Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staatsoberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsidenten der Staaten Venezuela, Panama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im venezolanischen Städtchen Cumaná getroffen, um des 200. Geburtstags Antonio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Vertrauter Simon Bolívars, des Gran Libertador, an dessen Seite er für die Unabhängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der peruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Dabei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militärhubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburtsstätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder verworfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst einmal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Venezuela schielen gen Norden nach Mexiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mercosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzigen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche bestehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könnten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch damals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen Nationalheld beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den eigenen Leuten verraten, als er in Peru gegen den gemeinsamen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Bedrohung kommt aus den Zentralen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, von wo aus immer neue Strukturanpassungen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit verordnet werden. Die Regierungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre eigene Machtlosigkeit zu kaschieren, setzen die herrschenden Politiker und Militärs auf Nationalismus und beschwören die innere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schriftsteller und früherem Präsidentschaftskandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen Intellektuellen seines Landes das Blutvergießen verurteilte: Er wurde als “vaterlandsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem nationalen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stimmen leicht überhört. So etwa, als Gewerkschaftsführer beider Länder den Krieg kritisierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu bekämpfen gilt.
“Brudervölker” im Krieg
Die auf den ersten Blick scheinbar so einleuchtende Erklärung für den Krieg, der seit Ende Januar in der Sierra del Condor an der Grenze zwischen beiden Ländern stattfand und mit der Unterzeichnung einer Friedenserklärung in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zunächst ein Ende gefunden zu haben schien, läßt Fragen offen. Viele Indizien weisen darauf hin, daß diesmal die ecuatorianische Regierung größeres Interesse an einem bewaffneten Konflikt hatte, als ihr Gegenüber in Lima. Interessen, die weniger mit den umkämpften, abgelegenen, bewaldeten Bergen, aber viel mehr mit innenpolitischen Schwierigkeiten, persönlichen Ambitionen und diplomatischem Kalkül zu tun haben.
Die Kommentare sind sich einig: Dieser Krieg war sinnlos. Seit 1992 war der peruanische Präsident Alberto Fujimori dreimal in der ecuatorianischen Hauptstadt Quito, um die Freundschaft zwischen den “Brudervölkern” zu beschwören, und die Bevölkerung Quitos jubelte ihm zu. Auch sind beide Länder Mitglieder des Andenpakts und wollen zum beiderseitigen Vorteil ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen. Sollte nun ein Grenzkonflikt das Verhältnis zwischen beiden Ländern vereisen, der seit Jahrzehnten bekannt ist, in dem aber abgesehen von gelegentlichen Scharmützeln längst ein friedlicher Status Quo bestand? Über Jahrzehnte hinweg beharrten beide Seiten auf ihren Auffassungen über den Grenzverlauf. Aber im Moment stellt sich vor allem die Frage, warum es trotz jahrelanger Normalität von Zeit zu Zeit immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, welche innenpolitischen Gründe jeweils für oder gegen die Inszenierung eines solchen Konflikts sprechen und wer sich von einem Krieg außenpolitischen Nutzen verspricht.
Der Auslöser: ein Fluß zuviel
Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador ist nicht neu. Seit der Existenz beider Staaten sind große Gebiete des Amazonastieflandes und die Grenzregion um das heute peruanische Tumbes an der Pazifikküste zwischen beiden Ländern umstritten. Seit 1942 dreht sich der Streit um das sogenannte Protokoll von Rio de Janeiro. Nach dem letzten Krieg 1941/42 zwischen Peru und Ecuador führten die Friedensverhandlungen zur Unterzeichnung des damals von beiden Seiten anerkannten Protokolls, in dem der Grenzverlauf festgelegt wurde. Brasilien, Argentinien, Chile und die USA fungieren seitdem als Garanten des Protokolls, durch das Ecuador den größten Teil seines amazonischen Tieflands sowie die Stadt Tumbes verlor.
Schwierig war die Einigung im Fall des umstrittenen rund 80 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen den Flüssen Rio Santiago und Rio Zamora, einer von Wald bedeckten, weitgehend unerschlossenen Region. Schließlich akzeptierten damals beide Seiten den Schiedsspruch des Brasilianers Bras Dias de Aguiar, der damit die “natürliche Grenze”, die Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen, zur Staatsgrenze machte. Das Problem bestand darin, daß es nur im nördlichen Teil des Grenzabschnitts eine echte Wasserscheide zwischen den beiden Flüssen gibt. Im größeren Teil der umstrittenen Region liegt zwischen dem zweifelsfrei ecuatorianischen Rio Zamora und dem eindeutig peruanischen Rio Santiago nicht nur eine Bergkette, sondern noch ein weiteres Flußtal: der Rio Cenepa. Ecuador betrachtete das Protokoll deshalb in dieser Region als undurchführbar, während Peru darauf bestand, daß sich das Tal des Rio Cenepa schon lange vor dem Krieg von 1941/42 eindeutig unter peruanischer Kontrolle befand und daher die Bergkette zwischen Rio Zamora und Rio Cenepa die Grenze bilde.
Der Status Quo: nicht aufeinander schießen
Für die peruanische Seite war seit dem Protokoll von Rio de Janeiro klar, daß mit Ecuador überhaupt kein Grenzkonflikt besteht. Der Vertrag sei eindeutig, völkerrechtlich gültig und von den vier Staaten garantiert, so die peruanische Auffassung. Ecuador dagegen rückte schon bald von dem Protokoll ab. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und deshalb nichtig, so die ecuatorianische Position seit Jahrzehnten, die Grenzfrage mit Peru sei damit nicht nur in der Sierra del Condor, sondern im gesamten Verlauf der Grenze bis nach Kolumbien offen. Es ist kein Zufall, daß auf allen ecuatorianischen Landkarten zum einen an der Sierra del Condor der Vermerk “Zone, in der das Protokoll von Rio de Janeiro undurchführbar ist” und darüber hinaus das gesamte nördliche Amazonasgebiet des heutigen Peru einschließlich der wichtigsten Stadt Iquitos als ecuatorianisches Territorium eingezeichnet ist. Keine Kleinigkeit, geht es doch nicht um 5 Kilometer mehr oder weniger, sondern um eine Fläche von 200.000 Quadratkilometer Regenwald mit Ölvorkommen und Zugang zu den Amazonashäfen, von denen aus der Weg über den Fluß durch Brasilien zum Atlantik geht.
Ansprüche sind eine Seite, die realen Machtverhältnisse eine andere, und die militärischen Fakten sprachen immer für Peru. Es war für Ecuador undenkbar, das verlorene Territorium durch einen Krieg zurückzuerobern. Ganz abgesehen davon, daß die Garantenstaaten deutlich machten, daß sie das Protokoll von Rio als gültig und das riesige Regenwaldgebiet somit als peruanisch betrachteten.
In der Sierra del Condor gibt es seit Jahren sowohl ecuatorianische als auch peruanische Grenzposten und Patrouillen. Beide Seiten gehen davon aus, auf eigenem Territorium zu sein, und beide betrachten die jeweils gegnerischen Patrouillen als Eindringlinge. Die Frage war damit nicht, wer böswilligerweise die Grenze überschreitet, sondern ob man sich entweder aus dem Wege geht oder einen Konflikt inszeniert. Oder anders gesagt: Wer einen Konflikt braucht, kann ihn haben, denn so gut wie ständig befindet sich irgendeine Patrouille der jeweils anderen Seite auf dem vermeintlich eigenem Territorium. Die “Grenzverletzungen” des Gegners müssen nur dramatisch in der Öffentlichkeit als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” dargestellt werden, und schon ist der Konflikt da.
Peru: Fujimori kann den Konflikt nicht brauchen
Das Interesse am Konflikt, so die verbreitete Meinung, hatte aus innenpolitischen Gründen diesmal der peruanische Präsident Fujimori. Wahlen stehen kurz bevor, und bekanntermaßen ist die Mobilisierung nationaler Gefühle ein probates Mittel, um Popularität zu erlangen. Aber ein Blick auf die innenpolitische Lage in Peru und Ecuador läßt dieses Bild nicht ganz so eindeutig erscheinen.
Fujimori führt die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl mit großem Vorsprung vor seinen Konkurrenten an. Sollte er wirklich glauben, einen Krieg mit Ecuador nötig zu haben, um noch einmal Stimmen zu mobilisieren? Im Gegenteil, ein Krieg muß für ihn eher kontraproduktiv sein. Neben der wirtschaftlichen Stabilisierung ist es der gerade wiedergewonnene Frieden, auf dem seine Popularität beruht. Peru im Jahre 1995 ist ein von dreizehn Jahren internen Krieges zwischen Staat und Guerilla ausgelaugtes Land, das seit zwei Jahren, mit dem Sieg Fujimoris über die Guerillabewegung Sendero Luminoso, wieder Hoffnung schöpft, eine friedliche Normalität aufzubauen. Ob man Alberto Fujimori für den geeigneten Präsidenten dafür hält oder nicht, die peruanische Bevölkerung steht jedenfalls genau deswegen mehrheitlich hinter ihm. Es kann deshalb nicht verwundern, daß von nationaler Begeisterung in Peru wenig zu spüren war, der Krieg war extrem unpopulär. Die seit Jahren von Fujimori beschworene Eingliederung in die internationale Staatengemeinschaft – konkret: Kreditwürdigkeit und Attraktivität für Investitionen aus dem Ausland – litt stark unter dem Grenzkonflikt mit Ecuador. Investitionen fließen nur spärlich in Krisenregionen und von Krieg belastete Volkswirtschaften. Fujimori arbeitet zielgerichtet an seinem Projekt eines kapitalistisch-modernen, von einem starken Präsidenten namens Fujimori regierten Landes. In dieser Situation einen Krieg mit Ecuador zu provozieren, hieße, den Erfolg dieses Projektes zu riskieren – und das angesichts eines auch ohne Krieg fast sicheren Wahlsiegs. Fujimori müßte von seinem Gespür für die öffentliche Meinung verlassen worden sein, das ihn in den fünf Jahren seiner Amtszeit ausgezeichnet hat. Himzu kommt, daß ein von Fujimori inszenierter Konflikt ein Wahlgeschenk für seine härtesten Konkurrenten wäre. Ex-UNO-Generalsekretär Javier Perez de Cuéllar verkörpert durch seine politische Vergangenheit geradezu die Option diplomatischer Konfliktlösung. Fujimori hätte einen peinlich taktischen Fehler begangen.
Ecuador: Ein Präsident in Schwierigkeiten
Anders dagegen die Situation in Ecuador. Präsident Sixto Durán Ballén war in den letzten Monaten alles andere als populär. Wirtschaftliche Probleme und Korruptionsskandale nagen am Image des achtzigjährigen Präsidenten, der im November ’94 sogar schon Gerüchte über seinen Tod dementieren mußte (siehe LN 247). Er hatte im Gegensatz zu Fujimori eine Popularitätsspritze dringend nötig. So sah die öffentliche Darstellung des Konfliktes in Ecuador auch völlig anders aus als in Peru. Während die peruanische Regierung sich zunächst bemühte, den Grenzkrieg intern zu einem drittrangigen Thema zu machen, fuhr das offizielle Ecuador schwere Geschütze auf. Flammende Reden über die nationale Ehre und die Verteidigung der Souveränität schufen ein aufgeheiztes und aggressives Klima, das in keinem Verhältnis zu der in der peruanischen Öffentlichkeit abwartenden Skepsis stand.
Über die innenpolitische Schwäche der gegenwärtigen Regierung hinaus liegt es durchaus im Interesse der ecuatorianischen Außenpolitik, das Thema “Grenze zu Peru” am Kochen zu halten. Daß die Gebiete bis hin zum Amazonasufer peruanisch sind, weiß in Quito jeder realistisch denkende Politiker. Die Geschichte des Krieges von 1941/42 und das Protokoll von Rio sind nicht zurückzudrehen. Aber in der Sierra del Condor läßt sich mit dem Argument der Undurchführbarkeit des Protokolls noch etwas herausholen. Um wichtige wirtschaftliche Interessen dürfte es dort zwar kaum gehen, bewegen sich die Informationen über Rohstoffvorkommen doch vor allem auf der Ebene von Gerüchten und Spekulationen. Aber der ecuatorianische Präsident, der dem Land ein verloren geglaubtes Territorium zurückholt, wird als Held in die Geschichte eingehen. Eine attraktive Perspektive für Präsidenten jeder Couleur. Je bemitleidenswerter Ecuador in der Rolle des Opfers erschien, um so größer konnte die Chance sein, bei einem unabhängigen Schlichter Zugeständnisse zu erreichen. Es paßt ins Bild, daß die ecuatorianische Diplomatie nach Ausbruch des Krieges mit bemerkenswerter Inkonsequenz ausgerechnet bei den vier Garantenstaaten intensiv antichambrierte, obwohl Ecuador das Protokoll insgesamt als ungültig betrachtet. Dazu kam die dramatische Warnung des ecuatorianischen Präsidenten, es drohe ein Militärputsch, sollte das Land den Krieg verlieren. So unglaubwürdig diese Warnung angesichts der sicheren internationalen Isolierung eines Militärregimes auch ist, der Wink war deutlich: Fällt der Ausgang des Konfliktes nicht positiv für Ecuador aus, droht Fürchterliches.
Nur nicht das Gesicht verlieren
Die erste öffentliche Klage darüber, fremde Truppen seien über die Grenze gekommen, kam von Ecuador. Dies und die jeweiligen innenpolitischen Verhältnisse in Peru und Ecuador legen die Vermutung nahe, daß das Interesse am Konflikt diesmal mehr auf ecuatorianischer Seite lag als in Peru. Aber daraus ist kein Mythos von den Intrigen des perfiden Ecuador gegen das friedliche Peru abzuleiten. Die letzten Scharmützel genau in diesem Abschnitt der Grenze fanden vor drei Jahren im Januar 1992 statt. Damals, in einer Zeit, als Sendero Luminoso in Lima täglich bombte, hatte Fujimori durchaus Grund, von innenpolitischen Problemen abzulenken. Das taktische Spiel wird zum gegebenen Zeitpunkt von beiden Seiten betrieben.
Die Eigendynamik der Eskalation eines bewaffneten Konflikts wirkte – auf beiden Seiten. Die peruanische Seite ließ nicht lange darauf warten, ihrerseits das Eindringen ecuatorianischer Truppen in peruanisches Gebiet bekannt zu geben. Und schon drehte sich die Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen. Keine Seite wollte das Gesicht verlieren. Besonders pikant war die Lage für Alberto Fujimori. Er steckte in einem Dilemma: Einerseits wollte er aus wahltaktischen Überlegungen den Krieg schnellstens beenden. Gleichzeitig mußte er aufpassen, denn so unpopulär der Konflikt in Peru auch war, würden seine Wahlchancen doch darunter leiden, erschiene der Ausgang des Krieges in der Wahrnehmung der peruanischen Öffentlichkeit als peinliche Niederlage. Wie der vorerst bestehende Waffenstillstand und die Bekundung von Friedensabsichten jedoch langfristig in eine stabile Lösung verwandelt werden sollen, steht vorerst in den Sternen.
Patriotische Parolen als Allheilmittel?
“Es sei wohl nicht sein Jahr gewesen”, hieß es im Rückblick auf das Jahr 1994 in der Tageszeitung El Comercio über den ecuatorianischen Staatspräsidenten Sixto Durán Ballén. Dieser hatte im vergangenen Jahr durch Korruptionsaffären in seiner unmittelbaren Nähe und durch seine Ohnmacht gegenüber dem Kongreß stark an Ansehen verloren und wegen der sozialen Konsequenzen seiner Modernisierungspolitik die letzten Sympathien im Volk einbüßen müssen. Darüber hinaus brachten die spontanen Alleingänge seines Vizepräsidenten Alberto Dahik die Frage nach der eigentlichen Macht immer wieder in die Schlagzeilen.
Seit 1992 fährt Ecuador unter Präsident Sixto Durán Ballén als eines der letzten lateinamerikanischen Länder den Kurs einer harten Strukturanpassung, die im vergangenen Jahr die ersten Erfolge zeigte: Senkung der Inflation von 70 auf 20 Prozent, Stabilisierung des Wechselkurses und eine Rekordhöhe der Währungsreserven. Sie wurden aber angesichts der Liste der nach langem Hin und Her letztendlich doch nicht privatisierten Betriebe wenig gewürdigt. Neben der für 1995 angesetzten Privatisierung der EMETEL, dem Bereich der Telekommunikation, sorgten besonders die geplante Privatisierung des IESS, des Instituts für Sozialversicherung, und der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador für einigen Zündstoff.
Der IESS zog von öffentlichen Angestellten ein Zwangsbeitrag ein und finanzierte so gewisse soziale Bereiche wie Krankenhäuser, die auch für die unteren Schichten zugänglich wären. In diesem Sinne ist das IESS wohl die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Der Staat schuldet dem IESS mehr als 500 Millionen US-Dollar, was dieses Thema zu einem der heikelsten für den 1983 ins Leben gerufenen CONAM, den Nationalen Rat zur Modernisierung des Staates, macht. Die Bevölkerung fürchtet, die Schulden könnten bei der Privatisierung “verloren” gehen, und fühlt sich um ihre Beiträge betrogen, so daß es auch bei Erwähnung dieses Themas zu Demonstrationen und Ankündigungen von Streiks kam.
Streiks gegen Streikverbot
Streiks der Lehrer, der Gewerkschaften, im Gesundheitswesen, der Telekom, der Justiz – die Liste der im vergangenen Jahr durchgeführten Streiks nimmt kein Ende. Streiks in allen Bereichen sind in Ecuador ein probates Mittel, seinen Unmut kundzutun, gibt es doch sonst kaum Instrumente der Opposition. Im Januar letzten Jahres zum Beispiel verbarrikadierten verschiedene Indígena-Organisationen als Reaktion auf das zum Jahresbeginn verabschiedete “Agrarentwicklungsgesetz” zehn Tage lang sämtliche Hauptverkehrsknotenpunkte des Landes und legten den gesamten Verkehr lahm. Die Regierung vertritt die Ansicht, die ständigen Streiks seien ein Hauptgrund der schleppend verlaufenden Modernisierung.
Vorgesehen ist ein Gesetz zur Eindämmung von Streiks, die “einen Großteil der Bevölkerung betreffen”; ausgeführt durch das Militär. Die Bevölkerung sieht ihr letztes Instrument des Protestes auf der Abschußliste und ihr Recht auf Meinungsäußerung vom Militär bedroht. Die Reaktion hätte kaum deutlicher sein können: Mitte Januar kündigte sich in Quito eine ganze Welle von Streiks an.
Sixto scheitert im Kongreß
Die versprochenen Verfassungsänderungen, zu denen Ende August eine sehr umstrittene Volksbefragung stattgefunden hatte, scheiterten am Widerstand des Kongresses. Am 10. Januar lief ein 100-Tage-Ultimatum ab, das Durán Ballén selbst gesetzt hatte. In dieser Zeit wollte er seine 113 Gesetzentwürfe im Kongreß verabschieden, die er aufgrund eines erstellten Meinungsbildes vorgestellt hatte. Eine weitere Volksumfrage ist nun für den 21. Mai angesetzt. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen, “das würde nur noch mehr Zeit und Geld kosten, und man habe doch wahrhaftig besseres zu tun.”
Neben Fragen zu den Blöcken Elektrizität, dem Energiesektor und der Telekommunikation soll es vor allem um die Neustrukturierung des IESS und die Veränderung bestehender Gewerkschaftsstrukturen gehen.
Moralunterricht statt soziale Verbesserungen
Parallel zur Ankündigung einer neuen Volksbefragung und damit einer neuen moralischen Niederlage des Präsidenten vor dem Kongreß, sorgte ein Gesetzentwurf, der Religionsunterricht als Pflichtfach in den Schulen vorsieht, für große Aufregung unter den SchülerInnen und StudentInnen und entfachte eine grundsätzliche Diskussion über das Bildungssystem in Ecuador. Erziehungsministerin Rosalía Arteaga mußte wie auch ihr Amtsvorgänger ihre Sachen packen, nachdem sie das von der katholischen Kirche initiierte Gesetz öffentlich verurteilt hatte. Das sogenannte “Ley religiosa” erwies sich insofern als hochbrisant, als es die seit langem schwelende Unzufriedenheit mit bestehenden Bildungseinrichtungen mit einem Schlag explodieren ließ. Der Gesetzentwurf sieht zwei Pflichtstunden “Religion und Moral” pro Woche an allen Schulen vor, mit speziell dazu ausgebildeten “MorallehrerInnen”. Es wird geschätzt, daß zwischen 5000 und 6800 neue LehrerInnen ausgebildet und eingestellt werden müßten, um diesem Anspruch zu genügen.
