„Die Demokratie in Bolivien existiert erst seit 2005“

Ganz allgemein gesprochen, welche Effekte haben die Ergebnisse des Abwahlreferendums auf die politischen Kräfteverhältnisse in Bolivien?

Ich glaube, dass dieses Referendum eine sehr starke politische Wirkung sowohl auf die Regierung als auch auf die sozialen Bewegungen hat. Denn vor dem 10. August hieß es, dass die Regierung Morales Rückhalt in der Gesellschaft verlieren würde, dass sie auf nur 30 Prozent Zustimmung abgesunken sei. Wichtiger noch als diese Leistung der MAS erscheint mir aber die sich eröffnende Möglichkeit einer geostrategischen Positionierung der sozialen Bewegungen des indigen-populären Spektrums. Das zentrale Element dieses Phänomens ist meiner Meinung nach eine Art Aufstand an den Urnen, der von den kollas ausging. Kollas bezieht sich dabei nicht nur auf die Aymaras und Quechuas des Andenhochlandes, sondern schließt auch die in den Städten lebenden Mestizen ein, die zwar nicht unbedingt kulturell zu dieser Gruppe gehören, aber geographisch. Und vor allem auch die Binnenmigranten. Denn das Referendum hat gezeigt, dass die Kategorie kolla für die in Amazonien, im Chaco und den östlichen Departamenten lebenden Migranten aus dem Andenhochland eine kulturelle, symbolische und vor allem politische Bedeutung erhalten hat, die zuvor so nicht existierte.

In dem gezeichneten Szenario, welche großen gesellschaftlichen und politischen Kräfte können wir derzeit in Bolivien ausmachen, und wie gestaltet sich ihr Verhältnis zueinander?

Ich denke, wir sind Zeugen einer politischen, kulturellen, ideologischen und territorialen Artikulation zwischen dem Indigenen und dem Populären. Das Indigene bezeichnet dabei eine zivilisatorische, kulturelle und territoriale Matrix, wohingegen das Populäre sich auf urbane, aber den politischen und wirtschaftlichen Eliten fern stehende Schichten bezieht.Die Wahlergebnisse des Referendums sind in vielerlei Hinsicht Produkt dieses indigen-populären Spektrums und eben nicht der Eliten. Die Eliten sind derzeit von der Formulierung des neuen politischen Projekts völlig ausgeschlossen. Und zwar nicht, weil man ihre Teilnahme verhindert, sondern weil sie sich selber isoliert haben, durch die Art und Weise, wie sie die Autonomiefrage behandeln und vor allem durch ihren rassistischen, regionalistischen und kolonialen Diskurs.

Sie sprechen vom indigen-populären Spektrum. Kann man sagen, dass dieses zumindest in formal-elektoraler Hinsicht im Projekt der MAS zu einer Synthese findet?

Die MAS ist keine Partei im klassischen Sinn, als von Berufsrevolutionären geführte, artikulatorische und leitende Kraft. Im Gegenteil, als Partei stößt sie in der indigenen Gesellschaft auf ziemlichen Widerstand, insbesondere in El Alto und den Provinzen. Die Partei war hier nie ein Faktor der Artikulation, sondern in vielerlei Hinsicht der Spaltung. In Bolivien ist das ein interessantes Phänomen: Die Gewerkschaft wird sozusagen als Repräsentant der Zivilgesellschaft oder auch der comunidad betrachtet, während die Partei das „Andere“, das Partikularinteresse verkörpert. Insofern wird die Gewerkschaft auch viel eher wertgeschätzt. Aber die Figur Evo Morales und die Identifikation der Menschen mit ihm ist nicht zu leugnen. Wie er spricht, wie er sich kleidet, aber auch der politische und ideologische Horizont schafft ein Gefühl von „das sind wir“. In diesem Sinne tut Evo sich vielleicht zu sehr hervor, könnte sogar ein wenig zu sehr caudillo sein.

Die große Forderung der sozialen Bewegungen während der Kämpfe zu Anfang dieses Jahrtausends war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, mit der eine Art Neugründung des Staates von unten erreicht werden sollte. In der Realität dominierte jedoch die liberale Logik der Parteipolitik. War die Versammlung nichts weiter als ein Versuch der MAS, sich als hegemoniale Kraft zu positionieren?

Es ist schon richtig, die Leute der Partei haben versucht, eine Hegemonie der MAS zu konstruieren. In gewisser Weise ist das logisch, jede Partei versucht, diese Hegemonie aufzubauen. Für wichtiger erachte ich jedoch den Versuch der Konstruktion einer Hegemonie der indigenen und populären Welt. Dabei handelt es sich nicht um eine totalisierende, sondern um eine verästelte, sehr komplexe Art der Hegemonie, die auf einem kulturellen und historischen Projekt errichtet ist, und deren Regierungsprojekt auf Überzeugung basiert.
Gescheitert ist die Verfassunggebende Versammlung aufgrund der Fehler der MAS. Wenn man aus einem so mächtigen historischen Szenario hervorgeht wie die MAS, mit riesigen Volksaufständen und sozialen Bewegungen, dann kann man den Minderheiten kein de facto Vetorecht zugestehen. In diesem Land, in dem sich die Minderheiten immer wie die Mehrheit gefühlt und benommen haben, pochen diese jetzt darauf, dass sie als Minderheit respektiert werden wollen – während der indigenen Mehrheit niemals Respekt entgegengebracht wurde. Durch die Zwei-Drittel-Regelung wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, über die Mehrheit zu bestimmen. Insofern waren die vom Vizepräsidenten García Linera geführten Verhandlungen zur Einberufung der Versammlung in politischer und in historischer Hinsicht katastrophal.

Haben sich durch die Verfassunggebende Versammlung und jetzt mit dem Projekt für eine neue Verfassung dennoch Räume für eine tiefergehende politische Transformation geöffnet?

Ich würde die Versammlung als taktisches und strategisches Instrument betrachten, mit dem die Karten neu gemischt werden können. Zwar nicht völlig, denn es handelt sich um eine reformistische Verfassung, doch sie erlaubt es, das kolonial-republikanische Korsett abzulegen und auf mittlere Sicht anderen Projekten eine neue Orientierung zu geben. Dabei ist die Verfassung nur ein Instrument, das den Bewegungen erlaubt, zukünftige Szenarien zu entwerfen.
In dieser Versammlung sind zum ersten Mal in der Geschichte Frauen in polleras [voluminöse Röcke, die traditionell von indigenen Frauen vor allem in den Städten getragen werden; Anm. d. Red.], Studenten, Bauernführer und Minengewerkschafter zusammengekommen und haben gemeinsam diskutiert und an Entscheidungsfindungen teilgenommen. Das ist tatsächlich die Ausübung von Demokratie, von der die Menschen geträumt haben. Für viele Menschen existiert die Demokratie in Bolivien seit 2005, 25 Jahre nach ihrer formalen Einführung. Diese Demokratie beginnt gerade erst!
In diesem Szenario eröffnen die Versammlung und die Verfassung interessante Möglichkeiten. Doch es besteht auch die Möglichkeit einer Rückentwicklung, denn das Liberale ist sehr stark in der Verfassung vertreten; sie stellt in gewisser Weise eine Aushandlung zwischen der liberalen und der indigenen politischen Logik dar.
Das Problem ist, dass in Bolivien derzeit beinahe eine Art Kriegslogik herrscht. Und so ist es gut möglich, dass die Menschen sich zwar überhaupt nicht mit der Verfassung auseinandersetzen, da aber das „Andere“ existiert, als Bedrohung, als Beleidigung, geht es nur darum, dieses Andere zu schwächen. Für die Regierung ist das eine strategisch günstige Position.

„Wir sind Todfeinde und werden es immer bleiben“

Sie sind ein harter Kritiker der Regierung von Evo Morales. Nun hat dieser aber im vergangenen Referendum in den Aymara-Gebieten beinahe 90 Prozent der Stimmen für sich verbuchen können – was ist aus dem Autonomieprojekt geworden?

Man muss sehen, dass nach 500 Jahren zum ersten Mal ein indio regiert. Natürlich keiner, der die Bewegungen für indigene Selbstbestimmung repräsentiert, sondern ein gut gekleideter, moderner und angepasster indio, doch auch so fühlen sich die Menschen zu ihm hingezogen. Vor allem aber sind sie solidarisch mit der Regierung gegen den Osten des Landes, gegen die Großgrundbesitzer, gegen diese Gruppe, die stets die Macht innehatte. In der Kolonialzeit haben deren Großväter gegen unsere Großväter gekämpft, in der Republik ihre Väter gegen unsere Väter, und heute kämpfen ihre Kinder gegen uns. Und ich bin sicher, morgen wird dieser Krieg weiter gehen, unsere Nachfahren gegen ihre Nachfahren. Wir sind Todfeinde und werden es immer bleiben, und diese Idee tragen die Menschen tief in ihren Herzen.

Die Kritik der indigenen Bewegungen an dem „weißer Umkreis“ getauften Zirkel von „traditionellen“ MinisterInnen und BeraterInnen der Regierung wird lauter. Was ist denn eigentlich indigen an der derzeitigen Regierung?

Hätten wir wirklich die Macht übernommen, hätten wir jetzt Minister und Botschafter, die Aymara oder Quechua sprechen. Der Armeechef und der Polizeichef hätten Nachnamen wie Mamani oder Condori, das wäre ein echter Wandel gewesen. Aber die aktuelle Regierung ist Schuldner der Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderer Länder, und all diese Leute präsentieren jetzt ihre Rechnungen, die beglichen werden wollen. Der Energieminister Carlos Villegas arbeitete vorher für NRO, die Ministerien für Minenwirtschaft und Arbeit sind von einstigen Vertretern der traditionellen Parteien besetzt, und die wenigen indios, die in der Regierung waren, wie der ehemalige Bildungsminister Félix Patzi oder der Wasserminister Abel Mamani, wurden ausgewechselt. Der einzige indio im Regierungspalast ist der Außenminister David Choquehuanca.
Ich denke, dass Evo viel eher ein Püppchen der traditionellen Linken ist, und die ist in Bolivien oligarchisch. Ich sehe nicht, dass sie sich auf dem Weg hin zu einem radikalen Wandel des Landes befindet. Das sind eben die Söhne der Landbesitzer und Unternehmer, einige sagen sie seien „rechts“, andere sagen sie seien „links“, und manchmal streiten sie sich untereinander, doch in der Praxis existiert diese Unterscheidung in Bolivien nicht.

