Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

“Brudervölker” im Krieg

Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeich­nung einer Friedenserklärung in der brasi­lianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen dar­auf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegen­über in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewalde­ten Bergen, aber viel mehr mit innenpoli­tischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der pe­ruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Haupt­stadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseiti­gen Vorteil ihre wirtschaftlichen Bezie­hungen ausbauen. Sollte nun ein Grenz­konflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenz­verlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelan­ger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinanderset­zungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Insze­nierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpoli­tischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeich­nung des damals von beiden Seiten aner­kannten Protokolls, in dem der Grenzver­lauf festgelegt wurde. Brasilien, Argenti­nien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines ama­zonischen Tieflands sowie die Stadt Tum­bes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Re­gion. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Bra­silianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem be­stand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasser­scheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuato­rianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador be­trachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kon­trolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt be­steht. Der Vertrag sei eindeutig, völker­rechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Con­dor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurch­führbar ist” und darüber hinaus das ge­samte nördliche Amazonasgebiet des heu­tigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territo­rium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Ama­zonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf ei­genem Territorium zu sein, und beide be­trachten die jeweils gegnerischen Pa­trouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn ha­ben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Ter­ritorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öf­fentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die ver­breitete Meinung, hatte aus innenpoliti­schen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobi­lisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vor­sprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduk­tiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabi­lisierung ist es der gerade wiedergewon­nene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwi­schen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzu­bauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht ver­wundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivi­tät für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecua­dor. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet ziel­gerichtet an seinem Projekt eines kapitali­stisch-modernen, von einem starken Prä­sidenten namens Fujimori regierten Lan­des. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das an­gesichts eines auch ohne Krieg fast siche­ren Wahlsiegs. Fujimori müßte von sei­nem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori in­szenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option di­plomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler be­gangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwie­rigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecua­dor. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als po­pulär. Wirtschaftliche Probleme und Kor­ruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im No­vember ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Kon­fliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Re­gierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flam­mende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der pe­ruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatoriani­schen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer perua­nisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkom­men doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zu­rückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitlei­denswerter Ecuador in der Rolle des Op­fers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz aus­gerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig be­trachtet. Dazu kam die dramatische War­nung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärre­gimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht po­sitiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze ge­kommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt dies­mal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador ge­gen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Ab­schnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täg­lich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Ein­dringen ecuatorianischer Truppen in pe­ruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegun­gen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstill­stand und die Bekundung von Friedensab­sichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.

Patriotische Parolen als Allheilmittel?

“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergange­nen Jahr durch Korruptionsaffären in sei­ner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der so­zialen Konsequenzen seiner Modernisie­rungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wie­der in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs ei­ner harten Strukturanpassung, die im ver­gangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Pro­zent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungs­re­ser­ven. Sie wurden aber ange­sichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig ge­wür­digt. Neben der für 1995 ange­setz­ten Privatisierung der EMETEL, dem Be­reich der Telekommu­nikation, sorgten be­son­ders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petro­e­cua­dor für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Ange­stellten ein Zwangsbeitrag ein und finan­zierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Insti­tution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisie­rung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstra­tionen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kund­zutun, gibt es doch sonst kaum Instru­mente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten ver­schiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verab­schiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrskno­tenpunkte des Landes und legten den ge­samten Verkehr lahm. Die Regierung ver­tritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend ver­laufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindäm­mung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Mei­nungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein kön­nen: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsände­rungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines er­stellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeiste­rung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektri­zität, dem Energiesektor und der Tele­kommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Ver­änderung bestehender Gewerkschafts­strukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Ver­besserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzent­wurf, der Religionsunterricht als Pflicht­fach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grund­sätzliche Diskussion über das Bildungssy­stem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verur­teilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufrieden­heit mit bestehenden Bildungseinrichtun­gen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstun­den “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu aus­gebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und einge­stellt werden müßten, um diesem An­spruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert re­ligiöse Gruppierungen neben dem Katho­lizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universi­täten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultä­ten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öf­fentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhö­hung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schritt­weise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der ge­staffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich un­mittelbar auf die allgemeinen Lebenshal­tungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januar­woche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßen­schlach­ten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Wo­che umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechen­schaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Un­tersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr viel­fach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit ge­gen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar an­kündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril an­zugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private In­vestoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrek­kensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esme­raldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nörd­lich von Quito – im Gebiet des heftig dis­kutierten neuen Flughafens – am 13. Ja­nuar von einem mittleren Erdbeben heim­gesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Kata­strophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsi­denten – insbesondere die Pläne zur Ver­staatlichung der Ölgesellschaft Petroecua­dor – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Ab­schnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kon­trollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsitua­tion zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Mono­pol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Re­alität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Ge­rüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Trup­penbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offi­zielle Version berichtete von einer vier­köpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatoriani­schem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehen­den Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Vertei­digungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatoriani­schen Präsidenten Sixto Durán Ballén di­rekt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischen­fall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuato­ri­anisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein trau­matischer Augenblick für das ecuatoriani­sche Nationalbewußtsein. In Geschichts­büchern unter der Bezeichnung “Das ter­ritoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Fru­stration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit un­gültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weite­ren Scheibchen vom ecuatorianischen Ge­biet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöf­fentlichkeit insgesamt, die das 1942 unter­zeichnete Protokoll als rechtskräftig aner­kennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors unter­einander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichts­schreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlo­renen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festge­legte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrit­tenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung ver­wehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdek­kung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuato­rianische Geschichtsschreibung einen zu­sätzlichen Anspruch auf den Amazonas­zugang ab: “Den Titel des ersten Entdek­kers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß die­ses Thema jedoch nichts an seiner Aktua­lität verloren hat, war bereits vor Aus­bruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signali­sierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema an­zugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kon­troverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließ­lich ganz vom Tisch war. Besonders sei­tens des Militärs und allen voran bei Ver­teidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecua­dors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Ver­fassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Drauf­gänger. Das von der Opposition gezeich­nete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mit­be­kommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestä­tigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so bri­santen Thema des Grenz­konflikts in der Öffentlichkeit als Ver­lierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlen­ken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zu­spruch an­de­rer Staaten zu bekom­men scheint genauso un­wahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außer­dem hätte es wahrhaf­tig bessere Zeit­punkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg aus­gelaugten Nach­barn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizule­gen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsbe­rechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des un­schuldigen Opfers innenpolitischer Span­nungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenz­strei­tigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fah­nen wurden geschwenkt, Bilder von Mäd­chen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegen­stimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfri­stig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilia­nischen Hauptstadt Brasilia unterzeichne­ten beiderseitigen Friedenserklärung schie­nen die konkreten Auseinanderset­zungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Be­schuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstill­standserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasi­lien, Chile und die USA, unter deren Mit­wirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwir­ken sollte. Die Organisation Amerikani­scher Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation er­zeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.

Die Drogenhändler müssen sich totlachen

Nach einer Reihe von Treffen mit ho­hen Funktionären des State Department in Washington schloß Justizminister Néstor Humberto Martínez Neira daß “die Stati­stiken, die wir hier in Washington vorge­legt haben, zeigen, daß leider im Gegen­satz zu dem, was in Peru und Bolivien ge­schieht, in Kolumbien der (Koka-) Anbau weiter im Wachsen begriffen ist”. Hiermit war klar, daß die kolumbianische Regie­rung auch in diesem Jahr nicht ohne Wei­teres ihr Wohlverhalten von der US-Re­gierung bescheinigt bekommen würde.
Bereits 1993 hatte es nicht gut ausgese­hen für besagte Wohlverhaltensbescheini­gung durch die USA, aber, so die kolum­bianische Zeitung El Espectador, “wie immer am Ende des Jahres strengte sich der gute Schüler an, und… lieferte den to­ten “Kopf” des Medellín-Kartells Pablo Emilio Escobar Gaviria”. Daraufhin be­kam die Regierung Gaviria zuletzt doch die volle Bestätigung seitens der USA und bleibt dadurch in dem Genuß finanzieller Hilfen durch die US-Regierung, die Welt­bank und den internationalen Währungs­fonds.
In diesem Jahr jedoch konnte die neue Regierung unter Samper bislang keinen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Drogenproduktion in Kolumbien vor­weisen, und so mehrten sich die Stimmen in den USA, die neben der Verweigerung der Wohlverhaltensbescheinigung auch drastische Sanktionen forderten.
Der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien, Myles Frechette, äußerte, “daß sein Land Schwierigkeiten habe, Kolumbien die volle Mitarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel zu bescheini­gen”. Währenddessen ging der ehemalige “Antidrogenzar” William Bennet weiter: “Solange die Regierung (Samper) keine wirklichen Anstrengungen im Kampf ge­gen den Drogenhandel unternimmt, müs­sen wir sowohl den Import kolumbiani­schen Kaffees, wie auch aller anderen Produkte aus diesem Land verbieten”.
Die Reaktionen der kolumbianischen Presse waren dementsprechend heftig. Eine Bogotaer Zeitung forderte, den Bot­schafter zur persona non grata zu erklä­ren. Die Krise, die in dieser Auseinander­setzung zutage trat, hat freilich tiefere Wurzeln.
Die Wohlverhaltensklausel
Bereits seit 1961 existiert in den USA ein Gesetz, das zur Bekämpfung des Han­dels und der Produktion illegaler Drogen die Befugnisse der Exekutive erweitern soll. 1986, als in der Ära Reagan die Ko­kainproduktion vor allem in Kolumbien ihre größte Blüte erreichte, verabschiedete der US-amerikanische Kongress ein Ge­setz, das es dem Präsidenten gestattete, eine Länderliste der bedeutendsten Drogenproduzenten und -transporteure zu erstellen und nach eigenem Ermessen de­ren Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenhandels einzustufen. Für ein Land, das sich voll der Bekämpfung des Dro­genhandels verschreibt und die US-ameri­kanischen Auflagen erfüllt, fließen militä­rische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe ungehindert weiter. Vor allem aber werden weiterhin intensive logistische und finanzielle Hilfen für die Drogenbekämp­fung zur Verfügung gestellt.
Wird ein Land allerdings nicht als be­dingungslos kooperativ eingestuft, ist die Exekutive berechtigt, die nicht-humanitäre Hilfe an dieses Land solange auszusetzen, bis sich dessen Regierung dem Kampf ge­gen die Drogenwirtschaft anschließt. Gleichzeitig verpflichtet ein negatives Votum die Regierung bei den internatio­nalen Finanzinstitutionen ein Veto gegen Kredite an das in Ungnade gefallene Land einzulegen.
Der kolumbianische Fall
Das strategisch wichtigste Land für Drogenhändler, und -produzenten auf dem amerikanischen Kontinent ist mit Sicher­heit Kolumbien. Fast die gesamte Kokain­produktion und Distribution läuft in Ko­lumbien ab; dort befinden sich fast sämtli­che Labore, in denen mithilfe von Chemi­kalien wie Äther und Aceton die Droge Kokain aus der – zum großen Teil aus Peru und Bolivien importierten Kokapaste raffiniert wird. Allgemein wird der Anteil allein des sogenannten Cali-Kartells an sämtlichem in den USA konsumierten Kokain auf etwa 80 Prozent geschätzt. In den letzten Jahren haben sich die Anbau­flächen für Koka, sowie von Schlafmohn, dem wichtigsten Rohstoff zur Herstellung von Heroin, vor allem in Kolumbien ra­sant vergrößert. Es ist davon auszugehen, daß die Einnahmen aus Drogengeschäften teilweise für die niedrige Inflationsrate in den letzten zehn Jahren mitverantwortlich sind, da der starke Zustrom von Dollars aus Drogengeschäften dessen Wert ge­genüber dem Peso drückt.
Im Gegensatz zu dem Kartell von Me­dellín, dessen Mitglieder nie die Integra­tion in die gesellschaftliche Elite des Lan­des erlangt haben, ist das Kartell von Cali bis hinein in die Regierung mit dieser ver­flochten und somit weitaus schwerer an­zugreifen. Gerüchte sprechen auch davon, daß ein Teil der Präsidentschaftskampa­gne des jetztigen Präsidenten Samper mit Geldern des Cali-Kartells finanziert wurde (vgl. LN 241/242). Gerade in diesen Tagen brachte die kolumbianische Zeit­schrift Cambio 16 eine Liste zutage, auf der eine Reihe von Namen auftauchen, die in Sampers Wahlkampf wichtige Positio­nen einnahmen und angeblich auf der “Gehaltsliste” von Gilberto Rodríguez Orejuela, dem mutmaßlichen Kopf des Kartells standen.
Clinton und die Republikaner über­zeugen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß man in den Vereinigten Staaten den Be­mühungen der Regierung Samper bei der Vernichtung von Anbauflächen und der Bekämpfung des Kartells von Cali mit ei­nem gewissen Mißtrauen begegnet. Zumal die Clinton-Administration der Ansicht ist, daß Samper seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann.
In Kolumbien sieht man das freilich anders. Aber da die Regierung nicht auf die Hilfen aus den USA und den interna­tionalen Institutionen verzichten will, flo­gen in der vergangenen Woche der kolumbianische Botschafter in den USA, Carlos Lleras de la Fuente, Verteidi­gungsminister Fernando Botero Zea und der Außenminister Rodrigo Pardo García Pena (der den Platz des unter Korrupti­onsvorwürfen ausgeschiedenen General­staatsanwalts Gustavo de Greiff einnahm) in die USA, um dort mit verschiedenen Mitgliedern des Kongresses zusammen­zutreffen. Ihre Aufgabe war in den letzten Tagen eine positive Stimmung für Ko­lumbien zu hinterlassen, bevor Bill Clin­ton dem Senat die Untersuchungen und Einschätzungen zur Abstimmung über die Wohlverhaltensbescheinigung für das süd­a­merikanische Land unterbreitet. Keine ein­fache Aufgabe angesichts der Tatsache, daß seit den letzten Wahlen der Kongreß von den Republikanern be­herrscht wird. Auch Clinton mußte sich bereits den neu­en Machtverhältnissen beugen und eine här­tere politische Gangart einschlagen, um sich nicht vor­zeitig die Chancen auf eine Wiederwahl in zwei Jahren zu verbauen.
Auch aus diesem Grunde hat Bill Clin­ton nun die Flucht nach vorn angetreten und nach zwei Jahren verminderter Inten­sität im Drogenkrieg nun, wie bereits seine republikanischen Vorgänger Reagan und Bush, den Kampf gegen den Drogen­handel zur obersten Priorität erklärt. Auf 14,6 Milliarden US-Dollar will der ame­rikanische Präsident nun die Mittel zur Drogenbekämpfung aufstocken, was ei­nem Anstieg von fast 10 Prozent ent­spricht. Davon sollen etwa 64 Prozent (9,3 Milliarden US$)in die Bekämpfung von Anbau und Transport im Ausland aufge­wendet werden, während 34 Prozent (4,9 Milliarden US$) in die Prävention und den Drogenentzug fließen sollen. Da der damals demokratisch dominierte Kongress be­reits im letzten Jahr die vorgeschlage­nen Aufwendungen für Prävention und Be­handlung zusammenstrich, ist aller­dings die Frage, ob Clinton sich bei den Re­publikanern mit seinem Vorschlag durch­setzen kann.
Die Tendenz jedoch wird klar bei der Betrachtung des neuen Vorstoßes von Clinton, mit dem er seinen politischen Feinden, wie dem republikanischen Sena­tor Jesse Helms, den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht. Und ver­ständlich wird so auch, daß die kolumbia­nische Re­gierung nach beendeter Mission in den USA viel ruhiger ist: nach Ein­schät­zung des kolumbianischen Botschaf­ters Carlos Lle­ras de la Fuente ist die Wahr­schein­lichkeit einer negativen Beur­tei­lung durch die US-amerikanische Re­gie­rung nur gleich 5 Prozent, während er mit 75prozentiger Sicherheit von zu­min­dest einer bedingt positiven Einschät­zung (im nationalen Interesse der USA) aus­geht. Zu diesem Ergebnis kam der Di­plo­mat, nachdem die jeweiligen “Gesprächs­partner auf die von Außenmi­nister Rodri­go Pardo vorgelegten Fakten in Sachen Ver­nich­tung von Anbauflächen durchweg positiv reagiert hätten”. Die Ankündigung Sampers, im Falle einer nur bedingten Approbation durch die USA zu prüfen, ob man die Hilfen der USA über­haupt annehmen will, darf aber lediglich als eine starke Geste verstanden werden, mit der Samper versuchen will, in der ko­lum­bianischen Öffentlichkeit nicht als Hand­langer der US-Amerikaner dazuste­hen.
Für dieses Jahr scheint die Krise be­wältigt, wenngleich sich dies letztendlich erst nach dem 1. März entscheidet, wenn Clinton dem Kongreß seine Fakten auf den Tisch legt. Aber es kann mit Sicher­heit davon ausgegangen werden, daß sich die USA in den kommenden Jahren bei steigendem Koka-Anbau in Kolumbien nicht mit einer PR-Veranstaltung der ko­lumbianischen Regierung zufriedenstellen lassen werden. Der Druck, den die Repu­blikaner auf Clinton ausüben, wird sich in den nächsten Jahren mit einer ständigen Verschärfung der US-amerikanischen An­ti­drogenpolitik bemerkbar machen. Die Dro­genbarone aus Cali, die sich in diesem Jahr nach den Worten von Vizepräsident Humberto de la Calle angesichts des pein­lichen Verlaufs der Debatte in Kolumbien noch “totlachen müssen”, werden sich in den nächsten Jahren zunehmend leiser gebärden.