In Ecuador gibt es rund vierhundert religiöse Gruppierungen neben dem Katholizismus, so daß der Gesetzentwurf auch scharfen Attacken wegen Diskriminierung und indirektem Rassismus ausgesetzt war.
Die kirchlichen Schulen und Universitäten besitzen in der Regel eine ganze Menge Geld, dazu kommen Schenkungen und nicht zuletzt die hohen Gebühren ihrer SchülerInnen und StudentInnen. So lassen die Padres der Katholischen Universität in Quito ein schickes Hochhaus nach dem anderen zur Erweiterung bereits bestehender Fakultäten bauen, während an der staatlichen Universität die Gebäude verkommen und es an den nötigsten Lehrmitteln fehlt.
Höhere Preise für den öffentlichen Transport
Anfang Januar diesen Jahres wurden dann die Preise für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln von 150 auf 200 Sucres (etwa 7 Pf) heraufgesetzt. Das mag auf den ersten Blick nicht besonders viel erscheinen, war aber die dritte Erhöhung der Fahrpreise innerhalb von drei Jahren von ursprünglich 50 Sucres, also um insgesamt 300 Prozent. Die schrittweise Erhöhung – jedesmal angekündigt als die letzte – wechselte sich mit der gestaffelten Erhöhung der Benzinpreise ab, die allein im letzten Jahr um 75 Prozent anstiegen. Ebenfalls bereits die dritte “letzte” Steigerung. Beides wirkt sich unmittelbar auf die allgemeinen Lebenshaltungskosten aus.
Heftige StudentInnenunruhen und ein Toter
So kam es dann in der zweiten Januarwoche während einiger Demonstrationen zu heftigen Ausschreitungen zwischen StudentInnen und der Polizei. Am fünften Tag aufeinanderfolgender Straßenschlachten wurden mehrere StudentInnen wie auch Polizisten schwer verletzt. Der 16jährige Juan Carlos Luna Carillo erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Nach einem Wochenende der scheinbaren Ruhe ging es in der darauffolgenden Woche umso erbitterter weiter. Juan Carlos wurde feierlich beerdigt. Seine Mutter fordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und der Abgeordnete Iván Rodríguez des Movimiento Popular Democrático versprach eine genaue Untersuchung der Vorfälle, worauf innerhalb der Polizei das im vergangenen Jahr vielfach praktizierte Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen von vorne losging.
Die StudentInnen streikten in einigen Teilen des Landes gemeinsam mit den Gewerkschaften, Indígenas und andere Campesinos in seltener Eintracht, vereint durch den gemeinsamen Protest gegen die Privatisierungsprogramme und somit gegen die Regierung. Als dann auch noch die staatliche Ölgesellschaft Petroecuador einen Generalstreik für den 26. Januar ankündigte, um gegen das Vorhaben des neuen Energieministers Galo Abril anzugehen, auch die erst vor wenigen Jahren verstaatlichte Petroecuador für private Investoren zu öffnen, drohte Ecuador der totale Kollaps.
Hinzu kommen immer neue Schrekkensmeldungen aus der Küstenprovinz Guayas über Cholera-Erkrankungen und erste Tote, man befürchtet eine Epidemie. Auch in den Provinzen Manabí und Esmeraldas werden Erkrankungen gemeldet. Als ob es nicht schon genug wäre, wurden die Dörfer Calderón und Carapungo nördlich von Quito – im Gebiet des heftig diskutierten neuen Flughafens – am 13. Januar von einem mittleren Erdbeben heimgesucht.
Wenn 1994 kein gutes Jahr gewesen sein soll, so läßt sich 1995 um seine Katastrophen jedenfalls nicht lange bitten.
Wirtschaftliche Rolle des Militärs
Die Modernisierungsansätze des Präsidenten – insbesondere die Pläne zur Verstaatlichung der Ölgesellschaft Petroecuador – beobachtet das Militär mit größtem Mißtrauen. Bei Ölförderungen in den an ausländische Investoren vergebenen Abschnitten im Oriente erhalten die Militärs rund 30 Prozent der Gewinne. Sie stellen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft, unter anderem sind eine Fluggesellschaft und eine Bank in ihrem Besitz, sowie die Schürfungsrechte in dem von ihnen kontrollierten ecuatorianischen Oriente. Die starke militärische Präsenz im gesamten ecuatorianischen Amazonastiefland wird offiziell durch die ungeklärte Grenzsituation zum Nachbarn Peru gerechtfertigt. Die Militärs haben außerdem das Monopol zur Veröffentlichung von Landkarten und sind so Urheber des Festhaltens am Amazonaszugang – nicht zuletzt deshalb haben ecuatorianische Schulkinder eine ganz andere Silhouette ihres Landes im Kopf als die, die der internationalen Realität entspricht.
Verlagerung der innenpolitischen Spannungen an die Grenze
Bereits am 7. Januar schwirrten Gerüchte von Zusammenstößen an der ecuatorianisch-peruanischen Grenze durch die Presse, die Verteidigungsminister José Gallardo dementierte. Die erfolgten Truppenbewegungen seien reine Übungen. Eine Woche später folgten dann die ersten Darstellungen der Zwischenfälle, die offizielle Version berichtete von einer vierköpfigen peruanischen Patrouille, die am 9. Januar in – unbestritten – ecuatorianischem Territorium, nämlich im oberen Verlauf des Río Cenépa nördlich von Cueva de los Tayos, überrascht wurde. Sie wurde gefangengenommen und gemäß den zwischen Ecuador und Peru bestehenden Vereinbarungen am nächsten Tag zu ihrem Bataillon zurückgebracht. Am Mittwoch sei erneut eine Gruppe von diesmal 11 peruanischen Soldaten in ihr Territorium eingedrungen, so der Verteidigungsminister José Gallardo, wobei es zu ersten Toten kam.
In der Tat geht es in diesem nunmehr fast 150 Jahre andauernden Konflikt schon lange nicht mehr darum, den bis auf gelegentliche Scharmützel ansonsten friedlichen Status Quo in Frage zu stellen. Viel eher, ob es politisch opportun ist, einen Zwischenfall als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” hochzuspielen.
Wäre dieser Konflikt vom ecuatorianischen Präsidenten Sixto Durán Ballén direkt oder indirekt inszeniert worden, so hätte dieser gut daran getan, schon auf die ersten Gerüchte und den ersten Zwischenfall hin die Sache zur obersten Priorität zu machen. Statt dessen hielt er sich bedeckt, erst am 26. Januar, nach dem Abschuß eines peruanischen Helikopters, wird der nationale Notstand erklärt.
Das Protokoll von Rio: ein ecuatorianisches Trauma
Ob Zufall oder nicht, der 26. Januar war der 53. Jahrestag der Unterzeichnung des Protokolls von Rio de Janeiro, ein traumatischer Augenblick für das ecuatorianische Nationalbewußtsein. In Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung “Das territoriale Desaster” aufgeführt, ist es ein Thema, das bis heute Bitterkeit und Frustration auslöst. Der Vertrag sei unter Druck zustande gekommen und somit ungültig. Man fühlt sich ungerecht behandelt nicht nur vom “Bruderstaat Peru”, der mit Salamitaktik immer noch ein weiteren Scheibchen vom ecuatorianischen Gebiet abgeschnitten hat, sondern auch von den vier Garantiestaaten und der Weltöffentlichkeit insgesamt, die das 1942 unterzeichnete Protokoll als rechtskräftig anerkennt. Ecuador, der “Zwerg” unter den Andenstaaten, fühlte sich schon immer als “Verteilmasse” zwischen den beiden großen Nachbarn Peru und Kolumbien. Diese hatten im vergangenen Jahrhundert mehrere geheime Zusatzprotokolle über eine mögliche Aufteilung Ecuadors untereinander abgeschlossen, so zumindest die offizielle ecuatorianische Geschichtsschreibung.
Die von Ecuador veröffentlichten Landkarten zeigen die 1942 an Peru verlorenen Gebiete bis an den Amazonas. Der im Protokoll von Rio de Janeiro festgelegte Grenzverlauf ist zwar eindeutig markiert, bis auf die 80 km, um die es in den derzeitigen Auseinandersetzungen geht. Die eingezeichnete internationale Grenze verläuft aber jenseits des umstrittenen Gebiets. Besonders erbost ist man in Ecuador, daß Peru den in Artikel VI des Protokolls garantierten Zugang zum Amazonas die konkrete Ausführung verwehrt. “Ecuador ist, war und wird ein Amazonas-Staat sein”, heißt es auf vielen Schulheften direkt unter der ambivalent interpretierbaren Karte. Aus der Entdekkung des Amazonas 1542 durch Kapitän Francisco de Orellana leitet die ecuatorianische Geschichtsschreibung einen zusätzlichen Anspruch auf den Amazonaszugang ab: “Den Titel des ersten Entdekkers des Amazonas konnte Ecuador bis heute niemand streitig machen.”
Ecuador distanzierte sich 1960 von dem Vertrag, seither bestand ein mehr oder weniger friedlicher Status Quo. Daß dieses Thema jedoch nichts an seiner Aktualität verloren hat, war bereits vor Ausbruch des Krieges mit Peru deutlich. Der 1988-92 amtierende sozialdemokratische Präsident Rodrígo Borja setzte den Grenzkonflikt wieder ganz oben auf die Tagesordnung. Man wolle endlich eine dauerhafte und friedliche Lösung, signalisierte er nach Lima. Fujimori kam dreimal nach Quito, um dieses heikle Thema anzugehen. Aber der geplante Gegenbesuch Durán Balléns in Lima löste eine so kontroverse Diskussion im Kongreß und in der Öffentlichkeit aus, daß der Besuch zweimal verschoben wurde und schließlich ganz vom Tisch war. Besonders seitens des Militärs und allen voran bei Verteidigungsminister José Gallardo herrschte die Meinung vor, Sixto würde durch einen Gegenbesuch in Lima bereits klein beigeben.
Rückendeckung für Durán Ballén
In dem Konflikt mit Peru war für Ecuadors Präsidenten nicht vorauszusehen, daß er die Bevölkerung, die in allen Teilen des Landes zum Streik gegen ihn rüstete, und den Kongreß, der ihn mit Ablaufen des Ultimatums zur Verfassungsänderung gerade erneut auflaufen lassen hatte, auf seiner Seite haben würde. Und: Sixto ist alles andere als ein Draufgänger. Das von der Opposition gezeichnete Bild eines gutmütigen Greises, der nicht mitbekommt, was um ihn herum vorgeht, hat sich schon mehrmals bestätigt. Sixto hat im übrigen seine erneute Kandidatur für die 1996 anstehenden Wahlen bereits dementiert, über eine Wiederwahl macht sich der 80jährige keinerlei Illusionen. Bei diesem so brisanten Thema des Grenzkonflikts in der Öffentlichkeit als Verlierer zu erscheinen, sei es auch nur durch zu schnelles Einlenken, wäre politischer Selbstmord gewesen. Den Zuspruch anderer Staaten zu bekommen scheint genauso unwahrscheinlich wie dem bis an die Zähne bewaffneten Peru auch nur einen Quadratmeter Land zu entreißen. Außerdem hätte es wahrhaftig bessere Zeitpunkte gegeben, den bis vor kurzer Zeit von einem internen Krieg ausgelaugten Nachbarn anzugreifen.
Viel eher erschien Sixto Durán Ballén bemüht, den Konflikt mit dem Nachbarn so schnell wie möglich beizulegen, ohne jedoch das Gesicht zu verlieren.
Das Militär in neuem Glanz
Anders hingegen das Militär, das seine Position behauptet und seine Daseinsberechtigung erneuert hat. Das Feindbild Peru erstrahlte in neuem Glanz. Ecuador sah sich eindeutig in der Rolle des unschuldigen Opfers innenpolitischer Spannungen in Peru, nämlich der anstehenden Wahlen und Fujimoris eigenen “Grenzstreitigkeiten” mit Ex-Frau Susana. Fahnen wurden geschwenkt, Bilder von Mädchen in knappen Röckchen, die den Soldaten an der Front zujubelten. Gegenstimmen hatten in diesem Aufschrei des Patriotismus keine Chance. Eine kurzfristig angesetzte zusätzliche Kriegssteuer wurde sofort verabschiedet und so der im Haushaltsentwurf angesetzte Etat für das Militär entscheidend aufgebessert.
Mit der am 17. Februar in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia unterzeichneten beiderseitigen Friedenserklärung schienen die konkreten Auseinandersetzungen vorerst ein Ende zu haben. Jedoch bereits nach wenigen Tagen flammten die Feindseligkeiten und gegenseitigen Beschuldigungen wieder auf, nachdem der Generalstab die vom ecuatorianischen Unterhändler unterzeichnete Waffenstillstandserklärung kurzerhand ablehnte. Die vier Vermittlerstaaten Argentinien, Brasilien, Chile und die USA, unter deren Mitwirkung auch das 1942 unterzeichnete Protokoll zustande kam, stoppten vorerst die geplante Beobachtertruppe, die die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in dem fraglichen Grenzabschnitt erwirken sollte. Die Organisation Amerikanischer Staaten OAS erwägt inzwischen wirtschaftliche Sanktionen gegen die kriegsführenden Parteien, die Situation erzeugt zunehmend Nervosität unter den anderen Staaten des Kontinents.
Die Drogenhändler müssen sich totlachen
Nach einer Reihe von Treffen mit hohen Funktionären des State Department in Washington schloß Justizminister Néstor Humberto Martínez Neira daß “die Statistiken, die wir hier in Washington vorgelegt haben, zeigen, daß leider im Gegensatz zu dem, was in Peru und Bolivien geschieht, in Kolumbien der (Koka-) Anbau weiter im Wachsen begriffen ist”. Hiermit war klar, daß die kolumbianische Regierung auch in diesem Jahr nicht ohne Weiteres ihr Wohlverhalten von der US-Regierung bescheinigt bekommen würde.
Bereits 1993 hatte es nicht gut ausgesehen für besagte Wohlverhaltensbescheinigung durch die USA, aber, so die kolumbianische Zeitung El Espectador, “wie immer am Ende des Jahres strengte sich der gute Schüler an, und… lieferte den toten “Kopf” des Medellín-Kartells Pablo Emilio Escobar Gaviria”. Daraufhin bekam die Regierung Gaviria zuletzt doch die volle Bestätigung seitens der USA und bleibt dadurch in dem Genuß finanzieller Hilfen durch die US-Regierung, die Weltbank und den internationalen Währungsfonds.
In diesem Jahr jedoch konnte die neue Regierung unter Samper bislang keinen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Drogenproduktion in Kolumbien vorweisen, und so mehrten sich die Stimmen in den USA, die neben der Verweigerung der Wohlverhaltensbescheinigung auch drastische Sanktionen forderten.
Der US-amerikanische Botschafter in Kolumbien, Myles Frechette, äußerte, “daß sein Land Schwierigkeiten habe, Kolumbien die volle Mitarbeit im Kampf gegen den Drogenhandel zu bescheinigen”. Währenddessen ging der ehemalige “Antidrogenzar” William Bennet weiter: “Solange die Regierung (Samper) keine wirklichen Anstrengungen im Kampf gegen den Drogenhandel unternimmt, müssen wir sowohl den Import kolumbianischen Kaffees, wie auch aller anderen Produkte aus diesem Land verbieten”.
Die Reaktionen der kolumbianischen Presse waren dementsprechend heftig. Eine Bogotaer Zeitung forderte, den Botschafter zur persona non grata zu erklären. Die Krise, die in dieser Auseinandersetzung zutage trat, hat freilich tiefere Wurzeln.
Die Wohlverhaltensklausel
Bereits seit 1961 existiert in den USA ein Gesetz, das zur Bekämpfung des Handels und der Produktion illegaler Drogen die Befugnisse der Exekutive erweitern soll. 1986, als in der Ära Reagan die Kokainproduktion vor allem in Kolumbien ihre größte Blüte erreichte, verabschiedete der US-amerikanische Kongress ein Gesetz, das es dem Präsidenten gestattete, eine Länderliste der bedeutendsten Drogenproduzenten und -transporteure zu erstellen und nach eigenem Ermessen deren Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenhandels einzustufen. Für ein Land, das sich voll der Bekämpfung des Drogenhandels verschreibt und die US-amerikanischen Auflagen erfüllt, fließen militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe ungehindert weiter. Vor allem aber werden weiterhin intensive logistische und finanzielle Hilfen für die Drogenbekämpfung zur Verfügung gestellt.
Wird ein Land allerdings nicht als bedingungslos kooperativ eingestuft, ist die Exekutive berechtigt, die nicht-humanitäre Hilfe an dieses Land solange auszusetzen, bis sich dessen Regierung dem Kampf gegen die Drogenwirtschaft anschließt. Gleichzeitig verpflichtet ein negatives Votum die Regierung bei den internationalen Finanzinstitutionen ein Veto gegen Kredite an das in Ungnade gefallene Land einzulegen.
Der kolumbianische Fall
Das strategisch wichtigste Land für Drogenhändler, und -produzenten auf dem amerikanischen Kontinent ist mit Sicherheit Kolumbien. Fast die gesamte Kokainproduktion und Distribution läuft in Kolumbien ab; dort befinden sich fast sämtliche Labore, in denen mithilfe von Chemikalien wie Äther und Aceton die Droge Kokain aus der – zum großen Teil aus Peru und Bolivien importierten Kokapaste raffiniert wird. Allgemein wird der Anteil allein des sogenannten Cali-Kartells an sämtlichem in den USA konsumierten Kokain auf etwa 80 Prozent geschätzt. In den letzten Jahren haben sich die Anbauflächen für Koka, sowie von Schlafmohn, dem wichtigsten Rohstoff zur Herstellung von Heroin, vor allem in Kolumbien rasant vergrößert. Es ist davon auszugehen, daß die Einnahmen aus Drogengeschäften teilweise für die niedrige Inflationsrate in den letzten zehn Jahren mitverantwortlich sind, da der starke Zustrom von Dollars aus Drogengeschäften dessen Wert gegenüber dem Peso drückt.
Im Gegensatz zu dem Kartell von Medellín, dessen Mitglieder nie die Integration in die gesellschaftliche Elite des Landes erlangt haben, ist das Kartell von Cali bis hinein in die Regierung mit dieser verflochten und somit weitaus schwerer anzugreifen. Gerüchte sprechen auch davon, daß ein Teil der Präsidentschaftskampagne des jetztigen Präsidenten Samper mit Geldern des Cali-Kartells finanziert wurde (vgl. LN 241/242). Gerade in diesen Tagen brachte die kolumbianische Zeitschrift Cambio 16 eine Liste zutage, auf der eine Reihe von Namen auftauchen, die in Sampers Wahlkampf wichtige Positionen einnahmen und angeblich auf der “Gehaltsliste” von Gilberto Rodríguez Orejuela, dem mutmaßlichen Kopf des Kartells standen.
Clinton und die Republikaner überzeugen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß man in den Vereinigten Staaten den Bemühungen der Regierung Samper bei der Vernichtung von Anbauflächen und der Bekämpfung des Kartells von Cali mit einem gewissen Mißtrauen begegnet. Zumal die Clinton-Administration der Ansicht ist, daß Samper seit seinem Amtsantritt vor einem halben Jahr keine signifikanten Ergebnisse vorweisen kann.