Eine der zentralen Forderungen der indigenen Bewegungen während der Kämpfe zu Anfang dieses Jahrhunderts war die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Was war Ihre Vision von dieser, und wie bewerten Sie den Verfassungsprozess im Nachhinein?

Unser Vorschlag für die Verfassunggebende Versammlung (VV) beinhaltete eine radikale Änderung des Landes, entsprungen aus den Köpfen der indios. Aber wir wurden ja nicht einmal zur Teilnahme eingeladen. Wir hatten gedacht, die Versammlung würde eine der sozialen Bewegungen sein, all jener Bewegungen, die in den letzten Jahren organisch mit der Gesellschaft verwachsen sind und seit dem Jahr 2000 drei Regierungen gestürzt hatten.
Und was macht die Regierung? Sie beruft weder den COB [Gewerkschaftsdachverband, Anm. d. Red.] ein, noch die CSUTCB [indigene campesino-Organisation, Anm. d. Red.], und auch nicht die Minenarbeiter, die Fabrik- und Bauarbeiter, nicht einmal die Kirchen, die Polizisten und das Militär. Aber all diese Leute und Sektoren müssten in einer VV zusammen kommen, debattieren und schließlich gemeinsam eine neue Verfassung verabschieden. Das wäre eine Verfassung der Menschen, des Volkes. Stattdessen hat Evo die alten, längst tot geglaubten Parteien einberufen, während die Abgeordneten der MAS nicht vorbereitet waren, und nicht in der Lage, Projekte voran zu bringen. Im Endeffekt waren es die Politiker der traditionellen Linken und die ausländischen Berater, die die Arbeit gemacht haben. Deswegen sehe ich auch nicht, wie diese Verfassung die Realität der indios widerspiegeln sollte – nicht einmal die des bolivianischen Volkes.

Seit den 50er Jahren propagieren Teile der radikalen indigenen Bewegung Boliviens den „Rassenkampf“, und Ihnen wurde oft ein „umgekehrter Rassismus“ zum Vorwurf gemacht. Welche Bedeutung haben heutzutage solche Konzepte?

Zuerst einmal muss man sehen, dass wir indios nicht die rassistischen Ausbeuter sind – wir haben keine weißen Hausangestellten, und auch keine weißen Chauffeure. Ich denke, wenn die Weißen die Regeln der indios akzeptieren, wären wir doch verrückt, wenn wir sie umbringen oder ausweisen würden. Wir sind ja weder der Ku-Klux-Clan noch deutsche Nazis, im Gegenteil, wir sind absolut nicht einverstanden mit dieser Art des Denkens. Meiner Meinung nach wäre in diesem 21. Jahrhundert ein „Rassenkampf“ in diesem Sinne auch ein politischer Selbstmord. Heute gibt es Menschenrechte und den internationalen Gerichtshof, und was wir tun ist protestieren. Denn es sind jetzt so viele Jahre, von der Kolonialzeit über die Republik bis heute, dass man uns beleidigt, herabsetzt und diskriminiert, das tut schon ein bisschen weh.

Die Bewegung der indigenen Gemeinden des Hochlandes hatte sich insbesondere zwischen 2000 und 2005 die Rekonstitution der „Nation der Aymara“ und politische Selbstbestimmung auf die Fahnen geschrieben. Dieser Autonomiediskurs dient jetzt dem so genannten Halbmond, den vier Tiefland-Departements, zu anderen Zwecken. Was ist der Unterschied zwischen beiden Autonomievisionen?

Wir haben die Idee der freien Selbstbestimmung der Nation der Aymara-Quechuas, der Nation der indios hervorgebracht. Wir haben unsere Symbole und während der Aufstände im Jahr 2000 haben wir Achacachi [Stadt im Hochland, Anm. d. Red.] vom Staat gesäubert: die Polizei, die Richter, alle Institutionen haben wir rausgeworfen und unsere eigenen Autoritäten eingesetzt. Aber wir waren nur sehr kurz selbst verwaltet, denn Evo hat das Militär und die Polizei wieder eingesetzt. Unsere Selbstbestimmung bedeutet also: unser eigener Staat, unser Territorium, unsere Armee und unsere Gesetze.
Das ist nicht das selbe wie die Autonomie, wie sie Santa Cruz propagiert. Ihnen gehört weder das Territorium, noch haben sie eine eigene Kultur, eine eigene Geschichte, Religion, Sitten oder Bräuche. Es ist eine Autonomie von Ausländern und Kolonisatoren, die völlig anders konnotiert ist. Und in Santa Cruz gibt es auch Indigene, die sich als Nation rekonstituieren wollen, wie die Guaraní. Von außen sieht die Autonomie in Santa Cruz vielleicht hübsch aus, aber in ihrem Innern existieren andere Autonomien, andere Kulturen, mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Denkformen.