Programm der Superreichen

Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wa­chsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vor­herrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Super­macht hat sich Herrschaftsgebiete ge­schaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahr­zehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vie­len Produktgebieten verloren, zum Bei­spiel im Automobil- und Elektro­nik­be­reich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deu­tsch­land.
Der Rückzug der US-Truppen aus Eu­ropa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bünd­nisse den US-amerikanischen Politi­kern nicht länger als “wirt­schaftspolitischer” Hebel dient. Dro­hende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-ameri­kanische Exporteure und Impor­teure als auch die US-KosumentInnen ins­besondere der nie­drigen Einkom­mens­schichten treffen kön­nen. Der kon­genialste und am besten mit histo­rischen US-Strategien (Monroe-Dok­trin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Inner­halb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patentein­künfte aus Lateiname­rika herausziehen. Von diesem Stand­punkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strate­gische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die ne­gativen Trans­fers hinsichtlich anderer Regi­onen zu kompensieren. Die Handels­bilanz­überschüsse mit den latein­amerikani­schen Ländern dienen zur Kompensa­tion der negativen Handels­bilanzen bezüglich Asiens und Westeuro­pas. Die kostengünstige Pro­duk­tion in La­teinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikani­schen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbe­werbern zu konkur­rieren.
In diesem Zusammenhang war die Li­beralisierung in Lateinamerika not­wendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zu­gang zu Märkten und Ein­künften zu lie­fern und somit wettbe­werbsfähig zu blei­ben. In diesem Sinne ist die Liberalisie­rung eng mit den glo­balen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Po­litik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und konti­nentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-ame­rikanische Of­fizielle verfolgt: Lateiname­rikanische Diktatoren, die die Liberalisie­rung för­derten, wurden finanziert und unter­stützt, ein Übergang zu demokrati­schen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Li­beralisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerika­nischen globalen Politikstrate­gie: Inso­weit, als Liberalisierung funk­tioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Trans­nationalen Konzerne (TNC) und Ban­ken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikani­sche Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Be­rück­sichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Ver­handlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) ba­siert auf der Tatsache, daß die Ein­künfte aus Pa­tenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 belie­fen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Be­trug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurch­schnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Mil­lionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahres­durchschnitt 189,8 Millionen US-Dol­lar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Pa­tent- und Lizenzeinkünfte ziehen Ein­kom­men ab, ohne daß Wertschöpfung statt­findet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Inve­stitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen ver­gleichen. Zwischen 1961 und 1971 betru­gen die gesamten Pa­tent- und Lizenzein­künfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvesti­tionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzein­künften zu den Gewinnen aus Direk­tinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Di­rektinvestitionen in Lateiname­rika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Li­zenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direk­tinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikani­schen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zu­rück. Dies war die Boomphase der latein­amerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerika­nischen Gesellschaften von der er­sten Liberalisierungswelle und dem star­ken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinameri­kanischen Marktes. Die Konsumaus­gaben gingen zu­rück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kana­lisierung der Ressourcen in devisener­zeugende Sektoren, um den Schulden­dienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Bezie­hung zwischen Zinszahlungen und Ge­winn­rück­füh­­rungen: Sofern die Banken große Sum­men an Zins- und Til­gungszahlungen her­aus­ziehen, fallen die Profite aus den produktiven Inve­stitionen. Nichts­desto­trotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen He­bel, um die Privati­sierung von öffentli­chen Unternehmen zu puschen. Viele die­ser Firmen wurden von US-amerikani­schen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirt­schaft­liche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-ameri­kanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zu­rücktransferiert. Gegen­über den schlech­ten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Ver­besserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hat­ten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell nega­tive Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersu­chungszeitraum die Hauptquelle bei Pri­vaterträgen aus überseeischen Wirt­schaftsaktivitäten. Die wachsende Libera­lisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren pri­vater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schul­denlasten in Lateiname­rika. Spiralen­förmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zah­lungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-ame­ri­kanischen Handelsdefizit gegen­über Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateiname­rika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortge­schrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zins­zahlungen von Latein­amerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transfe­riert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negati­ven Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Export­nachfrage des Subkon­tinents. Hinge­gen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die De­fizite gegenüber Japan und Deutsch­land zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge stei­gender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Pro­duktivvermögen. Liberale Wirt­schafts­politik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentver­trägen erleichterte. Pri­vatisierung ermög­lichte den Ausverkauf öffentlicher Unter­nehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zei­gen ein insgesamt spektakuläres An­steigen im Zuge der Vertiefung der Li­beralisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlun­gen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnah­men zum Kernstück der US-Politik wur­den und dies ist ein Grund, warum US-Poli­tikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militär­putsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikani­schen Handelsüberschuß gegenüber La­tein­amerika untersuchen, fügen wir eine an­dere Dimension der asymetri­schen Bezie­hungen zwischen den USA und Latein­amerika hinzu. Eine Dimen­sion, die für die Unterstützung von “Freihandels­abkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechzi­ger Jahren bis zum Beginn der Schul­denkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substan­tiellen Handels­überschuß gegenüber La­teinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Mil­lionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschla­gen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durch­schnittliche jährli­che Defizit in der Pe­riode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der öko­nomischen Er­holung in Lateinamerika be­gannen die USA erneut einen Handels­bilanzüber­schuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliar­den US-Dollar. Der Handels­überschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen san­ken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Im­porte infolge der lateinamerikanischen “Export­strategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Ein­kommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu ge­währleisten. Nichts­destotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpas­sungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateiname­rikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorange­gangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Kon­sequenzen der vertieften Liberali­sierung ein Ansteigen des US-ameri­kanischen Handelsüberschusses über seine histori­schen Höchstmarken ist. Während einer­seits die Schuldenkrise und die Struktu­ranpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateiname­rika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 ver­gleichen, sehen wir, daß die vorteil­haften Bilanzen gegenüber Lateiname­rika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Latein­amerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirt­schaft­lichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber La­teinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegen­über Ja­pan und deckt kaum das Defi­zit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-ame­rikanischen Einkommens aus Latein­amerika addieren (Rente, Handelsge­winn, Unternehmensprofit) und mit den Han­delsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verste­hen wir die strategische Bedeutung Lateinameri­kas für die US-amerikani­sche Gobalpoli­tik. Lateinamerikas Bei­trag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamt­einkünfte aus Handel, Investitionen, Dar­lehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rück­fluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliar­den US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Han­delsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateiname­rika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Ein­kommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärti­gen Jahr­zehnt fortzusetzen. Die Liberali­sierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich ver­schlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthan­delspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung La­teinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politik­maßnahmen zu einer tiefen Po­larisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften ge­führt und eine neue Klasse von super­reichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungs­prozesses: 1987 gab es in Lateiname­rika weniger als sechs Milliar­däre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die mei­sten der Superreichen waren vor der Libe­ralisierung Millionäre. Sie wurden Mil­liardäre durch den Ausverkauf der öf­fentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem aus­gedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlpro­zesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Con­certación, und in Argentinien, Vene­zuela und Kolumbien durch die tradi­tionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minen­konzessionen, Telekommunikationssy­steme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohl­stands auf eine kleine Gruppe von Fami­lien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Oberge­schoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung pro­fitiert – zu Lasten der Bevölkerungs­mehrheit – sondern wa­ren dank ihrer Verbindungen zu den libe­ralen Regierungen die größten Unterstüt­zer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermö­genskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Pro­dukt der “neoliberalen Konterrevolu­tion.” Im Zeit­raum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie er­faßt die Verflechtungen zwischen den super­reichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzie­rungsabkommen mitein­ander verbun­den. Die Integration der Su­perreichen in den Weltmarkt und ihre Fä­higkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu re­gulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subven­tioniert, ist zur auffälligsten Erschei­nung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Su­perreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neo­liberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliar­däre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Pro­fiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesund­heits- und Bildungswesen liegt in der Umver­teilung der öffentlichen Res­sourcen zum Privatsektor und inner­halb des Privatsek­tors zu den sehr Reichen. “Neo­liberalismus” ist in sei­ner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transfe­riert. Die Armen werden dem Überlebens­kampf überlassen: Mit marginalen Kleinst­un­ternehmen, mit informeller Be­schäfti­gung und mit Almosen aus Pro­jekten, die von Nicht-Regierungs-Orga­nisa­tionen gesponsert werden, versu­chen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgear­beitet wurde, um Lateinameri­kas Inte­gration in den Weltmarkt zu erleich­tern. Noch ist sie ein unvermeidli­ches Produkt eines immanenten “Glob­alisierungsprozesses”. Eher ist Libe­ra­lisierung ein Produkt von US-amerika­nischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesell­schaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Ka­pitalisten verbunden sind. Es sind spe­zifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie dik­tieren. In die­sem Sinne muß die Um­kehrung der Liberalisierung auf der natio­nalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?

Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzuge­hen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppel­züngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppun­gen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies be­deutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ih­rer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiter­hin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschen­rechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten dar­über informierte, daß sie sich weigern dür­fen, Befehle zu verfolgen, die die Men­schenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein stän­diges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty internatio­nal, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisa­tionen und der Besuch von UNO-Sonder­berichterstattern Anfang Oktober in Ko­lumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der interna­tionalen Öffentlichkeit wächst das Be­wußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhält­nisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräf­ten, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäi­sche Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der ko­lumbianischen Regierung, die sich in An­wesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Men­schenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper ange­kündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position sei­nes liberalen Parteifreundes und Amtsvor­gängers Gaviria ab, der nach dem Schei­tern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Gue­rillera Simón Bolívar” zusammenge­schlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ih­rer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regie­rung Samper lehnte ein direktes Dia­logangebot der FARC jedoch mit dem Ar­gument ab, die Guerilla müsse klare Be­weise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaff­neten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse al­lerdings langsam und schrittweise vorge­hen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Mi­litär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesell­schaftliche Druck nicht nur die Kriegs­parteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ur­sachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerk­schaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeit­plan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.