In Kolumbien sieht man das freilich anders. Aber da die Regierung nicht auf die Hilfen aus den USA und den internationalen Institutionen verzichten will, flogen in der vergangenen Woche der kolumbianische Botschafter in den USA, Carlos Lleras de la Fuente, Verteidigungsminister Fernando Botero Zea und der Außenminister Rodrigo Pardo García Pena (der den Platz des unter Korruptionsvorwürfen ausgeschiedenen Generalstaatsanwalts Gustavo de Greiff einnahm) in die USA, um dort mit verschiedenen Mitgliedern des Kongresses zusammenzutreffen. Ihre Aufgabe war in den letzten Tagen eine positive Stimmung für Kolumbien zu hinterlassen, bevor Bill Clinton dem Senat die Untersuchungen und Einschätzungen zur Abstimmung über die Wohlverhaltensbescheinigung für das südamerikanische Land unterbreitet. Keine einfache Aufgabe angesichts der Tatsache, daß seit den letzten Wahlen der Kongreß von den Republikanern beherrscht wird. Auch Clinton mußte sich bereits den neuen Machtverhältnissen beugen und eine härtere politische Gangart einschlagen, um sich nicht vorzeitig die Chancen auf eine Wiederwahl in zwei Jahren zu verbauen.
Auch aus diesem Grunde hat Bill Clinton nun die Flucht nach vorn angetreten und nach zwei Jahren verminderter Intensität im Drogenkrieg nun, wie bereits seine republikanischen Vorgänger Reagan und Bush, den Kampf gegen den Drogenhandel zur obersten Priorität erklärt. Auf 14,6 Milliarden US-Dollar will der amerikanische Präsident nun die Mittel zur Drogenbekämpfung aufstocken, was einem Anstieg von fast 10 Prozent entspricht. Davon sollen etwa 64 Prozent (9,3 Milliarden US$)in die Bekämpfung von Anbau und Transport im Ausland aufgewendet werden, während 34 Prozent (4,9 Milliarden US$) in die Prävention und den Drogenentzug fließen sollen. Da der damals demokratisch dominierte Kongress bereits im letzten Jahr die vorgeschlagenen Aufwendungen für Prävention und Behandlung zusammenstrich, ist allerdings die Frage, ob Clinton sich bei den Republikanern mit seinem Vorschlag durchsetzen kann.
Die Tendenz jedoch wird klar bei der Betrachtung des neuen Vorstoßes von Clinton, mit dem er seinen politischen Feinden, wie dem republikanischen Senator Jesse Helms, den Wind aus den Segeln zu nehmen versucht. Und verständlich wird so auch, daß die kolumbianische Regierung nach beendeter Mission in den USA viel ruhiger ist: nach Einschätzung des kolumbianischen Botschafters Carlos Lleras de la Fuente ist die Wahrscheinlichkeit einer negativen Beurteilung durch die US-amerikanische Regierung nur gleich 5 Prozent, während er mit 75prozentiger Sicherheit von zumindest einer bedingt positiven Einschätzung (im nationalen Interesse der USA) ausgeht. Zu diesem Ergebnis kam der Diplomat, nachdem die jeweiligen “Gesprächspartner auf die von Außenminister Rodrigo Pardo vorgelegten Fakten in Sachen Vernichtung von Anbauflächen durchweg positiv reagiert hätten”. Die Ankündigung Sampers, im Falle einer nur bedingten Approbation durch die USA zu prüfen, ob man die Hilfen der USA überhaupt annehmen will, darf aber lediglich als eine starke Geste verstanden werden, mit der Samper versuchen will, in der kolumbianischen Öffentlichkeit nicht als Handlanger der US-Amerikaner dazustehen.
Für dieses Jahr scheint die Krise bewältigt, wenngleich sich dies letztendlich erst nach dem 1. März entscheidet, wenn Clinton dem Kongreß seine Fakten auf den Tisch legt. Aber es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß sich die USA in den kommenden Jahren bei steigendem Koka-Anbau in Kolumbien nicht mit einer PR-Veranstaltung der kolumbianischen Regierung zufriedenstellen lassen werden. Der Druck, den die Republikaner auf Clinton ausüben, wird sich in den nächsten Jahren mit einer ständigen Verschärfung der US-amerikanischen Antidrogenpolitik bemerkbar machen. Die Drogenbarone aus Cali, die sich in diesem Jahr nach den Worten von Vizepräsident Humberto de la Calle angesichts des peinlichen Verlaufs der Debatte in Kolumbien noch “totlachen müssen”, werden sich in den nächsten Jahren zunehmend leiser gebärden.
Programm der Superreichen
Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wachsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vorherrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Supermacht hat sich Herrschaftsgebiete geschaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahrzehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vielen Produktgebieten verloren, zum Beispiel im Automobil- und Elektronikbereich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deutschland.
Der Rückzug der US-Truppen aus Europa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bündnisse den US-amerikanischen Politikern nicht länger als “wirtschaftspolitischer” Hebel dient. Drohende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-amerikanische Exporteure und Importeure als auch die US-KosumentInnen insbesondere der niedrigen Einkommensschichten treffen können. Der kongenialste und am besten mit historischen US-Strategien (Monroe-Doktrin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Innerhalb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patenteinkünfte aus Lateinamerika herausziehen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strategische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die negativen Transfers hinsichtlich anderer Regionen zu kompensieren. Die Handelsbilanzüberschüsse mit den lateinamerikanischen Ländern dienen zur Kompensation der negativen Handelsbilanzen bezüglich Asiens und Westeuropas. Die kostengünstige Produktion in Lateinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikanischen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbewerbern zu konkurrieren.
In diesem Zusammenhang war die Liberalisierung in Lateinamerika notwendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zugang zu Märkten und Einkünften zu liefern und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Sinne ist die Liberalisierung eng mit den globalen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Politik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und kontinentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-amerikanische Offizielle verfolgt: Lateinamerikanische Diktatoren, die die Liberalisierung förderten, wurden finanziert und unterstützt, ein Übergang zu demokratischen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Liberalisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerikanischen globalen Politikstrategie: Insoweit, als Liberalisierung funktioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Transnationalen Konzerne (TNC) und Banken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikanische Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Berücksichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Verhandlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) basiert auf der Tatsache, daß die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 beliefen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Betrug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurchschnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Millionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahresdurchschnitt 189,8 Millionen US-Dollar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Patent- und Lizenzeinkünfte ziehen Einkommen ab, ohne daß Wertschöpfung stattfindet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Investitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen vergleichen. Zwischen 1961 und 1971 betrugen die gesamten Patent- und Lizenzeinkünfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvestitionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzeinkünften zu den Gewinnen aus Direktinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Direktinvestitionen in Lateinamerika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Lizenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direktinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikanischen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zurück. Dies war die Boomphase der lateinamerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerikanischen Gesellschaften von der ersten Liberalisierungswelle und dem starken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinamerikanischen Marktes. Die Konsumausgaben gingen zurück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kanalisierung der Ressourcen in devisenerzeugende Sektoren, um den Schuldendienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Beziehung zwischen Zinszahlungen und Gewinnrückführungen: Sofern die Banken große Summen an Zins- und Tilgungszahlungen herausziehen, fallen die Profite aus den produktiven Investitionen. Nichtsdestotrotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen Hebel, um die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen zu puschen. Viele dieser Firmen wurden von US-amerikanischen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirtschaftliche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-amerikanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zurücktransferiert. Gegenüber den schlechten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Verbesserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hatten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell negative Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersuchungszeitraum die Hauptquelle bei Privaterträgen aus überseeischen Wirtschaftsaktivitäten. Die wachsende Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren privater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schuldenlasten in Lateinamerika. Spiralenförmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zahlungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-amerikanischen Handelsdefizit gegenüber Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateinamerika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zinszahlungen von Lateinamerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transferiert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negativen Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Exportnachfrage des Subkontinents. Hingegen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die Defizite gegenüber Japan und Deutschland zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge steigender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Produktivvermögen. Liberale Wirtschaftspolitik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentverträgen erleichterte. Privatisierung ermöglichte den Ausverkauf öffentlicher Unternehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zeigen ein insgesamt spektakuläres Ansteigen im Zuge der Vertiefung der Liberalisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlungen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnahmen zum Kernstück der US-Politik wurden und dies ist ein Grund, warum US-PolitikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militärputsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikanischen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika untersuchen, fügen wir eine andere Dimension der asymetrischen Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika hinzu. Eine Dimension, die für die Unterstützung von “Freihandelsabkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechziger Jahren bis zum Beginn der Schuldenkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substantiellen Handelsüberschuß gegenüber Lateinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Millionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschlagen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durchschnittliche jährliche Defizit in der Periode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der ökonomischen Erholung in Lateinamerika begannen die USA erneut einen Handelsbilanzüberschuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliarden US-Dollar. Der Handelsüberschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen sanken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Importe infolge der lateinamerikanischen “Exportstrategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Einkommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu gewährleisten. Nichtsdestotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpassungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateinamerikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorangegangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Konsequenzen der vertieften Liberalisierung ein Ansteigen des US-amerikanischen Handelsüberschusses über seine historischen Höchstmarken ist. Während einerseits die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateinamerika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 vergleichen, sehen wir, daß die vorteilhaften Bilanzen gegenüber Lateinamerika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Lateinamerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirtschaftlichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber Lateinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan und deckt kaum das Defizit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-amerikanischen Einkommens aus Lateinamerika addieren (Rente, Handelsgewinn, Unternehmensprofit) und mit den Handelsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verstehen wir die strategische Bedeutung Lateinamerikas für die US-amerikanische Gobalpolitik. Lateinamerikas Beitrag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamteinkünfte aus Handel, Investitionen, Darlehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rückfluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliarden US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Handelsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateinamerika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Einkommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärtigen Jahrzehnt fortzusetzen. Die Liberalisierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich verschlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthandelspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politikmaßnahmen zu einer tiefen Polarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften geführt und eine neue Klasse von superreichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungsprozesses: 1987 gab es in Lateinamerika weniger als sechs Milliardäre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die meisten der Superreichen waren vor der Liberalisierung Millionäre. Sie wurden Milliardäre durch den Ausverkauf der öffentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem ausgedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlprozesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Concertación, und in Argentinien, Venezuela und Kolumbien durch die traditionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minenkonzessionen, Telekommunikationssysteme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohlstands auf eine kleine Gruppe von Familien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Obergeschoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung profitiert – zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit – sondern waren dank ihrer Verbindungen zu den liberalen Regierungen die größten Unterstützer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermögenskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Produkt der “neoliberalen Konterrevolution.” Im Zeitraum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie erfaßt die Verflechtungen zwischen den superreichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzierungsabkommen miteinander verbunden. Die Integration der Superreichen in den Weltmarkt und ihre Fähigkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu regulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subventioniert, ist zur auffälligsten Erscheinung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Superreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neoliberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliardäre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Profiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesundheits- und Bildungswesen liegt in der Umverteilung der öffentlichen Ressourcen zum Privatsektor und innerhalb des Privatsektors zu den sehr Reichen. “Neoliberalismus” ist in seiner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transferiert. Die Armen werden dem Überlebenskampf überlassen: Mit marginalen Kleinstunternehmen, mit informeller Beschäftigung und mit Almosen aus Projekten, die von Nicht-Regierungs-Organisationen gesponsert werden, versuchen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgearbeitet wurde, um Lateinamerikas Integration in den Weltmarkt zu erleichtern. Noch ist sie ein unvermeidliches Produkt eines immanenten “Globalisierungsprozesses”. Eher ist Liberalisierung ein Produkt von US-amerikanischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesellschaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Kapitalisten verbunden sind. Es sind spezifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie diktieren. In diesem Sinne muß die Umkehrung der Liberalisierung auf der nationalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.
Im Sog der Integrationswelle
WirtschaftswissenschaftlerInnen bekommen bei Begriffen wie Freihandelszone, Zollunion oder gar Gemeinsamer Markt feuchte Augen. Wachsende Märkte ohne Grenzen bedeuten steigenden Handel, erhöhte Binnennachfrage und intensivierte Investitionstätigkeit, Produktivitätsgewinne und freien Kapital- und Personenverkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorgeführt, wie ein Zusammenschluß funktioniert: Zunächst wird eine Freihandelszone vereinbart, innerhalb der die Zölle schrittweise abgebaut werden. Dann folgt der Übergang zu einer Zollunion mit gemeinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder aufgenommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinierung und Harmonisierung des Personen-, Kapital-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rückschläge bei der angestrebten Währungsunion zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelangen Binnenorientierung, die mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos 1982 ein abruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Blockbildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Kolossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Weltmarktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihandelszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MERCOSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest einbeinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirtschaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwikkelt. Diese Dominanz drückt sich vor allem in einem wettbewerbs- und damit exportfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten profitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer treffen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integrationsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreitenden Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasilien hauptsächlich kapitalintensive Industriegüter nach Argentinien exportiert, bewegen sich die Exporte in die andere Richtung vorwiegend im traditionellen Bereich der Rohstoffe und der wenig verarbeiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanzkrise am stärksten mit dem Übergreifen dieser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argentinien als Abwertungs- und Krisenkandidat Nummer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Überbewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wurden massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurzfristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforderlich, für deren Vergabe die Banken wiederum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitätssteigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent geschätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handelsbilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungsschwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Paraguays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromversorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Während in vielen Ländern der Kauf eines direkt am Heimatland liegenden Grundstückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Landes mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasilianische UnternehmerInnen beschäftigen brasilianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirtschaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem abhängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten versuchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hinausgeworfen zu werden. Ihre Anpassungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompensationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uruguayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in absehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regionalfonds als Kompensationsinstrument verfügt, kann von einer merklichen Angleichung kaum die Rede sein: Portugal und Griechenland bilden weiterhin die Schlußlichter der Gemeinschaft, und auch die übrigen “rückständigen” Regionen kommen durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MERCOSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Zollunion, haben sich bereits weitere Kandidaten für den Beitritt ausgesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Region um Santa Cruz haben sich immer mehr brasilianische Unternehmen angesiedelt und sind zu einem wichtigen Faktor der bolivianischen Wirtschaft geworden -, eventuell wollen auch Kolumbien und Venezuela beitreten. Chile ist grundsätzlich interessiert, hat aber seinen Spagat zwischen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhandlungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrößert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zahlungen des reichen Partners im Norden sollen ein komplettes Ausscheren Mexikos verhindern. Innerhalb des MERCOSURS verfügt kein Land über ausreichende Möglichkeiten, die Krise eines anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Argentinien am Ende. Beide Länder werden sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mitglieder durch Stützungskäufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexikokrise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großamerikanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhandlungen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft Nordamerikas steht, sondern eine eigene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.
Im Zickzackkurs an den Verhandlungstisch?
Trotz vollmundiger Bekundungen, gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und einen Friedensprozeß einzuleiten, ist die Politik der liberalen Regierung Samper, seit August dieses Jahres im Amt, von einer nicht zu überhörenden Doppelzüngigkeit geprägt. Ende September setzte sie im kolumbianischen Senat ein Gesetz durch, demzufolge Zwangsverschleppungen durch Soldaten zwar verboten sind, aber als Dienstvergehen weiterhin unter die Militärgerichtsbarkeit fallen. Dies bedeutet faktisch, daß die Streitkräfte nach wie vor für die gerichtliche Verfolgung ihrer eigenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind; der Bock darf weiterhin den Gärtner spielen.
Gleichzeitig ließ die Regierung in den Militärgarnisionen Büros für Menschenrechte einrichten. In der Armee wurde ein Schriftstück verteilt, das die Soldaten darüber informierte, daß sie sich weigern dürfen, Befehle zu verfolgen, die die Menschenrechte verletzen. Präsident Samper traf sich zu Gesprächen mit den nationalen Menschenrechtsorganisationen. Amnesty international wurde eingeladen, ein ständiges Büro in Kolumbien zu eröffnen. Eine Kampagne von amnesty international, die alarmierenden Berichte anderer internationaler Menschenrechtsorganisationen und der Besuch von UNO-Sonderberichterstattern Anfang Oktober in Kolumbien verstärkten den äußeren Druck auf die Regierung Samper. In der internationalen Öffentlichkeit wächst das Bewußtsein darüber, daß in Kolumbien nur auf dem Papier demokratische Verhältnisse herrschen. Allein seit 1986 fielen schätzungsweise 20.000 Personen dem “schmutzigen Krieg” zwischen Streitkräften, Paramilitärs und Guerilla zum Opfer, bei weitem mehr als in Chile während 17 Jahren Militärdiktatur.
Am 9. und 10. Februar veranstalten die kolumbianische Kampagne “Menschenrechte – Sofort” und europäische Nichtregierungsorganisationen in Brüssel eine internationale Konferenz. Eingeladen sind auch Mitglieder der kolumbianischen Regierung, die sich in Anwesenheit von VertreterInnen der UNO und des Europaparlamentes zur Menschenrechtssituation in Kolumbien äußern sollen. “Diese Regierung will auf keinen Fall – und das ist ein Faktor, der sehr hilfreich sein kann – der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt werden”, so Dr. Jaime Prieto Méndez, Koordinator von “Menschenrechte – sofort” gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.
“Menschenrechte – Sofort!”
Bei seinem Amtsantritt Anfang Oktober hatte der liberale Präsident Samper angekündigt, er wolle den schmutzigen Krieg beenden und sei auch grundsätzlich zu Verhandlungen mit der Guerilla bereit. Damit setzte er sich von der Position seines liberalen Parteifreundes und Amtsvorgängers Gaviria ab, der nach dem Scheitern der letzten Friedensverhandlungen 1992 einen kompromißlosen “integralen Krieg” gegen die Aufständischen geführt hatte. Die drei in der “Coordinadora Guerillera Simón Bolívar” zusammengeschlossenen Organisationen FARC, ELN und EPL, die sich im August mitten in ihrer militärischen Offensive “Abschied für Gaviria” befanden, bekundeten ebenfalls ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Regierung Samper lehnte ein direktes Dialogangebot der FARC jedoch mit dem Argument ab, die Guerilla müsse klare Beweise für ihren Friedenswillen liefern.
Seitdem sind die Auseinandersetzungen auf beiden Seiten von der Koexistenz von verbalen Friedensbekundungen und der unverminderten Fortführung der bewaffneten Auseinandersetzungen geprägt.
Der von Samper ernannte staatliche “Hochkommissar für den Frieden” Carlos Holmes kam Anfang November zu dem Ergebnis, das Klima sei mittlerweile für Verhandlungen geeignet, man müsse allerdings langsam und schrittweise vorgehen. Immerhin scheint mittlerweile nicht nur die Regierung, sondern auch das Militär widerwillig akzeptiert zu haben, daß die Gespräche auch ohne einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla beginnen. Jaime Prieto Méndez hofft, daß der gesellschaftliche Druck nicht nur die Kriegsparteien wieder an einen Tisch zwingt, sondern daß auch über die komplexen Ursachen des Konfliktes diskutiert wird: “Bisher haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen.” Ein Zeitplan für den Beginn von Gesprächen steht allerdings nach wie vor nicht fest.