Rafael Correa bleibt auf Erfolgskurs

Der Fortschritt ist offenkundig: Ecuadors Verfassungsentwurf, den ein 130-köpfiger Konvent zwischen November 2007 und Juli 2008 erarbeitet hat, ist deutlich progressiver als die geltende Verfassung aus dem Jahr 1998. Diese ist in weiten Teilen von der Ideologie des Neoliberalismus dominiert. Es ginge darum, „die lange Nacht des Neoliberalismus zu überwinden“, hat Correa beständig propagiert. Die von ihm gegründete Bewegung Acuerdo País (AP) verfügte über eine deutliche Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und einen interessanten Mix von Abgeordneten, von denen viele aus sozialen Bewegungen, dem Kulturbereich oder dem kritischen Journalismus stammen. So wurden die Grundüberzeugungen Correas, die auf einem langjährigen sozialen Widerstand gegen die neoliberale Politik in Ecuador basieren, in weiten Teilen in den vorgelegten Verfassungstext integriert.
Zunächst einmal wird darin die Rolle des Staates in Wirtschaft und Sozialem deutlich gestärkt. Der Text betont die Souveränität Ecuadors sowohl als „plurinationaler“ Staat als auch in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Nahrungssicherheit. „Ecuador ist ein Friedensterritorium“, formuliert in diesem Zusammenhang der neue Artikel 5, „es werden keine ausländischen Militärbasen erlaubt werden“. Ein klarer Bezug zur US-Basis am ecuadorianischen Pazifikhafen Manta, dessen Vertrag im Jahr 2009 ausläuft. Breiten Raum erhalten die Rechte der Bürgerinnen und Bürger – im individuellen wie im kollektiven Rahmen –, aber auch der Natur sowie die entsprechenden Verpflichtungen des Staates. Die Rechte der Indígenas – die während der Mobilisierungen in den 1990er Jahren erstritten wurden – sind weiterhin prominent vertreten. Quichua und Ashuar wurden zwar nicht als Staats-, aber doch als „offizielle Sprachen der interkulturellen Beziehungen“ in der neuen Verfassung festgeschrieben. Auch die solidarische Wirtschaft, die soziale Verpflichtung des Eigentums, die Partizipation der BürgerInnen und das „sumak kawsay“ (gutes Leben), ein der indigenen Tradition verpflichtetes, holistisches Entwicklungskonzept, sind wichtige Leitbilder der – vermutlich – zukünftigen ecuadorianischen Verfassung. Viele Passagen des Verfassungstextes lesen sich progressiv, wie immer wird es auf ihre Umsetzung in der Praxis ankommen.
Correa hat verschiedentlich bei relevanten Themen innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung interveniert, wobei er viele Themen durchgehen ließ, die er gerne weniger prononciert gesehen hätte. Zum Schluss ging es ihm um eine zügige Abwicklung des Projekts der neuen Verfassung, deshalb brach er mit einem der führenden ideologischen Köpfe von Acuerdo País und Vorsitzenden der Verfassunggebenden Versammlung, dem in Köln ausgebildeten Ökonomen Alberto Acosta. Zwar liefen Correa manche Ausführungen Acostas über den hohen Wert der Partizipation und die Rechte der Natur zuwider (siehe LN 409/410), doch das Fass zum Überlaufen brachte das Risiko, die maximale Dauer der Versammlung von acht Monaten zu überschreiten. Die überwiegend konservativen Medien hätten dies als Schwäche der Regierung ausgelegt. Der ecuadorianische Präsident ist ein wenig erfahrener Politiker, der allerdings in kürzester Zeit gelernt hat, dass es in der ecuadorianischen Realpolitik mehr um das Image des starken Mannes als um den großen Zukunftsentwurf für die Gesellschaft, wie sie Acosta im Auge hatte.
Dies machte Correa explizit in seiner Rede zur Präsentation des neuen Verfassungsentwurfs deutlich. Er habe zu Beginn des Konvents auf die Gefahr der „Kinderkrankeiten“ der Linken und der Umweltbewegung verwiesen, nun müsse er noch die „Kindereien des Indigenismus“ hinzuzählen. Er machte damit alternative Vorstellungen nicht nur lächerlich, sondern drohte auch offen gegen kritische Geister innerhalb der AP. Es gebe mindestens 20 „Infiltrierte“ unter den Abgeordneten in der Verfassunggebenden Versammlung, die eine eigene Agenda und nicht die seiner Bewegung verfolgten, er kenne sie genau, die Namen wolle er allerdings erst nach dem Referendum öffentlich machen.
„Mich befremdet die Verwendung des Begriffs der Infiltierten,“ kommentierte postwendend Mónica Chuji, eine Indigene aus der Amazonasregion von Sarayaku und Abgeordnete von AP. „Wenn die Infiltrierten doch jene sind, die seit langer Zeit historische Positionen der Völker vertreten, die an den sozialen Prozess jenseits des politischen Kalküls glauben und die auf Grundlage von Überzeugung arbeiten. Unsere Verbindungen mit den Kämpfen der Völker waren seit jeher bekannt, und es schien, als sei dies unser Potenzial, warum wir aufgefordert wurden, Teil der Verfassunggebenden Versammlung zu sein.“
Doch längst nicht alle haben den Mut, offen ihre Meinung zu vertreten. Viele Abgeordnete hoffen auf eine Karriere im zukünftigen Parlament oder auf Regierungsposten. Correa ist bekannt dafür, dass er Kritik an seiner Politik nicht schätzt und nachtragend ist. Seine Haltung spiegelt sich auch strukturell in der AP wider: Das einzige exisitierende „demokratische“ Gremium dieser neuen Bewegung ist das „Politische Büro“, eine handverlesene Gruppe von Correa nahestehenden Männern und einer Frau, das zusammentritt, wenn der Präsident es möchte und die Themen diskutiert, die Correa vorschlägt. Ganz ähnlich brachte Fernando Cordereo, der Nachfolger Acostas, in der letzten Sitzungswoche etwa die Hälfte aller Verfassungsartikel und eine ganze Reihe von Gesetzen ohne relevante Diskussion durch den Verfassungskonvent.
Acosta hatte demgegenüber einen breiten partizipatorischen Prozess in der „Asamblea Constituyente“ organisiert, wo zahllose Organisationen aus dem ganzen Land ihre spezifischen Vorschläge für die neue Verfassung präsentieren konnten. Dies war jenseits der Beiträge für einen neuen Gesellschaftsvertrag auch ein wichtiger Prozess in der Debatte um gesellschaftliche Alternativen und Zukunftsvisionen für Ecuador, nachdem über Jahrzehnte die Verteidigung erkämpfter Rechte gegen die neoliberale Dampfwalze im Mittelpunkt gestanden hatte. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Debatten in der Suche nach einem humaneren und demokratischeren Ecuador auch im zukünftigen Prozess der „Bürgerrevolution“ wiederfinden.
Hier gibt es jedoch deutliche Fragezeichen zu setzen. Denn das Konzept der „Bürgerrevolution“ wird von Correa rein individualistisch verstanden. Einzelne Personen aus sozialen Bewegungen, wie Mónica Chuji von der CONAIE oder Pedro de la Cruz vom sozialistischen Bauern- und Indigenenverband FENOCIN, durften innerhalb von AP Posten einnehmen, dies bedeutete aber explizit keine Übereinkunft mit den von ihnen repräsentierten Bewegungen. Stattdessen führten der Autoritarismus von Correa – und die Angst seiner Alliierten – zu einem Verlust an Autonomie der mit dem Präsidenten verbundenen sozialen Bewegungen. So haben beispielsweise eine ganze Reihe an Bauernorganisationen von Anfang an Rafael Correa unterstützt, aber es unterlassen, die herkömmliche, auf das Agrobusiness und Agrartreibstoffe orientierte Landwirtschaftspolitik seiner Regierung in der Öffentlichkeit zu kritisieren oder auch nur zu diskutieren.
Insgesamt fällt die Bilanz der „Bürgerrevolution“ von Correa gemischt aus. Letztlich gilt es für die sozialen Bewegungen des Landes, deren Erfolge zu sichern, ohne sich vollständig aufsaugen zu lassen. In diesem Sinne argumentiert das neue Bündnis „Vereint für das Ja und für den Wandel“. Einer der wichtigsten Bündnisteilnehmer ist die stärkste Indígena-Bewegung Ecuarunari, die sich von manch überzogener Kritik Correas nicht in eine Fundamentalopposition hat abdrängen lassen, sondern das Referendum in seinen historischen Kontext stellt: „Die neue Verfassung ist Ergebnis des jahrzehntelangen Widerstands und des Kampfes der sozialen Bewegungen, der Indígena-Bewegung und verschiedener Sektoren des ecuadorianischen Volkes. Die neue Verfassung beinhaltet wichtige Erfolge im Bereich des Sozialen, der Kultur, Politik, Wirtschaft und Umwelt, was sich danach in der öffentlichen Politik und neuen Gesetzen konkretisieren muss. Um die Erfolge dieser Verfassung behaupten und ausbauen zu können, ist es notwendig, den wirtschaftlich Mächtigen und ihren politischen Repräsentanten, die heute mit einem Nein zur Verfassung an die Führung des Landes zurückwollen, eine deutliche Niederlage an den Urnen beizubringen.“ So resümiert Ecuaruanri und eine Reihe anderer Organisationen ihre Entscheidung, aktiv in den Wahlkampf einzugreifen.
Die rechten Parteien bleiben demgegenüber blass. Die traditionell dominante Christsoziale Partei PSC versteckt sich hinter dem wortstarken Bürgermeister von Guyaquil, Jaime Nebot, der wiederum aber nicht für die Partei in Erscheinung treten will. Die familieneigene Partei PRIAN des „Bananenkönigs“ Álvaro Noboa, der in der Stichwahl um das Präsidentenamt gegen Correa unterlegen war, tritt kaum mehr in Erscheinung, nachdem er wegen der Weigerung, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen, aus der Verfassunggebenden Versammlung ausgeschlossen worden war. Eine breitere Kampagne für das Nein hat in verschiedenen Landesteilen lediglich die Partei des ehemaligen Oberst und Präsidenten Lucio Gutiérrez initiiert. Diese und die polemisch vorgetragene Kritik der katholischen Kirche an der Legalisierung homosexueller Beziehungen in der neuen Verfassung, dürften aber kaum reichen, das Projekt Correas ins Wanken zu bringen. Der Präsident hat nach wie vor eine hohe Glaubwürdigkeit, den lang ersehnten Wandel herbeizuführen, und beflügelt dies mit einer Reihe von konkreten sozialpolitischen Maßnahmen. Eine zu erwartende deutliche Mehrheit für das „Ja“ am 28. September würde Correa zudem den Weg ebnen, bei den dann anstehenden Neuwahlen im kommenden Jahr seine Position zu festigen. Die Weichen sind gestellt.

Stürmische Zeiten für Ecuadors Bürgerrevolution

Es ist ein Rückschlag mit noch unabsehbarer Wirkung. Am 23. Juni kündigte Alberto Acosta den Rücktritt von seinem Amt als Präsident der Verfassunggebenden Versammlung in Ecuador an. Er wende sich dagegen, die Debatte und die Qualität des Textes dem Zeitdruck zu opfern, sagte Acosta in Montecristi, wo der Konvent seit November 2007 tagt. „Damals sagte ich und jetzt wiederhole ich mit tiefster Überzeugung: Geschichte wird von den Völkern gemacht und nicht von Einzelpersonen“.
Eigentlich hatte Acosta die Gründe für seinen Rücktritt vor dem Plenum erläutern wollen, doch stattdessen zog sich seine Fraktion Acuerdo PAIS (AP) zu einer Klausurtagung in der nahegelegenen Hafenstadt Manta zurück. Daraufhin berief Acosta eine Pressekonferenz ein, bei der ihn seine Frau und Abgeordnete der regierungskritischen Mitte-Links-Parteien begleiteten.
„Unsere Bürgerrevolution wird nicht durch eine Führungsfigur ermöglicht, sondern nur durch die aktive Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten“, sagte Acosta und bezeichnete den Verfassungsprozess als historischen Einschnitt: „Vorher galten die Gesetze einiger weniger als Begründung einer Ordnung, um die Privilegien weniger zu sichern“. Jetzt hingegen werde gemeinsam an einem „neuen Entwicklungsmodell“ gebaut, „einem kreativen, harmonischen, friedlichen Lebensprojekt, das in Ecuador und auf der ganzen Welt nötig ist“.
Rafael Correa hingegen drängte bereits von Anfang an auf eine rasche Verabschiedung des Textes und bezeichnete Acosta mehrmals und nur halb im Scherz als „zu demokratisch“. Als ursprünglicher Termin für die Verabschiedung war der 24. Mai vorgesehen.
Vor Acostas Rücktritt hatte sich das Politbüro (nomen est omen?) der AP auf Druck des Staatschefs auf den 26. Juli festgelegt. „Indem sie mir ihre Unterstützung entzogen, haben sie mich gebeten, einer anderen Führungsgruppe (im Verfassungskonvent, Anm. d. Red.) Platz zu machen“, sagte Acosta. Er beuge sich dieser Entscheidung und wolle nun als einfacher Abgeordneter weitermachen.
Für Acosta handelt es sich – noch – nicht um einen endgültigen Bruch, auch wenn die konservativen Medien Ecuadors dies in allen denkbaren Varianten herbeischreiben wollen. Aber natürlich ist der Rücktritt ein weiterer Schachzug in seinem monatelangen Disput mit Correa. Der reagierte tags darauf mit einem trotzigen „Niemand ist unentbehrlich“.