“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”

LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi­schen Militärs und Guerilla gehen unver­mindert weiter. Stehen die Friedensbe­mühungen vor einem erneu­ten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, begin­nen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung ge­geben hatte. Im Gegenteil hatte die Regie­rung Gaviria nach dem Scheitern der Ver­handlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und mi­litärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhand­lungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinanderset­zungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestre­ben der Regierung, der Gewalt und den Ver­letzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Bei­spiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dy­namischere, entschiedenere Hal­tung als die vorhergehende. So hat sie bei­spielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Re­gierung und den Menschenrechtsorgani­sationen, damit diese im Senat eine kla­rere Position bezöge. Die Regierung di­stanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mitt­lerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versu­chen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger ge­worden. Neue repräsentative Um­fragen haben ergeben, daß trotz einiger Gue­rillaaktionen, die öffentliche Ableh­nung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Ver­handlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstüt­zung haben wie zu anderen Zeiten. Offen­bar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche be­ginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem be­stimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zu­nahme der Aktivitäten von Todesschwa­dronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kom­munistische Parlamentsabgeordnete, er­mordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitä­ten ist wohl die bevorzugte Form der Mi­litärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathi­santen der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an ei­nigen Gewerkschaftsführern in Antio­quia oder Todesdrohungen gegenüber po­litischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit re­gierungskritischen Positionen an den Dis­kussionen beteiligen wollen. Das ist wahr­scheinlich der schwierigste Faktor bei zu­künftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpe­dieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argu­menten wurde schon die ehemalige Gue­rilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgeben­den Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht er­pressen lassen, sondern muß die Regie­rung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Para­militärs als ihre Verantwortlichkeit anzu­erkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwah­len im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blie­ben allerdings intakt. Poli­tisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Ein­fluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahr­zehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wis­sen, daß sie ohne bestimmte Überein­künfte mit ihr nicht re­gieren können. Dies wurde von der Rech­ten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen aner­kennen, daß die Gue­rilla keine Kriminel­lenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewe­gungen, die Gewerkschaften und die lin­ken Parteien in der Lage, den erforderli­chen Druck auf die Regierung aus­zuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es ge­genwärtig in der Gesellschaft ein eindeu­tiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla ver­langten, haben heute die realistische Ein­schätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Ge­sellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Par­teien, die Menschenrechtsgruppen, Intel­lektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Ab­wesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position voll­ständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedin­gungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Ei­nige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozes­sen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesell­schaftlichen Gruppen bei den Friedensge­sprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoli­berale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausga­ben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar dar­über im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Be­wegungen und die Guerilla müssen ver­stehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirt­schaftlichen und sozialen Bereich geschaf­fen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungs­schichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimi­stisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen Vertrete­rInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf kei­nen Fall ausgeschlossen werden. Um un­nötige Ri­siken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Be­wegungen von der Regierung konkrete Si­cherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien poli­tischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusam­menarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtig­keit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu ak­zeptieren. Eine internationale Kontroll­kommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde aller­dings noch keine vollen Sicherheitsgaran­tien gewährleisten. Auch in diesem Be­reich muß man Schritt für Schritt vorge­hen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr prä­zise Antwort. In der Zeit, als das Medel­lín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Dro­genkartell und der Aufstandsbekämp­fungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und parami­litärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhan­del zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Ca­stano versuchen werden, sich in die Ver­handlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß inte­griert werden. Die Regierung hat ange­kündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräf­ten in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Ver­gangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist ge­schwächt, das Cali-Kartell ist an Ver­handlungen in­teressiert, weil sie wissen, daß sich in Zu­kunft der Druck auf sie er­höhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbiani­schen Regierung oder der US-amerikani­schen Drogenbekämpfungs­behörde DEA, da diese sich auf das Me­dellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zu­sammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medel­lín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlun­gen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsor­ganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechts­gruppen sind der Meinung, daß eine Le­galisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist aller­dings nicht akzeptabel, daß die Menschen­rechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbe­kämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu ak­zeptieren, daß die Strafe für diese Verbre­chen zwischen ihnen, der Staatsanwalt­schaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Tele­fongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft ver­urteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfah­ren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisie­ren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhan­dels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Ge­schäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Dro­genhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einher­geht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt aller­dings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkrimi­nalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschen­rechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstüt­zung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internatio­nalen Kampagne von “amnesty internatio­nal” und der Vorlage des Berichtes der Intera­merikanischen Menschenrechts­kommission, befindet sich die kolumbia­nische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unter­nimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschen­rechte im Verteidigungsministerium ein­richtet.
Wir erwarten von der internationalen Ge­meinschaft, daß sie anfängt, die kolum­bianische Regierung nicht mehr als ohn­mächtiges Opfer, sondern als Verantwort­liche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsver­letzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die interna­tionale Gemeinschaft sich mit der Situa­tion in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien er­nannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regie­rung enorme Angst, durch ihre Verletzun­gen der Menschenrechte einige ökonomi­sche Vorzugsbedingungen im Exportbe­reich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäi­schen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Re­gierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öf­fentlichkeit ausgeht, ist daher von ent­scheidender Bedeutung.

Die optimistischen Pessimisten

Von der Leistung der Schauspieler über die Kreativität bei der Inszenierung bis zu den Inhalten war das Stück von der ersten bis zur letzten Minute überzeugend. “En la Raya” ist in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von “El Paso”, dem Stück, das die Truppe bereits 1988 so erfolgreich in Deutschland aufgeführt hat. Der Inhalt von “En la Raya ist schnell erzählt: Dar­gestellt wird eine Gruppe sogenannter de­sechables (Wegwerfbare) – oder ñeros, wie sich die Obdachlosen in Kolumbien selbst nennen. Im Rahmen eines Resozia­lisierungsprogrammes, wie sie zur Zeit in Bogotá wirklich durchgeführt werden, sollen die desechables eine Theaterversion der “Chronik eines angekündigten Todes” von García Márquez aufführen. das Geld dafür kommt aus Europa, der Regisseur aus Deutschland wird jeden Augenblick erwartet. In dieser Situation versucht ein etwas hilflos wirkender Regieassistent mit seinem wild zusammengewürfelten Hau­fen, einzelne Szenen des Stückes einzu­studieren. Es gelingt jedoch nicht eine einzige der Proben. Wegen ihrer geistigen und körperlichen Defekte, die ihnen ihr Außenseiterleben beibrachte, sind die ñe­ros nicht in der Lage, das Stück einzustu­dieren. Immer wieder kommt es zu Kon­flikten, sei es aus Geltungsdrang oder aus Eifersucht. Nach jedem gescheiterten Ver­such scheint die Gruppe aufgeben zu wollen, und immer wieder rauft sie sich zusammen in Erwartung des Regisseurs, der aber nie auftaucht.
Mit jeder gescheiterten Probe erhöhen sich die Spannungen in der Gruppe, und folgerichtig kommt es irgendwann zum Bruch. Mit den symbolträchtigen Worten “al fin y al cabo la calle es lo mío” (letztendlich gehört mir die Straße) verläßt eine ñera das improvisierte Theater.
Sie ist noch nicht lange fort, da holt die Gewalt auch die anderen aus ihrem Traum in die Realität zurück: Die Nachbarschaft, die sich nicht mit der Anwesenheit dieser störenden und “gefährlichen” Elemente abfindet, schickt den ñeros eine Bande gedungener Schläger auf den Hals. Am Ende – wieder in Einzelsubjekte zerfallen – kehrt die Gruppe völlig zerschunden auf die Straßen der großen Stadt zurück.
Bogotá ist nicht Hol­lywood.
Nun ist es sicher nicht das erste Mal, daß sich jemand des Themas der Obdachlo­sigkeit annimmt. In diesem “Theater im Theater” aber wagt sich die kolumbiani­sche Gruppe an eine Art Grenzbereich heran, wie der Name des Stückes bereits andeutet. “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, und dieser Titel sagt be­reits alles: auf der Kippe steht nicht nur das Projekt von der ersten bis zur letzten Minute. Auf der Kippe steht eigentlich alles bis hin zur Existenz eines jeden der Mitwirkenden.
Bei einer Veranstaltung am Lateiname­rika-Institut der FU Berlin äußerten sich Regisseur Santiago García und seine Theatertruppe zu dieser Inszenierung.
Das Stück, so der Regisseur, sei für ihn nur ein “Vorwand, die Realität in Kolum­bien sichtbar zu machen”. Wie Cervantes mit seinem Don Quijote ein Bild Spaniens gezeichnet habe, habe auch er anhand eines “extremen Einzelbeispieles eine Ge­samtvision” geben wollen, wie sie wohl für die meisten lateinamerikanischen Großstädte zutreffen würde. “La Candela­ria”, deren Name von einem Stadtteil Bo­gotás kommt, sehen sich selbst als Ver­mittler zwischen Gesellschaft und Institu­tionen. Die desechables, dieser “menschliche Abfall”, habe keinerlei Zu­gang zu den Medien, dabei zählten sie immerhin 25.000 allein in Bogotá, seien also ein beträchtlicher Teil kolumbiani­scher Wirklichkeit.
Parallel zu den Proben haben die Darstel­ler des Stückes in einem Projekt zur Wie­dereingliederung von ñeros in die Gesell­schaft gearbeitet und hatten so Gelegen­heit, diese “Welt der Hoffnungen und Fru­strationen, in der der Tod allgegenwärtig ist”, kennenzulernen. Diese Arbeit mit wirklichen Obdachlosen erklärt die her­vorragenden schauspielerischen Leistun­gen, mit denen sogar der Regisseur selbst auf der Bühne überzeugt.
Es mag vielleicht nicht gerade zwingend erscheinen, sich für die Realisierung eines solchen Themas ausgerechnet der “Chronik eines angekündigten Todes” vom Superstar García Márquez zu bedie­nen. Der Regisseur erklärte hierzu, er habe dies wegen García Márquez’ Fähigkeit getan, einerseits eine mythische Welt zu zeichnen, dies aber auf der anderen Seite mit den Mitteln einer Reportage zu tun. Der krimiartigen Struktur der “Chronik” habe die Gruppe dann versucht, eine Art “Anti-Krimi” gegenüberzustellen, eine Anti-Chronik.
Eine “Reihe seltsamer Zufälle” (Schwierigkeiten mit dem Copyright Gar­cía Márquez’, sowie Unzufriedenheit mit dem Stück, das der Truppe zu glatt und schön erschien, um der komplexen Wirk­lichkeit gerecht zu werden) habe dann zu weitreichenden Neuimprovisationen des Stoffes geführt, bis nach eineinhalb Jahren Arbeit endlich das Stück in seiner jetzigen Fassung fertig gewesen sei.
Santiago García nennt das Stück selbst dem Inhalt nach “grundlegend pessimi­stisch”: “Wir glauben nicht an die Mythen und die Lügen vom Fortschritt”. Auf der anderen Seite bleibe bei allem Pessimis­mus und bei aller Hoffnungslosigkeit doch auch ein Grund zu Optimismus: die Würde des Einzelnen und der Traum von einer besseren Welt – egal wie tief ein Mensch gesunken sein mag.
Und so ist dann wohl auch die Anekdote von dem ñero zu verstehen, der die Bour­geoisie in ihren engen Appartments be­mitleidet, während ihm doch die ganze Stadt mit ihren Straßen gehöre.