“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”
LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Guerilla gehen unvermindert weiter. Stehen die Friedensbemühungen vor einem erneuten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, beginnen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung gegeben hatte. Im Gegenteil hatte die Regierung Gaviria nach dem Scheitern der Verhandlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und militärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhandlungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestreben der Regierung, der Gewalt und den Verletzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Beispiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dynamischere, entschiedenere Haltung als die vorhergehende. So hat sie beispielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Regierung und den Menschenrechtsorganisationen, damit diese im Senat eine klarere Position bezöge. Die Regierung distanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mittlerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versuchen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger geworden. Neue repräsentative Umfragen haben ergeben, daß trotz einiger Guerillaaktionen, die öffentliche Ablehnung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Verhandlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstützung haben wie zu anderen Zeiten. Offenbar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche beginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem bestimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zunahme der Aktivitäten von Todesschwadronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kommunistische Parlamentsabgeordnete, ermordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitäten ist wohl die bevorzugte Form der Militärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathisanten der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an einigen Gewerkschaftsführern in Antioquia oder Todesdrohungen gegenüber politischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit regierungskritischen Positionen an den Diskussionen beteiligen wollen. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Faktor bei zukünftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpedieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argumenten wurde schon die ehemalige Guerilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht erpressen lassen, sondern muß die Regierung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Paramilitärs als ihre Verantwortlichkeit anzuerkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwahlen im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blieben allerdings intakt. Politisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Einfluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahrzehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wissen, daß sie ohne bestimmte Übereinkünfte mit ihr nicht regieren können. Dies wurde von der Rechten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen anerkennen, daß die Guerilla keine Kriminellenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die linken Parteien in der Lage, den erforderlichen Druck auf die Regierung auszuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es gegenwärtig in der Gesellschaft ein eindeutiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla verlangten, haben heute die realistische Einschätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Gesellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, die Menschenrechtsgruppen, Intellektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Abwesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position vollständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedingungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Einige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozessen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesellschaftlichen Gruppen bei den Friedensgesprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoliberale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausgaben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar darüber im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Bewegungen und die Guerilla müssen verstehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich geschaffen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungsschichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen VertreterInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Um unnötige Risiken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Bewegungen von der Regierung konkrete Sicherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien politischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusammenarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtigkeit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu akzeptieren. Eine internationale Kontrollkommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde allerdings noch keine vollen Sicherheitsgarantien gewährleisten. Auch in diesem Bereich muß man Schritt für Schritt vorgehen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr präzise Antwort. In der Zeit, als das Medellín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Drogenkartell und der Aufstandsbekämpfungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und paramilitärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhandel zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Castano versuchen werden, sich in die Verhandlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß integriert werden. Die Regierung hat angekündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräften in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Vergangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist geschwächt, das Cali-Kartell ist an Verhandlungen interessiert, weil sie wissen, daß sich in Zukunft der Druck auf sie erhöhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbianischen Regierung oder der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA, da diese sich auf das Medellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zusammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsorganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechtsgruppen sind der Meinung, daß eine Legalisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist allerdings nicht akzeptabel, daß die Menschenrechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbekämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu akzeptieren, daß die Strafe für diese Verbrechen zwischen ihnen, der Staatsanwaltschaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Telefongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft verurteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfahren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisieren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhandels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Geschäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Drogenhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einhergeht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt allerdings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkriminalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschenrechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstützung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internationalen Kampagne von “amnesty international” und der Vorlage des Berichtes der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, befindet sich die kolumbianische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unternimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschenrechte im Verteidigungsministerium einrichtet.
Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, daß sie anfängt, die kolumbianische Regierung nicht mehr als ohnmächtiges Opfer, sondern als Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsverletzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die internationale Gemeinschaft sich mit der Situation in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien ernannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regierung enorme Angst, durch ihre Verletzungen der Menschenrechte einige ökonomische Vorzugsbedingungen im Exportbereich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäischen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Regierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öffentlichkeit ausgeht, ist daher von entscheidender Bedeutung.
Die optimistischen Pessimisten
Von der Leistung der Schauspieler über die Kreativität bei der Inszenierung bis zu den Inhalten war das Stück von der ersten bis zur letzten Minute überzeugend. “En la Raya” ist in jeder Hinsicht ein würdiger Nachfolger von “El Paso”, dem Stück, das die Truppe bereits 1988 so erfolgreich in Deutschland aufgeführt hat. Der Inhalt von “En la Raya ist schnell erzählt: Dargestellt wird eine Gruppe sogenannter desechables (Wegwerfbare) – oder ñeros, wie sich die Obdachlosen in Kolumbien selbst nennen. Im Rahmen eines Resozialisierungsprogrammes, wie sie zur Zeit in Bogotá wirklich durchgeführt werden, sollen die desechables eine Theaterversion der “Chronik eines angekündigten Todes” von García Márquez aufführen. das Geld dafür kommt aus Europa, der Regisseur aus Deutschland wird jeden Augenblick erwartet. In dieser Situation versucht ein etwas hilflos wirkender Regieassistent mit seinem wild zusammengewürfelten Haufen, einzelne Szenen des Stückes einzustudieren. Es gelingt jedoch nicht eine einzige der Proben. Wegen ihrer geistigen und körperlichen Defekte, die ihnen ihr Außenseiterleben beibrachte, sind die ñeros nicht in der Lage, das Stück einzustudieren. Immer wieder kommt es zu Konflikten, sei es aus Geltungsdrang oder aus Eifersucht. Nach jedem gescheiterten Versuch scheint die Gruppe aufgeben zu wollen, und immer wieder rauft sie sich zusammen in Erwartung des Regisseurs, der aber nie auftaucht.
Mit jeder gescheiterten Probe erhöhen sich die Spannungen in der Gruppe, und folgerichtig kommt es irgendwann zum Bruch. Mit den symbolträchtigen Worten “al fin y al cabo la calle es lo mío” (letztendlich gehört mir die Straße) verläßt eine ñera das improvisierte Theater.
Sie ist noch nicht lange fort, da holt die Gewalt auch die anderen aus ihrem Traum in die Realität zurück: Die Nachbarschaft, die sich nicht mit der Anwesenheit dieser störenden und “gefährlichen” Elemente abfindet, schickt den ñeros eine Bande gedungener Schläger auf den Hals. Am Ende – wieder in Einzelsubjekte zerfallen – kehrt die Gruppe völlig zerschunden auf die Straßen der großen Stadt zurück.
Bogotá ist nicht Hollywood.
Nun ist es sicher nicht das erste Mal, daß sich jemand des Themas der Obdachlosigkeit annimmt. In diesem “Theater im Theater” aber wagt sich die kolumbianische Gruppe an eine Art Grenzbereich heran, wie der Name des Stückes bereits andeutet. “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, und dieser Titel sagt bereits alles: auf der Kippe steht nicht nur das Projekt von der ersten bis zur letzten Minute. Auf der Kippe steht eigentlich alles bis hin zur Existenz eines jeden der Mitwirkenden.
Bei einer Veranstaltung am Lateinamerika-Institut der FU Berlin äußerten sich Regisseur Santiago García und seine Theatertruppe zu dieser Inszenierung.
Das Stück, so der Regisseur, sei für ihn nur ein “Vorwand, die Realität in Kolumbien sichtbar zu machen”. Wie Cervantes mit seinem Don Quijote ein Bild Spaniens gezeichnet habe, habe auch er anhand eines “extremen Einzelbeispieles eine Gesamtvision” geben wollen, wie sie wohl für die meisten lateinamerikanischen Großstädte zutreffen würde. “La Candelaria”, deren Name von einem Stadtteil Bogotás kommt, sehen sich selbst als Vermittler zwischen Gesellschaft und Institutionen. Die desechables, dieser “menschliche Abfall”, habe keinerlei Zugang zu den Medien, dabei zählten sie immerhin 25.000 allein in Bogotá, seien also ein beträchtlicher Teil kolumbianischer Wirklichkeit.
Parallel zu den Proben haben die Darsteller des Stückes in einem Projekt zur Wiedereingliederung von ñeros in die Gesellschaft gearbeitet und hatten so Gelegenheit, diese “Welt der Hoffnungen und Frustrationen, in der der Tod allgegenwärtig ist”, kennenzulernen. Diese Arbeit mit wirklichen Obdachlosen erklärt die hervorragenden schauspielerischen Leistungen, mit denen sogar der Regisseur selbst auf der Bühne überzeugt.
Es mag vielleicht nicht gerade zwingend erscheinen, sich für die Realisierung eines solchen Themas ausgerechnet der “Chronik eines angekündigten Todes” vom Superstar García Márquez zu bedienen. Der Regisseur erklärte hierzu, er habe dies wegen García Márquez’ Fähigkeit getan, einerseits eine mythische Welt zu zeichnen, dies aber auf der anderen Seite mit den Mitteln einer Reportage zu tun. Der krimiartigen Struktur der “Chronik” habe die Gruppe dann versucht, eine Art “Anti-Krimi” gegenüberzustellen, eine Anti-Chronik.
Eine “Reihe seltsamer Zufälle” (Schwierigkeiten mit dem Copyright García Márquez’, sowie Unzufriedenheit mit dem Stück, das der Truppe zu glatt und schön erschien, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden) habe dann zu weitreichenden Neuimprovisationen des Stoffes geführt, bis nach eineinhalb Jahren Arbeit endlich das Stück in seiner jetzigen Fassung fertig gewesen sei.
Santiago García nennt das Stück selbst dem Inhalt nach “grundlegend pessimistisch”: “Wir glauben nicht an die Mythen und die Lügen vom Fortschritt”. Auf der anderen Seite bleibe bei allem Pessimismus und bei aller Hoffnungslosigkeit doch auch ein Grund zu Optimismus: die Würde des Einzelnen und der Traum von einer besseren Welt – egal wie tief ein Mensch gesunken sein mag.
Und so ist dann wohl auch die Anekdote von dem ñero zu verstehen, der die Bourgeoisie in ihren engen Appartments bemitleidet, während ihm doch die ganze Stadt mit ihren Straßen gehöre.
Durch ein Fenster schauen
Vielleicht können Sie mir ein wenig über ihr neues Stück erzählen. Ich weiß nur, daß es um diese ñeros geht.
Santiago: Ich könnte ihnen etwas über die theatrale Struktur des Stückes erzählen. Vor allem haben wir an einer Art Theater im Theater, wie z.B. bei Peter Weiss gearbeitet, um mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. In diesem Fall geht es auf einer Ebene um eine Gruppe Marginalisierter, die im Rahmen eines Rehabilitationsprogrammes ein Theaterstück auf die Bühne bringen sollen. Eine weitere Ebene ist die des Stückes, welches sie proben. Eine Theaterversion des Romans “Chronik eines angekündigten Todes” von Gabriel García Márquez. Diese beiden Ebenen – dessen, was in den Marginalisierten vorgeht und was der eigentliche Inhalt des Romans ist – sollen aufeinander einwirken. Eine dritte Ebene dann thematisiert das Magische, Fremde, Nicht-Rationale, das Unlogische. Mit der Verbindung dieser drei Ebenen haben wir das Gerüst für das Stück erarbeitet. Soweit zur Form. Das eigentliche Thema sind jene neu entstehenden Bevölkerungsgruppen, deren Zahl in den großen Städten Lateinamerikas täglich zunimmt. Und nicht nur in Lateinamerika, sondern auch hier in Europa. Jene große Gesellschaftsschicht, die aus verschiedensten Gründen – seien es Drogen, soziale oder ideologische Gründe – an deren Rand lebt. Dies ist ein Thema. das andere ist das Thema des Romans von García Márquez: der Tod, die Xenophobie, die soziale Ausgeschlossenheit von Anderen. Also all die Themen, die auch mit den ñeros, den Marginalisierten zu tun haben.
Was sind eigentlich eure Arbeitsmethoden und Ausdrucksformen?
Santiago: Wir benutzen verstärkt Masken und intensive Gestik auf unserer Tour. Eine Tendenz hierzu gibt es schon seit fünf, sechs Jahren; eigentlich seit unserem Stück “El Paso”, mit dem wir ja auch hier in Deutschland waren. Wie viele andere Theatergruppen auch, erproben wir den Bereich der nonverbalen Kommunikation, um die Botschaften unserer Stücke zu intensivieren. Das hat aber nichts mit der Übertragbarkeit auf europäische Bühnen zu tun. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Es gibt ja heute einen derartigen Mißbrauch der Kommunikationswissenschaften durch bestimmte Wissenschaftler – etwa “Kinetik” – daß wir über eine genaue Betrachtung der non-verbalen Sprache versuchen wollten, diese in unser Theater aufzunehmen. Und zufälligerweise verstehen so auch jene Zuschauer unserer Stücke, die kein Spanisch können, diesen anderen, non-verbalen Bereich, den wir da auszuloten im Begriff sind. Natürlich ist Verbalität in unseren Stücken noch immer wichtig, aber es muß auch nicht immer Spanisch sein. In unserem aktuellen Stück ist es beispielsweise die Sprache der Marginalisierten, die wir ñeros nennen und die in gewisser Weise ihre ganz eigene Sprachkultur entwickeln.
Patricia: “En la Raya” heißt soviel wie “auf der Kippe”, “im Grenzbereich”. Und es ist eine Grenzsituation, in der die von uns dargestellten ñeros in Kolumbien leben. Die Existenz dieser Leute ist wegen der Gewalt im Land – in ganz Lateinamerika oder der ganzen Welt, auch hier in Europa – von ganz speziellen Daseinsmerkmalen gekennzeichnet. Dennoch ist der kolumbianische Fall wegen der ihm eigenen Gewalt besonders dramatisch. Und in diesem Bereich reproduziert sich die Gewalt auch viel mehr als in anderen Gesellschaftsteilen.
Die Gewalt unter oder die Gewalt gegenüber der Marginalisierten?
Patricia: Sowohl als auch. Und nach außen geben sie auch Aggressionen weiter. Ihre Ausgeschlossenheit allein ist schon eine Art Gewalt. Die Gewalt setzt sich aber auch im Ausschluß der fortschrittlichen Gesellschaftssektoren fort – und produziert dort Gegengewalt. Dies ist das kolumbianische Drama. Der Sektor, in dem die ñeros leben, ist aber möglicherweise der allergewalttätigste. Deshalb war die Arbeit so interessant: die ñeros sind einfach ein “Fenster”, durch das wir über ganz Kolumbien erzählen. Interessant war auch, daß einige von uns während der Arbeiten an diesem Stück direkt mit den ñeros gearbeitet haben. Das lief also parallel. Auf diese Weise konnten wir von ihnen lernen, wie sie reden, wie sie denken und
wie sie die Gesellschaft sehen. Das Ganze ergab dann eine Konstruktion von Straßenkultur. Und viel Verwirrung, da die Leute zu glauben begannen, die Schauspieler von “La Candelaria” seien wirklich ñeros. Aber es ist wichtig, daß dieses Thema endlich aufgegriffen wird: Tausende haben bereits unser Stück gesehen, wir haben überall plakatiert und publiziert … und so entstand eine kulturelle Bewegung.
Wie ist die Kontinuität möglich, die eine solche Arbeit erfordert?
Patricia: Klar, die ñeros sind schwierig, sie werden dämonisiert. Sie werden als Feinde betrachtet. Und es ist sehr hart, mit ihnen zu arbeiten. Aber es macht auch viel Spaß. Es ist so schwierig, weil sie kein Interesse haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren. Sie sind nur am Theater interessiert – und so sind einige von ihnen immerhin zwei Jahre dabeigeblieben.
Wie benutzt ihr das Thema als “Fenster”, durch das Kolumbien zu sehen ist?
Patricia: Das hier, was wir mit den ñeros machen, ist eigentlich etwas direkter. Da sie keine SchauspielerInnen sind, sehen viele Leute sie zum ersten Mal als etwas anderes, als Außenseiter. Und das beeinflußt natürlich die bisherige Intoleranz der Leute. Dieses Lumpenproletariat wurde in Kolumbien ja bisher nie beachtet – nicht einmal von der sogenannten Linken.
Vielleicht können sie mir aber doch über die “Fenstermethode” berichten. Über die Gewaltsituation und darüber, welches Fenster zu Kolumbien sie uns mit dem neuen Stück öffnen.
Santiago: Es ist ein Fenster, das sich zu vielen Seiten hin öffnet. Wir wollen die gesamte, sehr komplexe Realität des Landes zeigen. Es geht natürlich nicht nur um die ñeros, wenngleich wir sie quasi hyperrealistisch darstellen wollten. Es geht hier auch um die allgemeine Frustration, unter der alle lateinamerikanischen Länder seit über 500 Jahren leiden. Frustrationen, nie eingelöste Versprechungen, Hoffnungslosigkeiten, die von neuen Hoffnungslosigkeiten abgelöst werden. Die Hoffnung des Volkes auf ein besseres Leben, immer wieder von den Regierenden zerstört … eigentlich glaubt schon niemand mehr daran. Und ich denke, daß weltweit die Geschichte vom Irdischen Paradies kaum noch geglaubt wird. Und so leidet auch unsere Gruppe ñeros an dieser Frustration, die sie über das Theater überwinden wollen. Das schaffen sie natürlich nie – immer gibt es neue Hindernisse. Sie sind nicht nur Opfer dessen, was von außen kommt, sondern Opfer ihrer selbst. In unserem Land hat sich etwas entwickelt, was ich die “Unmöglichkeit” nennen würde: Das kommt dadurch, daß sich die Menschen in Kolumbien daran gewöhnt haben, andere sterben zu sehen – ja einen ganzen Genozid zu sehen. So etwas sichtbar zu machen, ist eine der großen Leistungen im Werk von García Márquez. In der “Chronik eines angekündigten Todes” verliert eine ganze Stadt ihre Sensibilität und so wird eine Person wie ein Tier getötet. Genau diesen Prozeß wollen wir auch darstellen. Die Hoffnung, wie sie bei Beckett auftaucht, haben wir in “El Paso” behandelt. Und diese Hoffnung, auf die das ganze Land hinlebt, wird sich niemals erfüllen. Und schon gar nicht von außen. Wir werden unser Glück selbst schaffen müssen. Und dies ist der andere Blickwinkel des Fensters, durch den wir nicht nur Kolumbien sehen, sondern die gesamte Erde.
Pacho: Ich halte es auch für wichtig, noch die “Säuberungstrupps” anzusprechen; diese Leute, die in unserem Theater auch eine Rolle spielen. In Kolumbien verjagen die “Säuberungstrupps” die ñeros nicht nur dort, wo sie stören, sondern sie töten sie. Und das nicht nur im Auftrag der Reichen, sondern einfach so, überall. Und die Leichen liegen dann als Warnung auf den Straßen. Das ist gerade wieder eine Woche vor unserer Ankunft hier geschehen. Acht Tote! Und es gibt viele in der Bevölkerung, die die Reintegrationsprogramme verhindern oder sie nicht in ihrer Nähe haben wollen. Nirgendwo will man die ñeros haben, weil man Angst vor ihnen hat. Und das Geld versickert … Auch das ist Teil der Gewalt.
Patricia: Ja, die Gewalt hat die Gesellschaft intolerant gemacht. Wir selbst hatten Probleme mit unserem Projekt. Und da die ñeros ihrerseits auch gewalttätig sind, war es nicht leicht. Ich glaube, wir sind irgendwie ins Herz der Gewalt eingedrungen. Gewalt gegen den Anderen. Und es ist wichtig, daß sich das Theater mit solchen Grenzbereichen befasst, die Beispielcharakter haben.
Von Heiligenscheinen und Scheinheiligen
Um das Verhalten der Alternativhändler beurteilen zu können, ist es zuvor nötig, die Entwicklungen auf dem Weltkaffeemarkt nachzuvollziehen. Dieser war bis 1989 vom Weltkaffeeabkommen reguliert, einer Vereinbarung zwischen Kaffeeanbauländern (Brasilien, Kolumbien…) und den Verbrauchsländern (USA, BRD…), die Exportmengen festgelegte und den Preis bei etwa 1,20 US-Dollar pro Pfund (Libra) Rohkaffee stabilisieren sollte. Nachdem das Abkommen im Sommer ’89 nicht verlängert worden war, strömte der bislang zurückgehaltene Kaffeeüberschuß auf den Markt und drückte den Preis drastisch – bis auf den Tiefststand von 0,60 US-Dollar pro Libra Anfang 1992.
Weltmarktpreise
Die alternativen Kaffeevermarkter haben in ihrer Informationsarbeit immer wieder auf die katastrophalen Folgen dieses Niedrigpreises vor allem für die Kaffeekleinbauern hingewiesen, die nicht einmal mehr ihre Produktionskosten decken konnten. Diese Situation dürfte auch dazu beigetragen haben, die Idee von TRANSFAIR bei Weltläden und KritikerInnen der Kaffeekonzerne, die bisher nur auf alternativ vermarkteten Kaffee geschworen hatten, hoffähig zu machen, denn es war klar, daß GEPA und MITKA nicht den gesamten Kaffee der vom Preiszusammenbruch betroffenen Kleinbauern abnehmen könnten. Immerhin garantierten die auch von kommerziellen Händlern angebotenen TRANSFAIR-Sorten einer größeren Anzahl von Kleinbauern einen Richtpreis von 1,26 US-Dollar pro Libra.
