahlen beteiligen werden. Sie gingen sogar so weit zu sagen, daß wenn sich Linksparteien zur Wahl stellen, wäre dies ein CIA-Projekt. Jetzt sind zwei Führungspersonen der UNTS auf der Kandidatenliste der UDN. Hat es da einen Meinungswechsel gegeben?

Es hat über diese Frage in allen Organisationen – auch der FMLN – Debatten gegeben. Was Du sagst ist richtig, aber diese Phase ist mittlerweile überwunden. Die UNTS unterstützt inzwischen die gemeinsame Vorgehensweise, die ich eben
skizziert habe.

Kommunikationsprobleme

Frage: Es gibt also keine gemeinsame Liste, sondern eine gemeinsame Plattform. Gibt es denn Absprachen über gemeinsame Kandidaturen, damit über die Verteilung der Bürgermeisterämter keine Konkurrenzen auftreten? Konkret: Wieviel Kandidaten gibt es für das Bürgermeisteramt von San Salvador?

Was konkret den Kandidaten für das Bürgermeisteramt von San Salvador angeht, gab es bis zum letzten Augenblick gewaltige Anstrengungen, einen Einheitskandidaten der Opposition aufzustellen, weil hier eine sehr wichtige Auseinandersetzung mit ARENA stattfinden wird. Als dann eine Regelung gefunden wurde, war die gesetzlich festgelegte Frist bereits verstrichen.

Frage: Was heißt das nun? Gibt es jetzt vier Kandidaten?

Einschließlich des ARENA-Kandidaten werden es vier sein.

Frage: Wenn beim wichtigsten Kandidaten die Convergencia und die UDN
zwei verschiedene Personen gegeneinander aufstellen, kann es sich doch nicht um ein gemeinsames Vorgehen handeln, sondern offensichtlich um zwei getrennte Wege. Das hört sich doch verrückt an?

Klar, das wäre logisch und wünschenswert, aber die Sache ist nun einmal so, wie
ich sie geschildert habe. Eine Übereinkunft ist in dieser Frage nicht zustandegekommen. Es hat tatsächlich große Anstrengungen gegeben. Die PDC ist vorgeprescht mit einer Kandidatur und erhob so ihren Anspruch. Man hatte sich kurz vorher schon fast auf die der PDC nahestehende Amanda Viliatoro geeinigt, aber die PDC machte da nicht mit und stellte Frau Azcúnaga auf. Dann gab es den Versuch, wenigstens einen Kandidaten für UDN und Convergencia zu nominieren, aber das hat dann auch nicht geklappt. So sieht es aus. In anderen Orten ist es jedoch gelungen, einheitliche Kandidaten der Opposition aufzustellen.

Frage: Ist die Teilnahme der Opposition an den Wahlen dahingehend zu interpretieren, daß sie nun in Zukunft mehr auf den zivilen Weg setzt, als auf den militärischen? Es gibt da das Beispiel Kolumbien.

Keine Änderung der Strategie

Für die FMLN kann ich versichern, daß wir nicht vorhaben, unsere politische Strategie zu verändern. Was das kolumbianische Beispiel angeht, so wird die Demobilisierung zweier Guerillaorganisationen gerne als Ergebnis der internationalen Ereignisse interpretiert. Das sehen wir nicht so. Sie hat viel früher eingesetzt, als die Veränderungen in Osteuropa und haben damit zu tun, daß es diesen Organisationen in ihrem jahrelangen Kampf nicht gelungen ist, sich in der Bevölkerung hinreichend zu verankern und von daher seit einiger Zeit angefangen haben, nach anderen Strategien Ausschau zu halten. Richtig ist sicherlich, daß die Ereignisse im Osteuropa die Erosionsprozesse beschleunigt haben. Eine ähnliche Situation liegt bei der FMLN nicht vor.

Frage: Wird es für die in den von der FMLN kontrollierten Zonen lebenden
Menschen möglich sein, zur Wahl zu gehen?