Durch ein Fenster schauen

Vielleicht können Sie mir ein wenig über ihr neues Stück erzählen. Ich weiß nur, daß es um diese ñeros geht.
Santiago: Ich könnte ihnen etwas über die theatrale Struktur des Stückes erzählen. Vor allem haben wir an einer Art Theater im Theater, wie z.B. bei Peter Weiss gear­beitet, um mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. In diesem Fall geht es auf einer Ebene um eine Gruppe Marginalisierter, die im Rahmen eines Rehabilitationspro­grammes ein Theaterstück auf die Bühne bringen sollen. Eine weitere Ebene ist die des Stückes, welches sie proben. Eine Theaterversion des Romans “Chronik ei­nes angekündigten Todes” von Gabriel García Márquez. Diese beiden Ebenen – dessen, was in den Marginalisierten vor­geht und was der eigentliche Inhalt des Romans ist – sollen aufeinander einwir­ken. Eine dritte Ebene dann thematisiert das Magische, Fremde, Nicht-Rationale, das Unlogische. Mit der Verbindung die­ser drei Ebenen haben wir das Gerüst für das Stück erarbeitet. Soweit zur Form. Das eigentliche Thema sind jene neu ent­stehenden Bevölkerungsgruppen, deren Zahl in den großen Städten Lateinameri­kas täglich zunimmt. Und nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier in Eu­ropa. Jene große Gesellschaftsschicht, die aus verschiedensten Gründen – seien es Drogen, soziale oder ideologische Gründe – an deren Rand lebt. Dies ist ein Thema. das andere ist das Thema des Romans von García Márquez: der Tod, die Xenopho­bie, die soziale Ausgeschlossenheit von Anderen. Also all die Themen, die auch mit den ñeros, den Marginalisierten zu tun haben.
Was sind eigentlich eure Arbeitsmetho­den und Ausdrucksformen?
Santiago: Wir benutzen verstärkt Masken und intensive Gestik auf unserer Tour. Eine Tendenz hierzu gibt es schon seit fünf, sechs Jahren; eigentlich seit unserem Stück “El Paso”, mit dem wir ja auch hier in Deutschland waren. Wie viele andere Theatergruppen auch, erproben wir den Bereich der nonverbalen Kommunikation, um die Botschaften unserer Stücke zu in­tensivieren. Das hat aber nichts mit der Übertragbarkeit auf europäische Bühnen zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Es gibt ja heute einen derar­tigen Mißbrauch der Kommunikations­wissenschaften durch bestimmte Wissen­schaftler – etwa “Kinetik” – daß wir über eine genaue Betrachtung der non-verbalen Sprache versuchen wollten, diese in unser Theater aufzunehmen. Und zufälliger­weise verstehen so auch jene Zuschauer unserer Stücke, die kein Spanisch können, diesen anderen, non-verbalen Bereich, den wir da auszuloten im Begriff sind. Natür­lich ist Verbalität in unseren Stücken noch immer wichtig, aber es muß auch nicht immer Spanisch sein. In unserem aktuel­len Stück ist es beispielsweise die Sprache der Marginalisierten, die wir ñeros nennen und die in gewisser Weise ihre ganz eigene Sprachkultur entwickeln.
Patricia: “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, “im Grenzbereich”. Und es ist eine Grenzsituation, in der die von uns dargestellten ñeros in Kolumbien le­ben. Die Existenz dieser Leute ist wegen der Gewalt im Land – in ganz Lateiname­rika oder der ganzen Welt, auch hier in Europa – von ganz speziellen Daseins­merkmalen gekennzeichnet. Dennoch ist der kolumbianische Fall wegen der ihm eigenen Gewalt besonders dramatisch. Und in diesem Bereich reproduziert sich die Gewalt auch viel mehr als in anderen Gesellschaftsteilen.
Die Gewalt unter oder die Gewalt gegen­über der Marginalisierten?
Patricia: Sowohl als auch. Und nach außen geben sie auch Aggressionen wei­ter. Ihre Ausgeschlossenheit allein ist schon eine Art Gewalt. Die Gewalt setzt sich aber auch im Ausschluß der fort­schrittlichen Gesellschaftssektoren fort – und produziert dort Gegengewalt. Dies ist das kolumbianische Drama. Der Sektor, in dem die ñeros leben, ist aber möglicher­weise der allergewalttätigste. Deshalb war die Arbeit so interessant: die ñeros sind einfach ein “Fenster”, durch das wir über ganz Kolumbien erzählen. Interessant war auch, daß einige von uns während der Ar­beiten an diesem Stück direkt mit den ñe­ros gearbeitet haben. Das lief also parallel. Auf diese Weise konnten wir von ihnen lernen, wie sie reden, wie sie denken und
wie sie die Gesellschaft sehen. Das Ganze ergab dann eine Konstruktion von Stra­ßenkultur. Und viel Verwirrung, da die Leute zu glauben begannen, die Schau­spieler von “La Candelaria” seien wirklich ñeros. Aber es ist wichtig, daß dieses Thema endlich aufgegriffen wird: Tau­sende haben bereits unser Stück gesehen, wir haben überall plakatiert und publiziert … und so entstand eine kulturelle Bewe­gung.
Wie ist die Kontinuität möglich, die eine solche Arbeit erfordert?
Patricia: Klar, die ñeros sind schwierig, sie werden dämonisiert. Sie werden als Feinde betrachtet. Und es ist sehr hart, mit ihnen zu arbeiten. Aber es macht auch viel Spaß. Es ist so schwierig, weil sie kein Interesse haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Sie sind nur am Theater interessiert – und so sind einige von ihnen immerhin zwei Jahre dabeigeblieben.
Wie benutzt ihr das Thema als “Fenster”, durch das Kolumbien zu se­hen ist?
Patricia: Das hier, was wir mit den ñeros machen, ist eigentlich etwas direkter. Da sie keine SchauspielerInnen sind, sehen viele Leute sie zum ersten Mal als etwas anderes, als Außenseiter. Und das beein­flußt natürlich die bisherige Intoleranz der Leute. Dieses Lumpenproletariat wurde in Kolumbien ja bisher nie beachtet – nicht einmal von der sogenannten Linken.
Vielleicht können sie mir aber doch über die “Fenstermethode” berichten. Über die Gewaltsituation und darüber, welches Fenster zu Kolumbien sie uns mit dem neuen Stück öffnen.
Santiago: Es ist ein Fenster, das sich zu vielen Seiten hin öffnet. Wir wollen die gesamte, sehr komplexe Realität des Lan­des zeigen. Es geht natürlich nicht nur um die ñeros, wenngleich wir sie quasi hyper­realistisch darstellen wollten. Es geht hier auch um die allgemeine Frustration, unter der alle lateinamerikanischen Länder seit über 500 Jahren leiden. Frustrationen, nie eingelöste Versprechungen, Hoffnungslo­sigkeiten, die von neuen Hoffnungslosig­keiten abgelöst werden. Die Hoffnung des Volkes auf ein besseres Leben, immer wieder von den Regierenden zerstört … eigentlich glaubt schon niemand mehr daran. Und ich denke, daß weltweit die Geschichte vom Irdischen Paradies kaum noch geglaubt wird. Und so leidet auch unsere Gruppe ñeros an dieser Frustration, die sie über das Theater überwinden wol­len. Das schaffen sie natürlich nie – immer gibt es neue Hindernisse. Sie sind nicht nur Opfer dessen, was von außen kommt, sondern Opfer ihrer selbst. In unserem Land hat sich etwas entwickelt, was ich die “Unmöglichkeit” nennen würde: Das kommt dadurch, daß sich die Menschen in Kolumbien daran gewöhnt haben, andere sterben zu sehen – ja einen ganzen Geno­zid zu sehen. So etwas sichtbar zu ma­chen, ist eine der großen Leistungen im Werk von García Márquez. In der “Chronik eines angekündigten Todes” verliert eine ganze Stadt ihre Sensibilität und so wird eine Person wie ein Tier ge­tötet. Genau diesen Prozeß wollen wir auch darstellen. Die Hoffnung, wie sie bei Beckett auftaucht, haben wir in “El Paso” behandelt. Und diese Hoffnung, auf die das ganze Land hinlebt, wird sich niemals erfüllen. Und schon gar nicht von außen. Wir werden unser Glück selbst schaffen müssen. Und dies ist der andere Blickwin­kel des Fensters, durch den wir nicht nur Kolumbien sehen, sondern die gesamte Erde.
Pacho: Ich halte es auch für wichtig, noch die “Säuberungstrupps” anzusprechen; diese Leute, die in unserem Theater auch eine Rolle spielen. In Kolumbien verjagen die “Säuberungstrupps” die ñeros nicht nur dort, wo sie stören, sondern sie töten sie. Und das nicht nur im Auftrag der Rei­chen, sondern einfach so, überall. Und die Leichen liegen dann als Warnung auf den Straßen. Das ist gerade wieder eine Wo­che vor unserer Ankunft hier geschehen. Acht Tote! Und es gibt viele in der Bevöl­kerung, die die Reintegrationsprogramme verhindern oder sie nicht in ihrer Nähe haben wollen. Nirgendwo will man die ñeros haben, weil man Angst vor ihnen hat. Und das Geld versickert … Auch das ist Teil der Gewalt.
Patricia: Ja, die Gewalt hat die Gesell­schaft intolerant gemacht. Wir selbst hat­ten Probleme mit unserem Projekt. Und da die ñeros ihrerseits auch gewalttätig sind, war es nicht leicht. Ich glaube, wir sind ir­gendwie ins Herz der Gewalt eingedrun­gen. Gewalt gegen den Anderen. Und es ist wichtig, daß sich das Theater mit sol­chen Grenzbereichen befasst, die Bei­spielcharakter haben.

Von Heiligenscheinen und Scheinheiligen

Um das Verhalten der Alter­nativhändler beurteilen zu können, ist es zuvor nötig, die Entwicklungen auf dem Weltkaffee­markt nachzuvoll­ziehen. Dieser war bis 1989 vom Weltkaffeeabkommen reguliert, einer Vereinbarung zwischen Kaffeean­bauländern (Brasilien, Kolumbien…) und den Verbrauchsländern (USA, BRD…), die Exportmengen festge­legte und den Preis bei etwa 1,20 US-Dollar pro Pfund (Libra) Rohkaffee stabilisieren sollte. Nachdem das Abkommen im Sommer ’89 nicht verlängert worden war, strömte der bislang zurückgehaltene Kaffeeüber­schuß auf den Markt und drückte den Preis dra­stisch – bis auf den Tiefst­stand von 0,60 US-Dollar pro Libra Anfang 1992.
Weltmarktpreise
Die alternativen Kaffeevermarkter haben in ihrer Informationsarbeit immer wieder auf die katastrophalen Folgen dieses Nied­rigpreises vor allem für die Kaffeeklein­bauern hin­gewiesen, die nicht einmal mehr ihre Produktionskosten decken konnten. Diese Situation dürfte auch dazu bei­getragen haben, die Idee von TRANS­FAIR bei Weltläden und Kri­tikerInnen der Kaffeekonzerne, die bisher nur auf alter­nativ vermarkteten Kaffee ge­schworen hatten, hoffähig zu machen, denn es war klar, daß GEPA und MITKA nicht den gesamten Kaffee der vom Preis­zusammenbruch betroffenen Klein­bauern abnehmen könnten. Immerhin garantierten die auch von kommer­ziellen Händlern an­gebotenen TRANSFAIR-Sorten einer grö­ßeren Anzahl von Kleinbauern einen Richt­preis von 1,26 US-Dollar pro Libra.
Nun stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, daß die Kaffeepreise dauerhaft unter den Produktions­kosten liegen (von 1990 bis März ’94 überschritten sie die 0,75 US-Dollar-Marke nicht, s. Grafik). Nach den kapitalisti­schen Spielregeln müßten diejenigen Produzenten, die beim gegebenen Preis nicht mehr profitabel wirtschaf­ten, ihre Produktion einstellen. Dadurch müßte das Angebot lang­sam wieder auf das Niveau der Nachfrage sin­ken und der Preis lang­sam wieder steigen – bis zum サGleichgewichtspreisß wenn sich Angebot und Nachfrage die Waage halten. Diesen Anpassungsprozeß hatten die Apologeten des freien Marktes von der Auflösung des Kaffeeabkommens zu er_warten behauptet, denn ihrer Meinung nach trug das Kaffeeabkommen die Schuld an der Überproduktion. Tatsäch­lich aber erhöhte sich die Produktion erst recht nach der Auflösung des Kaffee­abkommens – die Produzenten beantwor­teten das Sinken der Preise mit einer Ausweitung der Menge, verhielten sich also “marktwidrig” Da die Nachfrage stagnierte, vergrößerte sich das überschüs_sige Ange_bot, und der Preis sank noch mehr.
Die Dumpingpreis-Theorie
Das Phänomen der marktwidrigen Reak­tionen auf dem Weltkaffeemarkt versucht der サalternativenicht­kapitalistischn Nahrungs­mitteln für den Eigenbedarf, sie benötigen aber noch eine bestimmte Summe Geldes für Gesundheit, Schule und einige Konsumgüter, die sie nur mit dem Anbau und Ver­kauf von Kaffee ver­dienen kön­nen. Ein Sinken der Preise kompensieren sie mit einer Erhöhung der Anbau­menge, um das Geldeinkommen zu stabilisieren – sie können die Kaffee­produktion nicht einschränken oder ein­stellen, weil sie keine Alternative haben, an Geld heranzu kommen. Die Folge ist eine verstärkte Selbstaus­beutung ihrer Ar­beitskraft sowie die Überlastung der Bö­den (und damit auf Dauer Qualitätsver­lust).
Vergleichbar damit ist das staatliche Ver­halten von Ländern, deren wich­tigstes (oder einziges) Exportprodukt Kaffee ist und wo der Kaffeeexport (oder sogar die Produktion) staatlich geregelt ist. Diese Staaten, die Devi­sen benötigen, um ihren Schulden­dienst zu begleichen und Luxus­güter für die Eliten zu importieren, verhal­ten sich als Devisenmaximierer – unge­achtet der internen Kosten dieser Politik. Und wenn Kaffee (fast) die einzige Mög­lichkeit ist, an Devi­sen zu kommen, dann beantworten die Staaten ein Sinken des Preises mit einer Erhöhung der Export­menge. Die Folge ist natürlich ein noch größerer Kaffeeüberschuß auf dem Welt­markt und ein noch rascher sinkender Preis.
Massarat zeigt also, warum 26 Jahre lang keine Anpassung der Kaffee­anbieter an die Nachfrage stattgefun­den hat, ob nun das Kaffeeabkom­men in Kraft war oder nicht. Es gibt strukturelle Gründe für die Überpro­duktion, die der Überlebens­produk­tion der Kleinbauern und der von Devisen abhängigen Länder geschuldet sind, die vom Weltmarktge­schehen an den Rand gedrückt werden und sich deswegen nicht mehr profitma­ximierend verhalten können. Infolgedes­sen ist der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt auch kein “Gleichgewichtspreis” sondern ein Dum_ping-Preis.サDer Boom
Nun geschah etwas, womit niemand so richtig gerechnet hatte: Seit Anfang ’94 begannen die Kaffee­preise zu steigen und überschritten im Mai die 1,20 US-Dollar-Marke des früheren Weltkaffeeabkom­mens – bei サfreiem Spielen, um einen Preisanstieg zu be­wirken. Die tatsächlich zurück­gehaltenen Mengen wurden nämlich bereits im März ’94 vollständig frei­gegeben, als die ver­einbarte Preis­grenze des Abkommens überschrit­ten war – die Preise stiegen trotzdem weiter.
Der Grund für den Preisanstieg ist ein dra­stischer Produktionsrückgang in den letz­ten beiden Erntejahren: Zum ersten Mal seit 1985 (Dürre in Brasi­lien) war die Erntemenge zum Ende des Kaffeejahres 92/93, im März ’93, deutlich gefallen, und zwar gleich um 10 Prozent – nämlich 10 Millionen Sack. Dies hatte zunächst keine Auswir­kungen, da aus den früheren Über­schußjahren noch mehr als 10 Millio­nen Sack auf Lager waren und auch die Spe­kulation nicht reagierte – sie erwartete wohl einen erneuten Ernteanstieg auf das Niveau der Vorjahre. Doch als auch das neue Erntejahr im März ’94 wieder einen Produktionsrückgang um 1 Mio Sack brachte, bewertete der Markt den Trend als dauerhaft gewendet und reagierte auf die prognostizierte Angebotslückenoch warten sollen: Im Juli kletterte der Preis innerhalb weniger Wochen um gut einen US-Dollar auf 2,30 US-Dollar! Der rasante­ste Preisanstieg seit 1975. Was war geschehen?
Während der Preisanstieg ab März als normalebeabsichtigtenanzen geschä­digt und wird die Ernte 95/96 um etwa 20 Prozent reduzieren. Die kom­mende Ernte 94/95 ist nur geringfügig betroffen, da die Bohnen bereits gut entwickelt sind. Doch an der Waren­terminbörse in New York ist die kommende Ernte seit langem ver­kauft, gehandelt wird eben der Kaffee der über­nächsten Jahre. Nach der ersten Erregung hat sich die Lage etwas beruhigt, der Preis sank Ende August wieder auf 1,90 US-Dollar. Doch ein Rückgang auf das Ni­veau vor dem Brasilien-Frost wird in nächster Zeit nicht zu erwarten sein: Da Kaffee eine mehrjährige Pflanze ist, kön­nen andere Produzenten die Angebots­lücke nicht so schnell schließen. Anderer­seits ist ein Nachfragerück­gang aufgrund des hohen Preises auch nicht zu erwarten, da die durch­schnittliche deutschamerika­nische KaffeekonsumentIn hart im neh­men (oder geben?) ist: Egal wie teuer, an den Muntermachern für Auto und Mensch, Benzin und Kaffee, wird nicht gespart.