Nun stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, daß die Kaffeepreise dauerhaft unter den Produktionskosten liegen (von 1990 bis März ’94 überschritten sie die 0,75 US-Dollar-Marke nicht, s. Grafik). Nach den kapitalistischen Spielregeln müßten diejenigen Produzenten, die beim gegebenen Preis nicht mehr profitabel wirtschaften, ihre Produktion einstellen. Dadurch müßte das Angebot langsam wieder auf das Niveau der Nachfrage sinken und der Preis langsam wieder steigen – bis zum サGleichgewichtspreisß wenn sich Angebot und Nachfrage die Waage halten. Diesen Anpassungsprozeß hatten die Apologeten des freien Marktes von der Auflösung des Kaffeeabkommens zu er_warten behauptet, denn ihrer Meinung nach trug das Kaffeeabkommen die Schuld an der Überproduktion. Tatsächlich aber erhöhte sich die Produktion erst recht nach der Auflösung des Kaffeeabkommens – die Produzenten beantworteten das Sinken der Preise mit einer Ausweitung der Menge, verhielten sich also “marktwidrig” Da die Nachfrage stagnierte, vergrößerte sich das überschüs_sige Ange_bot, und der Preis sank noch mehr.
Die Dumpingpreis-Theorie
Das Phänomen der marktwidrigen Reaktionen auf dem Weltkaffeemarkt versucht der サalternativenichtkapitalistischn Nahrungsmitteln für den Eigenbedarf, sie benötigen aber noch eine bestimmte Summe Geldes für Gesundheit, Schule und einige Konsumgüter, die sie nur mit dem Anbau und Verkauf von Kaffee verdienen können. Ein Sinken der Preise kompensieren sie mit einer Erhöhung der Anbaumenge, um das Geldeinkommen zu stabilisieren – sie können die Kaffeeproduktion nicht einschränken oder einstellen, weil sie keine Alternative haben, an Geld heranzu kommen. Die Folge ist eine verstärkte Selbstausbeutung ihrer Arbeitskraft sowie die Überlastung der Böden (und damit auf Dauer Qualitätsverlust).
Vergleichbar damit ist das staatliche Verhalten von Ländern, deren wichtigstes (oder einziges) Exportprodukt Kaffee ist und wo der Kaffeeexport (oder sogar die Produktion) staatlich geregelt ist. Diese Staaten, die Devisen benötigen, um ihren Schuldendienst zu begleichen und Luxusgüter für die Eliten zu importieren, verhalten sich als Devisenmaximierer – ungeachtet der internen Kosten dieser Politik. Und wenn Kaffee (fast) die einzige Möglichkeit ist, an Devisen zu kommen, dann beantworten die Staaten ein Sinken des Preises mit einer Erhöhung der Exportmenge. Die Folge ist natürlich ein noch größerer Kaffeeüberschuß auf dem Weltmarkt und ein noch rascher sinkender Preis.
Massarat zeigt also, warum 26 Jahre lang keine Anpassung der Kaffeeanbieter an die Nachfrage stattgefunden hat, ob nun das Kaffeeabkommen in Kraft war oder nicht. Es gibt strukturelle Gründe für die Überproduktion, die der Überlebensproduktion der Kleinbauern und der von Devisen abhängigen Länder geschuldet sind, die vom Weltmarktgeschehen an den Rand gedrückt werden und sich deswegen nicht mehr profitmaximierend verhalten können. Infolgedessen ist der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt auch kein “Gleichgewichtspreis” sondern ein Dum_ping-Preis.サDer Boom
Nun geschah etwas, womit niemand so richtig gerechnet hatte: Seit Anfang ’94 begannen die Kaffeepreise zu steigen und überschritten im Mai die 1,20 US-Dollar-Marke des früheren Weltkaffeeabkommens – bei サfreiem Spielen, um einen Preisanstieg zu bewirken. Die tatsächlich zurückgehaltenen Mengen wurden nämlich bereits im März ’94 vollständig freigegeben, als die vereinbarte Preisgrenze des Abkommens überschritten war – die Preise stiegen trotzdem weiter.
Der Grund für den Preisanstieg ist ein drastischer Produktionsrückgang in den letzten beiden Erntejahren: Zum ersten Mal seit 1985 (Dürre in Brasilien) war die Erntemenge zum Ende des Kaffeejahres 92/93, im März ’93, deutlich gefallen, und zwar gleich um 10 Prozent – nämlich 10 Millionen Sack. Dies hatte zunächst keine Auswirkungen, da aus den früheren Überschußjahren noch mehr als 10 Millionen Sack auf Lager waren und auch die Spekulation nicht reagierte – sie erwartete wohl einen erneuten Ernteanstieg auf das Niveau der Vorjahre. Doch als auch das neue Erntejahr im März ’94 wieder einen Produktionsrückgang um 1 Mio Sack brachte, bewertete der Markt den Trend als dauerhaft gewendet und reagierte auf die prognostizierte Angebotslückenoch warten sollen: Im Juli kletterte der Preis innerhalb weniger Wochen um gut einen US-Dollar auf 2,30 US-Dollar! Der rasanteste Preisanstieg seit 1975. Was war geschehen?
Während der Preisanstieg ab März als normalebeabsichtigtenanzen geschädigt und wird die Ernte 95/96 um etwa 20 Prozent reduzieren. Die kommende Ernte 94/95 ist nur geringfügig betroffen, da die Bohnen bereits gut entwickelt sind. Doch an der Warenterminbörse in New York ist die kommende Ernte seit langem verkauft, gehandelt wird eben der Kaffee der übernächsten Jahre. Nach der ersten Erregung hat sich die Lage etwas beruhigt, der Preis sank Ende August wieder auf 1,90 US-Dollar. Doch ein Rückgang auf das Niveau vor dem Brasilien-Frost wird in nächster Zeit nicht zu erwarten sein: Da Kaffee eine mehrjährige Pflanze ist, können andere Produzenten die Angebotslücke nicht so schnell schließen. Andererseits ist ein Nachfragerückgang aufgrund des hohen Preises auch nicht zu erwarten, da die durchschnittliche deutschamerikanische KaffeekonsumentIn hart im nehmen (oder geben?) ist: Egal wie teuer, an den Muntermachern für Auto und Mensch, Benzin und Kaffee, wird nicht gespart.
Das Ende der Dumpingpreise?
Nun stellt sich die Frage, ob mit der aktuellen Entwicklung die Dumpingpreis-Theorie widerlegt ist. Sicherlich muß der Brasilien-Frost als Sonderfall betrachtet werden, aber interessant ist ja, daß sich der Preis bereits vorher erholtfreiwillig
Freiwilligvom Markt erzwungenBei einsetzendem Preisverfall wie nach 1989 versuchen sie zunächst, die Kosten zu drükken, indem sie die Löhne der PflückerInnen kürzen, weniger Pestizide und Düngemittel einsetzen und die Pflege der Pflanzen vernachlässigen. Vielleicht nehmen sie auch ein oder zwei Jahre Verluste hin, in der Hoffnung, bei neu einsetzendem Preisanstieg schneller als die Konkurrenz, die erst neu anpflanzen muß, die Produktion steigern und Extra-Gewinne einfahren zu können. Bleibt aber der Boom aus, werden sie früher oder später die Produktion einstellen.
Genau das ist offenbar 1992 in größerem Maße geschehen. Nun behauptet aber Massarats Theorie nicht, daß es solche kapitalistischen Produzenten nicht gäbe. Prototyp sind ja gerade unsere beliebten Feindbilder, die Kaffeebarone, die das Land unter sich aufgeteilt haben, Hungerlöhne zahlen und aufmüpfige Arbeiter von den Schergen der Diktatur abholen und foltern lassen. Aber es gibt auch eine Reihe von kleineren und mittleren Unternehmen, die Kaffee produzieren – zu ungünstigeren Kosten und mit dünnerer Kapitaldecke als die Barone, und sie sind es, die beim Preisverfall zuerst aussteigen müssen.
Dies alles spricht aber nicht gegen die These der strukturellen Überproduktion. Diese sagt ja bloß aus, daß es immer einen Bodensatzh-kapitalistischer Produzenten entsteht. Anfangs, kurz nach 1989, haben sie diesen Effekt gewissermaßen überkompensiert: sie haben ihre Menge schneller gesteigert, als die anderen ausgestiegen sind. Dadurch sinkt der Preis noch mehr, weitere steigen aus; andererseits stößt die Mengensteigerung irgendwann an ihre Grenzen, und der Trend kehrt sich um: Es gibt insgesamt eine Mengenreduktion, aber immer abgemildert durch die gesteigerten Mengen der Subsistenzproduzenten. Die strukturelle Überproduktion ist also auch wirksam, wenn insgesamt die Anbaumenge sinkt – gäbe es sie nicht, wäre die Menge viel stärker gesunken und der Preis viel eher gestiegen. Die aktuelle Entwicklung spricht also im Kern nicht gegen die Dumpingpreis-Theorie.
Eine Prognose der etwas längerfristigen Entwicklung bestätigt dies, denn in absehbarer Zeit ist mit einer Umkehr des aktuellen Trends zu rechnen. Die plötzlich so hohen Preise werden die Produzenten, die vor zwei Jahren ihre Plantagen ganz oder teilweise stillgelegt hatten, dazu animieren, ihre Produktion wieder aufzunehmen bzw. auszuweiten. Es ist höchst wahrscheinlich, da wir in ein paar Jahren das Spielchen von Überproduktion und Preisverfall erneut erleben dürfen.
Warum dürfen Kleinbauern nicht vom Preisanstieg profitieren?
Es bleibt also noch die Frage zu klären, in wessen Taschen das “viele” Geld, was wir jetzt für unseren Kaffee bezahlen, letztlich hängen bleibt – bei den Konzernen wie bei den Alternativen!? Wieviel streichen die (Zwischen-)Händler und Spekulanten ein, was bekommen die BäuerInnen?
Eine Betrachtung der öffentlichen Reaktionen auf die gestiegenen Welt-Kaffeepreise ist durchaus dazu geeignet, leichte Verwunderung hervorzurufen. Die deutsche Kaffeewirtschaft, lange im Kreuzfeuer der alternativenSaboteureDeutlich verhaltener klingt der Jubel im alternativen Lager das ja seit Urzeiten gerechtere Preise gefordert hat. Der grundsätzlich geäußer_ten Freude folgen oft eine Reihe von Beden_ken auf dem Fuß: Bei den Mehreinnahmen handele es sich “erstens um die Gewinne der Spekulan_ten und zweitens um einen bescheidene Ausgleich für die Einnahmeverluste der kaffeeproduzierenden Länder in den letzten fünf Jahren, falls dort überhaupt mehr ankommt”, gibt z.B. die Kaffeegruppe von AG3WL und rsk zu bedenken, Mitinitiator von TRANSFAIR. Auch bei der Konkurrenz, MITKA-Mitglied El Rojito aus Hamburg, sollen auf jeden Fall die Kaffeebauern profitieren: “Wer hat denn nun sonst noch etwas von den höheren Weltmarktpreisen? Die Menschen, um die wir uns sorgen, jedenfalls in aller Regel nicht. Die kleinen ProduzentInnen, und dazu zählen auch die meisten Kooperativen, haben aufgrund fortwährender Finanzknappheit ihren Kaffee (zum Teil lange vor der Ernte, z.B. um Geld für Dünger zu bekommen) bereits verkauft. Zu dem Preis, der damals aktuell war, also lange vor dem Anstieg. Noch schlechter sind die dran, die an die Coyotes, die ausbeuterischen Zwischenhändler, verkaufen müssen, da sie keine Transportmöglichkeiten haben. Gut haben es nur die Händler bzw. Firmen, die Kaffee auf Lager behalten konnten, sie profitieren bereits jetzt von den höheren Preisen. Die kleineren ProduzentInnen haben nur dann etwas vom höheren Weltmarktpreis, wenn er auch bei der kommenden Ernte (94/95) noch hoch ist. Der aktuell hohe Weltmarktpreis ist (wenn mensch in den Marktmechanismen argumentiert) aufgrund der gesunkenen Produktionsmenge sicherlich gerechtfertigt. Ob nun in dieser Höhe, sei dahingestellt.”
Nun will ich hier keineswegs die Lage der Kaffeekleinbauern beschönigen, noch will ich bestreiten, daß den Löwenanteil der Spekulations-Hausse eben die Spekulanten (im übrigen auch nicht immer alle gleichzeitig, sondern die, die auf’s richtige Pferd gesetzt haben) einsacken. Doch sind m.E. zwei Dinge unübersehbar. Erstens wird der hohe Preis zwangsläufig auch den Kleinbauern etwas nutzen, und zweitens bringt der hohe Preis die Alternativ-Händler in argumentative und / oder handelstechnische Schwierigkeiten.
Die Rolle der Coyoten
Das Argument, das die Kleinbauern völlig dem Diktat der ausbeuterischen Zwischenhändler ausliefert, ist mir viel zu undifferenziert (was keinesfalls die teilweise üblen Praktiken leugnen soll). Der Hinweis, von ihnen erhielten die Bauern nur 30-50 Prozent des Weltmarktpreises, ist etwa so aussagekräftig wie die Feststellung, daß El Rojito den Kaffee etwa dreimal so teuer an uns verkauft wie einkauft. Natürlich bekämen die Bauern mehr Geld, wenn sie den Kaffee selbst zum Hafen brächten – doch sie hätten auch höhere Kosten für LKW, Benzin, Arbeitszeit. Und auch Coyoten kriegen am Hafen nicht den vollen Weltmarktpreis, sondern vielleicht 80 Prozent oder 90 Prozent; schließlich müssen die Spekulanten auch etwas verdienen. Hinzu kommt, daß Zinsen anfallen ,wenn die Coyoten die Ernte z.T. ein Jahr im Voraus bar bezahlen. Gerade in Zeiten, wo Kaffeeknappheit herrscht, ist darüberhinaus anzunehmen, daß die wachsende Konkurrenz zwischen den Coyoten die ausbeuterischen Zwischenhandelsprofite auf Normalmaß niederkonkurriert und damit die höheren Preise auch bis zu den PoduzentInnen durchsickern, die nicht selbst exportieren.
Ein genaueres Lesen der veröffentlichten Alternativ-Informationen macht dann auch deutlich, wie die Punkte eins und zwei ineinander greifen: “Schon im Mai waren dann die ausbeuterischen Zwischenhändler, die Coyotes, gekommen, um bei den Bauern die Kaffeeernte 1994/95 zu kaufen, direkt ‘vom Strauch’ und noch lange nicht reif. Sie zahlten höhere Preise, bar auf die Hand. Bargeld ist auch bei den Kooperativen-Bauern knapp, und so verkaufte mancher an die Coyotes. Die Genossenschaften könnten dadurch in Bedrängnis kommen, wenn sie nämlich mangels Kaffee die Verträge, u.a. mit den Alternativen Importorganisationen, nicht erfüllen können.”
Also bereits im Mai, noch vor dem Frost-Preisboom, hatten die Coyoten die seit März angefallenen Preiserhöhungen (auf 1,20 US-Dollar) zumindest teilweise weitergegeben und Konditionen offeriert, die die Kooperativen – Vertragspartner der Alternativhändler, die ja 1,26-1,32 US-Dollar gezahlt haben – nicht bieten konnten. Natürlich hatten die Coyoten in diesem Fall Glück und die Bauern Pech – sechs Wochen später hätten sie vielleicht das Doppelte fordern können. Aber nicht einmal die Coyoten haben den Frost vorhersehen können, sie haben nur auf die allgemeine Verknappung reagiert und hatten Glück – jetzt profitieren sie am meisten (wenn sie nicht wiederum schon vorher selbst feste Verträge mit ihren Abnehmern gemacht hatten) Allerdings ist bei der anhaltenden Kaffeeknappheit anzunehmen, daß die Coyoten bald wieder an den Kaffeesträuchern auftauchen und auch die 95/96er Ernte aufkaufen wollen. Und diesmal wird der frühzeitige Verkauf sicher nicht zum Nachteil der Kaffeebauern sein – falls nicht zur Abwechslung noch eine Dürre in Brasilien ausbricht.
Große und kleine Kaffeehändler
Bleibt noch die Frage, ob nicht doch die großen Kaffeekonzerne, die den Preisanstieg ja begrüßt hatten, die Hauptprofiteure sind. Dies wird zumindest von Seiten der Alternativen unter Hinweis auf gefüllte Lager mit billigem Kaffee, der jetzt teurer verkauft werden kann, vermutet. Sicherlich kann mensch davon ausgehen, daß dies für die erste Preiserhöhungsrunde im Juli im großen und ganzen zutrifft und die Kaffee-Konzerne sich ein Vorbild an ihren Brüdern und Schwestern aus der Mineralölbranche genommen und als informelles Kartell die sowieso irgendwann fällige Erhöhung etwas vorgezogen haben (wenn alle gleichermaßen erhöhen, verliert keiner Marktanteile). Doch inzwischen dürften die Vorräte (höchstens 2-3 Monatsrationen) erschöpft sein, der höhere Einstandspreis sich bemerkbar gemacht und der erbitterte Kampf um Marktanteile wieder begonnen haben.
Etwas günstiger gestaltet sich die Lage für die Alternativ-Händler von der MITKA. Sie kaufen nämlich immer gleich die gesamte Jahresmenge im Voraus, haben also bei Vertragsabschluß im März wie die anderen Jahre auch 1,32 US-Dollar (für Nica Organico 1,56 US-Dollar) bezahlt. Ausgleichende Gerechtigkeit, möchte mensch meinen, waren sie doch die ganzen Jahre standhaft und haben zeitweise das Doppelte des Weltmarktpreises auf den Tisch gelegt. Doch Heiligenschein und Scheinheiligkeit liegen oft nah beieinander. Denn, um zur Ausgangsfrage dieses Artikels zurückzukommen: Warum wurden im September die Preise erhöht?
El Rojito gibt uns eine offene Antwort:
“1. Den ProduzentInnen entsteht praktisch aus der Tatsache, daß wir den Kaffee so frühzeitig importiert haben, ein Nachteil, denn hätten wir den Kaffee erst im Juni ’94 gekauft, dann natürlich zu entsprechend höheren Preisen. 2. Alle anderen Kaffeesorten, ob herkömmlich oder alternativ gehandelt, werden teurer oder sind es bereits geworden. Wenn nun nur Sandino Dröhnung beim alten Preis bleibt, wird es einen ‘Run’ geben. Diesen erhoffen wir schon seit Jahren, aber bitte nicht, weil unser Kaffee billiger ist, sondern wegen anderer, qualitativer oder politischer Aspekte. Ein Run auf unsere Kaffees hätte zudem die Folge, daß die Menge, die wir auf Lager haben, nicht bis zum neuen Import ausreichen würde. Das will niemand.”
Zunächst können wir El Rojito beruhigen, ein ‘Run’ wäre nicht zu befürchten gewesen, haben doch die Konzerne mit ihrer Preiserhöhung (jetzt etwa 10.-/Pfund für ihre Spitzensorten) überhaupt erst zum alten Preisniveau der Alternativen aufgeschlossen. Und so schnell wechselt Frau Sommer nicht von der Krönung zur Dröhnung – müßte sie sich doch bei nächster Gelegenheit wieder herausreden, ihr Mann habe den Kaffee eingekauft oder gekocht, wenn er ihren Gästen nicht schmeckt.
Andererseits ist es natürlich bequemer, den Preis zu erhöhen und so ohne Mehraufwand eine Erlössteigerung mitzunehmen. Also genauso, wie es die Konzerne vorgemacht haben, bloß nicht nur 2-3 Monate, sondern ein halbes Jahr bis zu den neuen Vertragsabschlüssen im Frühjahr. Fairerweise ist zu erwähnen, daß El Rojito die Mehreinnahmen als Spende den Kaffeeprojekten zukommen lassen will. Von den anderen MITKA-Gruppen ist solche Großzügigkeit bisher nicht bekannt geworden. Aber je nachdem, wie das Geschäftsjahr läuft, ist es später immer noch bzw. aus steuerrechtlichen Gründen leider nicht mehr möglich.