„Geschichte wird von den Völkern gemacht und nicht von Einzelpersonen“

Die zwei repräsentativsten Figuren der „Bürgerrevolution“, beides linke Ökonomen, waren seit Jahren freundschaftlich verbunden. In den 1990er Jahren war der heute 59-jährige Intellektuelle Acosta mit seinen antineoliberalen Schriften über die Auslandsverschuldung oder Naturzerstörung eine Art Mentor für den 14 Jahre jüngeren Correa. Im siegreichen Wahlkampf 2006 wurden die beiden zu engen Mitstreitern, und 2007 amtierte Acosta einige Monate lang als erster linker Energie- und Bergbauminister Ecuadors. In jenen Monaten überredete er Correa dazu, die wirklich revolutionäre Urwald-statt-Erdöl-Idee für den Amazonas-Nationalpark Yasuní zum Regierungsprojekt zu erklären (siehe unten). Doch in der Frage wirtschaftliche Entwicklung versus Umweltschutz blieb Correa bis heute in traditionellem Wachstumsdenken verhaftet.
Im Juni 2007 einigten sich Rafael Correa und Alberto Acosta auf die Spitzenkandidatur Acostas für die AP-Liste für den Verfassungskonvent, was beiden zupass kam: Die von vielen Kabinettskollegen und dem Präsidenten als lästig empfundene Opposition des grünen Intellektuellen zu neuen Bergbau- und Ölförderprojekten war weitgehend ausgeschaltet, andererseits bekam Acosta als Präsident der Verfassunggebenden Versammlung so etwas wie eine Traumrolle: Diskurse zu organisieren, das sagt er ganz offen, liegt ihm viel mehr als der oft bürokratische Regierungsalltag.
Acosta trug maßgeblich zum klaren Sieg des Regierungslagers Ende September bei und erzielte auch noch mit Abstand das beste Einzelergebnis. Die Probleme bei den Verfassungsprozessen in Venezuela und Bolivien vor Augen, wo sich die bürgerliche Opposition von der Regierungslinken an die Wand gedrückt sah und auch deswegen auf Putsch oder Totalblockade der Länder setzte, bemühte er sich mit Erfolg um die Einbindung reformwilliger Oppositionskräfte von SozialdemokratInnen bis hin zu den Indígenas.
Das ging auf Kosten des Zeitplans. Die Verzögerungen, die den Präsidenten immer mehr auf die Palme brachten, waren „vielleicht mein größter Fehler“, räumt Acosta freimütig ein. Wenn er nicht gerade eine der Interessengruppen empfing, die tagtäglich in das Städtchen Montecristi pilgerten, leitete er die Diskussionen im Plenum oder warb in Interviews für das Projekt einer pluralistischen, mit größtmöglicher Transparenz und Partizipation erarbeiteten Verfassung.
Eine Hausmacht innerhalb von Acuerdo PAIS aufzubauen, konnte und wollte er hingegen nicht – was sich jetzt rächt. An den wöchentlichen Sitzungen des Politbüros, der einzigen und fast ausschließlich mit Regierungsmitgliedern besetzten AP-Entscheidungsinstanz, nahm er zuletzt kaum noch teil. Besorgte SympathisantInnen sprechen von einem „politischen Selbstmord“ Acostas.
Rückendeckung erhielt er von der indigenen Bewegung und der unabhängigen Linken. Allerdings bedauerte Humberto Cholango von der indigenen Kichwa-Organisation Ecuarunari den Rücktritt. Verantwortlich seien dafür der „Druck kleiner Gruppen“ und die „Intoleranz jener, die nichts verändern wollen“, meinte Cholango. Eduardo Delgado von der Partei Demokratischer Pol befürchtete einen „Rechtsruck innerhalb der Regierung“.
Am 28. Juni erklärte Rafael Correa in seiner wöchentlichen Rundfunkansprache, die neue Verfassung sei bereits „fast fertig“ und werde wie geplant am 26. Juli verabschiedet. Die über 400 fehlenden Artikel seien bereits ausgearbeitet und müssten nur noch in erster und zweiter Lesung verabschiedet werden. Den Rücktritt Acostas bezeichnete er als „eins der härtesten Dinge, die mir widerfahren sind, der Ausstieg eines Compañero“. Das „Undemokratischste“, was Ecuador widerfahren könne, sei eine weitere Zeitverzögerung: „Demokratie bedeutet, den Auftrag des Volkes umzusetzen“.
Aber auch Alberto Acosta gab sich am gleichen Tag demonstrativ zuversichtlich. Selbst, was die Zustimmung der EcuadorianerInnen in einem Referendum im September oder Oktober angeht. Hier liegt das stärkste Argument Correas: In der Bevölkerung nämlich wächst die Unzufriedenheit, vor allem wegen der galoppierenden Inflation bei den Lebensmitteln. In Zumbahua, einem überwiegend von Indígenas bewohnten Dorf im Andenhochland, schwindet der Rückhalt für die Regierung gerade deswegen. Der 42-jährige Humberto Pallo etwa, der TouristInnen zur nahegelegenen Luguna Quilotoa chauffiert, schimpft: „Der Preis für einen Dose Speiseöl hat sich verdoppelt, und die Regierung tut nichts dagegen. Natürlich wollen wir mit der Korruption aufräumen, aber hier im Dorf sehe ich da noch keine Fortschritte. Viele Leute wandern nach Europa aus, manche sogar mit der ganzen Familie. Außerdem hat die Regierung ein Kommunikationsproblem – wir werden einfach nicht gehört“.
Für Alberto Acosta ist eine der wichtigsten Passagen der neuen Verfassung die Erklärung Ecuadors zum „Friedensterritorium“ – nächstes Jahr läuft der Vertrag für den US-Militärstützpunkt in Manta aus. Besonders stolz ist er jedoch auf ein weltweites Novum, das er und seine ökologisch ausgerichteten MitstreiterInnen durchsetzen konnten: Im ecuadorianischen Verfassungstext sind erstmals die Rechte der Natur festgeschrieben. „So, wie die soziale Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert die Achse der sozialen Kämpfe war, so wird dies im 21. Jahrhundert immer mehr die Umweltgerechtigkeit sein“, heißt es in seinem Grundsatzpapier „Die Natur als Rechtssubjekt“. Damit führt Ecuador die leider nur zögerlich geführte programmatische Debatte innerhalb der lateinamerikanischen Linken an.
Ende Juni kam für Acosta & Co. die beste Nachricht aus Deutschland, genauer: aus dem Bundestag. Am 26. Juni wurde dort auf Initiative der Grünen und der Koalitionsparteien einstimmig ein Antrag verabschiedet, der die Bundesregierung zur Unterstützung des ecuadorianischen Vorschlags zum Klimaschutz auffordert. Demnach will Ecuador auf die Förderung von Erdöl im Ishpingo-Tambococha-Tiputini-Gebiet (ITT) verzichten, wenn sich die internationale Gemeinschaft an den dadurch entstehenden Einnahmeausfällen beteiligt. Zugleich forderte der Bundestag die ecuadorianische Regierung auf, die Frist für die Annahme ihres Vorschlags bis Ende 2008 zu verlängern. Die Bundesregierung soll sich zudem auch auf internationaler Ebene für die Unterstützung des Projekts stark machen.
Die Details einer möglichen deutschen Unterstützung sind allerdings noch offen, im Gespräch ist ein Schuldenerlass. Tags darauf freute sich Alberto Acosta im Plenum von Montecristi über das Signal aus Berlin: „Es zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir nicht nur an Ecuador denken, sondern auch auf globaler Ebene“.

Blog von Alberto Acosta: http://asambleaconstituyente.gov.ec/blogs/alberto_acosta

Machtkampf in Bolivien

Der Fortschritt in Bolivien ist eine Schnecke. Zwar erreichten die Bewegung zum Sozialismus (MAS) und ihre Verbündeten im Dezember 2007 im Verfassungskonvent die Verabschiedung eines abschließenden Gesamtentwurfes der neuen Magna Charta. Doch das landesweite Annahmereferendum steht aus. Immer neue Störmanöver wie die Zwei-Drittel-Frage nach den Abstimmungsmodalitäten in der Verfassungsgebenden Versammlung, der Hauptstadt-Streit um den Umzug der Kapitale von La Paz nach Sucre oder zuletzt die Autonomie-Referenden streuen Sand ins Getriebe der Neugründung. Mit einer bemerkenswert einfallsreichen Art und Weise versuchen die alten Eliten die seit Anfang 2006 regierende MAS durch eine destruktive Zermürbungsstrategie in die Knie zu zwingen. Blickt man durch den gekonnt aufgewirbelten Staub der Autonomie-Bewegung, so tritt ihr tatsächliches Ansinnen klar zu Tage: Man will vernebeln, dass Bolivien zum Schauplatz der direkten Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich geworden ist.
Boliviens Rechte inszeniert sich als Vertreter der „echten sozialistischen Revolution“. Die Autonomie-Bewegung ist ein Beispiel par exellence für das regelrechte Kapern einer ursprünglich linken Position wie hier der Forderung nach Autonomie. Ein direkt-demokratischer Mechanismus wie es die Volksbefragung ist, wird für verdeckt-autoritäre Zwecke benutzt, in diesem Fall von der oligarchischen Minderheit der Oberschicht aus Santa Cruz. Dem drohenden Machtverlust, verkörpert durch den Aufstieg der MAS, soll durch macht-räumliche Abgrenzung entgangen werden. Jene Gruppe aus Land- und ViehbesitzerInnen, dem Agrobusiness, Geschäftsleuten und BerufspolitikerInnen konnte sich nach dem aus ihrer Sicht katastrophalen Wahlsieg der sozialen Bewegungen bei den Präsidentschaftswahlen Dezember 2005 nach Überwindung des ersten Schocks in elitären „Bürgerkomitees“ regional unerwartet schnell neu aufstellen.
Gänzlich unvorbereitet auf den MAS-Wahlsieg war man allerdings nicht. Dieser hatte sich schon bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen von 2002 angekündigt, als Morales und Co. ohne Wahlkampf und tiefe organisationell-personelle Basis auf Anhieb über 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten. Mit dem Wissen, auf nationaler Ebene jegliche Glaubwürdigkeit verspielt zu haben, setzte die politisch-wirtschaftliche Elite der abgewirtschafteten Klüngel-Parteien angesichts des bevorstehenden MAS-Triumphs 2005 auf die politische Eroberung der departamentalen Präfekturen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wurden die Präfekten nicht mehr per Dekret des Präsidenten ernannt, sondern wurden von der Bevölkerung gewählt. Ein Einfallstor für die Opposition, denn die MAS konzentrierte all ihre Anstrengungen ausschließlich auf die Erlangung der staatlichen Zentralmacht in La Paz. Als politisch neue und unerfahrene Kraft hatte sie keine geeigneten Präfekten-KandidatInnen zur Hand. Die Entscheidung war strategisch folgenreich. Denn so fanden sich in den Tal- und Tieflandregionen Santa Cruz, Beni, Pando, Cochabamba und Tarija mit einem Schlag Figuren im höchsten Amt der Verwaltungsdistrikte wieder, die der durch die MAS okkupierten Zentralverwaltung diametral und illoyal entgegenstanden.