Das Ende der Dumpingpreise?
Nun stellt sich die Frage, ob mit der aktu­ellen Entwicklung die Dumping­preis-Theorie widerlegt ist. Sicherlich muß der Brasilien-Frost als Sonderfall betrachtet werden, aber interessant ist ja, daß sich der Preis bereits vorher erholtfreiwillig
Freiwilligvom Markt erzwungenBei einset­zendem Preisverfall wie nach 1989 ver­suchen sie zunächst, die Kosten zu drük­ken, indem sie die Löhne der Pflücker­Innen kürzen, weniger Pestizide und Dün­gemittel einsetzen und die Pflege der Pflan­zen vernachlässigen. Vielleicht neh­men sie auch ein oder zwei Jahre Verluste hin, in der Hoffnung, bei neu einsetzen­dem Preisanstieg schneller als die Kon­kurrenz, die erst neu anpflanzen muß, die Produktion stei­gern und Extra-Gewinne einfahren zu können. Bleibt aber der Boom aus, werden sie früher oder später die Produktion einstellen.
Genau das ist offenbar 1992 in grö­ßerem Maße geschehen. Nun behauptet aber Massarats Theorie nicht, daß es solche kapitalistischen Produzenten nicht gäbe. Prototyp sind ja gerade unsere beliebten Feindbilder, die Kaffeebarone, die das Land unter sich aufgeteilt haben, Hun­gerlöhne zahlen und aufmüpfige Arbeiter von den Schergen der Dik­tatur abholen und foltern lassen. Aber es gibt auch eine Reihe von kleineren und mittleren Unter­nehmen, die Kaf­fee produzieren – zu un­günstigeren Kosten und mit dünnerer Kapital­decke als die Barone, und sie sind es, die beim Preisverfall zuerst aussteigen müssen.
Dies alles spricht aber nicht gegen die These der strukturellen Überproduk­tion. Diese sagt ja bloß aus, daß es immer einen Bodensatzh-kapitalistischer Produzenten entsteht. Anfangs, kurz nach 1989, haben sie diesen Effekt gewisser­maßen über­kompensiert: sie haben ihre Menge schneller gesteigert, als die ande­ren ausgestiegen sind. Dadurch sinkt der Preis noch mehr, weitere steigen aus; an­dererseits stößt die Mengensteige­rung ir­gendwann an ihre Grenzen, und der Trend kehrt sich um: Es gibt insgesamt eine Mengenreduktion, aber immer abgemil­dert durch die gesteigerten Mengen der Subsi­stenzproduzenten. Die strukturelle Überproduktion ist also auch wirk­sam, wenn insgesamt die Anbau­menge sinkt – gäbe es sie nicht, wäre die Menge viel stärker gesunken und der Preis viel eher gestiegen. Die aktuelle Entwicklung spricht also im Kern nicht gegen die Dumpingpreis-Theorie.
Eine Prognose der etwas längerfristi­gen Entwicklung bestätigt dies, denn in abseh­barer Zeit ist mit einer Umkehr des aktu­ellen Trends zu rechnen. Die plötzlich so hohen Preise werden die Produzenten, die vor zwei Jahren ihre Plantagen ganz oder teilweise stillgelegt hatten, dazu animie­ren, ihre Produktion wieder aufzunehmen bzw. auszuweiten. Es ist höchst wahr­scheinlich, da wir in ein paar Jahren das Spielchen von Überproduktion und Preis­verfall erneut erleben dürfen.
Warum dürfen Kleinbauern nicht vom Preisanstieg profitieren?
Es bleibt also noch die Frage zu klä­ren, in wessen Taschen das “viele” Geld, was wir jetzt für unseren Kaffee bezahlen, letztlich hängen bleibt – bei den Konzernen wie bei den Alternati­ven!? Wieviel streichen die (Zwischen-)Händler und Spekulanten ein, was bekommen die BäuerInnen?
Eine Betrachtung der öffentlichen Reak­tionen auf die gestiegenen Welt-Kaffee­preise ist durchaus dazu geeignet, leichte Verwunderung her­vorzurufen. Die deut­sche Kaffeewirt­schaft, lange im Kreuz­feuer der alternativenSaboteureDeutlich verhaltener klingt der Jubel im alternativen Lager das ja seit Urzeiten gerechtere Preise gefordert hat. Der grundsätzlich geäußer_ten Freude folgen oft eine Reihe von Beden_ken auf dem Fuß: Bei den Mehreinnahmen handele es sich “erstens um die Gewinne der Spekulan_ten und zweitens um einen bescheidene Ausgleich für die Einnahmever­luste der kaffeepro­duzierenden Länder in den letzten fünf Jahren, falls dort überhaupt mehr an­kommt”, gibt z.B. die Kaffeegruppe von AG3WL und rsk zu bedenken, Mit­initiator von TRANSFAIR. Auch bei der Konkurrenz, MITKA-Mitglied El Rojito aus Hamburg, sollen auf jeden Fall die Kaffeebauern profitieren: “Wer hat denn nun sonst noch etwas von den höheren Weltmarktpreisen? Die Men­schen, um die wir uns sorgen, jedenfalls in aller Regel nicht. Die kleinen Produzent­Innen, und dazu zählen auch die meisten Kooperativen, haben aufgrund fort­währender Finanzknappheit ihren Kaffee (zum Teil lange vor der Ernte, z.B. um Geld für Dünger zu bekom­men) bereits verkauft. Zu dem Preis, der damals aktuell war, also lange vor dem Anstieg. Noch schlechter sind die dran, die an die Coyo­tes, die aus­beuterischen Zwischen­händler, ver­kaufen müssen, da sie keine Trans­portmöglichkeiten haben. Gut haben es nur die Händler bzw. Firmen, die Kaf­fee auf Lager behalten konnten, sie profi­tieren bereits jetzt von den höheren Prei­sen. Die kleineren Pro­duzentInnen haben nur dann etwas vom höheren Weltmarkt­preis, wenn er auch bei der kommenden Ernte (94/95) noch hoch ist. Der aktuell hohe Welt­marktpreis ist (wenn mensch in den Marktmechanismen argumentiert) auf­grund der gesun­kenen Produktions­menge sicherlich gerechtfertigt. Ob nun in dieser Höhe, sei dahingestellt.”
Nun will ich hier keineswegs die Lage der Kaffeekleinbauern beschönigen, noch will ich bestreiten, daß den Löwenanteil der Spekulations-Hausse eben die Spekulan­ten (im übrigen auch nicht immer alle gleichzeitig, sondern die, die auf’s richtige Pferd gesetzt haben) einsacken. Doch sind m.E. zwei Dinge unübersehbar. Erstens wird der hohe Preis zwangsläufig auch den Kleinbauern etwas nutzen, und zwei­tens bringt der hohe Preis die Alter­nativ-Händler in argumentative und / oder han­delstechnische Schwie­rigkeiten.
Die Rolle der Coyoten
Das Argument, das die Kleinbauern völlig dem Diktat der ausbeuterischen Zwi­schenhändler ausliefert, ist mir viel zu un­differenziert (was keinesfalls die teilweise üblen Praktiken leugnen soll). Der Hin­weis, von ihnen erhielten die Bauern nur 30-50 Prozent des Weltmarktpreises, ist etwa so aussagekräftig wie die Feststel­lung, daß El Rojito den Kaffee etwa drei­mal so teuer an uns verkauft wie einkauft. Natürlich bekämen die Bauern mehr Geld, wenn sie den Kaffee selbst zum Hafen brächten – doch sie hätten auch höhere Kosten für LKW, Benzin, Arbeitszeit. Und auch Coyoten krie­gen am Hafen nicht den vollen Welt­marktpreis, sondern vielleicht 80 Prozent oder 90 Prozent; schließlich müssen die Spe­kulanten auch etwas verdienen. Hinzu kommt, daß Zin­sen anfallen ,wenn die Coyoten die Ernte z.T. ein Jahr im Voraus bar bezahlen. Ge­rade in Zeiten, wo Kaffeeknappheit herrscht, ist darüberhinaus anzuneh­men, daß die wachsende Konkur­renz zwi­schen den Coyoten die aus­beuterischen Zwi­schenhandelsprofite auf Normalmaß nie­derkonkurriert und damit die höheren Preise auch bis zu den PoduzentInnen durchsickern, die nicht selbst exportieren.
Ein genaueres Lesen der veröffent­lichten Alternativ-Informationen macht dann auch deutlich, wie die Punkte eins und zwei in­einander greifen: “Schon im Mai waren dann die ausbeuterischen Zwischenhänd­ler, die Coyotes, gekommen, um bei den Bauern die Kaffeeernte 1994/95 zu kau­fen, direkt ‘vom Strauch’ und noch lange nicht reif. Sie zahlten höhere Preise, bar auf die Hand. Bargeld ist auch bei den Kooperativen-Bauern knapp, und so ver­kaufte mancher an die Coyotes. Die Ge­nossenschaften könnten dadurch in Be­drängnis kommen, wenn sie nämlich mangels Kaffee die Verträge, u.a. mit den Alternativen Importorganisationen, nicht erfüllen können.”
Also bereits im Mai, noch vor dem Frost-Preisboom, hatten die Coyoten die seit März angefallenen Preiserhö­hungen (auf 1,20 US-Dollar) zumindest teil­weise wei­tergegeben und Konditio­nen offeriert, die die Kooperativen – Vertragspartner der Alternativhändler, die ja 1,26-1,32 US-Dollar gezahlt haben – nicht bieten konn­ten. Natürlich hatten die Coyoten in die­sem Fall Glück und die Bauern Pech – sechs Wochen später hätten sie vielleicht das Doppelte fordern können. Aber nicht einmal die Coyoten haben den Frost vor­hersehen können, sie haben nur auf die allgemeine Verknappung rea­giert und hatten Glück – jetzt profitieren sie am meisten (wenn sie nicht wiederum schon vorher selbst feste Verträge mit ihren Ab­nehmern gemacht hatten) Allerdings ist bei der anhaltenden Kaffeeknappheit an­zunehmen, daß die Coyoten bald wieder an den Kaffeesträuchern auf­tauchen und auch die 95/96er Ernte aufkaufen wollen. Und diesmal wird der frühzeitige Verkauf sicher nicht zum Nachteil der Kaffee­bauern sein – falls nicht zur Ab­wechslung noch eine Dürre in Brasilien ausbricht.
Große und kleine Kaffeehändler
Bleibt noch die Frage, ob nicht doch die großen Kaffeekonzerne, die den Preisan­stieg ja begrüßt hatten, die Hauptprofi­teure sind. Dies wird zumindest von Sei­ten der Alternati­ven unter Hinweis auf ge­füllte Lager mit billigem Kaffee, der jetzt teurer verkauft werden kann, vermutet. Si­cherlich kann mensch davon aus­gehen, daß dies für die erste Preiser­höhungsrunde im Juli im großen und ganzen zutrifft und die Kaffee-Kon­zerne sich ein Vorbild an ihren Brüdern und Schwestern aus der Mineralölbranche genommen und als in­formelles Kartell die sowieso irgendwann fällige Erhöhung etwas vorgezogen haben (wenn alle gleichermaßen erhöhen, ver­liert kei­ner Marktanteile). Doch inzwi­schen dürften die Vorräte (höchstens 2-3 Monatsrationen) erschöpft sein, der hö­here Einstandspreis sich bemerk­bar ge­macht und der erbitterte Kampf um Marktanteile wieder begonnen haben.
Etwas günstiger gestaltet sich die Lage für die Alternativ-Händler von der MITKA. Sie kaufen nämlich immer gleich die ge­samte Jahres­menge im Voraus, haben also bei Vertragsabschluß im März wie die an­deren Jahre auch 1,32 US-Dollar (für Nica Organico 1,56 US-Dollar) bezahlt. Ausglei­chende Gerechtigkeit, möchte mensch meinen, waren sie doch die gan­zen Jahre standhaft und haben zeitweise das Doppelte des Welt­marktpreises auf den Tisch gelegt. Doch Heiligenschein und Schein­heiligkeit liegen oft nah beiein­ander. Denn, um zur Ausgangsfrage die­ses Artikels zurückzukommen: Warum wurden im September die Preise erhöht?
El Rojito gibt uns eine offene Antwort:
“1. Den ProduzentInnen entsteht praktisch aus der Tatsache, daß wir den Kaffee so frühzeitig importiert haben, ein Nachteil, denn hätten wir den Kaffee erst im Juni ’94 gekauft, dann natürlich zu entspre­chend höhe­ren Preisen. 2. Alle anderen Kaffee­sorten, ob herkömmlich oder alterna­tiv gehandelt, werden teurer oder sind es bereits geworden. Wenn nun nur Sandino Dröhnung beim alten Preis bleibt, wird es einen ‘Run’ geben. Diesen erhof­fen wir schon seit Jah­ren, aber bitte nicht, weil unser Kaffee billiger ist, sondern we­gen anderer, qualitativer oder politischer Aspekte. Ein Run auf unsere Kaffees hätte zu­dem die Folge, daß die Menge, die wir auf Lager haben, nicht bis zum neuen Im­port ausreichen würde. Das will niemand.”
Zunächst können wir El Rojito beru­higen, ein ‘Run’ wäre nicht zu befürchten gewe­sen, haben doch die Konzerne mit ihrer Preiserhöhung (jetzt etwa 10.-/Pfund für ihre Spit­zensorten) überhaupt erst zum alten Preisniveau der Alternativen auf­geschlossen. Und so schnell wech­selt Frau Sommer nicht von der Krönung zur Dröh­nung – müßte sie sich doch bei nächster Gelegenheit wieder herausreden, ihr Mann habe den Kaffee eingekauft oder gekocht, wenn er ihren Gästen nicht schmeckt.
Andererseits ist es natürlich beque­mer, den Preis zu erhöhen und so ohne Mehr­aufwand eine Erlössteige­rung mitzuneh­men. Also genauso, wie es die Konzerne vorgemacht haben, bloß nicht nur 2-3 Monate, sondern ein halbes Jahr bis zu den neuen Vertragsabschlüssen im Früh­jahr. Fairerweise ist zu erwäh­nen, daß El Rojito die Mehreinnah­men als Spende den Kaffeeprojekten zukommen lassen will. Von den anderen MITKA-Gruppen ist solche Großzügigkeit bisher nicht bekannt geworden. Aber je nachdem, wie das Ge­schäftsjahr läuft, ist es später immer noch bzw. aus steuer­rechtlichen Gründen leider nicht mehr möglich.
Bei der Konkurrenz von der GEPA hinge­gen waren die neuen Vertrags­abschlüsse bereits zum 1.10.94 fällig. Hier machte sich dann auch die momentane MarktmachtVerluste die sie rechnerisch erlitten haben, seit der Weltmarkt_preis über dem GEPA-Preis (1,26 US-Dollar) lag – und bekamen sie. Außerdem zahlt die GEPA ab jetzt den aktuellen Weltmarktpreis plus 10 Prozent, solange der Marktpreis über dem früheren Mindestpreis bleibt. Und darauf muß die GEPA auch hoffen: Sollte der Marktpreis zum Geschäftsjahresende am 31.3.95 wie­der gesunken sein, werden wie dieses Jahr Abschrei­bungen in Millionenhöhe fällig! Wir drücken ihr die Daumen.