Wir haben dazu folgende Position: Es wird keine Wahlen in den Konfliktzonen geben. Aber wir werden nichts unternehmen, um die Menschen daran zu hin- dem, in den jeweiligen Provinzhauptstädten zu wählen. Die Wahlen finden im offenen Krieg statt, und damit sind sie immer auch in einer militärischen Logik und als militärischer Vorgang zu sehen. Wir können nicht erlauben, daß es militärische Operationen in den von uns kontrollierten Zonen stattfinden. All dies natürlich nur unter der Voraussetzung, daß die Parteien bis zum Schluß dabei bleiben, an den Wahlen teilnehmen zu wollen.

Frage: Gibt es in der KP unterschiedliche Einschätzungen zur Sowjetunion?

Eigenen Kopf benutzen!

Innerhalb der PCS gibt es keine großen Meinungsverschiedenheiten über die Entwicklung der SU und der jüngeren Entwicklung. Wir sind uns einig darüber, daß es im Grunde nie um ein sozialistisches Modell ging. [..I. Worüber es eine große Debatte in unserer Partei gibt, ist die Frage nach der Erneuerung des sozialistischen Denkens. Wir müssen in dieser Frage unseren eigenen Kopf benutzen und aufhören, uns Modelle aus anderen Teilen der Welt überzustülpen. Wir nehmen aktiv teil an der Diskussion der gesamten lateinamerikanischen Linken. Im letzten Jahr gab es ein sehr wichtiges Treffen linker Organisationen und Parteien – nicht nur von kommunistischen Parteien – in Sao Paulo; im Mai dieses Jahres wird ein weiteres in Mexiko stattfinden.
Wir salvadorianischen Kommunisten sind der Auffassung, daß es jetzt nicht darum gehen kann, eine neue Art der Kommunistischen Internationale in Lateinamerika aufleben zu lassen. Wir sind für einen breiteren Ansatz, für einen .Austausch der verschiedenen linken – auch nicht-kommunistischen Kräfte. Die Übernahme des sozialistischen Modells aus der Sowjetunion hat eine Art kirchliches Sektierertum hervorgerufen, mit dem wir in El Salvador schon in den 70er Jahren gebrochen haben. Unseren Namen werden wir jedoch nicht ändern.

Frage: Offensichtlich werden die Perspektiven des Sozialismus in E1 Salvador mit unterschiedlichen Stoßrichtungen, einschließlich sozialdemokratischer Orientierung diskutiert. Kannst Du näher erläutern, welche Positionen in der FMLN und in der KP besprochen werden?

Demokratische Revolution und Sozialismus

Wir sagen, daß wir uns in der Etappe der demokratischen Revolution befinden, wobei wir darauf beharren, daß die demokratische Revolution eine Etappe auf dem langen Weg zum Sozialismus ist.’ Wir verzichten nicht auf das sozialistische Projekt. Wir gehen davon aus, daß für Lateinamerika und für die gesamte sogenannte Dritte Welt keine Alternativen innerhalb des kapitalistischen Systems zur Verfügung stehen. Im allgemeinen werden in der lateinamerikanischen Linken die Entwicklung in Osteuropa nicht als Triumph des Kapitalismus verstanden, sondern in erster Linie als Niederlage des Sozialismus, genauer gesagt als Niederlage einer bestimmten Interpretation des Sozialismus. Das ganze Elend, das wir in Lateinamerika täglich erleben, hat untrennbar etwas mit der kapitalistischen Ordnung zu tun. Wir halten die Vorstellung, nach der es möglich sei, unsere Form von Kapitalismus in eine andere umzuwandeln, eine Form, wie sie beispielsweise in Westeuropa existiert, für außerordentlich naiv. Es hat in diese Richtung in der Vergangenheit viele Anstrengungen gegeben, die alle gescheitert sind. Es gibt für uns keine Möglichkeit, die Dritte Welt zu verlassen und Teil der ersten Welt zu werden. Es handelt sich dabei nicht um Entwicklungsstufen, die nacheinander zu durchlaufen sind. Es ist unmöglich, daß dieser abhängige Kapitalismus aufhört, als solcher zu existieren. Er funktioniert nur im Rahmen des weltweiten kapitalistischen Systems. Die logische Schlußfolgerung daraus ist, daß eine Entwicklungsperspektive für unsere Länder nur durch einen Bruch mit dem kapitalistischen System von Zentrum und abhängiger Peripherie denkbar ist. Unsere Meinung nach ist dies keine ideologische Frage, sondern eine praktische. Wir müssen freilich einräumen, daß die Realisierung eines neuen Modells, das weder kapitalistisch noch staatssozialistisch ist, zur Zeit nicht auf der Tagesordnung steht.