Boliviens Rechte inszeniert sich als Vertreter der „echten sozialistischen Revolution“

Dass alle oppositionellen Präfekten und selbsternannten „Kämpfer gegen den Zentralismus aus La Paz“ zu Zeiten der neoliberal orientierten Regierungen eines Jaime Paz Zamora, Hugo Banzer, Jorge „Tuto“ Quiroga und Erwin Sánchez „Goni“ de Lozada selbst verdiente Vertreter dieses Systems waren, welches abzuschaffen sie sich heute auf die Fahnen geschrieben haben, zeigt schlicht den ausgeprägten Machtinstinkt des traditionellen Polit-Personals und ihrer Klientel. Zusammen hoben sie Mitte 2007 den so genannten autonomen Halbmond der regierungsfeindlich regierten Regionen aus der Taufe. Im Nationalen Demokratischen Rat (CONALDE) haben sich die Präfekten Rubén Costas, Ernesto Suárez Sattori, Leopoldo Fernández, Manfred Reyes und Mario Cossío in einer Art Konkurrenzregierung zusammengeschlossen, um ihren „demokratischen Widerstand“ gegen die Administration Morales zu koordinieren. Als direktes Gegenstück zum MAS-Verfassungsprojekt wurde die Ausarbeitung und Ratifizierung von Autonomie-Statuten aus dem Hut gezaubert, begleitet von einer von Fehlinformationen, Manipulation und Gewalt geprägten Schmutzkampagne gegen den von den populären Bewegungen angestoßenen MAS-Verfassungsprozess.
Augenscheinlich ist der Widerspruch zwischen ideo‑
logischer Rechtfertigung der Autonomie-Bewegung und der sozio-ökonomischen Herkunft ihrer führenden VerfechterInnen und ihrer Interessen. Das Referendum vom 4. Mai in Santa Cruz als die am aufwändigsten vorbereitete Abstimmungsinszenierung steht exemplarisch für die zurückliegenden Urnengänge aller „Halbmond“-Regionen. Auf der Siegesfeier anlässlich des Autonomie-Referendums vom 4. Mai sprach Rubén Costas vom nun beginnenden „wahren Sozialismus“, vom „echten Wandel“ und von „sozialer Gerechtigkeit und einer besseren Zukunft für alle Bewohner von Santa Cruz“. Der Autonomie-Slogan als Heilsbringer, für den sich 80 Prozent ausgesprochen hätten, alles Stimmen gegen die MAS und ihrer Politik des Wandels. Sofort werde man einen Mindestlohn auf departamentaler Ebene von 1.500 Bolivianos (135 Euro) einführen. Investitionen, Beschäftigung und Wohlstand für alle. Blühende Landschaften und gesellschaftlicher Frieden.
Das vermeintlich eindeutige Wahlergebnis des Referendums, das aufgrund fehlender Genehmigung des Obersten Nationalen Wahlgerichts (CNE) und Kongressbeschlusses verfassungsrechtlich von der MAS-Regierung, der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), der Vereinten Nationen und der EU als illegal eingestuft wurde, täuscht jedoch über den Makel der hohen Wahlenthaltung von knapp 40 Prozent hinweg. Sie ist Folge der von der MAS zusammen mit den sozialen Bewegungen vor Ort ausgegebenen Aufforderung, die Wahl aktiv zu boykottieren. Während im urbanen Santa Cruz der Ober- und Mittelschicht die „Ja“-Stimmen vorherrschten, wurde im ländlichen Raum entweder boykottiert oder negativ votiert.
Die Mehrheit der subalternen Gruppen der Gesellschaft hatte sich nicht einwickeln lassen. Denn es hatte sich längst herumgesprochen, wer hinter diesem mit Millionen von US-Dollar aufgeblähten politischen Projekt steht: Das Bürgerkomitee Pro Santa Cruz, die von Costas geleitete Präfektur und deren Familien. Costas steht für einen Politikertyp, wie er im Bolivien der klientelistisch-familiären Clanstrukturen häufig anzutreffen ist. Der studierte Agronom ist eng verwoben mit einem der tonangebenden Wirtschaftszweige dieser aufstrebenden Region, dem Agrobusiness und der Viehwirtschaft. Er war Präsident der „Vereinigung der Viehzüchter“, der „Gesellschaft der Milchproduzenten“ und der „Landwirtschaftskammer Ost“, allesamt äußerst einflussreiche Verbände. Von 2003 bis 2004 war er Präsident des Bürgerkomitees Pro Santa Cruz, um dann 2006 zum Präfekten gewählt zu werden. Sein engster Verbündeter und aktueller Vorsitzender des Bürgerkomitees, Branko Marinkovich, bringt die Gegnerschaft zur MAS auf den Punkt, indem er „das Zerschlagen des Latifundiums“ als größte von der MAS ausgehende Gefahr brandmarkt. Zwei Bestimmungen in der neuen Verfassung lassen die knapp ein Dutzend Familien zittern, die laut eines UN-Berichtes über 25 Millionen Hektar Land besitzen, also fünf Mal mehr als die zwei Millionen Bäuerinnen und Bauern des Landes zusammen: Einführung einer Obergrenze von Landbesitz und die Konditionierung des Eigentums auf die Erfüllung einer sozialen Funktion. Während der rechten Militärdiktaturen und neoliberalen Regierungen wurden Bodentitel gegen politisches Gefallen zum großen Teil umsonst verteilt und stellen heute die Grundlage der wirtschaftlich dominanten Rolle der Familien dar. Auf dieser Grundlage kontrollieren sie nahezu die komplette Wirtschaft von Santa Cruz. Eine schwer zu durchbrechende Hegemonie, die auf die MAS auch auf nationaler Ebene einen enormen Druck auszuüben in der Lage ist. Das zeigte der durch Spekulation und künstliche Warenverknappung hervorgerufene Preisanstieg von Lebensmitteln wie Fleisch und Speiseöl seit Anfang des Jahres. Die gesellschaftlichen Kreise von Santa Cruz bilden die Speerspitze der landesweiten Autonomie-Bewegung und können ohne Zweifel als die Urheber der in Planung, Ablauf und Ergebnis nahezu identischen drei Referenden in Beni, Pando, Tarija betrachtet werden. Auf regionaler Ebene werden sie mit Hilfe der ratifizierten Autonomie-Statute nun versuchen, dem Staat weit reichende Kompetenzen in Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung, Justiz, Polizei, Bildung und der Kontrolle über Land und Bodenschätze zu entreißen. Wie weit sie dabei zu gehen wagen – die Möglichkeiten reichen von föderaler Dezentralisierung bis hin zu territorialer Abspaltung – hängt vom weiteren Verhalten beider politischer Lager ab. Derzeit herrscht eine Pattsituation, bei dem die MAS ein Mehr an politischer, die Opposition ein Mehr an wirtschaftlicher Macht für sich verbuchen kann. Beide Lager sind sich dessen bewusst und versuchen gegenzusteuern: Die Verstaatlichungspolitik des MAS greift die wirtschaftliche und die Autonomie-Bewegung die politische Macht ihres Gegenspielers an. Der Ausgang ist noch offen.