aus: Umbrüche 11/12, Nov. ’94

Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung

Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahin­ter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; da­für aber ist die Weltbank als Durchfüh­rungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Pro­gramme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da ge­rade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusam­mengefaßt. Die UNEP darf in einer Ne­benrolle einen Wis­sen­schaftlichen und Tech­nischen Bei­rat einsetzen, der die Kriterien für die Mit­tel­vergabe er­ar­bei­tet. Diese werden als reine Zu­schüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Orga­nisationen die Empfänger dieser GEF-Zu­schüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Pro­jekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Berei­che verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Ver­gleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Latein­amerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbeson­dere auch von internationalen Natur­schutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnis­sen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Ver­schuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nor­dens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissent­lich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsul­tationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfri­stige Projekte, obwohl gerade der Um­weltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Be­reich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteili­gung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezwei­feln die meisten die allgemeine Kompe­tenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitspra­che zu verschaffen, wurde der GEF-Auf­sichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projekt­durchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen ver­antwortlich, so daß von einer “grund­sätzlichen Reform”, wie es die Ge­ber­län­der gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabe­kriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwür­dig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund die­ser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt wer­den können. Daraus ergeben sich so ab­surde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufge­zwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Natio­nalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausrei­chend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmana­gements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht ge­fragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, ge­schweige denn auf andere Gebiete über­tragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den ge­nannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institu­tionen über bolivianischen Treuhand­fonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Manage­ments von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhal­tung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regio­nalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung so­wie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologi­scher Forschung und Training von Park­management (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwick­lung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)

Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgeliste­ten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weiterge­führt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existieren­den wie in Bolivien ist unter diesen Um­ständen besser als stark eingegrenzte Pro­jekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden kön­nen. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Gua­temala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unter­schiedliche Ökosysteme ab, vom tropi­schen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Ex­perten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt be­weisen und übernimmt sich ganz ordent­lich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gut­achter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” un­terbunden. Die meisten lateinamerikani­schen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabfluß­druckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspoli­tik, Handelsabkommen, Strukturanpas­sungsprogramme und Gesetze über Bo­deneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Um­weltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berech­tigterweise gefordert wird, wird unter die­sen Umständen keine erhebliche Verbes­serung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunk­ten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer Ex­pertInnen und rein symbolische Beteili­gung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen fi­nanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Be­deutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Um­weltzerstörung nicht angeht.

“Jetzt haben die Leute das Sagen”

Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti be­nutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” been­det, da gab es natürlich bereits die neue­sten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezo­gen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernseh­duelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahl­kampf, und das Publi­kum ist dankbar, daß wenigstens bei die­sen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit aus­getragen werden. An­sonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahl­pflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vor­nehmen Stadtteil Pocitos ha­ben sich die Hunde- und Eigenheimbesit­zerInnen schon über die Massen von Wahlkampf­zettelchen auf der Straße be­schwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi ge­führt wird. Uru­guays Fernseh­zuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahl­kampfzeiten präsentieren die drei privaten und der ein­zige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots pla­ziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der kon­servativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kom­merzielle Werbeargenturen haben die Parteien be­raten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausge­kommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel krea­tiver und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt ha­ben die Leute das Sagen” Über die Bild­schirme flimmern die Präsidentschafts­kandidaten, die ihrer ju­belnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevi­deos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautspre­chern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durch­aus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zuneh­mend bestimmen und weniger die viel be­schworene militancia política, das politi­sche Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Par­teien Colotados und Blancos fast gleich­auf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbünd­nis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfra­gen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öf­fentlichkeit kommt, und wie sich die Prä­sidentschaftskandidaten, selbstverständ­lich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vor­sprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathi­sche Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfa­che Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanz­mitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Lin­ken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bür­germeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, ge­nau 10 Jahre nach Beendigung der Mili­tärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgül­tig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahl­sieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Ab­schlußkundgebung eines Sternmar­sches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teil­nahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von Aktivi­stInnen mobilisieren kann, die in Stadteil­gruppen organisiert sind und in den bevor­stehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblatt­verteiler nicht so einfach wett­machen können. Trotzdem ist man auch in Uru­guay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis we­nige Mo­nate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorherge­sagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustan­dekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsa­men Wahlplattform hatte es natürlich zu­vor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinanderset­zungen gegeben. Vor allem der linke Flü­gel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslands­schulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemein­samen südamerikanischen Markt Mer­cosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehr­heit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grü­nes Licht für die Verhandlungen zum Wahl­bündnis Encuentro Progresista, ohne je­doch genaue Vorgaben für ein Regie­rungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Re­gierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Füh­rungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch aus­treten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen aller­dings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Ver­änderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahl­bündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Mo­naten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Orga­nisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisa­tionen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünfti­gen Leitungsgremium je nach Mitglieds­stärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizi­pación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich ge­gen diese Änderung und befür­worten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsen­tanz aller Organisationen und Parteien in­nerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicher­heit noch ei­nige interne Debatten auslö­sen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regie­rung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Prä­sidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regie­rung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirt­schaftspolitik der verschiedenen konser­vativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Be­völkerung zum Alp­traum geworden sei. “Über 70.000 Indu­striearbeitsplätze sind in den letzten sie­ben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben kei­nerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatli­che Initiativen und Anreize, wieder ver­stärkt Arbeitsplätze vor allem auch im In­dustriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Poli­tik und eine Umvertei­lung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Rich­tung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den ange­mieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Au­toaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft er­fährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegen­teil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittel­laden oder in der Warteschlange bei Ban­ken und Behörden diskutieren die Men­schen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbüro­kratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfra­geergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutli­chen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colora­dos bislang noch leicht die Nase vorn. In­nerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehe­maligen Direktor der staatlichen Elektri­zitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompli­ziert, und das Namens- und Kanidatenka­russell ist für AusländerInnen kaum durch­schaubar. Jede Partei besteht aus zahlrei­chen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstim­mung stellen, auf denen unter­schiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen kön­nen. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich je­weils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Pro­gresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsident­schaftskandidaten und Vizeprä­sidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen ste­hen. Für die beiden Kammern des Parla­ments er­scheinen dann die KandidatInnen der je­weiligen Partei oder Gruppe. Uru­guays WählerInnen müssen sich am Wahlsonn­tag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalpar­lamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas kompli­zierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die mei­sten WählerInnenstimmen be­kommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im natio­nalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP er­ringt die mei­sten Stimmen, und trotzdem wird Sangi­unetti Präsident, weil alle Colorado-Kan­didaten zusammen mehr Stimmen be­kommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politi­schen Beob­achterInnen halten diese Vari­ante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Pro­zent des Staatshaushaltes für Bildung aus­gegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversiche­rung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahl­kampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich we­niger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder gefor­derten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zu­stand, viele davon müßten eigenlich we­gen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmit­tel. Die meisten AkademikerInnen arbei­ten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völ­lig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letz­ten zwei Jahr­zehnten völlig herunterge­wirtschaftet wurde. Die politische Pole­mik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzun­gen im Verteidi­gungshaushalt, Abbau der Staatsbürokra­tie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Be­zahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schul­dendienstes”, schreibt die Wahlkampfzei­tung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien er­bittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu veran­kern.
Auch beim zweiten Thema, Unan­tastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversiche­rung, gilt ein “Ja” als rela­tiv wahrschein­lich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilwei­sen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Par­teien gestoßen. In der reichlich überalter­ten uruguayischen Ge­sellschaft ist die äl­tere Generation auch ein wichtiges Wäh­lerpotential und zudem ziemlich gut orga­nisiert.