Bei der Konkurrenz von der GEPA hingegen waren die neuen Vertragsabschlüsse bereits zum 1.10.94 fällig. Hier machte sich dann auch die momentane MarktmachtVerluste die sie rechnerisch erlitten haben, seit der Weltmarkt_preis über dem GEPA-Preis (1,26 US-Dollar) lag – und bekamen sie. Außerdem zahlt die GEPA ab jetzt den aktuellen Weltmarktpreis plus 10 Prozent, solange der Marktpreis über dem früheren Mindestpreis bleibt. Und darauf muß die GEPA auch hoffen: Sollte der Marktpreis zum Geschäftsjahresende am 31.3.95 wieder gesunken sein, werden wie dieses Jahr Abschreibungen in Millionenhöhe fällig! Wir drücken ihr die Daumen.
aus: Umbrüche 11/12, Nov. ’94
Öko-Zuschüsse als entwicklungspolitische Neuerung
Was ist von der noch relativ jungen GEF zu halten? Handelt es sich tatsächlich nur um ein weiteres Kreditangebot im Menü von IWF und Weltbank, wodurch sich die beiden einen grünen Touch geben können? Oder steckt diesmal vielleicht mehr als nur ein Lippenbekenntnis dahinter?
Wie alles anfing
Die GEF wurde 1990 auf Initiative der deutschen und französischen Regierung in erstaunlichem Tempo eingerichtet: bereits 1992 erfolgten die ersten Auszahlungen. Sie hat – trotz des IWF-typischen Begriffs “Fazilität” – nichts mit diesem zu tun; dafür aber ist die Weltbank als Durchführungsorganisation beteiligt – neben dem Nuten Nations Development Programme (UNDP) und dem United Nations Environment Programme (UNEP). Diese Konstellation ist grundsätzlich neu, da gerade Weltbank und UNDP ansonsten in vielen Bereichen konsequent aneinander vorbeiarbeiten. Zwar sind auch bei der GEF die Aufgaben nach dem üblichen Muster – Weltbank für finanzielle und UNDP für technische Projekte – getrennt, immerhin aber unter einem Dach zusammengefaßt. Die UNEP darf in einer Nebenrolle einen Wissenschaftlichen und Technischen Beirat einsetzen, der die Kriterien für die Mittelvergabe erarbeitet. Diese werden als reine Zuschüsse, also nicht als Kredite, vergeben.
Da in den meisten Fällen staatliche Organisationen die Empfänger dieser GEF-Zuschüsse sind, wurde von Anfang an ein Programm für Klein(st)zuschüsse über die UNDP für Projekte auf kommunaler, nichtstaatlicher Ebene als Gegengewicht etabliert. 10-15 Mio. US-Dollar bei Projekten in über 30 Ländern machen aus diesem Programmteil aber höchstens ein Fliegengewicht.
In der Pilotphase wurden insgesamt 750 Mio. US-Dollar für die genannten Bereiche verwendet, davon allein 42 Prozent für die Erhaltung der Artenvielfalt. (Zum Vergleich: Die Weltbank zahlt jährlich ca. 20 Mrd. US-Dollar aus.) Dieser Topf ist für Lateinamerika besonders interessant, da aus ihm die meisten Gelder nach Lateinamerika fließen, allen voran nach Mexiko und Brasilien mit jeweils 30 Mio. US-Dollar.
Kritische Stimmen und Reform
Die GEF wurde seit ihrer Einrichtung von vielen Seiten scharf kritisiert, insbesondere auch von internationalen Naturschutzorganisationen, die über die GEF Zuschüsse erhalten. Eine 1993 vom World Wildlife Fonds veröffentlichte Studie von über 100 Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Lateinamerika, Afrika und Asien kommt zu den folgenden Ergebnissen:
– Die GEF wurde von einigen wenigen Nord-Ländern unter Mißachtung jeglicher Süd-Perspektive (Umweltprobleme durch Armut, Bevölkerungsentwicklung, Verschuldung und mangelhaften Zugang zu Ressourcen) gegründet. Mit dem Stichwort “global” versuchen die Länder des Nordens in die Politik der Entwicklungsländer hineinzuregieren, wobei sie gleichzeitig von ihrer Verantwortung ablenken wollen.
– Die Weltbank, UNDP und UNEP sind für die GEF-Aufgaben ungeeignet. Die Bank hat bisher grundsätzlich soziale und Umweltaspekte von Projekten beflissentlich übersehen und ist nicht gerade für Transparenz und demokratische Konsultationen bekannt. UNDP und UNEP sind zu bürokratisch, um effektiv arbeiten zu können.
– Die GEF konzentriert sich auf kurzfristige Projekte, obwohl gerade der Umweltbereich langfristige Investitionen und Programme erfordert.
– Der Schwerpunkt der GEF liegt im Bereich staatlicher Unterstützung und läßt NRO fast überall außen vor.
Zu besonders heftigen Kontroversen hat die Beteiligung der Weltbank an der GEF geführt. Während einige NRO die Beteiligung der Weltbank an der finanziellen Verwaltung der GEF akzeptieren, bezweifeln die meisten die allgemeine Kompetenz der Bank im Bereich Umwelt. Die Kompetenz einzelner MitarbeiterInnen aus der Weltbank wird hingengen hoch gelobt.
Die Kritik an der GEF hat dazu geführt, daß sie nach der Pilotphase im März 1994 restrukturiert wurde bzw. werden soll. Um den Entwicklungsländern mehr Mitsprache zu verschaffen, wurde der GEF-Aufsichtsrat tatsächlich paritätisch besetzt: 16 Sitze gehen an die Entwicklungsländer, 14 an Industrie- und zwei an osteuropäische Transformationsländer. Für die Projektdurchführung bleiben allerdings weiterhin die drei genannten Organisationen verantwortlich, so daß von einer “grundsätzlichen Reform”, wie es die Geberländer gerne darstellen, bisher nicht die Rede sein kann.
Artenvielfalt: wann gibt’s Geld wofür?
Die von der UNEP aufgestellten Vergabekriterien für GEF-Zuschüsse sind sehr vage und werden teilweise recht fragwürdig gehandhabt.
Die GEF finanziert grundsätzlich nur Projekte, bei denen die Kosten für das Land gegenüber dem Nutzen zu hoch sind, als daß das Land das Vorhaben durchführen könnte. Einfaches Beispiel: Der Aufbau eines Nationalparks zum Schutz bedrohter Tierarten wird von der GEF als förderungswürdig eingestuft. Komplizierter wird es, wenn dieser Park für den Tourismus attraktiv sein könnte und das Land dadurch höhere Einnahmen (= höheren Nutzen) besäße. Aufgrund dieser Annahme finanziert die GEF nur die “Zusatzkosten”, die ihrer Ansicht nach nicht aus nationaler Tasche bezahlt werden können. Daraus ergeben sich so absurde Situationen wie die in Costa Rica: Durch den vom IWF-Programm aufgezwungenen Sparkurs mußte Costa Rica zwei Drittel des Personals für die Nationalparks entlassen. Dies erschwerte die Erhaltung des erreichten Parkstandards. Überdies sanken die Einnahmen durch den Ökotourismus, da nicht mehr ausreichend ReiseführerInnen zur Verfügung standen. Gleichzeitig finanzierte die GEF lediglich zwei Projekte zur “biologischen Forschung und Training des Parkmanagements”, da potentiell Einnahmen aus dem Ökotourismus vorhanden wären.
Die Vergabe von Geldern richtet sich weiterhin danach, ob das Projekt innovativ ist. Großvaters Lehren über den Umgang mit natürlichen Ressourcen sind nicht gefragt: neu ist gleich gut. Daß bei moderner Technologie oftmals die Kostenkontrolle aus den Augen verloren wird, liegt auf der Hand. Viele Pilotprojekte haben sich als so teuer erwiesen, daß sie nach Vergabe der GEF-Gelder nicht weitergeführt, geschweige denn auf andere Gebiete übertragen werden können.
In Lateinamerika werden neben den genannten in Costa Rica, folgende Projekte im Bereich Artenvielfalt gefördert:
Weltbank:
– Bolivien: Stärkung des Schutzzonen-Managements und der nationalen Institutionen über bolivianischen Treuhandfonds. (5 Mio. US-Dollar)
– Brasilien: noch kein Projekt festgelegt. (30 Mio. US-Dollar)
– Ecuador: Schutz der Artenvielfalt durch Stärkung der legalen Rahmenbedingungen und des Parkmanagements. (6 Mio. US-Dollar)
– Mexiko: Unterstützung des Managements von 20 Schutzgebieten. (30 Mio. US-Dollar)
– Peru: Etablierung eines Treuhandfonds für Management, Training, Ausbildung usw. im Bereich Artenschutz. (4 Mio. US-Dollar)
UNDP:
– Amazonasregion: Strategien zur Erhaltung natürlicher Ressourcen. (5 Mio. US-Dollar)
– Argentinien: Entwicklung eines regionalen Managementplans für Patagonien. (3 Mio. US-Dollar)
– Belize: Forschung und Beobachtung sowie Entwicklung eines Managementplans für das längste Felsenriff Lateinamerikas. (3 Mio. US-Dollar)
– Costa Rica: Finanzierung von biologischer Forschung und Training von Parkmanagement (8 Mio. US-Dollar)
– Dominikanische Republik: Protektion von Samana Bay, incl. wissenschaftliche Basisstudien. (3 Mio. US-Dollar)
– Guayana: Programm für nachhaltiges Tropenwaldmanagement. (3 Mio. US-Dollar)
– Kolumbien: Bewahrung der Artenvielfalt im Chocó. (9 Mio. US-Dollar)
– Kuba: Schutz und nachhaltige Entwicklung des Sabana-Camaguey Archipels. (2 Mio. US-Dollar)
– Uruguay: Schutz der Artenvielfalt in den östlichen Feuchtgebieten. (3 Mio. US-Dollar)
Bemerkenswert ist zunächst einmal die vage Formulierung der meisten Projekte und insbesondere auch der Fall Brasilien. Gerade dieses Beispiel zeigt, daß die Auswahl der Länder und Schutzgebiete eher aus politischen als aus ökologischen Gründen erfolgte.
Die oben genannte Kritik an kurzfristiger Finanzierung gilt auch für die aufgelisteten lateinamerikanischen Projekte: sie machen nur Sinn, wenn sie auch nach der GEF-Projektperiode (2-5 Jahre) weitergeführt werden. Die meisten Länder sind aber zur Zeit nicht in der Lage (oder auch nicht willens), für Projekte zum Schutz der Artenvielfalt Geld bereitzustellen. Ein geplanter Treuhandfonds wie in Peru oder die Unterstützung eines bereits existierenden wie in Bolivien ist unter diesen Umständen besser als stark eingegrenzte Projekte, da hierdurch Zahlungen über einen langen Zeitraum garantiert werden können. Eine Weiterfinanzierung der meisten anderen Projekte ist unwahrscheinlich, da bei der bisherigen Projektfinanzierung Länder mit großer Artenvielfalt wie Guatemala, Indien, Madagaskar, Malaysia, Tansania und Zaire ausgelassen wurden, die sich bei einer weiteren Runde stark zu Wort melden werden.
Die Projekte decken zudem sehr unterschiedliche Ökosysteme ab, vom tropischen Regenwald über Meeresbiotope, Feucht- und Trockengebiete. Wenn man sich die zur Verfügung stehenden Gelder ins Gedächtnis ruft und bedenkt, daß mehr oder weniger zu jedem Projekt intensive Studien aufgestellt und ausländische Experten bezahlt werden, dann entsteht der Eindruck, die GEF wolle ihre Vielfalt beweisen und übernimmt sich ganz ordentlich. Viele der genannten Projekte wurden unter – politischem – Zeitdruck bereits Ende 1993 eingeführt; Diskussionen und Evaluierungen von unabhängigen Gutachter oder NRO haben so gut wie gar nicht stattgefunden bzw. wurden mit der Entschuldigung “Mittelabflußdruck” unterbunden. Die meisten lateinamerikanischen Projekte fallen in die Kategorie der “wenig beeindruckenden Mittelabflußdruckprojekte”, allen voran Brasilien und auch Mexiko.
Erstaunlich ist auch die mangelhafte Aufmerksamkeit gegenüber politischen Zwängen. Selbst bestens geplante Projekte können scheitern, wenn Wirtschaftspolitik, Handelsabkommen, Strukturanpassungsprogramme und Gesetze über Bodeneigentum einen dauerhaften Schutz der Artenvielfalt behindern. Hinzu kommen noch Entwicklungsprojekte, die den Umweltschutz konterkarieren und oft von derselben Durchführungsorganisation stammen. Eine Aufstockung der GEF-Gelder, wie sie von allen Seiten berechtigterweise gefordert wird, wird unter diesen Umständen keine erhebliche Verbesserung des Artenschutzes bringen.
Scheitern an alten Strukuren
Nach dem bisher Gesagten verlief die GEF-Pilotphase nicht sehr beeindruckend. Auch in Zukunft wird sich daran nicht viel ändern, da insbesondere die Weltbank an ihrer üblichen Praxis festhalten wird: Auswahl nach politischen Gesichtspunkten, fast nur öffentliche Organisationen als Ansprechpartner, mangelnde Flexibilität bei Projektdesign und -durchführung, keine sozioökonomischen Studien, kurze Projektzyklen, Einsatz ausländischer ExpertInnen und rein symbolische Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Bei der GEF können diese Probleme allerdings wenigstens abgemildert werden, wenn die beteiligten NRO – und gerade die großen – ihren Einfluß so stark wie möglich geltend machen. Die Weltbank läßt sich sonst normalerweise nicht in die Karten sehen, daher sollte jede Möglichkeit der Einflußnahme ausgenutzt werden. Bei der derzeitigen finanziellen Ausstattung ist die Auswirkung der GEF auf globale Umweltschutzmaßnahmen jedoch nur von marginaler Bedeutung. Die GEF bleibt ein Trostpflaster, das die eigentlichen Ursachen der Umweltzerstörung nicht angeht.
“Jetzt haben die Leute das Sagen”
Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti benutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” beendet, da gab es natürlich bereits die neuesten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezogen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernsehduelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahlkampf, und das Publikum ist dankbar, daß wenigstens bei diesen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit ausgetragen werden. Ansonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahlpflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vornehmen Stadtteil Pocitos haben sich die Hunde- und EigenheimbesitzerInnen schon über die Massen von Wahlkampfzettelchen auf der Straße beschwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi geführt wird. Uruguays FernsehzuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahlkampfzeiten präsentieren die drei privaten und der einzige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots plaziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der konservativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kommerzielle Werbeargenturen haben die Parteien beraten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausgekommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel kreativer und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt haben die Leute das Sagen” Über die Bildschirme flimmern die Präsidentschaftskandidaten, die ihrer jubelnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevideos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautsprechern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durchaus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zunehmend bestimmen und weniger die viel beschworene militancia política, das politische Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Parteien Colotados und Blancos fast gleichauf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfragen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öffentlichkeit kommt, und wie sich die Präsidentschaftskandidaten, selbstverständlich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vorsprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathische Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfache Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanzmitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Linken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bürgermeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, genau 10 Jahre nach Beendigung der Militärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgültig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahlsieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Abschlußkundgebung eines Sternmarsches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teilnahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von AktivistInnen mobilisieren kann, die in Stadteilgruppen organisiert sind und in den bevorstehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblattverteiler nicht so einfach wettmachen können. Trotzdem ist man auch in Uruguay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis wenige Monate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorhergesagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustandekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsamen Wahlplattform hatte es natürlich zuvor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinandersetzungen gegeben. Vor allem der linke Flügel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslandsschulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehrheit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grünes Licht für die Verhandlungen zum Wahlbündnis Encuentro Progresista, ohne jedoch genaue Vorgaben für ein Regierungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Regierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Führungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch austreten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen allerdings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Veränderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahlbündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Monaten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Organisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisationen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünftigen Leitungsgremium je nach Mitgliedsstärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizipación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich gegen diese Änderung und befürworten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsentanz aller Organisationen und Parteien innerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicherheit noch einige interne Debatten auslösen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regierung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Präsidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regierung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirtschaftspolitik der verschiedenen konservativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Bevölkerung zum Alptraum geworden sei. “Über 70.000 Industriearbeitsplätze sind in den letzten sieben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben keinerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatliche Initiativen und Anreize, wieder verstärkt Arbeitsplätze vor allem auch im Industriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Politik und eine Umverteilung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Richtung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den angemieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Autoaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft erfährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegenteil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittelladen oder in der Warteschlange bei Banken und Behörden diskutieren die Menschen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbürokratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfrageergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutlichen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colorados bislang noch leicht die Nase vorn. Innerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehemaligen Direktor der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompliziert, und das Namens- und Kanidatenkarussell ist für AusländerInnen kaum durchschaubar. Jede Partei besteht aus zahlreichen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstimmung stellen, auf denen unterschiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen können. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich jeweils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Progresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten und Vizepräsidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen stehen. Für die beiden Kammern des Parlaments erscheinen dann die KandidatInnen der jeweiligen Partei oder Gruppe. Uruguays WählerInnen müssen sich am Wahlsonntag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalparlamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die meisten WählerInnenstimmen bekommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im nationalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP erringt die meisten Stimmen, und trotzdem wird Sangiunetti Präsident, weil alle Colorado-Kandidaten zusammen mehr Stimmen bekommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politischen BeobachterInnen halten diese Variante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Prozent des Staatshaushaltes für Bildung ausgegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversicherung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahlkampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich weniger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder geforderten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zustand, viele davon müßten eigenlich wegen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmittel. Die meisten AkademikerInnen arbeiten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völlig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letzten zwei Jahrzehnten völlig heruntergewirtschaftet wurde. Die politische Polemik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzungen im Verteidigungshaushalt, Abbau der Staatsbürokratie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Bezahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schuldendienstes”, schreibt die Wahlkampfzeitung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien erbittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu verankern.
Auch beim zweiten Thema, Unantastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversicherung, gilt ein “Ja” als relativ wahrscheinlich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilweisen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Parteien gestoßen. In der reichlich überalterten uruguayischen Gesellschaft ist die ältere Generation auch ein wichtiges Wählerpotential und zudem ziemlich gut organisiert.
Banane apart
Die Banane ist gelb, krumm und süß. Seit über hundert Jahren genießen sie Generationen von Deutschen, Kinder wie Alte, im Westen – wie im Osten. Heute ist sie unsere beliebteste Frucht. Bananasplit, Bananenmilchshake, Schokobanane oder die Banane im morgendlichen Müsli, immer wieder bedeutet sie einen wahren, zuweilen paradiesischen Genuß. Doch nicht immer …
Früchtchen, die es in sich haben
Denn die Banane ist auch eine typische Kolonialware. Sie ist die Frucht, die Begehrlichkeiten weckt und bereits zum Sturz diverser Regierungen beigetragen hat. Sie stellt das Objekt der Begierde multinationaler Konzerne dar, seien dies Chiquita, Del Monte, Dole oder andere. Sie ist ein geradezu klassisches Beispiel für ungerechte Handelsstrukturen und ökologischen Raubbau. Kurz, sie ist Symbol des politischen und wirtschaftlichen Kolonialismus.
Ihren geringen Verkaufspreis bei uns bezahlen andere. Es sind dies die am Existenzminimum lebenden ArbeiterInnen in den Plantagen, die kleineren und mittleren ProduzentInnen, deren Arbeits- und Menschenrechte seit Jahrzehnten immer wieder massiv verletzt werden.
Ein aktuelles Beispiel ist der Streik der costaricanischen Banañeros/as auf den Plantagen in der Region Sarapiqui im Mai dieses Jahres. Ihr Protest galt wieder einmal den unerträglichen Arbeitsbedingungen vor Ort: Lohnminderungen, unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit, ungeschützter Kontakt mit Agrochemikalien, sexuelle Belästigung der Arbeiterinnen, Beschränkung der Organisationsfreiheit und die diskriminierende Behandlung nicaraguanischer Arbeitskräfte.
Aber nicht nur die Menschen bezahlen: Der gezielte, irreversible Raubbau an der Umwelt begleitet die Ausbeutung der Frauen, Männer und Kinder. Die von den multinationalen Fruchtkonzernen geweckte Nachfrage nach Bananen bester Qualität hat zu einer agroindustriellen Produktion normierter Bananen geführt. Die Normbanane ‘Chiquita’ ist hierfür das beste Beispiel.