Tauziehen im Zeichen der Landfrage

Karg ist die Landschaft rund um El Alto. Sandig sind die Böden rund um die zweitgrößte Stadt Boliviens, die de facto nicht mehr ist als die Oberstadt von La Paz, wo täglich einige hundert Landflüchtlinge eintreffen. El Alto ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Lateinamerikas und derzeit hat die kaum vierzig Jahre alte Ansiedlung rund 900.000 EinwohnerInnen. Hier kommen Viele an, die sich nicht mehr von ihren kleinen Feldern im Hochland ernähren können. Auch die Familie von Freddy Ramos kommt vom Land und die Träume und Erwartungen an die Stadt sind groß.
Doch es ist hart, sich in El Alto durchzubeißen, und derzeit steigen die Preise schneller als das Einkommen, ärgert sich der junge Mann. „Schauen sie sich um, wir haben nichts. Die Inflation frisst das bisschen, was wir mehr haben, gleich wieder auf. Was tut Evo Morales und wo ist die Arbeit, die er uns versprochen hat?“, schimpft der 19-Jährige und deutet mit ausladender Armbewegung auf die beiden schäbigen Zimmer in einem Hinterhof. Die bewohnt er gemeinsam mit seiner Mutter und der Schwester. Der magere junge Mann ist verbittert. Tagsüber arbeitet er in einem Internetcafé und abends holt er seinen Schulabschluss nach, um später einmal Polizist zu werden. Hart muss er für seine Zukunft kämpfen und die steigenden Preise für Nahrungsmittel machen der Familie zu schaffen. Darunter stöhnen viele der Familien in El Alto, die früher die unfruchtbaren Böden der Hochebene beackerten.
Die Weite des Altiplano beginnt gleich hinter den letzten Ziegelbauten von El Alto. Von Geröll und Sand durchzogene Wiesen prägen die Landschaft. Rund eine halbe Stunde Fahrtzeit von El Alto entfernt befindet sich die Gemeinde Calamarca. Aus 27 Dörfern besteht sie und die Viehwirtschaft ist neben dem Anbau von Kartoffeln und Bohnen, der vornehmlich für die Selbstversorgung erfolgt, die einzige Einnahmequelle. Neben Schafen, Ziegen und Alpacas werden auch Kühe gehalten, von deren Milch Kleinbäuerinnen wie Aconstancia Pomar Taqui leben. Die 39-Jährige stellt gemeinsam mit ihren Freundinnen im Dorf Jucuri Butter, Käse und Joghurt her und verkauft ihn an der Straße oder gelegentlich auch auf einem der lokalen Märkte. An Abwanderung denkt die Bäuerin, die den kleinen Hof gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet, nicht mehr, denn das gute halbe Dutzend Kühe der Familie gibt zwischen sechs und acht Liter Milch pro Tag. Für bolivianische Verhältnisse eine gute Quote. Die hätten die Tiere der zufrieden lächelnden Frau früher nie gebracht. „Da hatten wir kein Wasser und die Tiere litten unter Krankheiten“, erklärt ihr Mann Jaime Quispe. Nicht mal die Hälfte der heutigen Menge gaben die Tiere. Dann kam die Entwicklungsexpertin Patricia Morales von der Stiftung Sartawi und half den Bauern von Calamarca. Tierärzte trafen ein, einige Zuchtbullen wurden herbeigeschafft, um die Qualität der Milchviehbestände zu verbessern. Zudem unterrichtete die Agrarspezialistin die Bauern und Bäuerinnen wie sie die Milch verarbeiten und die Milchprodukte verkaufen können. „Wir haben aber auch Brunnen gebaut, so dass die Dörfer jetzt Wasser haben und in kleinem Rahmen ihre Felder bewässern können“, erklärt Patricia Morales, die die kleine Stiftung heute leitet.
Sartawi wurde Mitte der achtziger Jahre von der deutschen evangelischen Gemeinde in La Paz gegründet und ist in drei Gemeinden im andinen Hochland aktiv. Dort machen sich die Folgen des Klimawandels in zunehmender Trockenheit, aber auch durch Unwetter wie Hagelstürme stark bemerkbar. „Für die Bauern wird es immer schwerer unter diesen Bedingungen zu überleben. Sie brauchen Know How, Unterstützung und Hilfen bei der Wasserversorgung“, erklärt Morales. Das liefert die kleine Organisation in den drei Gemeinden im Verbund mit den lokalen Behörden. Maßnahmen gegen die Erosion, Programme zur Bodenverbesserung, Weiterbildung sind entscheidende Stichworte genauso wie die Stärkung der Frauen in den Gemeinden. Dies sind Ansätze, die auch die Landflucht stoppen könnten, doch langfristig muss sich mehr tun, ist sich die Entwicklungsexpertin sicher. „Wir brauchen die Agrarreform, es ist nötig zusätzliche Ackerflächen zur Verfügung zu stellen, denn im andinen Hochland sind die Anbauflächen aufgrund der Zersplitterung durch Vererbung zu klein geworden.“
Diese Einschätzung teilen auch unabhängige Agrarexperten wie Miguel Urioste von der Stiftung Tierra, die sich seit Jahren bei der Schlichtung von Landkonflikten engagiert. „Über die Landreform könnten wir die ungeregelte Migration vom Hoch- ins Tiefland steuern.“ Dort befinden sich riesige Flächen von etlichen hunderttausend Hektar in der Hand weniger Familien, wobei große Flächen brach liegen. Wenn sie von der Landreform spricht, hat die Regierung von Evo Morales diese im Visier, um sie an landlose Kleinbauern aus dem Hochland zu verteilen. Dagegen wehrt sich aber die in Santa Cruz, der wichtigsten Wirtschaftsmetropole Boliviens, ansässige Agrarelite des Landes, die durch die industrielle Landwirtschaft und durch den Export von Hühnerfleisch und Sojaprodukten reich geworden ist. Das geht so weit, dass die Karte der Autonomie gespielt und in Referenden über die Zukunft der Regionen abgestimmt wird, obgleich diese mit nationalem Recht nicht vereinbar sind und international – so zum Beispiel von der Organisation Amerikanischer Staaten – nicht anerkannt werden (siehe Artikel in dieser Ausgabe). In Santa Cruz, wo die Mehrheit der Bevölkerung Anfang Mai für die Autonomie stimmte, obgleich viele zuhause blieben und nicht zur Urne schritten, interessiert das die Machthaber aber nur am Rande. Auch in Pando, Beni und Tarija stehen die Zeichen auf Separation. In Tarija ist das nächste Referendum für den 22. Juni vorgesehen. Die abtrünnigen Departements, die geographisch die Form eines Halbmonds haben und deshalb media luna genannt werden, verfügen über das Gros der natürlichen Ressourcen, wie fruchtbare Böden und Erdgas. Immer öfter ist daher dort das Argument zu hören, dass man nicht gewillt sei, die Früchte der eigenen Arbeit ins arme Hochland zu transferieren. Die Referenden für die eigene Autonomie werden dort als ein Zeichen der Stärke gegenüber der ungeliebten Zentralregierung in La Paz gesehen. Das hinter dieser jedoch die Mehrheit der Bevölkerung steht, immerhin haben 54 Prozent der WählerInnne für Evo Morales gestimmt, wird dabei nur zu gern vergessen, gibt Miguel Urioste zu bedenken. „Im Kern geht die Auseinandersetzung zwischen der linken Regierung und der rechten Opposition um die Landfrage und die kann man nur im Dialog lösen.“
Für Gespräche scheinen beide Seiten jedoch noch nicht reif und bisher fehlt ein geeigneter unparteiischer Vermittler, weshalb der Konflikt auf unterschiedlichen Ebenen und allzu oft auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird. Ein Beispiel dafür sind die Preisaufschläge bei Hühnerfleisch und Speiseöl in der Größenordnung von 50 Prozent im März. „Im bolivianischen Tiefland werden Hühnerfleisch und Sojabohnen auf riesigen Farmen industriell produziert. Die in Santa Cruz ansässigen Agrarbarone haben jedoch die Preise gezielt durch enorme Exporte nach oben getrieben“, klagt Urioste. Ziel war es dadurch Präsident Evo Morales zu destabilisieren, denn wenn die Lebensmittel knapp und teuer werden, so zeigt ein Blick in die bolivianische Geschichte, folgten fast immer Unruhen. Die hatten mehrfach den Auszug des Präsidenten aus dem Regierungspalast zur Folge. „Doch diesmal blieb es trotz der Preisaufschläge ruhig, bis die Regierung per Dekret eingriff und die Exportmengen beschränkte“, so Urioste weiter. Das war im März und seitdem sind die Preise für die beiden Produkte, die zum täglichen Bedarf in Bolivien gehören, wieder auf ein normales Niveau gelangt. Gleichwohl bleibt die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ein sensibles Thema, denn derzeit gibt es auch bei Getreide und Reis Versorgungsprobleme.
Beide Produkte müssen derzeit zu hohen Preisen importiert werden, weil die Produktion in Bolivien nicht ausreicht. Das soll sich zukünftig ändern, denn Landwirtschaftsministerin Susana Rivero setzt auf Ernährungssouveränität. Dafür sollen zusätzliche Flächen für die Produktion von Lebensmitteln und nicht wie international immer öfter zu beobachten für die Agrospritproduktion bereitgestellt werden. Dabei spielen die Kleinbauern und -bäuerinnen, die etwa die Hälfte der derzeitigen Anbaufläche bewirtschaften, im Konzept der Regierung eine wesentliche Rolle. Über Kredite und die Anbauförderung sollen sie neue Perspektiven und zusätzliche Produktionsanreize erhalten. 180 Millionen US-Dollar hat die Regierung in La Paz dafür in den letzten beiden Monaten zur Verfügung gestellt und bei Bauernorganisationen wird das wohlwollend zur Kenntnis genommen. Die haben über zwei Jahre auf entsprechende Programme gewartet und nicht nur bei den Kaffee- und KakaoproduzentInnen war schon etwas Unruhe eingekehrt: „Wir brauchen Kredite und Beratung, um wachsen zu können, denn nur so können wir von unserer Arbeit auch würdevoll leben“, argumentiert Pablo Yana Mamani. Der 47-jährige Kaffeebauer aus Caranavi, der Kaffeeregion des Landes, ist Mitglied der Kaffeegenossenschaft (FECAFEB). Die Aussichten der GenossInnen in der Region sind exzellent, denn der Weltmarktpreis für die dunkle Bohne ist hoch und die Nachfrage vorhanden. Mühelos könnten sie ihre Produktion verdoppeln und verdreifachen, denn vor allem die Nachfrage nach qualitativ hochwertigem Ökokaffee, der in der Region produziert wird, steigt.
Doch die Bauern verfügen kaum über Investitionskapital, die Infrastruktur ist schlecht und deshalb sichern sich viele über den legalen Kokaanbau ab, berichten deutsche Entwicklungsexperten. Mit den jüngsten Initiativen der Regierung könnte sich das peu a peu ändern. Doch die größte Herausforderung für die Zukunft des Landes bleibt die Agrarreform. Die kann die Regierung in La Paz jedoch nur im Konsens mit den Departements des media luna umsetzen.