Banane apart

Die Banane ist gelb, krumm und süß. Seit über hundert Jahren genießen sie Genera­tionen von Deutschen, Kinder wie Alte, im Westen – wie im Osten. Heute ist sie unsere beliebteste Frucht. Bananasplit, Bananenmilchshake, Schokobanane oder die Banane im morgendlichen Müsli, im­mer wieder bedeutet sie einen wahren, zuweilen paradiesischen Genuß. Doch nicht immer …
Früchtchen, die es in sich haben
Denn die Banane ist auch eine typische Kolonialware. Sie ist die Frucht, die Be­gehrlichkeiten weckt und bereits zum Sturz diverser Regierungen beigetragen hat. Sie stellt das Objekt der Begierde multinationaler Konzerne dar, seien dies Chiquita, Del Monte, Dole oder andere. Sie ist ein geradezu klassisches Beispiel für ungerechte Handelsstrukturen und ökologischen Raubbau. Kurz, sie ist Sym­bol des politischen und wirtschaftlichen Kolonialismus.
Ihren geringen Verkaufspreis bei uns be­zahlen andere. Es sind dies die am Exi­stenzminimum lebenden ArbeiterInnen in den Plantagen, die kleineren und mittleren ProduzentInnen, deren Arbeits- und Men­schenrechte seit Jahrzehnten immer wie­der massiv verletzt werden.
Ein aktuelles Beispiel ist der Streik der costaricanischen Banañeros/as auf den Plantagen in der Region Sarapiqui im Mai dieses Jahres. Ihr Protest galt wieder ein­mal den unerträglichen Arbeitsbedingun­gen vor Ort: Lohnminderungen, unbe­zahlte Verlängerung der Arbeitszeit, un­geschützter Kontakt mit Agrochemika­lien, sexuelle Belästigung der Arbeiterin­nen, Beschränkung der Organisationsfrei­heit und die diskriminierende Behandlung ni­caraguanischer Arbeitskräfte.
Aber nicht nur die Menschen bezahlen: Der gezielte, irreversible Raubbau an der Umwelt begleitet die Ausbeutung der Frauen, Männer und Kinder. Die von den multinationalen Fruchtkonzernen ge­weckte Nachfrage nach Bananen bester Qualität hat zu einer agroindustriellen Produktion normierter Bananen geführt. Die Normbanane ‘Chiquita’ ist hierfür das beste Beispiel.
Die Produktion solcher Bananen benötigt hochtechnisierte Produktionssysteme und den intensiven Einsatz von Pflanzen­schutzmitteln und chemischem Dünger. Luft und Wasser sind deshalb vielerorts bereits hochgradig verschmutzt. Massive Rodungen von Primärwald (mit allen be­kannten Folgen) begleiten diese schweren Eingriffe in die Natur. Die direkten Aus­wirkungen auf die Gesundheit der Men­schen sind offensichtlich.
Diese Eindrücke aus Costa Rica lassen sich – so oder so ähnlich – auch aus ande­ren bananenproduzierenden Ländern be­richten. Überall haben ArbeiterInnen und kleine ProduzentInnen, hat die schwer belastete Natur die tiefgreifenden Folgen des Bananenanbaus, der uns so billige, leckere Früchte beschert, zu tragen. Grund genug, um über Alternativen nachzuden­ken.
Mehr als Kaffee
“Wie Sie beim Frühstück die Welt fairän­dern können”, unter diesem Motto trat vor fast zwei Jahren der Zwerg TransFair in den Ring des deutschen Kaffeegroßhandels. Denn damals tauchte in den Re­galen deutscher Supermärkte erstmals “fair gehandelter” Kaffee auf. In kurzer Zeit schaffte dieser von Kleinbauern er­zeugte und zum fairen Preis gehandelte Kaffee den Sprung vom Fliegen- zum Mittelge­wicht. Heute ist der shooting star aus der Dritte-Welt-Szene schon gar nicht mehr aus der Produktpalette vieler “normaler” Lebensmittelgeschäfte wegzu­denken. Über 20.000 Läden führen ihn be­reits. Und bald schon werden weitere typi­sche Kolonialwaren mit dem Siegel des “fairen Handels” ähnliche Wege gehen.
Doch TransFair wäre nicht ohne die lang­jährigen Bemühungen von AktivistInnen aus der Dritte-Welt-Szene zu denken. Be­reits Anfang der siebziger Jahre wurde von der” Aktion Dritte Welt Handel” Kaf­fee aus der Ernte von kleinbäuerlichen Kooperativen zu fairen Preisen importiert und vertrieben. Mitte der siebziger Jahre entstand als Konsequenz aus dieser Initia­tive die “gepa”. Die KäuferInnen aber mußten noch über ein Jahrzehnt warten, bis das Angebot der fair gehandelten Pro­dukte um die Banane erweitert wurde. Erst die politische Entwicklung in Nicara­gua führte dazu, daß eine Reihe von Gruppen, Organis­tionen und engagierten Einzelpersonen das Wagnis auf sich nahm, die leicht verderbliche gelbe Frucht nach Deutschland zu importieren.
Nachdem das US-Handelsembargo 1985 die nicaraguanische Regierung gezwun­gen hatte, ihre Bananen auf dem europäi­schen Markt zu verbringen, setzte sich eine Schweizer Aktionsidee auch bei an­deren Gruppen langsam durch: “Wenn schon Bananen, dann aus Nicaragua!” Erstmals gab es Bananen aus Zentralame­rika, die nicht von einem der Bananen-Multis, sondern vom Land selbst, in eige­ner Verantwortung, produziert und ver­marktet wurden.
Die Gruppe, die aus dem Rahmen der Ni­caragua-Solidarität entstanden war, wollte zum einen eine konkrete politische und materielle Unterstützung der sandini­stischen Revolution leisten. Zum anderen sollte bei den KonsumentInnen beispiel­haft das Bewußtsein für ungerechte Weltmarktstrukturen geschärft werden. Im Zuge dieser Kampagne entstand 1986 in der BRD die “Arbeitsgemeinschaft Nica­ragua-Bananen” mit den zwei Regionalbü­ros “BanaFair” in Gelnhausen und “Liberación” in Hannover.
Zweifelsohne war der einst geäußerte An­spruch, die sandinistische Regierung auch materiell nachhaltig zu unterstützen, viel zu hoch gegriffen. Angesichts der Menge, die nur einen kleinen Prozentsatz des Ex­ports nach Europa ausmachte, war der al­ternative Handel unter ökonomischen Ge­sichtspunkten nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der eigentliche Nut­zen lag daher auch vielmehr in der politi­schen Unterstützung der Sandinisten.
Vom Multi vermarktet
1993 mußte Nicaragua aus wirtschaftli­chen Gründen seinen eigenständigen Ver­kauf nach Europa aufgegeben. Unter an­derem sanken im Zuge der Privatisierung der Bananenplantagen sowohl die Qualität wie auch die produzierten Mengen. Ein eigener Schiffstransport nach Europa war fortan nicht mehr rentabel. Dies poten­zierte sich unter dem Eindruck der Einfüh­rung der EU-Bananenmarktordnung, die im Rahmen der Begrenzung der Bana­nenimporte aus Lateinamerika (unter Ausnahme der Karibik) auch die nicar­guanische Produktion betraf. Angesichts der hohen Verschuldung der nicaraguani­schen Bananenproduktions- und -ver­triebsfirma “BANANIC” mußte die Firma – Ironie der Weltgeschichte – ein Ver­marktungsangebot des Bananenmultis “Dole” annehmen. Die AG Nica-Bananen konnte den Import nicaraguanischer Ba­nanen daher nicht fortführen.
Solipreis zur Unterstützung
von Projekten
Im letzten Jahr hat sich die AG Nica-Ba­nanen in “Arbeitsgemeinschaft Gerechter Bananenhandel” (gebana) mit einem deut­schen und einem schweizer Zweig um­benannt. Nicht nur die Veränderungen in Nicaragua, sondern vielmehr eine Öff­nung des Blicks auf die Situation in ande­ren bananenproduzierenden Ländern führten zu dieser Veränderung. Seit Herbst 1993 werden die Bananen von kleineren und mittleren nationalen Produ­zenten aus Costa Rica importiert. In Deutschland werden derzeit pro Woche rund 1000 Kisten à 18 Kg vermarktet, in der Schweiz dagegen rund 2000 Kisten – als Konsequenz einer anderen, den kom­merziellen Fruchthandel einbeziehenden Vertriebsstruktur. Die Bananen werden in Deutschland bisher fast ausschließlich in Dritte-Welt-Läden und ähnlichen alterna­tiven Strukturen vertrieben. Ein Solidari­tätsaufpreis garantiert die Unterstützung von sozialen Projekten zugunsten der Ar­beiterInnen.
Erst dadurch war es u.a. möglich, in Nica­ragua über Jahre hinweg den Aufbau eines klinischen Zentrums zugunsten der Bana­ñeros/as und eines wissenschaftlichen Zen­trums, das sich einem Programm zur Re­duktion von Pestiziden widmete, mitzufi­nanzieren. Heute wird immer noch ein landesweites Programm zur Errichtung von Kindertagesstätten und der Aufbau der im Besitz der Gewerkschaft ATC be­findlichen Finca El Trianón unterstützt. In Kolumbien werden Frauen, deren Männer der Gewalt der Todesschwadrone zum Opfer gefallen sind, bei einem Programm zur Produktion von Dörrbananen unter­stützt. Und in Costa Rica, dem Land, aus dem die derzeit in Europa vertriebenen Bananen stammen, wird neben gewerk­schaftlicher Arbeit ein Projekt gefördert, bei dem entlassene Banañeros/as unter weitgehend ökologischen Bedingungen anbauen sollen. Insgesamt konnten vom deutsch-schweizerischen Solifonds bisher über 500.000 US Dollar für diese und an­dere Projekte überwiesen werden.
Gelbe Sonderlinge
Wenn auch der alternative Bananenhandel durchaus beispielhaften Charakter für an­dere Formen des fairen Handels aufweist, gilt es, einige typische Besonderheiten hervorzuheben. Im Vergleich zum Kaffee, einem Erzeugnis, das als ungeröstete Bohne bis zu fünf Jahren haltbar ist, sind Bananen ein schnell verderbliches Pro­dukt. Infolgedessen muß der Weg von den ErzeugerInnen zu den VerbraucherIn­nen in möglichst kurzer Zeit bewerkstel­ligt werden. Eine gut funktionierende In­frastruktur (Lieferung in die Häfen der Erzeugerlän­der, Schiffstransport, Trans­port in die Rei­fereien in der BRD, bis hin zum Vertrieb im Einzelhandel) ist die wichtigste Grundvoraussetzung dafür. Klar benach­teiligt von diesen Bedingun­gen sind die kleinen Produzenten, die häu­fig eine so reibungslos funktionierende Logistik nicht garantieren können.
Der direkte Handel mit Erzeugerkoopera­tiven – typisch für den alternativen Kaf­feehandel – ist für kleinere Handelsfirmen im Bananensektor (z.B. BanaFair) unter diesen Umständen nur sehr schwer durch­zuführen. Allemal, wenn man berücksich­tigt, daß die meisten der nationalen Pro­duzentInnenen über langjährige Liefer­kontrakte an die Multis gebunden sind und nur über geringen Spielraum in ihren Lieferkapa­zitäten verfügen. Dennoch werden gerade sie im internationalen Preiskarussell von den Multis als Spielball mißbraucht. Eine endgültige Abkehr von den Multis ist für die meisten nationalen Erzeuger allerdings noch nicht möglich. Trotz großer An­strengungen nehmen die alternativ gehan­delten Bananen bisher einen prozentual geringen Marktanteil ein und können da­her noch keine wirkliche ökonomische Alternative darstellen. Eine verstärkte Nachfrage in Europa und die Einführung des TransFairsiegels für Ba­nanen könnte hier aber durchaus Abhilfe schaffen.
Auch wenn die gehandelten Bananen nicht aus kleinbäuerlicher Produktion stammen, so sind sie doch ein Gegenmo­dell zu den herrschenden Strukturen und ein neuer Versuch, das Vermarktungsmo­nopol der multinationalen Konzerne zu knacken. Langfristig tragfähige Verände­rungen zugunsten der Menschen, die von der Bananenproduktion leben müssen, sind aus der Sicht der “gebana” über zwei Schienen zu erreichen: die Unterstützung kleinerer, nationaler ProduzentInnen, die sich von den Multis lösen wollen, und die Stärkung der Organisationen der Arbeiter­Innen, der Gewerkschaften.
Natürlich ist diese Arbeit nicht frei von Widersprüchen. So ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, daß nationale Bana­nenproduzentInnenen ohne Schwierigkei­ten mit der Politik der jeweiligen Gewerk­schaften konform gehen. Interessensge­gensätze spielen dort wie hier eine ent­scheidende Rolle. Aber welche Möglich­keiten blei­ben, solange die Abhängigkeit von den transnationalen Konzernen so to­tal ist, daß selbst die Position der costaricani­schen Regierung zur EU-Bananenmarkt­ordnung (s.u.) von den Multis diktiert werden kann?
Politik auf Europäischem Parkett
Seit dem Bestehen alternativer bzw. fairer Handelsstrukturen wird dem gehandelten Produkt eine pädagogische Funktion zu­teil. Kaffee, Banane oder Tee sollen nicht nur über ihren höheren Verkaufspreis den ErzeugerInnen zugute kommen. Diese Pro­dukte sollen auch oder gerade die Konsu­mentInnen zum Nachdenken über unge­rechte Welthandelsstrukturen anre­gen. Für diejenigen, die heute im alterna­tiven Ba­nanensektor aktiv sind, hört aber politi­sche Arbeit hier nicht auf. Gerade die ak­tuelle Dimension des Themas, das durch die neue EU-Bananenmarktordnung und das breite Medieninteresse und die Angst vieler vor “zu teuren” Bananen überpro­portional in die deutsche Öffent­lichkeit geraten ist, machen eine Einmi­schung in der politischen Arena unerläß­lich. Zum besseren Verständnis einige Worte dazu.
Am 1. Juli 1993 trat die ‘Gemeinsame Marktorganisation für Bananen’ der Euro­päischen Union in Kraft. Sie ist eine Folge der Liberalisierung des europäi­schen Binnenmarktes und als eine direkte Schutzmaßnahme zugunsten bestimmter Produzentengruppen zu verstehen.
Gefördert werden soll die europäische Bananenproduktion (z.B. auf den Kanaren oder den französischen Antilleninseln). Die Produktion bestimmter Länder Afri­kas, der Karibik und des Pazifikraums (AKP-Länder) genießen weiterhin be­stimmte Handelsprivilegien. Im Gegenzug wurden sogenannte Dollarimporte aus Lateinamerika begrenzt.
Zwei Millionen Tonnen Bananen, ein Kontingent, das jährlich je nach Bedarf an die neuen Konsumbedürfnisse angepaßt werden kann, dürfen zum Zollsatz von 100 ECU/t aus Lateinamerika importiert werden. Das Kontingent wird nach einem bestimmten Schlüssel den verschiedenen Vermarktern zugänglich gemacht. So dür­fen 66,5 Prozent dieses Kontingents von MarktteilnehmerInnen bean­tragt werden, die bisher weitgehend Dollarbananen vertrie­ben hatten. Lizenzen über 30 Pro­zent ste­hen jenen Marktbeteiligten zur Verfü­gung, die bereits Bananen aus der EU bzw. aus AKP-Staaten vermarktet hatten. 3,5 Prozent (d.h. rund 70.000 Ton­nen) verbleiben sogenannten Newcomern und werden unter diesen zu gleichen Tei­len verteilt.
Direkte Folge der Marktordnung ist eine massive Umstrukturierung des traditio­nellen europäischen Marktgefüges im Ba­nanensektor. Das System der Lizenzver­gabe zur Bananeneinfuhr begünstigt Han­delsunternehmen, die schon früher im Ge­schäft mit den AKP-Bananen waren, zum Nachteil v.a. der deutschen Händler, die überwiegend Lateinamerika-Bananen vermarktet haben. Französische und briti­sche Konzerne (z.B. Geest) verzeichnen große Gewinnzunahmen.
Die Einführung der Marktordnung vollzog sich nicht ohne deutlich negative soziale und ökologische Auswirkungen auf die Situation in den zentralamerikanischen Produzentenländern:
Neben einer massiven Verschärfung des ökologischen Raubbaus wird seitdem der Druck auf viele Kleinproduzenten immer stärker. Sie sollen ihre Ländereien veräu­ßern. Wenige können den Forderungen der Multis standhalten. Immer mehr von ihnen verlieren so ihr kleines Stück Land. Arbeit aber ist Mangelware. Das Überan­gebot an Arbeitskräften drückt den Lohn der ‘Privilegierten’, die eine Arbeit finden konnten, und führt zu massiven Ver­schlechterungen ihrer Arbeitsbedingun­gen.
Forderungen nach einem gerechten Bana­nenmarkt
25 europäische und zentralamerikanische Organisationen haben die Folgen der Neu­strukturierung des europäischen Bana­nenmarktes für die bananenproduzieren­den Länder zum Anlaß genommen und sich zu einem Bananennetzwerk zusam­mengeschlossen. In einer Erklärung zum einjährigen Bestehen bilanzieren sie deren Scheitern aus entwicklungspolitischer Sicht. Dort heißt es:
“Es hat sich gezeigt, daß die EU-Bananen-Marktordnung weder die Interessen der verarmten Plantagen-ArbeiterInnen in Zentralamerika, noch die der AKP [Afrika, Karibik, Pazifik] -Produzenten […] schützt.”
Sie erheben u.a. folgende Forderungen für die Entwicklung einer neuen Marktord­nung:
– durchzusetzen, daß zu­sammen mit den ArbeiterInnen und deren Gewerk­schaften Kriterien eingeführt wer­den, an­hand derer kontrolliert werden kann, ob Bananen unter sozial und ökolo­gisch ver­tretbaren Bedingungen pro­duziert werden.
– sicherzustellen, daß alle freien und unabhängigen Gewerkschaften in die­sen Bananenplantagen Unterstüt­zung er­halten.
– die Zölle für den Import dieser Bananen in die EU abzuschaffen.
In Deutschland setzt sich die Bananen­kampagne im Rahmen ihrer Lobbyarbeit für die Durchsetzung dieser Ziele ein. Die Kampagne ist ein Zusammenschluß u.a. von “gebana”, der “BUKO-Agrarkoordi­nation”, der “Arbeitsgemeinschaft der Dritte Welt Läden”, “Pro Regenwald” und “Südwind”. Sie kümmert sich neben der Lobbyarbeit um die Ausweitung des fai­ren Handels, unterstützt Projekte in bana­nenproduzierenden Ländern und infor­miert hier über das Problemfeld Bananen.
Wir werden alle miteinander Bananenimporteure!
Zurück zum alternativen Handel mit Ba­nanen. Die Banane hat Konjunktur. Sie ist zum Symbol der Wiedervereinigung ge­worden. Wieso also sie sich nicht selbst beschaffen?, so dachten einige Unent­wegte aus der Szene. Jeder sein eignener Bananenimporteur also, jeder Dritte-Welt-Laden oder andere Bezieher von alternativ gehandelten Bananen. Hintergrund war eine Regelung der neuen Bananenmarkt­ordnung, die vorsah, daß jede natürliche oder juristische Person innerhalb der BRD das Recht hatte, eine Lizenz als New­comer zu beantragen und sich anteilig an dem Kontingent von 70.000 Tonnen eine goldene Nase zu verdienen. Denn für “BanaFair” und “Liberación” liegt die Schwierigkeit darin, daß sie nur einen kleinen Teil ihres Bedarfes über ihre Li­zenz als langjährige Dollarbananenhändler (s. oben) abdecken können. Für den Rest müssen sie Lizenzen auf dem freien Markt erstehen. Wieso sich also nicht diese Chance zunutze machen, den eigenen Marktanteil durch die Übertragung von Lizenzen von Personen und Gruppen aus dem Bereich der SympathisantInnen zu erhö­hen. Doch obwohl der Einstieg der Szene als professionelle Bananenimpor­teure ge­machte Sache schien, kam etwas dazwi­schen, was diesen Traum zerstörte. Die Gesetzeslücke wurde im September `94 geschlossen.
Dennoch bleibt der Traum, jenseits der KäuferInnen, die es schon immer gewußt haben, auf neue KundInnen zu stoßen und mit Bananen nicht nur politische, sondern auch in größerem Umfang ökonomische Unterstützung der KleinproduzentInnen und ArbeiterInnen leisten zu können. Der faire Handel mit Bananen im Rahmen von Transfair steht daher weiterhin auf der Tagesordnung.