Frage: Welche Vorstellungen gibt es bei der FMLN bezüglich einer neuen Wirtschaftsordnung in El Salvador?

Gemischte Wirtschaft muß erkämpft werden

Wir haben natürlich keine fertigen Rezepte, keine bis ins Detail ausgearbeitete Pläne. Dennoch gibt es einige Elemente einer neuen Ordnung. Nach unseren Vorstellungen ist die Pluralität verschiedener Formen des Eigentums an Produktionsmitteln ein Bestandteil der demokratischen Revolution. Eine derartige gemischte Wirtschaft setzt allerdings tiefgreifende Eingriffe in der Eigentumsfrage voraus. An erster Stelle ist hier die Agrarreform zu nennen.
Ein weiteres Element ist die Suche nach alternativen Formen der Integration in den von den kapitalistischen Zentren beherrschten Weltmarkt, die Suche nach Spielräumen oder Marktlücken. Weiterhin müssen die Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern Lateinamerikas ausgebaut werden, Stichwort Süd-Süd-Kooperation. Eine Abkopplung vom Weltmarkt wird es nicht geben. Das bedeutete Autarkie. Nein, das ist unmöglich. Die Frage ist, wie wir uns in den Weltmarkt integrieren. Die Antwort auf diese Frage ist außerordentlich schwierig, und zur Zeit weiß wohl kaum jemand, wie dies genau zu bewerkstelligen ist.
Das Wirtschaftsmodell muß die Entwicklung der Produktivkräfte, eine Modernisierung der Technologie, sicherstellen. Natürlich müssen wir bei diesen Überlegungen von der aktuellen Realität ausgehen, und zwar so, daß wir die produktiven Fähigkeiten des ganzen Volkes zugunsten einer tatsächlichen Entwicklung kombinieren. Oder wie es die Chinesen zu Beginn ihrer Revolution ausdrückten; Der Gang mit einem traditionellen und einem modernen Bein.
Demokratische Partizipation gegen die Armut

Wir sind davon überzeugt, daß der Schlüssel für eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung darin liegen muß, die Partizipation der Massen in einem höchst- möglichen Maße zu garantieren. Um diese Partizipation zu erreichen, muß die Revolution ein Interesse an den Alltagsproblemen zeigen und ihre Fähigkeit beweisen, die Menschen in diesen Problembereichen zu organisieren. Ich beziehe mich dabei auf die brennenden Probleme des Massenelends, also die Mangelernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Wohnungen. Der einzige Weg, diese Probleme zu lösen ist die Beteiligung aller. Es handelt sich dabei um ein Modell des Übergangs hin zu einer Produktionsweise und einer Gesellschaft, die den Bedürfnissen der Menschen gerechter wird als die derzeitige.

Frage: Es ging vorhin um die Etappe der demokratischen Revolution. Ist das das strategische Konzept oder ein Übergangsmodell?

In dieser Konzeption hat die Demokratisierung tatsächlich ein strategisches Gewicht. Es handelt sich aber nicht um die Fortsetzung des bürgerlichen Wahldemokratie und der Gewährung bestimmter Freiheiten. Es geht um eine in jeder Hinsicht basisnahen Demokratie. Die Demokratisierung, die demokratische Revolution, ist nicht nur für die aktuelle Phase eine strategische Kategorie, sondern auch für alle zukünftigen Phasen, in denen die Massen, das Volk, zu bestimmen haben werden. Das scheint uns der richtige Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft.