Morales pokert um die Macht

Bolivien kommt nicht zur Ruhe. Nachdem im Departement Santa Cruz Ende April ein umstrittenes Autonomiereferendum abgehalten wurde (siehe nachfolgender Kommentar), stehen nun gleich die nächsten Abstimmungen ins Haus. Am 10. August könnten die WählerInnen entscheiden, ob Präsident Morales, sein Vize Álvaro García Linera oder einer von acht Gouverneuren ihr Büro räumen müssen. Einzige Voraussetzung: Der Oberste Gerichtshof muss die Referenden als verfassungskonform absegnen.
Der sonderbare Weg hin zu dieser Abstimmung begann eigentlich schon im Januar 2007, als in Cochabamba die Auseinandersetzung zwischen AnhängerInnen der Regierungspartei MAS (Bewegung zum Sozialismus) und oppositionellen Bürgergruppen mit Gewalt und drei Toten endete. Morales akzeptierte daraufhin öffentlich den Vorschlag eines seiner schärfsten Kontrahenten, Cochabambas Gouverneur Manfred Reyes Villa, seinen Posten und den weiterer Spitzenpolitiker zur Abstimmung zu stellen. Ein knappes Jahr später legte Morales letzten Dezember dann einen konkreten Gesetzesentwurf zu einem Abberufungsreferendum vor, um seinem blockierten Verfassungsreformprojekt neuen Schwung zu verleihen. Dieser wurde umgehend vom MAS-bestimmten Kongress-Unterhaus angenommen, vom mehrheitlich oppositionellen Senat, dessen Zustimmung für die Umsetzung ebenso nötig ist, aber zunächst ignoriert.
Etwas überraschend kam es daher, dass der Senat, wohl ermutigt durch das klare Votum gegen Morales bei der Abstimmung für eine autonome Region Santa Cruz, den Plan unterschriftsreif nun wieder auf den Tisch brachte. Noch überraschender war es für Viele, dass auch Morales kurz danach das Gesetz unterschrieb und den Weg zum Abberufungsreferendum Mitte August frei machte. „Ich bin sehr zufrieden, dass der im Senat vor sich hinschlummernde Entwurf nun Gesetz ist“, sagte er.
Details der Referendums-Bestimmungen sind interessant. Abgestimmt wird nämlich nicht nach dem Prinzip der einfachen Mehrheit, sondern die Politiker müssen sich – wie in Morales Entwurf vorgesehen – an den letzten Wahlen von 2005 messen lassen. In Zahlen bedeutet dies, dass bei jedem Kandidaten die Gegenstimmen das Ergebnis von 2005 sowohl absolut als auch prozentual übertreffen müssen, um die jeweilige Person des Amtes zu entheben und Neuwahlen für den entsprechenden Posten zu ermöglichen. Übersetzt in Politik bedeutet dies, dass es schwieriger sein wird, Morales zu kippen als die mit ihm konkurrierenden Provinzgouverneure. Morales konnte bei den Präsidentschaftswahlen immerhin über 1,5 Millionen Wählerstimmen auf sich vereinen, was einem Anteil von 54 Prozent entspricht, während keiner der Provinzfürsten über 50 Prozent der Stimmen kam. Ein deutlicher Vorteil für Morales und seinen Vize García Linera.
Die beiden wichtigsten Gegenspieler Morales’ signalisierten, die Abstimmung anzunehmen, allerdings nicht ohne auf ihre Benachteiligung durch die Wahlregelung hinzuweisen. Cochabambas Gouverneur Manfred Reyes Villa sagte, dass er das Abberufungsreferendum unterstütze, auch wenn die Regeln nicht für alle die gleichen wären. Reyes Villa bekam bei den Gouverneurswahlen 2005 knapp über 47 Prozent der Stimmen. Er kann also sein Amt verlieren, wenn sich mehr als 47 Prozent der WählerInnen gegen ihn aussprechen – selbst wenn er eine leichte Mehrheit auf seiner Seite hat. Nichtsdestoweniger hat Villa Reyes gute Chancen in Cochabamba zu gewinnen, da er in seiner Heimatprovinz eine starke Unterstützungsbasis hat. Für La Paz´ Gouverneur, José Luis Paredes, im Volksmund Pepe Lucho genannt, wird es dagegen etwas schwieriger, die Abwahl zu vermeiden, hatte er 2005 doch nur ungefähr 38 Prozent der Stimmen bekommen.
Die Frage ist, warum Morales sein hart erkämpftes Präsidentenamt nach knapp der Hälfte der Amtszeit aufs Spiel setzt. Ein Grund mag sein, dass Morales erkennt, dass die Opposition die Handlungsfähigkeit seiner Regierung fast zum Stillstand gebracht hat. Der Prozess der Verfassungsreform hin zu mehr Rechten für die indigene Bevölkerung liegt praktisch brach. Zudem hat das Referendum in Santa Cruz seine eigene politische Basis wieder so zusammengeschweißt, wie es seit den Wahlen 2005 nicht mehr festzustellen war. Die Abstimmung könnte für ihn sogar zum Erfolg werden. Indem er die Rahmenbedingungen dafür vorgab, hat er außerdem seine Kontrahenten dazu gebracht, in ein Spiel mit wesentlich schlechteren Karten einzusteigen.
Sollte Morales erfolgreich sein und seine Gegenspieler nicht, könnte er nicht nur zwei unliebsame Gegner los werden, sondern zunächst auch neue Interimsgouverneure – bis zu den in diesem Fall vorgeschriebenen Neuwahlen in drei bis sechs Monaten – als Nachfolger bestimmen. Auf diese Weise hätte er die Möglichkeit, sich seinen Weg zu einer zweiten Amtszeit zu ebnen und das Thema Autonomie wäre erst einmal beiseite geschoben. Hinzu kommt der Trumpf, dass Morales selbst bei einer Abwahl zunächst bis zur Neuwahl im Amt bliebe und dann als Kandidat gegen die schwach aufgestellte Konkurrenz potenziell gute Chancen hätte, erneut das erste Staatsamt zu ergattern.
Andererseits denken Reyes Villa und Paredes vielleicht, dass sie die Abstimmung in ihren eigenen Machtzentren so gestalten können, dass es für Morales schwerer wird, die nötigen Stimmen zu gewinnen, als er selbst für möglich hält. Sein Sieg vom Dezember 2005 basierte nämlich nicht nur auf seinem Rückhalt bei der indigenen, ländlichen Bevölkerung sondern auch auf einem substanziellen Stimmenanteil der urbanen Mittelschicht in Orten wie Cochabamba, die nun voraussichtlich vermehrt mit „nein“ gegen Morales stimmen wird.

// Übersetzung: Volkmar Liebig, Anja Witte
Artikel und Kommentar sind Auszüge aus dem Bolivien-Blog von Jim Shultz vom Democracy-Centre in Cochabamba (4.5., 9.5. und 14.5.)

Kommentar

Beim kontroversen Referendum in Santa Cruz am 4. Mai 2008 unterstützten 86 Prozent der WählerInnen die Autonomie für diese Region. Etwa 40 Prozent der Wahlberechtigten von Santa Cruz entschieden sich, überhaupt nicht an der Wahl teilzunehmen. Gleichzeitig fanden vielerorts groß angelegte Proteste gegen das Referendum statt. Trotz der tausenden Menschen, die zu den Wahlurnen gingen, ist die Legitimität der Abstimmung mehr als fraglich. Die nationale Wahlgericht bezeichneten sie aufgrund der fehlenden gesetzlichen Grundlagen gar als illegal.
Das Ergebnis, das wirklich zählt, ist jedoch, dass Bolivien heute eine tief gespaltene Nation ist. Der Kern dieser Spaltung beschränkt sich nicht auf die konkreten Streitpunkte, die das Referendum vorangetrieben haben, wie beispielsweise die Landreform oder die Verteilung der Einnahmen aus dem Erdgas. Die Spaltung basiert viel mehr auf einem historischen Prozess von politischem und ökonomischem Wandel – der zurzeit durch Evo Morales repräsentiert wird –, an den viele Menschen glauben und den andere wiederum mit ganzer Kraft ablehnen.
Millionen von BolivianerInnen identifizieren sich mit diesem Wandel. Er zielt für sie direkt auf eine Verbesserung ihrer schwierigen Lebensumstände ab. Die anderen wehren sich bis zum Letzten gegen diese Veränderungen. Bei einigen stehen ökonomische Interessen dahinter. Sie sehen Evo Morales als Robin Hood der Aymara und sich selbst als die verletzbare wohlhabende Klasse von Nottingham. Manche stellen sich aus ideologischen Gründen gegen Morales – in ihren Augen eine Verteidigungshaltung gegen einen schwachköpfigen Sozialismus. Andere haben durch politische Ambitionen zu ihrer Oppositionshaltung gefunden. Morales und seine Verbündeten stehen ihnen im Weg die Macht zurück zu gewinnen, die sie lange innegehalten hatten und in einem Tornado bei den Wahlen im Jahr 2005 verloren. Außerdem gibt es noch die Gruppe jener, die Boliviens ersten indigenen Präsidenten aus einem unverhohlenem Rassismus heraus ablehnen. Und dann ist da noch eine unentschiedene Mitte.
Die zeitgleichen Ereignisse, das Referendum in Santa Cruz und die Massendemonstrationen gegen die Autonomiebestrebungen in anderen Regionen des Landes, verdeutlichen drei Punkte:
Erstens hat die wohlhabende Elite in Santa Cruz demonstriert, dass sie durchaus fähig ist, viele WählerInnen aus der Mitte zu überzeugen und ein mächtiges „regionales Interesse“ zu verfestigen, das Evo Morales als Erzfeind identifiziert. Auch andere MAS-GegnerInnen in anderen Gegenden werden sich nun zum Versuch ermutigt sehen, Autonomie anzustreben. Regionale Interessen werden in Zukunft zum Hauptargument werden, um Morales und das, was er repräsentiert, zu stoppen.
Zweitens hat die Autonomieabstimmung progressive soziale Bewegungen in einem Maße vereint, das nicht mehr erreicht worden ist seit der Wahl von Evo Morales. Nach Morales Amtsantritt hatten sich diese Bewegungen voneinander entfernt. Die Herausforderung von Santa Cruz hat sie alle zurück auf die Straßen gebracht. Die Demonstration, die in Cochabamba gegen das Autonomiereferendum stattfand, war die größte seit vielen Jahren.
Und drittens ist völlig unklar, was als nächstes passieren wird. Bolivianische Politik hat sich in ein Schachbrett verwandelt, auf dem wild gezogen wird, ohne dass sich bislang der Vorteil einer Partei herauskristallisiert hat.
Es scheint sich eine Pattsituation eingestellt zu haben zwischen der Regierung und der Führung von Santa Cruz. Alles, was die regionale Führung von Santa Cruz ohne die Einwilligung der nationalen Regierung machen kann, wird sie wahrscheinlich auch umsetzen. Zum Beispiel Morales Bemühungen einer Landreform zu blockieren. Die Regelung von Angelegenheiten, für die die Regionalfürsten in Santa Cruz dagegen mit der Regierung kooperieren müssten wird hingegen weiterhin ein Traum für sie bleiben. Etwa, dass ein größerer Anteil der staatlichen Einnahmen aus den Gas- und Ölvorkommen bei ihnen verbleibt.