Kasten1:

Der Verein “BanaFair” sitzt im hessischen Gelnhausen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind derzeit:
Unterstützung der Gewerkschaften in Nicaragua und Costa Rica, Ausbau von Kon­takten zu Kleinprodu­zentInnen in Zentralamerika und der Karibik, Auseinanderset­zung mit dem Thema EU-Binnenmarkt, Informations- und ヨffentlichkeitsarbeit und die Zu­sammenarbeit mit entwicklungspolitischen Organisationen in Europa.
“BanaFair” hilft gerne bei der Beschaffung von Infomaterial und bei der Durchfüh­rung von Informationsveranstaltungen zum Thema Bananen und der Bananenkampa­gne. Und: Selbstverständlich können über “BanaFair” fair gehandelte Bananen bezo­gen werden.
Kontakt/Informationen:
BanaFair e.V., Langgasse 41, 63571 Gelnhausen, Tel.: 06051.16350, Fax: 06051.16260, e-mail: banafair@link-f.rhein-main.de
Die Arbeit von “BanaFair” kann auch durch steuerabzugsfähige Spenden unterstützt werden. Spenden bitte auf das Spendenkonto:
Bana­Fair, Kto. 716057, Raiffeisenbank Nordspessart, BLZ 50763189

Zum Weiterlesen:
Zwei Hintergrunddossiers zum Thema Bananen werden im Herbst bei “BanaFair” er­schei­nen.
– “Von der Tulpenzwiebel zum Bananenmonopol. Portrait eines europäi­schen Bananenmultis” untersucht auf 24 Seiten die Ge­schäftspraktiken der Geest.
– “Die Bananenproduktion in Costa Rica – ökonomische, soziale, kul­turelle und ökologische Auswirkungen und mögliche Alternativen” des costarikani­schen “Foro Emaus” (ein Zusammenschlu゚ von Bananengewerkschaften und diversen Basisgrup­pen) gibt einen Einblick in die Diskussionen der Banañeros/as.
Bezug beider Publikationen über “BanaFair”.

Alles paletti

Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‘Gütesiegel für kolumbianische Blumen’ schon zum Muttertag 1993 angekün­digt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einver­ständnis der kolumbiani­schen Exporteure – schwieriger als ge­dacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zu­mindest das grundlegende Ver­tragswerk der Öffent­lichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen in­haltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blu­menplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbiani­sche Blumenindustrie, welt­weit zweit­größter Schnitt­blumenexporteur, hat auf­grund der Produktions- und Arbeitsbedin­gungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzei­len gemacht. Eine allzu kri­tische Presse und Öffent­lichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den interna­tionalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wur­den die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá ge­gründet. Die Sabana de Bo­gotá bot günstigste Voraus­setzungen für den Blumen­anbau, die diesem Wirt­schaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zu­wachsraten be­scherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu gün­stigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeits­kräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durch­schnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichblei­bend nur ganze 82 Cent, die ein/e Blumenar­beiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirt­schaftliche Exportprodukt Kolum­biens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Ge­samt­exportvolumens des Landes erwirtschaftet wer­den. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar expor­tiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Ver­marktung inmitten einer im­mer größer werdenden Kon­kurrenz von ande­ren ‘Drittweltlän­dern’ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzen­reiter im Konsum ist die Bundesrepu­blik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das ent­spricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deut­schen Blumen­umsatzes. Mög­lich ist da noch viel: nir­gends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutsch­land, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblu­men mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch ge­nügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor al­lem im hiesigen kalten Winter ein wichti­ges Geschäft, wenn auch die beste Heiz­anlage in niederländischen Gewächshäu­sern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatz­starke Feiertage wie Weih­nachten, Silvester, Valen­tins- und Mut­tertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuro­päischen Län­der sind wich­tige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Trans­porte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Im­mer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Öster­reich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten ko­lumbianischen Blumenproduk­tion in die EU impor­tiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‘internationalen Drogenbekämpfung’ geschlos­senen Zoll­präferenzabkommen mit den Andenlän­dern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU einge­führt wer­den. Die Ver­längerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gre­mien der Europäischen Union innerhalb des Allge­meinen Zollpräfe­renzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa je­doch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Öster­reich und der Schweiz, nah­men in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbe­dingungen der Blumenarbei­terInnen kritisieren und ih­ren Klagen über die zahl­reichen Verletzungen mini­malster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffent­liches Gehör verschaffen. In Ko­lumbien arbeiten heute etwa 80.000 Men­schen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in ange­gliederten Produktionszwei­gen beschäftigt, in der Zu­lieferung, dem Transport, der Herstellung von Ver­packungsmaterial und Pla­stikplanen usw. 600.000 Per­sonen sind, so die Schät­zungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplan­tagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Ar­beitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‘erholen’. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an norma­len Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Ok­tober beginnt, kommen Über­stunden hinzu, die die ge­setzlich erlaubten Maximal­zeiten oft weit überschrei­ten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, ein­schließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu ver­sorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb ange­stellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsver­trägen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Ver­pflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kün­digung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise einge­spart. Die Beschäftigung über Kurzzeit­verträge ermöglicht es den Unternehmern auch, aus­schließlich nach dem aktuel­len Bedarf und den gerade anfallenden Ar­beiten einzu­stellen und zu entlassen. Zu­dem werden Zeit-, bezie­hungsweise Leih­arbeits-“verträge” oft nur mündlich ge­schlossen. Entspre­chend er­schwert ist der Gang vor ein Ar­beitsgericht, um vor­enthaltene Rechte einzukla­gen. Die mit den kurzfristi­gen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsi­cherheit verbun­dene hohe Rotationsrate unter den Arbei­terInnen macht zudem eine gewerkschaft­liche Or­ganisierung schwierig. Ein ausge­sprochen positiver Effekt aus Sicht der Un­ternehmer, die alles daran­setzen, eine un­abhängige Organisierung in ihrem Be­trieb zu vermeiden. Dabei reicht die Pa­lette von Re­pressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Be­triebsgewerk­schaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organi­sierung und gewerkschaftli­che Be­tätigung gesetz­lich garantiert ist.
Ein weiteres großes Pro­blemfeld ist der permanente und intensive Pestizidein­satz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pesti­zid-Wirk­stoff, so Schätzungen, wer­den pro Jahr und Hektar auf den Plantagen aus­gebracht, etwa das Doppelte der hol­ländischen Mengen. Der Blu­menanbau er­fordert im Schnitt 14 verschiedene ma­nuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflan­zen direkt angefaßt und berührt wer­den – mehr als in allen anderen landwirt­schaft­lichen Produk­tionsbereichen. Man­gelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nicht­ein­hal­tung von Wiederbetretungsfri­sten nach Ausbringung von Schädlings­be­kämpf­ungsmitteln, unter­lassene Ausbil­dung der Ar­beiterInnen, mangelnde hygieni­sche Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergif­tungs­erscheinungen wie Schwindel, Kopf­schmer­zen, Übelkeit, Hautausschläge und Aller­gien sind alltäglich und “nur” die “leichteren” Ge­sundheitsschäden. Ar­beits­unfälle mit Todesfolge kommen im­mer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemein­den der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heran­reichen oder sie teilweise vollstän­dig ein­schließen. Drei Vier­tel des gesamten Wasser­verbrauchs in den Hauptan­bau­gebieten gehen auf das Konto der Blumen­unterneh­men. Der Grundwasser­spiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Me­ter. Infolgedessen sind Trinkwasserpro­bleme inzwi­schen weit verbreitet. Viele Ge­meinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich über­haupt leisten können, immer tiefere Brunnen­bohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vor­handene Oberflächenwas­ser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifel­hafter Qua­lität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeits­verhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik ver­schiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Infor­mations- und Öffentlich­keitskampagne begannen. Diese war ver­bunden mit dem Versuch, in einem konstruk­tiven Dialog mit den ver­schiedenen Verantwortlichen eine Verbes­serung der Si­tuation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kün­digte schließ­lich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‘Colombian Clean Flower De­claration’, wie sie zunächst hieß, zusam­men mit den ko­lumbianischen Exporteu­ren verabschieden zu wollen, die die Ein­haltung der gesetzli­chen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Ar­beitsrecht, Sozialbestim­mungen, Umwelt­schutz und Einsatz von Pestiziden ga­rantieren sollte. Die Organi­sationen der deutschen Blu­men-Kampagne begrüßten die­sen Schritt, bedeutete er doch eine indi­rekte Aner­kennung der immer wieder ge­äußerten Kritik an den Zu­ständen in der kolumbiani­schen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchge­setzt werden, daß die ge­setzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Ko­lumbien, in dem massive Men­schenrechtsverletzungen an der Tagesord­nung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ‘sauber’ sind und ein wirkliches ‘Güte’-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzge­bung.
Ob mit dem jetzt in Frank­furt vorgestell­ten Siegel tatsächlich Verbesserungen er­reicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwi­schen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren las­sen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‘Weiße Liste’ ge­setzt und erhalten das Recht, ein Em­blem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‘Colombia Flower Council, Germany’ allerdings le­diglich Richtlinien für den biolo­gisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pesti­zideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemika­lien ungefährlicher ge­macht und die Einhaltung der Si­cherheitsvorschriften und Wiederbetre­tungsfristen er­reicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeits­rechts in das Siegel einge­bunden werden können, was von diesen Bereichen sinn­vollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft wer­den soll, gibt es bislang al­lerdings keine genaue Vor­stellung, obwohl kolumbiani­sche und deutsche Gruppen immer wieder Vor­schläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kom­men, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frank­furt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‘gecheckt’ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologi­schen Bereich. Wie die feh­lenden Aspekte so schnell integriert werden kön­nen, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‘Öko-Blumen’ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Ge­werkschaften zuzulas­sen und ihren sozial- und arbeits­rechtlichen Verpflichtungen nachzukom­men, können kei­nesfalls das Ziel der Be­mühungen sein.
Für die deutsche Blumen­kampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundle­gend sind: 1. Eine Trennung zwi­schen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewähr­leistet werden, daß die Vor­schriften eingehalten und Sicherheitsvor­kehrungen bei der Handhabe von Pestizi­den beachtet werden? Oder die Arbeits­kleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kon­trollieren als die Arbeiter und Arbei­terinnen, die dort beschäf­tigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äu­ßern können, wenn grund­legende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitions­freiheit nach wie vor miß­achtet werden? Vorausset­zung ist, daß es den Arbei­terInnen möglich ist, ihre eigenen unab­hängigen Ge­werkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlas­sung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Be­schwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Ge­wicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglich­keit, sich bei den Be­triebsbesichtigungen an eine Kontroll­kommission zu wen­den, die möglicher­weise ein­mal pro Jahr im Un­ternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Mög­lichkeit für die ArbeiterIn­nen geben, sich zu ihren Ar­beitsbedingungen zu äu­ßern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müs­sen. Gleichzeitig muß ein Modus gefun­den werden, der gewährleistet, daß den Be­schwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachge­gangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommis­sion garantiert sein, die die Ein­führung und Einhaltung des Siegels und der Dekla­ration in den Betrieben kontrol­lieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkom­mission nur von Unterneh­merseite entschieden werden soll, während andere betei­ligte Gruppen keinerlei Mit­spracherecht haben. Die Ge­fahr einer reinen Eigenkon­trolle durch eine Kommis­sion, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer ent­spricht, liegt so auf der Hand. Die kolum­bianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolum­bianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniver­sität von Bogotá zusammen­zusetzen, die an einem in­terdisziplinären For­schungsprojekt zur Blumen­industrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhän­gigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unab­dingbare Voraussetzung da­für, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zu­letzt für die hie­sigen Ver­braucherInnen, die schließ­lich die kontrollierten Blu­men auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozi­alrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blu­menimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückge­griffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorge­stellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Si­tuation für die kolumbianischen Blu­menarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlos­sene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Ver­bänden, das für sich genom­men noch keinerlei Auswir­kungen und Ver­pflichtungen für die, den Verbänden ange­schlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflo­res noch kein einziges Un­ternehmen in Zukunft kon­trollieren lassen, so lange nicht die Besit­zer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unterneh­mer nicht ge­rade euphorisch reagierten, kann daran ab­gelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbe­triebe ein Interesse an dem Sie­gel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahr­scheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbe­triebe Asocolflo­res’ sich dem Abkommen an­schließen, sind die Blumen­betriebe Kolumbiens noch nicht vollstän­dig erfaßt. ‘Interessant’ ist das Abkom­men ohnehin zunächst nur für diejenigen Be­triebe, die in die Bundesrepublik expor­tieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber ver­pflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‘Siegelliste’ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumen­tarium , das die kolumbiani­schen Unter­nehmer dazu bewegen könnte, dem Ab­kommen beizu­treten.
Der deutsche Blu­menimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekün­digt, in ei­nem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entspre­chende Empfeh­lung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Flo­ristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzel­händler über eine eigene freiwillige Ent­scheidung hin­aus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewe­gen, hat der BGI al­lerdings nicht. Kom­men vom hiesigen oder anderen Märkten nicht ent­sprechende ‘Anreize’, wird sich wohl kaum ein Unterneh­mer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturie­rung seines Betriebes vor­nehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwort­lichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflich­tung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrecht­licher Min­deststandards und sozialer Grundrechte geht: der ko­lumbianische Staat, weit ent­fernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchset­zung und Garantie der Men­schenrechte zu tun und seine Kontroll­pflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Rie­sengeschäfte mit dem Ex­port hochgiftiger Pestizide macht, die deut­sche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‘besonderen’ Chance zum Handeln, natio­nale wie inter­nationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen Konsu­mentInnen werden es mit ih­rer ei­genen Verantwor­tung nicht dabei bewen­den lassen können, sich mit ‘kontrollierten’ und ‘besiegelten’ Blumen ein reines Ge­wissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‘Sozio-Öko-Blume’ ist es noch ein weiter Weg.

Eine Materialliste zum Thema ‘Blumen’ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.

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