Manifestationen eines Kinos in der Krise

In diesem Jahr ist das Festival dem Fernsehen gewidmet und wird damit dem hohen Stellenwert gerecht, den TV-Produktionen im audiovisuellen Bereich ein­genommen haben. Gleichzeitig deutet die Würdigung des lateinamerikanischen Fernsehens aber auf die Krise des lateinamerikanischen Kinos hin. In einer Pres­sekonferenz werden wir auch schon gleich zu Anfang der Festspiele darüber in­formiert, in welchem Kontext die aufgeführten Filme zu sehen sind: Die Wirt­schaftskrise in den lateinamerikanischen Ländern, die sich in hoher Auslandsver­schuldung, Rückgang des Bruttosozialprodukts, fallenden Löhnen und immen­sen Inflationsraten äußert, hat auch vor dem Kino nicht haltgemacht. In Brasilien wurde aufgrund von Sparmaßnahmen über Nacht die Filmförderung ausgesetzt und das Filminstitut “Embrafilme” aufgelöst. Der Entzug der staatlichen Mittel führte dazu, daß 1990 statt den durchschnittlich über 50 langen Spielfilmen nur noch ein einziger gedreht wurde. Das kleinere Filmland Ecuador hat es in den letzten fünf Jahren gerade mal auf einen Film gebracht. Und in Argentinien, so Cipe Fridman, die Produzentin von “Flop” kann man nur noch als Verrückter Filme machen. Das argentinische Filminstitut – immerhin noch nicht aufgelöst wie das brasilianische – hat dieses Jahr nicht die vom Finanzministerium zuge­sagten Mittel erhalten. Die argentinischen Kinos sind wie überall auf dem Sub­kontinent von US-amerikanischen Filmen überschwemmt. Produktionskosten, die zwischen einer halben und eineinhalb Millionen US$ liegen, können nicht al­leine durch Zuschauererlöse gedeckt werden. Wer geht schon bei einem monatli­chen Einkommen zwischen 20 und 50 US$ in einen Film, für den er ungefähr einen Dollar Eintritt zahlen soll?
In noch folgenden Pressekonferenzen und Seminaren wurde dann auch nach Lö­sungen, wie das lateinamerikanische Kino überleben kann, gesucht und Ansätze vorgestellt. Zum einen sind da die Koproduktionen des spanischen Fernsehens. Dessen finanzielle Beteiligung – in den letzten vier Jahren an über 100 Projekten – machte angesichts der schlechten finanziellen Lage lateinamerikanischer Produ­zentInnen und Filminstitute oft erst die Herstellung von Kino- Fernseh- und Vi­deofilmen möglich. Beispiele hierfür sind die auch schon in Deutschland gezeig­ten “Ultimas imagenes del naufragio ” (Letzte Bilder des Schiffbruchs), “La nación clandestina” (Die heimliche Nation) und “Un señor muy viejo con unas alas enormes” (Ein sehr alter Herr mit gewaltigen Flügeln) sowie “Sandino”, auf den ich später noch eingehen werde. Zum andern existiert zwischen den Filmbehör­den verschiedener lateinamerikanischer Länder ein Abkommen über einen ge­meinsamen Filmmarkt, womit Filme aus den beteiligten Ländern die gleichen Vergünstigungen erhalten wie die eigenen Filme. Das “Abkommen zur latein­amerikanischen Integration im Filmwesen”, das im November 1989 in Caracas von Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Kuba, Ecuador, Mexiko, Nicaragua, Pa­nama, Peru, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Bolivien verabschie­det wurde, soll die Vermarktung von Kino- Ferseh- und Videofilmen in den je­weils anderen lateinamerikanischen Ländern erleichtern und damit sowohl zur kulturellen Integration als auch zur Verteidigung gegen die kulturelle Überfrem­dung seitens der US-amerikanischen Filme beitragen. Ansonsten gab es eine Menge Appelle, das bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Kino, Fernsehen und Video in den lateinamerikanischen Ländern in ein Miteinander umzuwan­deln.