Die Produktion solcher Bananen benötigt hochtechnisierte Produktionssysteme und den intensiven Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und chemischem Dünger. Luft und Wasser sind deshalb vielerorts bereits hochgradig verschmutzt. Massive Rodungen von Primärwald (mit allen bekannten Folgen) begleiten diese schweren Eingriffe in die Natur. Die direkten Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen sind offensichtlich.
Diese Eindrücke aus Costa Rica lassen sich – so oder so ähnlich – auch aus anderen bananenproduzierenden Ländern berichten. Überall haben ArbeiterInnen und kleine ProduzentInnen, hat die schwer belastete Natur die tiefgreifenden Folgen des Bananenanbaus, der uns so billige, leckere Früchte beschert, zu tragen. Grund genug, um über Alternativen nachzudenken.
Mehr als Kaffee
“Wie Sie beim Frühstück die Welt fairändern können”, unter diesem Motto trat vor fast zwei Jahren der Zwerg TransFair in den Ring des deutschen Kaffeegroßhandels. Denn damals tauchte in den Regalen deutscher Supermärkte erstmals “fair gehandelter” Kaffee auf. In kurzer Zeit schaffte dieser von Kleinbauern erzeugte und zum fairen Preis gehandelte Kaffee den Sprung vom Fliegen- zum Mittelgewicht. Heute ist der shooting star aus der Dritte-Welt-Szene schon gar nicht mehr aus der Produktpalette vieler “normaler” Lebensmittelgeschäfte wegzudenken. Über 20.000 Läden führen ihn bereits. Und bald schon werden weitere typische Kolonialwaren mit dem Siegel des “fairen Handels” ähnliche Wege gehen.
Doch TransFair wäre nicht ohne die langjährigen Bemühungen von AktivistInnen aus der Dritte-Welt-Szene zu denken. Bereits Anfang der siebziger Jahre wurde von der” Aktion Dritte Welt Handel” Kaffee aus der Ernte von kleinbäuerlichen Kooperativen zu fairen Preisen importiert und vertrieben. Mitte der siebziger Jahre entstand als Konsequenz aus dieser Initiative die “gepa”. Die KäuferInnen aber mußten noch über ein Jahrzehnt warten, bis das Angebot der fair gehandelten Produkte um die Banane erweitert wurde. Erst die politische Entwicklung in Nicaragua führte dazu, daß eine Reihe von Gruppen, Organistionen und engagierten Einzelpersonen das Wagnis auf sich nahm, die leicht verderbliche gelbe Frucht nach Deutschland zu importieren.
Nachdem das US-Handelsembargo 1985 die nicaraguanische Regierung gezwungen hatte, ihre Bananen auf dem europäischen Markt zu verbringen, setzte sich eine Schweizer Aktionsidee auch bei anderen Gruppen langsam durch: “Wenn schon Bananen, dann aus Nicaragua!” Erstmals gab es Bananen aus Zentralamerika, die nicht von einem der Bananen-Multis, sondern vom Land selbst, in eigener Verantwortung, produziert und vermarktet wurden.
Die Gruppe, die aus dem Rahmen der Nicaragua-Solidarität entstanden war, wollte zum einen eine konkrete politische und materielle Unterstützung der sandinistischen Revolution leisten. Zum anderen sollte bei den KonsumentInnen beispielhaft das Bewußtsein für ungerechte Weltmarktstrukturen geschärft werden. Im Zuge dieser Kampagne entstand 1986 in der BRD die “Arbeitsgemeinschaft Nicaragua-Bananen” mit den zwei Regionalbüros “BanaFair” in Gelnhausen und “Liberación” in Hannover.
Zweifelsohne war der einst geäußerte Anspruch, die sandinistische Regierung auch materiell nachhaltig zu unterstützen, viel zu hoch gegriffen. Angesichts der Menge, die nur einen kleinen Prozentsatz des Exports nach Europa ausmachte, war der alternative Handel unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der eigentliche Nutzen lag daher auch vielmehr in der politischen Unterstützung der Sandinisten.
Vom Multi vermarktet
1993 mußte Nicaragua aus wirtschaftlichen Gründen seinen eigenständigen Verkauf nach Europa aufgegeben. Unter anderem sanken im Zuge der Privatisierung der Bananenplantagen sowohl die Qualität wie auch die produzierten Mengen. Ein eigener Schiffstransport nach Europa war fortan nicht mehr rentabel. Dies potenzierte sich unter dem Eindruck der Einführung der EU-Bananenmarktordnung, die im Rahmen der Begrenzung der Bananenimporte aus Lateinamerika (unter Ausnahme der Karibik) auch die nicarguanische Produktion betraf. Angesichts der hohen Verschuldung der nicaraguanischen Bananenproduktions- und -vertriebsfirma “BANANIC” mußte die Firma – Ironie der Weltgeschichte – ein Vermarktungsangebot des Bananenmultis “Dole” annehmen. Die AG Nica-Bananen konnte den Import nicaraguanischer Bananen daher nicht fortführen.
Solipreis zur Unterstützung
von Projekten
Im letzten Jahr hat sich die AG Nica-Bananen in “Arbeitsgemeinschaft Gerechter Bananenhandel” (gebana) mit einem deutschen und einem schweizer Zweig umbenannt. Nicht nur die Veränderungen in Nicaragua, sondern vielmehr eine Öffnung des Blicks auf die Situation in anderen bananenproduzierenden Ländern führten zu dieser Veränderung. Seit Herbst 1993 werden die Bananen von kleineren und mittleren nationalen Produzenten aus Costa Rica importiert. In Deutschland werden derzeit pro Woche rund 1000 Kisten à 18 Kg vermarktet, in der Schweiz dagegen rund 2000 Kisten – als Konsequenz einer anderen, den kommerziellen Fruchthandel einbeziehenden Vertriebsstruktur. Die Bananen werden in Deutschland bisher fast ausschließlich in Dritte-Welt-Läden und ähnlichen alternativen Strukturen vertrieben. Ein Solidaritätsaufpreis garantiert die Unterstützung von sozialen Projekten zugunsten der ArbeiterInnen.
Erst dadurch war es u.a. möglich, in Nicaragua über Jahre hinweg den Aufbau eines klinischen Zentrums zugunsten der Banañeros/as und eines wissenschaftlichen Zentrums, das sich einem Programm zur Reduktion von Pestiziden widmete, mitzufinanzieren. Heute wird immer noch ein landesweites Programm zur Errichtung von Kindertagesstätten und der Aufbau der im Besitz der Gewerkschaft ATC befindlichen Finca El Trianón unterstützt. In Kolumbien werden Frauen, deren Männer der Gewalt der Todesschwadrone zum Opfer gefallen sind, bei einem Programm zur Produktion von Dörrbananen unterstützt. Und in Costa Rica, dem Land, aus dem die derzeit in Europa vertriebenen Bananen stammen, wird neben gewerkschaftlicher Arbeit ein Projekt gefördert, bei dem entlassene Banañeros/as unter weitgehend ökologischen Bedingungen anbauen sollen. Insgesamt konnten vom deutsch-schweizerischen Solifonds bisher über 500.000 US Dollar für diese und andere Projekte überwiesen werden.
Gelbe Sonderlinge
Wenn auch der alternative Bananenhandel durchaus beispielhaften Charakter für andere Formen des fairen Handels aufweist, gilt es, einige typische Besonderheiten hervorzuheben. Im Vergleich zum Kaffee, einem Erzeugnis, das als ungeröstete Bohne bis zu fünf Jahren haltbar ist, sind Bananen ein schnell verderbliches Produkt. Infolgedessen muß der Weg von den ErzeugerInnen zu den VerbraucherInnen in möglichst kurzer Zeit bewerkstelligt werden. Eine gut funktionierende Infrastruktur (Lieferung in die Häfen der Erzeugerländer, Schiffstransport, Transport in die Reifereien in der BRD, bis hin zum Vertrieb im Einzelhandel) ist die wichtigste Grundvoraussetzung dafür. Klar benachteiligt von diesen Bedingungen sind die kleinen Produzenten, die häufig eine so reibungslos funktionierende Logistik nicht garantieren können.
Der direkte Handel mit Erzeugerkooperativen – typisch für den alternativen Kaffeehandel – ist für kleinere Handelsfirmen im Bananensektor (z.B. BanaFair) unter diesen Umständen nur sehr schwer durchzuführen. Allemal, wenn man berücksichtigt, daß die meisten der nationalen ProduzentInnenen über langjährige Lieferkontrakte an die Multis gebunden sind und nur über geringen Spielraum in ihren Lieferkapazitäten verfügen. Dennoch werden gerade sie im internationalen Preiskarussell von den Multis als Spielball mißbraucht. Eine endgültige Abkehr von den Multis ist für die meisten nationalen Erzeuger allerdings noch nicht möglich. Trotz großer Anstrengungen nehmen die alternativ gehandelten Bananen bisher einen prozentual geringen Marktanteil ein und können daher noch keine wirkliche ökonomische Alternative darstellen. Eine verstärkte Nachfrage in Europa und die Einführung des TransFairsiegels für Bananen könnte hier aber durchaus Abhilfe schaffen.
Auch wenn die gehandelten Bananen nicht aus kleinbäuerlicher Produktion stammen, so sind sie doch ein Gegenmodell zu den herrschenden Strukturen und ein neuer Versuch, das Vermarktungsmonopol der multinationalen Konzerne zu knacken. Langfristig tragfähige Veränderungen zugunsten der Menschen, die von der Bananenproduktion leben müssen, sind aus der Sicht der “gebana” über zwei Schienen zu erreichen: die Unterstützung kleinerer, nationaler ProduzentInnen, die sich von den Multis lösen wollen, und die Stärkung der Organisationen der ArbeiterInnen, der Gewerkschaften.
Natürlich ist diese Arbeit nicht frei von Widersprüchen. So ist nicht zwangsläufig davon auszugehen, daß nationale BananenproduzentInnenen ohne Schwierigkeiten mit der Politik der jeweiligen Gewerkschaften konform gehen. Interessensgegensätze spielen dort wie hier eine entscheidende Rolle. Aber welche Möglichkeiten bleiben, solange die Abhängigkeit von den transnationalen Konzernen so total ist, daß selbst die Position der costaricanischen Regierung zur EU-Bananenmarktordnung (s.u.) von den Multis diktiert werden kann?
Politik auf Europäischem Parkett
Seit dem Bestehen alternativer bzw. fairer Handelsstrukturen wird dem gehandelten Produkt eine pädagogische Funktion zuteil. Kaffee, Banane oder Tee sollen nicht nur über ihren höheren Verkaufspreis den ErzeugerInnen zugute kommen. Diese Produkte sollen auch oder gerade die KonsumentInnen zum Nachdenken über ungerechte Welthandelsstrukturen anregen. Für diejenigen, die heute im alternativen Bananensektor aktiv sind, hört aber politische Arbeit hier nicht auf. Gerade die aktuelle Dimension des Themas, das durch die neue EU-Bananenmarktordnung und das breite Medieninteresse und die Angst vieler vor “zu teuren” Bananen überproportional in die deutsche Öffentlichkeit geraten ist, machen eine Einmischung in der politischen Arena unerläßlich. Zum besseren Verständnis einige Worte dazu.
Am 1. Juli 1993 trat die ‘Gemeinsame Marktorganisation für Bananen’ der Europäischen Union in Kraft. Sie ist eine Folge der Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes und als eine direkte Schutzmaßnahme zugunsten bestimmter Produzentengruppen zu verstehen.
Gefördert werden soll die europäische Bananenproduktion (z.B. auf den Kanaren oder den französischen Antilleninseln). Die Produktion bestimmter Länder Afrikas, der Karibik und des Pazifikraums (AKP-Länder) genießen weiterhin bestimmte Handelsprivilegien. Im Gegenzug wurden sogenannte Dollarimporte aus Lateinamerika begrenzt.
Zwei Millionen Tonnen Bananen, ein Kontingent, das jährlich je nach Bedarf an die neuen Konsumbedürfnisse angepaßt werden kann, dürfen zum Zollsatz von 100 ECU/t aus Lateinamerika importiert werden. Das Kontingent wird nach einem bestimmten Schlüssel den verschiedenen Vermarktern zugänglich gemacht. So dürfen 66,5 Prozent dieses Kontingents von MarktteilnehmerInnen beantragt werden, die bisher weitgehend Dollarbananen vertrieben hatten. Lizenzen über 30 Prozent stehen jenen Marktbeteiligten zur Verfügung, die bereits Bananen aus der EU bzw. aus AKP-Staaten vermarktet hatten. 3,5 Prozent (d.h. rund 70.000 Tonnen) verbleiben sogenannten Newcomern und werden unter diesen zu gleichen Teilen verteilt.
Direkte Folge der Marktordnung ist eine massive Umstrukturierung des traditionellen europäischen Marktgefüges im Bananensektor. Das System der Lizenzvergabe zur Bananeneinfuhr begünstigt Handelsunternehmen, die schon früher im Geschäft mit den AKP-Bananen waren, zum Nachteil v.a. der deutschen Händler, die überwiegend Lateinamerika-Bananen vermarktet haben. Französische und britische Konzerne (z.B. Geest) verzeichnen große Gewinnzunahmen.
Die Einführung der Marktordnung vollzog sich nicht ohne deutlich negative soziale und ökologische Auswirkungen auf die Situation in den zentralamerikanischen Produzentenländern:
Neben einer massiven Verschärfung des ökologischen Raubbaus wird seitdem der Druck auf viele Kleinproduzenten immer stärker. Sie sollen ihre Ländereien veräußern. Wenige können den Forderungen der Multis standhalten. Immer mehr von ihnen verlieren so ihr kleines Stück Land. Arbeit aber ist Mangelware. Das Überangebot an Arbeitskräften drückt den Lohn der ‘Privilegierten’, die eine Arbeit finden konnten, und führt zu massiven Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen.
Forderungen nach einem gerechten Bananenmarkt
25 europäische und zentralamerikanische Organisationen haben die Folgen der Neustrukturierung des europäischen Bananenmarktes für die bananenproduzierenden Länder zum Anlaß genommen und sich zu einem Bananennetzwerk zusammengeschlossen. In einer Erklärung zum einjährigen Bestehen bilanzieren sie deren Scheitern aus entwicklungspolitischer Sicht. Dort heißt es:
“Es hat sich gezeigt, daß die EU-Bananen-Marktordnung weder die Interessen der verarmten Plantagen-ArbeiterInnen in Zentralamerika, noch die der AKP [Afrika, Karibik, Pazifik] -Produzenten […] schützt.”
Sie erheben u.a. folgende Forderungen für die Entwicklung einer neuen Marktordnung:
– durchzusetzen, daß zusammen mit den ArbeiterInnen und deren Gewerkschaften Kriterien eingeführt werden, anhand derer kontrolliert werden kann, ob Bananen unter sozial und ökologisch vertretbaren Bedingungen produziert werden.
– sicherzustellen, daß alle freien und unabhängigen Gewerkschaften in diesen Bananenplantagen Unterstützung erhalten.
– die Zölle für den Import dieser Bananen in die EU abzuschaffen.
In Deutschland setzt sich die Bananenkampagne im Rahmen ihrer Lobbyarbeit für die Durchsetzung dieser Ziele ein. Die Kampagne ist ein Zusammenschluß u.a. von “gebana”, der “BUKO-Agrarkoordination”, der “Arbeitsgemeinschaft der Dritte Welt Läden”, “Pro Regenwald” und “Südwind”. Sie kümmert sich neben der Lobbyarbeit um die Ausweitung des fairen Handels, unterstützt Projekte in bananenproduzierenden Ländern und informiert hier über das Problemfeld Bananen.
Wir werden alle miteinander Bananenimporteure!
Zurück zum alternativen Handel mit Bananen. Die Banane hat Konjunktur. Sie ist zum Symbol der Wiedervereinigung geworden. Wieso also sie sich nicht selbst beschaffen?, so dachten einige Unentwegte aus der Szene. Jeder sein eignener Bananenimporteur also, jeder Dritte-Welt-Laden oder andere Bezieher von alternativ gehandelten Bananen. Hintergrund war eine Regelung der neuen Bananenmarktordnung, die vorsah, daß jede natürliche oder juristische Person innerhalb der BRD das Recht hatte, eine Lizenz als Newcomer zu beantragen und sich anteilig an dem Kontingent von 70.000 Tonnen eine goldene Nase zu verdienen. Denn für “BanaFair” und “Liberación” liegt die Schwierigkeit darin, daß sie nur einen kleinen Teil ihres Bedarfes über ihre Lizenz als langjährige Dollarbananenhändler (s. oben) abdecken können. Für den Rest müssen sie Lizenzen auf dem freien Markt erstehen. Wieso sich also nicht diese Chance zunutze machen, den eigenen Marktanteil durch die Übertragung von Lizenzen von Personen und Gruppen aus dem Bereich der SympathisantInnen zu erhöhen. Doch obwohl der Einstieg der Szene als professionelle Bananenimporteure gemachte Sache schien, kam etwas dazwischen, was diesen Traum zerstörte. Die Gesetzeslücke wurde im September `94 geschlossen.
Dennoch bleibt der Traum, jenseits der KäuferInnen, die es schon immer gewußt haben, auf neue KundInnen zu stoßen und mit Bananen nicht nur politische, sondern auch in größerem Umfang ökonomische Unterstützung der KleinproduzentInnen und ArbeiterInnen leisten zu können. Der faire Handel mit Bananen im Rahmen von Transfair steht daher weiterhin auf der Tagesordnung.
Kasten1:
Der Verein “BanaFair” sitzt im hessischen Gelnhausen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind derzeit:
Unterstützung der Gewerkschaften in Nicaragua und Costa Rica, Ausbau von Kontakten zu KleinproduzentInnen in Zentralamerika und der Karibik, Auseinandersetzung mit dem Thema EU-Binnenmarkt, Informations- und ヨffentlichkeitsarbeit und die Zusammenarbeit mit entwicklungspolitischen Organisationen in Europa.
“BanaFair” hilft gerne bei der Beschaffung von Infomaterial und bei der Durchführung von Informationsveranstaltungen zum Thema Bananen und der Bananenkampagne. Und: Selbstverständlich können über “BanaFair” fair gehandelte Bananen bezogen werden.
Kontakt/Informationen:
BanaFair e.V., Langgasse 41, 63571 Gelnhausen, Tel.: 06051.16350, Fax: 06051.16260, e-mail: banafair@link-f.rhein-main.de
Die Arbeit von “BanaFair” kann auch durch steuerabzugsfähige Spenden unterstützt werden. Spenden bitte auf das Spendenkonto:
BanaFair, Kto. 716057, Raiffeisenbank Nordspessart, BLZ 50763189
Zum Weiterlesen:
Zwei Hintergrunddossiers zum Thema Bananen werden im Herbst bei “BanaFair” erscheinen.
– “Von der Tulpenzwiebel zum Bananenmonopol. Portrait eines europäischen Bananenmultis” untersucht auf 24 Seiten die Geschäftspraktiken der Geest.
– “Die Bananenproduktion in Costa Rica – ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Auswirkungen und mögliche Alternativen” des costarikanischen “Foro Emaus” (ein Zusammenschlu゚ von Bananengewerkschaften und diversen Basisgruppen) gibt einen Einblick in die Diskussionen der Banañeros/as.
Bezug beider Publikationen über “BanaFair”.
Alles paletti
Bis zum Vertragsabschluß war es ein weiter Weg: der BGI hatte ein ‘Gütesiegel für kolumbianische Blumen’ schon zum Muttertag 1993 angekündigt. Allerdings erwiesen sich die weiteren Schritte – allen voran das Einverständnis der kolumbianischen Exporteure – schwieriger als gedacht, so daß noch einige Zeit verging, bis endlich zumindest das grundlegende Vertragswerk der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte. Nach den bisherigen inhaltlichen Ausführungen bleibt jedoch Skepsis angebracht, ob sich damit die Verhältnisse auf den Blumenplantagen tatsächlich verbessern. Die kolumbianische Blumenindustrie, weltweit zweitgrößter Schnittblumenexporteur, hat aufgrund der Produktions- und Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben in den letzten Jahren vor allem in Europa zunehmend Negativschlagzeilen gemacht. Eine allzu kritische Presse und Öffentlichkeit, dazu Debatten bis ins Europaparlament hinein sind nicht gut für einen Bereich, in dem täglich neue Anbieter auf den internationalen Markt drängen.