Nichtsdestotrotz gab es in den folgenden Tagen eine Menge lateinamerikanisches Kino zu sehen. Manchmal drängte sich dabei jedoch die Frage auf, was denn das “Neue” an diesen Filmen sei. Und ein kubanischer Mitarbeiter des Festivals ge­steht, daß die Auswahl der lateinamerikanischen Filme durch die Kommission doch recht beliebig gewesen sei. So mußten wir uns bei den zwar technisch per­fekt gemachten, aber inhaltlich und dramaturgisch schwachen venezuelanischen Filmen “Cuchillos de fuego” (Feuermesser) und “Con el corazón en la mano” (Mit dem Herzen in der Hand) langweilen, den derben Witz der argentinischen Fami­lienkomödie “Cien veces no debo” (100 mal soll ich nicht) ertragen und uns über das peinliche Portrait der kolumbianischen Gewerkschaftsführerin Maria Cano ärgern.
Die größte Enttäuschung stellte wohl ein mit berühmten Schauspielern realisier­ter und eine berühmte Person der lateinamerikanischen Geschichte dar­stellender Film eines berühmten Regisseurs dar. Die Rede ist von “Sandino” des Chilenen Miguel Littín (mit Kris Kristofferson und Angela Molina) über den gleichnami­gen Freiheitskämpfer Nicaraguas. Mit viel Spannung in Kuba erwar­tet, ent­puppte sich das Werk dann allerdings als oberflächliche, unpolitische Großpro­duktion im Stile Hollywoods, bestehend aus Liebe, Intrige und Schieße­reien. Böse Zungen behaupten, das Beste an dem Film sei, daß er Sandino zum Thema habe. Und der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge wollte erst gar keinen Kommentar zu dem Produkt Littíns abgeben.Aber noch einmal zu­rück zu dem Eröffnungsfilm “Caidos del cielo” (Vom Himmel Gefal­lene): In dem schon auf den Festivals von Montreal und Orleans ausgezeichneten Film erzählt der Regisseur Lombardi simultan drei tragisch absurde Geschichten. Da ist zum einen ein altes Ehepaar, das alle seine Wertgegenstände und sogar sein Haus verkauft, um den Preis für ein Mausoleum aufzubringen, eine im Slum lebende alte blinde Frau, die ihre Enkel schikaniert und schließlich als Futter für ein zu mästendes Schwein endet und ein mißgestalteter Sprecher eines Radio­programms unter dem Motto “Du bist dein Schicksal”, dem es im wirklichen Le­ben nicht gelingt, eine Selbstmörderin vom Sprung in die Tiefe abzuhalten.
Auch nicht gerade ein optimistisches Bild der lateinamerikanischen Realitäten vermittelt am nächsten Tag “Después de la tormenta” (Nach dem Sturm) des Ar­gentiniers Tristán Bauer. Ein Film, der auch für das Forum des jungen Films im Rahmen der Berliner Filmfestspiele ausgewählt wurde. Protagonist ist ein Mann, der im Zuge der Unternehmenszusammenbrüche in Argentinien seinen Arbeits­platz verliert und damit gleichzeitig seine Stellung als Familienoberhaupt infrage gestellt sieht. Die Komposition schöner, melancholisch stimmender Bilder und nicht zuletzt der Einsatz des Hauptdarstellers Lorenzo Quintero erinnern oft an “Ultimas imagenes del naufragio” (Letzte Bilder eines Schiffbruchs) und “Hombre mirando al sudeste” (Der Mann, der nach Südosten schaut), was die kubanische Zeitung Granma veranlaßte Bauers Film ironisch mit “El hombre mirando el naufragio despues de la tormenta” (Der Mann, der den Schiffbruch nach dem Sturm betrachtet) zu betiteln. Inhaltlich und dramaturgisch vermag er jedoch nicht so zu überzeugen wie seine Vorbilder. Besser gefallen haben mir zwei an­dere argentinische Produktionen: “Flop” von Eduardo Mignona, die (wahre) Ge­schichte eines Varietekünstlers im Argentinien der 40er Jahre, mit den Mitteln des Theaters spielend, witzig und traurig zugleich. Und “Yo, la peor de todas” (Ich, die schlimmste von allen) von Maria Luisa Bemberg. Die argentinische Re­gisseurin, die auch in den vergangenen Jahren mit ihren Filmen große Erfolge auf dem kubanischen Festival feiern konnte – dieses Jahr ist ihr Werk der absolute Favorit des Publikums und der Presse – widmete sich auch dieses Mal einem Frauenthema. Nach dem Roman von Octavio Paz stellte sie wichtige Situationen im Leben der Nonne Juana Inés de la Cruz dar, einer der bedeutendsten latein­amerikanischen Schriftstellerinnen im 17. Jahrhundert. Da diese sich nicht in Mann und Kindern selbstverwirklichen wollte und ihr als Frau der Weg in die Universität versperrt blieb, wählte sie das Kloster, um dort zu lesen, zu schreiben und zu forschen.
Zwischen den Filmen mal eine Pause. Mit einem guagua, so heißen die Busse in Kuba, angeblich weil sie die Geräusche quengelnder Kleinkinder wiedergeben, geht es in einen Vorort von La Habana, eine Einladung zu einem trago, einem Schluck Rum, annehmend. Doch auch hier werden wir nicht von Filmen ver­schont. Das Oberhaupt der Familie, Doña Josefina, sitzt mit diversen Freunden, Bekannten und Nachbarn vor dem Fernseher und verfolgt gebannt die brasiliani­sche Fernsehserie “Roque Santeiro”. Zwischen Begrüßung, Fragen, wie mir denn Kuba gefalle und dem Ausschenken eines Glases Rum, diskutieren die Anwe­senden eifrig die neueste Missetat des Filmbösewichts. Antonio erklärt mir, daß seine Mutter keine der täglich zur besten Sendezeit ausgestrahlten Folgen aus­lasse und in den Unternehmen sogar ganze Betriebsversammlungen verschoben werden, damit die compañeros bei ihrer Lieblingstelenovela am Ball bleiben können.
Wieder zurück im dunklen Kinosaal der Innenstadt sehen wir uns den kubani­schen Film “Mujer transparente” (Durchsichtige Frau) an. Anders als die anderen von Kuba für den Wettbewerb ausgewählten Produkte, “Hello Hemingway”, ein nett gemachter Film, aber auch nicht mehr, der nach nicht ganz nachvollziehba­ren Kriterien den ersten Preis gewann und “Maria Antonia”, die beide in den 50er Jahren, also vor der Revolution spielen und es damit umgehen, sich mit der ge­genwärtigen Situation in Kuba auseinanderzusetzen, sind die sechs Kurzepiso­den von “Mujer transparente”, Portraits von sechs Frauen, in dem Kuba von heute angesiedelt. Besonders beeindruckend ist die Episode “Laura”. Eine junge Frau, besagte Laura, wartet auf ein Treffen mit ihrer ehemaligen Schulfreundin Ana, die vor zehn Jahren mit 100.000 anderen unzufriedenen KubanerInnen die Insel verlassen hat und nun, als Touristin nach Kuba zurückgekehrt, in einem teuren Dollar-Hotel abgestiegen ist. Der Film läßt die ZuschauerInnen an den Gedanken Lauras über die Beweggründe von Ana und die gegenwärtige Situa­tion in Kuba sowie an ihrer Wut über die Behandlung als Bürgerin zweiter Klasse gegenüber den devisenbringenden TouristInnen teilhaben. Die Stimmung im Kino ist aufgeheizt. Die Bilder auf der Leinwand treffen mit der Realität zusam­men: Gegen Dollars, deren Besitz den KubanerInnen streng verboten ist, kann man hier (fast) alles kaufen. Die normalen KubanerInnen haben dagegen schon seit Monaten keine Butter mehr gesehen und selbst das Grundnahrungsmittel Bohnen ist nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Dollars sichern auch den Zugang zu den Touristenhotels, während die Kubanerinnen ohne Einla­dungskarte draußen bleiben müssen. Im Kino wird dauernd Beifall geklatscht, Bravorufe ertönen, und auch bei der Abschlußveranstaltung – Laura gewinnt den ersten Preis in der Kategorie Kurzfilm – gibt es hier den meisten Applaus und die Regisseurin muß mehrere Male aufs Podium zurückkehren. Fidel Castro ist die­ses Mal nicht zur Preisverleihung erschienen, um eine seiner berühmten Reden zu halten. Die trägt er dann zwei Tage später bei einem Kongreß über Ersatzteile vor.
Und bei den rhythmischen, Optimismus verbreitenden Klängen der brasiliani­schen Band Morais Moraira – alles tanzt inzwischen, obwohl die Preise für die langen Spielfilme noch nicht vergeben sind – fragen wir uns wie es mit Kuba und dem lateinamerikanischen Kino weitergehen wird.