Alter Hase im Blumengeschäft
Für Kolumbien sind Blumen ein wichtiges Geschäft: schon in den 60er Jahren wurden die ersten Betriebe in der Hochebene rund um die Hauptstadt Bogotá gegründet. Die Sabana de Bogotá bot günstigste Voraussetzungen für den Blumenanbau, die diesem Wirtschaftszweig schon bald traumhafte jährliche Zuwachsraten bescherten: ein hervorragendes Klima mit hoher Sonneneinstrahlung, fruchtbarer Boden zu günstigen Preisen, ausreichend Wasser, eine gute und schnelle Anbindung an den Flughafen von Bogotá, nur wenige Stunden entfernt vom Importmarkt der USA, Miami. Und nicht zuletzt gab es ausreichend billige Arbeitskräfte, deren Entlohnung um ein vielfaches niedriger lag als in den industrialisierten Ländern: Betrug der durchschnittliche Tageslohn im landwirtschaftlichen Bereich der USA 1966 18 US-Dollar und 1970 21,25 US-Dollar, waren es in Kolumbien gleichbleibend nur ganze 82 Cent, die ein/e BlumenarbeiterIn im Durchschnitt pro Tag verdiente.
Heute sind Blumen das drittwichtigste landwirtschaftliche Exportprodukt Kolumbiens nach Kaffee und Bananen, mit dem immerhin noch 4 – 5 Prozent des Gesamtexportvolumens des Landes erwirtschaftet werden. Im letzten Jahr wurden über 130.000 Tonnen Blumen im Gesamtwert von über 380 Millionen US-Dollar exportiert. Etwa drei Viertel des Exports gehen in die USA, jedoch kommt auch den Märkten Westeuropas eine wichtige Rolle bei der Vermarktung inmitten einer immer größer werdenden Konkurrenz von anderen ‘Drittweltländern’ zu.
Steigender Konkurrenzdruck – Suche nach der Nische
Trotz Wirtschaftskrise und Rezession sind die hiesigen Märkte noch ausbaufähig, und Blumen werden immer gekauft. Spitzenreiter im Konsum ist die Bundesrepublik, in die Kolumbien bisher nur etwa ein Viertel seiner EU-Exporte liefert. Das entspricht jedoch nur zwei Prozent des jährlichen deutschen Blumenumsatzes. Möglich ist da noch viel: nirgends sonst wird pro Kopf so viel Geld für Blumen ausgegeben wie in Deutschland, dem weltweit größten Importmarkt für Schnittblumen mit einem Jahresumsatz von 8 Milliarden Mark. Etwa 80 Prozent der Blumen sind Importware. Diese wird zwar zum größten Teil aus Holland eingeführt, aber es bleibt immer noch genügend Spiel für Zuwachsraten anderer Produzentenländer wie etwa Kolumbien. Zudem ist der Export nach Europa vor allem im hiesigen kalten Winter ein wichtiges Geschäft, wenn auch die beste Heizanlage in niederländischen Gewächshäusern nicht mehr das rechte Resultat bringt und umsatzstarke Feiertage wie Weihnachten, Silvester, Valentins- und Muttertag ins Haus stehen.
Auch die anderen westeuropäischen Länder sind wichtige Exportmärkte: In den englischen Handel geht etwa die Hälfte der EU-Transporte, den Rest teilen sich die übrigen Mitgliedsländer. Nimmt man die Fast- und -Immer-noch-nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz hinzu, werden insgesamt etwa 20 Prozent der gesamten kolumbianischen Blumenproduktion in die EU importiert. Zudem können Blumen seit dem 1990 im Rahmen der ‘internationalen Drogenbekämpfung’ geschlossenen Zollpräferenzabkommen mit den Andenländern (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) zollfrei in die EU eingeführt werden. Die Verlängerung dieses bis Ende 1994 befristeten Abkommens um weitere 10 Jahre wird gerade in den Gremien der Europäischen Union innerhalb des Allgemeinen Zollpräferenzsystems diskutiert.
Blühende Landschaften – ausgelaugte Menschen
Gerade in Westeuropa jedoch, und hier vor allem in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, nahmen in den letzten Jahren die Stimmen derer zu, die die Produktionsbedingungen auf den Blumenplantagen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der BlumenarbeiterInnen kritisieren und ihren Klagen über die zahlreichen Verletzungen minimalster Grundrechte auch in den Verkaufsländern öffentliches Gehör verschaffen. In Kolumbien arbeiten heute etwa 80.000 Menschen, in der Mehrzahl Frauen, direkt in der Blumenindustrie. Weitere 50 – 60.000 sind in angegliederten Produktionszweigen beschäftigt, in der Zulieferung, dem Transport, der Herstellung von Verpackungsmaterial und Plastikplanen usw. 600.000 Personen sind, so die Schätzungen, insgesamt von der Arbeit auf den Blumenplantagen abhängig. Der Preis, den sie und vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen bezahlen, ist hoch: Der Arbeitsalltag ist lang mit nur kurzen Pausen, um sich von den körperlichen Strapazen stundenlangen Stehens oder Arbeitens in der Hocke und auf den Knien zu ‘erholen’. Kommen längere Anfahrwege hinzu, sind die Frauen und Männer schon an normalen Arbeitstagen häufig 12 Stunden und länger außer Haus. Vor allem zur Haupterntezeit, die im Oktober beginnt, kommen Überstunden hinzu, die die gesetzlich erlaubten Maximalzeiten oft weit überschreiten und häufig auch noch den einzigen arbeitsfreien Tag, den Sonntag, einschließen. Bezahlt wird dabei gerade einmal der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn. Der liegt im Moment bei etwa 120 US-Dollar im Monat – was bei weitem zu wenig ist, um eine Familie auch nur mit dem Notwendigsten zu versorgen.
hire and fire
Die Anstellungsverhältnisse sind unsicher. Immer mehr ArbeiterInnen sind nicht fest beim Betrieb angestellt, sondern arbeiten über Leihfirmen und mit Zeitarbeitsverträgen. Dies ermöglicht es beispielsweise, Sozialversicherungspflichten oder Verpflichtungen zu Lohnfortzahlungen bei Kündigung zu umgehen. Auch das 13. Monatsgehalt wird auf diese Weise eingespart. Die Beschäftigung über Kurzzeitverträge ermöglicht es den Unternehmern auch, ausschließlich nach dem aktuellen Bedarf und den gerade anfallenden Arbeiten einzustellen und zu entlassen. Zudem werden Zeit-, beziehungsweise Leiharbeits-“verträge” oft nur mündlich geschlossen. Entsprechend erschwert ist der Gang vor ein Arbeitsgericht, um vorenthaltene Rechte einzuklagen. Die mit den kurzfristigen Verträgen und der großen Arbeitsplatzunsicherheit verbundene hohe Rotationsrate unter den ArbeiterInnen macht zudem eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig. Ein ausgesprochen positiver Effekt aus Sicht der Unternehmer, die alles daransetzen, eine unabhängige Organisierung in ihrem Betrieb zu vermeiden. Dabei reicht die Palette von Repressionen über Prämien für Wohlverhalten bis hin zu Entlassungen. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo eine arbeitgeberfreundliche Betriebsgewerkschaft existiert, auch wenn in Kolumbien das Grundrecht auf freie Organisierung und gewerkschaftliche Betätigung gesetzlich garantiert ist.
Ein weiteres großes Problemfeld ist der permanente und intensive Pestizideinsatz im Blumenanbau – 120 bis 230 kg Pestizid-Wirkstoff, so Schätzungen, werden pro Jahr und Hektar auf den Plantagen ausgebracht, etwa das Doppelte der holländischen Mengen. Der Blumenanbau erfordert im Schnitt 14 verschiedene manuelle Arbeitsschritte, bei denen die Pflanzen direkt angefaßt und berührt werden – mehr als in allen anderen landwirtschaftlichen Produktionsbereichen. Mangelhafte Arbeits- und Schutzkleidung, die Nichteinhaltung von Wiederbetretungsfristen nach Ausbringung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, unterlassene Ausbildung der ArbeiterInnen, mangelnde hygienische Einrichtungen… all das heißt, jeden Tag aufs Neue die Gesundheit zu gefährden und zu ruinieren. Vergiftungserscheinungen wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Hautausschläge und Allergien sind alltäglich und “nur” die “leichteren” Gesundheitsschäden. Arbeitsunfälle mit Todesfolge kommen immer wieder vor.
Ein erhebliches Problem für die Gemeinden der Sabana ist der Wasserverbrauch der Blumenplantagen, die oftmals direkt bis an die Häuser der Ortschaften heranreichen oder sie teilweise vollständig einschließen. Drei Viertel des gesamten Wasserverbrauchs in den Hauptanbaugebieten gehen auf das Konto der Blumenunternehmen. Der Grundwasserspiegel fällt jährlich um ca. 3,5 bis 5 Meter. Infolgedessen sind Trinkwasserprobleme inzwischen weit verbreitet. Viele Gemeinden haben nur noch stundenweise am Tag Wasser – sofern sie es sich überhaupt leisten können, immer tiefere Brunnenbohrungen vorzunehmen. Wer das nicht kann, muß eben das noch vorhandene Oberflächenwasser nutzen – oft genug eine schillernde Brühe zweifelhafter Qualität.
Der Blumenboykott
Die vielen Berichte über diese Lebens- und Arbeitsverhältnisse führten dazu, daß im Frühjahr 1991 in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik verschiedene Organisationen und Hilfswerke mit einer Informations- und Öffentlichkeitskampagne begannen. Diese war verbunden mit dem Versuch, in einem konstruktiven Dialog mit den verschiedenen Verantwortlichen eine Verbesserung der Situation der ArbeiterInnen zu erreichen. Sie stießen dabei nicht nur auf taube Ohren: der Verband der deutschen Blumenimporteure BGI kündigte schließlich im Frühjahr vergangenen Jahres an, eine ‘Colombian Clean Flower Declaration’, wie sie zunächst hieß, zusammen mit den kolumbianischen Exporteuren verabschieden zu wollen, die die Einhaltung der gesetzlichen Grundlagen in Kolumbien innerhalb der Bereiche Arbeitsrecht, Sozialbestimmungen, Umweltschutz und Einsatz von Pestiziden garantieren sollte. Die Organisationen der deutschen Blumen-Kampagne begrüßten diesen Schritt, bedeutete er doch eine indirekte Anerkennung der immer wieder geäußerten Kritik an den Zuständen in der kolumbianischen Blumenindustrie auch durch die Unternehmer. Und könnte tatsächlich durchgesetzt werden, daß die gesetzlichen Vorschriften eingehalten würden, wäre dies in einem Land wie Kolumbien, in dem massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, doch schon ein erster Erfolg, auch wenn die Blumen damit noch lang nicht ‘sauber’ sind und ein wirkliches ‘Güte’-Siegel sicher mehr erfüllen muß als die Einhaltung der nationalen Gesetzgebung.
Ob mit dem jetzt in Frankfurt vorgestellten Siegel tatsächlich Verbesserungen erreicht werden können, bleibt abzuwarten und muß bislang noch mit einiger Skepsis betrachtet werden. Das Abkommen zwischen BGI und Asocolflores sieht vor, daß die kolumbianischen Betriebe, die das Siegel benutzen wollen, sich zunächst kontrollieren lassen müssen. Fällt diese Kontrolle zufriedenstellend aus, werden die Unternehmen auf eine ‘Weiße Liste’ gesetzt und erhalten das Recht, ein Emblem auf ihren Verkaufskartons zu führen. Bisher liegen für das Siegel des ‘Colombia Flower Council, Germany’ allerdings lediglich Richtlinien für den biologisch-ökologischen Bereich vor, mit denen der Pestizideinsatz gesenkt, die Handhabung der Agrochemikalien ungefährlicher gemacht und die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften und Wiederbetretungsfristen erreicht werden sollen. Dazu, wie die schwierigen Bereiche des Sozial- und Arbeitsrechts in das Siegel eingebunden werden können, was von diesen Bereichen sinnvollerweise wie kontrolliert und von wem überprüft werden soll, gibt es bislang allerdings keine genaue Vorstellung, obwohl kolumbianische und deutsche Gruppen immer wieder Vorschläge hierzu gemacht haben.
Die deutschen Unternehmer möchten mit dem Siegel schnell auf den Markt kommen, möglichst schon Anfang nächsten Jahres. In Frankfurt kündigten sie an, daß schon im Oktober die ersten Betriebe dazu ‘gecheckt’ werden sollten – aufgrund der geschilderten Situation bislang nur für den biologischen Bereich. Wie die fehlenden Aspekte so schnell integriert werden können, so daß der ins Auge gefaßte Zeitplan eingehalten werden kann, ist unklar. Reine ‘Öko-Blumen’ aber aus Betrieben, die nicht bereit sind, Gewerkschaften zuzulassen und ihren sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, können keinesfalls das Ziel der Bemühungen sein.
Für die deutsche Blumenkampagne gibt es einige weitere zentrale Punkte, die bei der Einführung eines Blumensiegels grundlegend sind: 1. Eine Trennung zwischen Umwelt- und sozialen Rechten oder auch eine Vernachlässigung letzterer ist nicht durchführbar. Wie soll beispielsweise gewährleistet werden, daß die Vorschriften eingehalten und Sicherheitsvorkehrungen bei der Handhabe von Pestiziden beachtet werden? Oder die Arbeitskleidung komplett und funktionstüchtig ist? Wer könnte den Arbeitsalltag in den Betrieben besser und kompetenter kontrollieren als die Arbeiter und Arbeiterinnen, die dort beschäftigt sind? Wie aber sollen sie dies tun und sich auch äußern können, wenn grundlegende soziale Rechte wie das Recht auf Koalitionsfreiheit nach wie vor mißachtet werden? Voraussetzung ist, daß es den ArbeiterInnen möglich ist, ihre eigenen unabhängigen Gewerkschaften aufzubauen, und zwar ohne damit ihre Entlassung zu riskieren oder Repressalien im Betrieb fürchten zu müssen.
2. Den Berichten und Beschwerden der ArbeiterInnen muß ein besonderes Gewicht eingeräumt werden – und hierzu ist mehr notwendig als die Möglichkeit, sich bei den Betriebsbesichtigungen an eine Kontrollkommission zu wenden, die möglicherweise einmal pro Jahr im Unternehmen vorstellig wird. Es muß eine dauerhafte neutrale Möglichkeit für die ArbeiterInnen geben, sich zu ihren Arbeitsbedingungen zu äußern, ohne daß sie negative Folgen für sich befürchten müssen. Gleichzeitig muß ein Modus gefunden werden, der gewährleistet, daß den Beschwerden der ArbeiterInnen über die Situation in ihren Betrieben auch nachgegangen wird.
3. Für eine Glaubwürdigkeit des Siegels muß auch die Unabhängigkeit der Kommission garantiert sein, die die Einführung und Einhaltung des Siegels und der Deklaration in den Betrieben kontrollieren soll. Bisher ist vorgesehen, daß über die Besetzung der Kontrollkommission nur von Unternehmerseite entschieden werden soll, während andere beteiligte Gruppen keinerlei Mitspracherecht haben. Die Gefahr einer reinen Eigenkontrolle durch eine Kommission, die größtenteils den Wünschen der Unternehmer entspricht, liegt so auf der Hand. Die kolumbianischen Unternehmer haben es bisher immer wieder abgelehnt, sich mit kolumbianischen Gruppen, den ArbeiterInnen und selbst mit WissenschaftlerInnen der staatlichen Nationaluniversität von Bogotá zusammenzusetzen, die an einem interdisziplinären Forschungsprojekt zur Blumenindustrie arbeiten. Eine auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbare Unabhängigkeit der Kommission, die das Vertrauen aller am Konflikt beteiligten Gruppen genießt, ist jedoch unabdingbare Voraussetzung dafür, daß das Siegel auch glaubwürdig ist. Nicht zuletzt für die hiesigen VerbraucherInnen, die schließlich die kontrollierten Blumen auch kaufen sollen.
4. Ein weiterer kritischer Bereich ist die Check- oder Kontrolliste, anhand derer die Betriebe in Kolumbien überprüft werden sollen. Auch hier liegt ein Konzept für den arbeits- und sozialrechtlichen Bereich nach Aussagen der deutschen Blumenimporteure noch nicht vor, obwohl es in Kolumbien an kompetenten Personen nicht mangelt, auf die bei ihrer Erstellung zurückgegriffen werden könnte.
Alle vorgenannten Punkte müssen zunächst einmal in zufriedenstellender und für alle Seiten überzeugender Weise gelöst sein, damit das in Frankfurt vorgestellte Siegel zu einem Instrument werden kann, mit dem eine Verbesserung der Situation für die kolumbianischen BlumenarbeiterInnen erreicht werden kann.
Unterschrieben –
aber auch umgesetzt?
Doch zunächst einmal ist das geschlossene Abkommen ein Vertrag zwischen zwei Verbänden, das für sich genommen noch keinerlei Auswirkungen und Verpflichtungen für die, den Verbänden angeschlossenen Betriebe mit sich bringt. Das heißt, in Kolumbien muß sich nach der Unterschrift von Asocolflores noch kein einziges Unternehmen in Zukunft kontrollieren lassen, so lange nicht die Besitzer selbst noch einmal der Deklaration beitreten. Daß die Unternehmer nicht gerade euphorisch reagierten, kann daran abgelesen werden, daß bislang nur sechs oder sieben der über 400 kolumbianischen Blumenbetriebe ein Interesse an dem Siegel gezeigt haben. Und selbst für den eher unwahrscheinlichen Fall, daß alle Mitgliedsbetriebe Asocolflores’ sich dem Abkommen anschließen, sind die Blumenbetriebe Kolumbiens noch nicht vollständig erfaßt. ‘Interessant’ ist das Abkommen ohnehin zunächst nur für diejenigen Betriebe, die in die Bundesrepublik exportieren. Wenn der deutsche Einzelhandel sich aber verpflichten würde, nur noch Blumen von Betrieben der ‘Siegelliste’ zu vermarkten und zu verkaufen, wäre es ein Instrumentarium , das die kolumbianischen Unternehmer dazu bewegen könnte, dem Abkommen beizutreten.
Der deutsche Blumenimporteursverband (BGI) hat in Frankfurt angekündigt, in einem nächsten Schritt seinen Mitgliedern eine entsprechende Empfehlung geben zu wollen und fügte hinzu, der deutsche Floristenverband habe das Abkommen bereits begrüßt. Eine Möglichkeit, die Einzelhändler über eine eigene freiwillige Entscheidung hinaus zu einer Unterstützung des Siegels zu bewegen, hat der BGI allerdings nicht. Kommen vom hiesigen oder anderen Märkten nicht entsprechende ‘Anreize’, wird sich wohl kaum ein Unternehmer finden, der freiwillig und ohne damit verbundene Vorteile eine Umstrukturierung seines Betriebes vornehmen wird.
Natürlich sind hiermit noch längst nicht alle Verantwortlichen erfaßt, die – nicht nur im Falle der Blumen – in der Verpflichtung stehen, wenn es um die Durchsetzung menschenrechtlicher Mindeststandards und sozialer Grundrechte geht: der kolumbianische Staat, weit entfernt davon, alles ihm Mögliche zur Durchsetzung und Garantie der Menschenrechte zu tun und seine Kontrollpflichten wahrzunehmen, die (deutsche) chemische Industrie, die alljährlich Riesengeschäfte mit dem Export hochgiftiger Pestizide macht, die deutsche Regierung, gerade jetzt in der EU-Präsidentschaft mit einer ‘besonderen’ Chance zum Handeln, nationale wie internationale Verbände und Regierungen… Auch die deutschen KonsumentInnen werden es mit ihrer eigenen Verantwortung nicht dabei bewenden lassen können, sich mit ‘kontrollierten’ und ‘besiegelten’ Blumen ein reines Gewissen zu (er)kaufen. Bis zu einer echten ‘Sozio-Öko-Blume’ ist es noch ein weiter Weg.
Eine Materialliste zum Thema ‘Blumen’ ist erhältlich bei: FIAN, Overwegstr. 31, 44625 Herne.