Bush besucht die “vertikale Hemisphäre”

Als Präsident Kennedy vor knapp 30 Jahren unter dem Eindruck der kubanischen Revolution die “Allianz für den Fortschritt” als Plan für ein großes gemeinsames Reformunternehmen der USA und Lateinamerikas aus der Taufe hob, galten als Voraussetzung einer grundlegenden Besserung noch soziale Gerechtigkeit, eine gründliche Agrarreform, Besteuerung des Luxus und des Reichtums, Kontrolle der Profite aus ausländischen Direktinvestitionen, staatlich geförderte Industrialisierung. Heute fliegt Kennedys später Nachfolger George Bush von einem Land Südamerikas in das nächste, um seine Präsidentenkollegen dazu zu beglückwünschen, daß sie “Reformen” durchgeführt haben, die im Namen von Demokratie und Marktwirtschaft mit den Illusionen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Entwicklungspolitik gründlich aufgeräumt haben.
Die ganze erste Dezemberwoche war Bush unterwegs, in seinem neuen Regierungsflugzeug Air Force One jederzeit für die militärischen Planungen am Persischen Golf aufnahmebereit. Ziel waren die relativ reicheren und politisch wichtigeren Länder im Süden: Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und Venezuela. Ausgespart wurden Länder, in denen wie in Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama Drogenproduktion und Drogenhandel den Zorn der Führung des Hauptkonsumlandes von Drogen – nämlich der USA – erregen und wo deshalb diese Führung nicht gerade gern gesehen wird.

Die neue Morgenröte

Gefeiert wurde bei den Ansprachen vor den Parlamenten, den Treffen mit den Präsidentenkollegen Collor, Lacalle, Menem, Aylwin und Pérez sowie den Pressekonferenzen vor allem der Sieg der Marktwirtschaft, der nun – so Bush vor dem Parlament in Brasilia – die Möglichkeit “einer neuen Morgenröte für die Neue Welt” in Gestalt einer gigantischen Freihandelszone von Kanada bis Feuerland eröffne, einer “vertikalen Hemisphäre”, in der sich mehr als zwanzig marktwirtschaftlich orientierte Demokratien zusammenschließen könnten. Daß der Norden bei diesem Vertikalismus das Sagen hätte, ist gerade auch den brasilianischen Ökonomen klar, denen die Versuche einer eigenen Entwicklung von Mikroelektronik durch die erzwungene Öffnung ihres Marktes für US-Computer gerade erst ausgetrieben wurden.
Die Freihandelszone soll dem durch gewaltige Handelsbilanzdefizite angeschlagenen Imperium neue Absatzmärkte erschließen, Konkurrenzvorteile vor Japan, Südostasien und Westeuropa eröffnen und überhaupt ein Gegengewicht gegenüber der Europäischen Gemeinschaft begründen. Solange sich diese “Iniciativa para las Américas” darauf beschränkt, durch Abbau von Zollschranken und anderen Behinderungen den völlig freien Handel mit Waren und Dienstleistungen auf dem ganzen Kontinent zu organisieren, den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft, das heißt: die freizügige Arbeitsmigration in die USA aber verhindert, so lange wird diese Art von Integration angesichts der relativen Marktmacht der “Partnerländer” und des herrschenden Produktivitätsgefälles nur im Sinne einer Verschärfung der Unterentwicklung Lateinamerikas wirken. Die in diesen Tagen verkündeten Änderungen der Einwanderungsbestimmungen der USA lassen aber nicht darauf schließen, daß solche Freizügigkeit innerhalb ganz Amerikas geplant sei.

Ohne Spendierhosen

Daß Präsident Bush seine Gastgeber zu kaufen versucht hätte, läßt sich nicht behaupten. Versprochen hat er ihnen zunächst gar nichts. Erst nach der Reise verlautete, daß die USA vielleicht zur Verbesserung der Absatzchancen für US-Produkte auf bis zu sieben der zwölf Milliarden US-Dollar verzichten könnten, mit denen die lateinamerikanischen Länder bei der US-Regierung verschuldet sind. Das wären gerade anderthalb Prozent der gesamten, ohnehin unbezahlbaren Außenschuld Lateinamerikas. Und dann wollen die USA so großzügig sein und 100 Millionen ( nicht Milliarden, Millionen! ) US-Dollar in einen multilateralen Investitionsfonds einzahlen, zu dem die europäischen Staaten noch das Doppelte beitragen sollen. Diese Summe entspricht einem Viertel eines Promille der lateinamerikanischen Auslandsschuld, oder anders: Sie entspricht der Summe, die in den letzten Jahren jeweils alle drei Tage netto aus Brasilien an die ausländischen Gläubiger geflossen ist. Das Imperium ist wahrlich bescheiden geworden.
Die gastgebenden Präsidenten gebärdeten sich wie Musterschüler. Argentiniens Menem konnte sogar mit einem zur rechten Zeit in Szene gesetzten und siegreich überstandenen Putschversuch rechtsradikaler Militärs sein Image als Vorkämpfer der Demokratie polieren, was alle Pläne für eine Demonstration der linken Opposition gegen den Bush-Besuch über den Haufen warf.
Der Chef der angeschlagenen Weltmacht konnte sich auf seiner ganzen Reise, sehen wir von ein paar Bombendetonationen in Buenos Aires und Santiago ab, über den freundlichen Empfang freuen, obwohl mindestens der eine Teil seiner frohen Botschaft, nämlich das neoliberale Programm für Privatisierung und ungehemmte Marktwirtschaft, in Brasilien und Uruguay, in Argentinien und Venezuela die schwere Krise der achtziger Jahre nicht behoben, sondern im Gegenteil noch verschärft hat. Einzig in Chile funktioniert die Marktwirtschaft, wenn auch nicht sozial und ökologisch orientiert, wie das heute gefordert wird, und schon gar nicht im Dienste der Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn sie funktioniert, dann ist das nicht das Ergebnis der Demokratie, die immer als Zwillingsschwester der Marktwirtschaft erscheint, sondern Resultat einer langjährigen und brutalen Militärdiktatur. Der Ex-Diktator General Pinochet, heute noch immer Oberbefehlshaber des Heeres in Chile, ließ es sich denn auch nicht nehmen, zur Begrüßung des Präsidenten der USA persönlich zu erscheinen und auf seine Verdienste für die Freiheit des Kapitals hinzuweisen.
Was George Bush, dem Propheten von Demokratie und Marktwirtschaft, einzig zu seinem Glück noch fehlt, benannte er auf der letzten Station seiner Reise in Caracas: Kuba, “der einzige und einsame Winkel des Totalitarismus auf dem amerikanischen Kontinent”, werde sich bald seines kommunistischen Regimes entledigen ( und damit wieder den reichen US-Amerikanern als Ferienparadies und Spielhölle zur Verfügung stehen ). Mag sein, daß er Recht behält und der Wind in diese Richtung bläst, zumal eine große Bewegung zugunsten sozialer Reformen wie vor 30 Jahren von Kuba nicht mehr ausgeht. Der Glaube aber, daß die Massen der Bevölkerung in Lateinamerika nun für immer beschlossen hätten, auf Ettikettenschwindler wie Menem in Argentinien hereinzufallen und die Mittel der Demokratie nur für die Wahl einer unterentwickelten Marktwirtschaft einzusetzen, wäre mindestens so naiv wie der Glaube an die Naturgesetzlichkeit der Weltrevolution.
Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Die Geschichte ist noch nicht am Ende.

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