// Übersetzung: Volkmar Liebig, Anja Witte

Der Präsident im Auge des Hurrikan

Die costaricanische Botschaft im Norden Bogotás ist normalerweise ein Ort, an dem nichts Besonderes passiert. Costa Rica möchte bestenfalls als Urlaubsziel ins Gerede kommen und die Botschaft wirbt auf ihrer Website mit Karibikflair und dem typisch costaricanischen Slogan: ”La Pura Vida” (Das wahre Leben). Die Unruhe, die am 22. April vor dem Eingang der diplomatischen Vertretung des kleinen mittelamerikanischen Landes entstand, war daher recht ungewöhnlich: Eine Menschenmenge drängte vor den Botschaftsbereich und hielt Fotos von Ermordeten und Verschwundenen in die Höhe, JournalistInnen und FotoreporterInnen versuchten die besten Plätze vor dem abgezäunten Eingang zu ergattern und mehrere Fernsehkameras wurden in Stellung gebracht. Grund hierfür war ein besonderes Ereignis: Mario Uribe Escobar, ein Cousin und enger Vertrauter des kolumbianischen Staatspräsidenten Álvaro Uribe Vélez, hatte beim Botschafter Costa Ricas um politisches Asyl angesucht.
Gegen Mario Uribe wurde kurz zuvor Haftbefehl erlassen. Es besteht gegen ihn der dringende Tatverdacht, sich mit Paramilitärs eingelassen und Geschäfte mit DrogenhändlerInnen gemacht zu haben. Bereits im Oktober letzten Jahres war das Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden. Daraufhin legte der frühere Kongresspräsident und Senator für die Partei Colombia Democrática (Demokratisches Kolumbien) zum Bedauern des Präsidenten sein Kongressmandat nieder. Der Verdacht gegen ihn erhärtete sich und veranlasste den Obersten Gerichtshof dazu, Untersuchungshaft anzuordnen. Mario Uribe versuchte noch, sich ins Ausland abzusetzen, flüchtete in die costaricanische Botschaft und wurde, nachdem sein Asylgesuch als “unangemessen” abgelehnt wurde, am Botschaftsausgang von der Polizei in Empfang genommen und ins Gefängnis überführt.
Mit Mario Uribe sind es nun bereits 33 Kongress-Abgeordnete die in Verbindung mit dem sogenannten Parapolítica-Skandal verhaftet wurden. Insgesamt wird derzeit gegen 74 ParlamentarierInnen wegen ihrer Verbindungen zu Paramilitärs strafrechtlich ermittelt. Die gegen die Abgeordneten erhobenen Anschuldigungen klingen dabei stets sehr ähnlich: Sie sollen mit den Paramilitärs Absprachen über die Manipulation von Wahlen, Erpressung von Stimmen, Einschüchterung und Ermordung von Oppositionellen getroffen haben. Weiterhin wird ihnen zur Last gelegt, paramilitärische Todesschwadronen finanziert zu haben und in das Geschäft des Drogenhandels involviert gewesen zu sein.
Lange Zeit war es der Regierung gelungen, relativ schadfrei alle Skandalmeldungen zu überstehen. Die Verbindungen zwischen PolitikerInnen und paramilitärischen Gruppen wurden als Einzelfälle, die aufgedeckten zwielichten Verflechtungen zu paramilitärischen Strukturen als private Probleme der betroffenen PolitikerInnen dargestellt. Die Tatsache, dass inzwischen mehr als ein Viertel der 268 Abgeordneten aus Senat und Repräsentantenhaus ins Visier strafrechtlicher Verfolgung geraten oder bereits inhaftiert worden sind, führt diese Argumentation ad absurdum und beschert dem kolumbianischen Kongress eine einzigartige Legitimationskrise. Der Skandal zeigt eindrücklich, wie stark sich insbesondere die neuen politischen Eliten den Paramilitarismus zu Nutzen gemacht haben, um ihren Weg ins Zentrum der Macht zu beschleunigen. Zudem ist auffällig, dass vor allem die Uribe unterstützenden Kleinparteien von den Ermittlungen betroffen sind: Colombia Democrática, Mitte der 80er Jahre von Präsident Álvaro Uribe und seinem Cousin Mario Uribe gegründet, hat wegen ihrer systematischen Verbindungen zu Paramilitärs fast ihre gesamte Abgeordnetenbank ans Gefängnis verloren. Auch sind längst nicht mehr nur die HinterbänklerInnen der anderen Regierungsparteien betroffen. So sind gegen den Vorsitzenden der sozalen Partei der nationalen Einheit (Partido de la U) – Carlos García Orjuela Ermittlungen aufgenommen worden. Weiterhin ist ein Verfahren gegen Nancy Patricia Gutiérrez – aktuelle Kongresspräsidentin und Sprecherin der Partei Cambio Radical – eröffnet worden. Ihr wird vorgeworfen, ihre gesamten Wahlsiege seit 2002 den Paramilitärs zu verdanken. Und schließlich ist auch der ehemalige Vorsitzende der Konservativen Partei – Luis Humberto Gómez Gallo – ins Zentrum der Ermittlungen gerückt.
Ein anderer Fall könnte nun dem Präsidenten selbst gefährlich werden: Die ehemalige Senatorin Yidis Medina hatte sich selbst der Bestechlichkeit bezichtigt und wurde daraufhin verhaftet. Sie hatte zugegeben, dass sie sich ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung, die schließlich Uribes Wiederwahl ermöglicht hatte, bezahlen ließ.
Nachdem Uribe im Jahre 2004 mit dem Versuch gescheitert war, per Referendum seine Wiederwahl zu ermöglichen, entschied sich der Präsident, über den Weg des Kongresses die Verfassung zu ändern. Hierfür fehlte ihm aber die erforderliche Mehrheit. Yidis Medina und Teodolindo Avendaño hatten noch zwei Tage vor der Abstimmung öffentlich erklärt, die Verfassungsreform nicht zu unterstützen und entsprechend mit Nein stimmen zu wollen. Am Tag der Abstimmung war Avendaño nicht anwesend. Medina schwenkte im letzten Moment um, stimmte mit Ja und eröffnete dem Präsidenten den Weg zur Wiederwahl. Uribe ist der erste Präsident in Kolumbiens Geschichte, der eine zweite Amtszeit angetreten hat.
Die Vorwürfe gegen Uribe, sich die Zustimmung zur Wiederwahl gekauft zu haben, sind nicht neu. Mehreren Kongressabgeordneten wurde unterstellt, ihre Loyalität sei mit Posten und besonderen finanziellen Zuwendungen für Projekte in ihrer Region gekauft worden. Für diesen Klientelismus und das korrupte Verhalten von Kongressabgeordneten liegen nun Zeugenaussagen und Beweise vor. Die Tatsache, dass Medina sich selbst bezichtigt, Zuwendungen angenommen zu haben, verpflichtet die Staatsanwaltschaft zu ermitteln, woher diese kamen. Für den Präsidenten bedeutet dies, dass nicht nur gegen ihn strafrechtlich ermittelt werden könnte, sondern dass die Legitimität und Legalität seiner Präsidentschaft in Frage steht.
Trotz des entschlossenen Vorgehens der Staatsanwaltschaft und der Gerichte gegen die Parapolítica zeigen die jüngsten Ereignisse, dass die strukturellen Verbindungen des paramilitärisch-militärischen Komplexes keineswegs in Auflösung begriffen sind. Das Märchen vom Ende des Paramilitarismus wird von Präsident Uribe seit nunmehr fast zwei Jahren propagiert. Mit den Worten “Kolumbien hat den Paramilitarismus überwunden! Es gibt keinen Paramilitarismus mehr!” feierte er im Sommer 2006 den Abschluss des sogenannten Friedensprozesses mit den Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC). Tatsächlich begaben sich bis Ende 2006 mehr als 31.000 Paramilitärs in das staatliche Demobilisierungsprogramm.
In den Jahren zuvor hatten die Paramilitärs sich und ihren politischen Verbündeten mittels beipielloser Gewalt in vielen ländlichen Gebieten und einigen urbanen Zentren regelrechte parallele Herrschaftsenklaven geschaffen. Doch nach der Vertreibung der Guerilla und der Vernichtung jeder nennenswerten Opposition war der militärische und politische Nutzen großer paramilitärischer Verbände nicht mehr gegeben. Im Rahmen von Uribes Politik der “demokratischen Sicherheit” und der in Gang gesetzten Konstruktion eines starken, autoritären und kommunitären Staates sollten die Paramilitärs in die Legalität überführt und in das autoritäre Projekt eingebunden werden.
Obwohl die AUC bereits 2002 verkündet hatten, für immer die Waffen ruhen zu lassen, kam es trotz dessen nie zu einer Einstellung gezielter Gewaltanwendung. Kontinuierlich wurden Angehörige sozialer Organisationen, Menschenrechtler und Oppositionelle Opfer gezielter Mordanschläge. In den ersten vier Jahren der Amtszeit Uribes wurden mehr als 3.000 Menschen von paramilitärischen Todesschwadronen gezielt ermordet, darunter etwa 400 GewerkschafterInnen und 30 JournalistInnen.
Als 2006 die Demobilisierung der AUC abgeschlossen war, begannen die paramilitärischen Todesschwadronen fortan unter der Bezeichnung Águilas Negras (Schwarze Adler) in Erscheinung zu treten. Die nationale Kommision für Wiedergutmachung geht davon aus, dass noch immer über 4.000 Paramilitärs in 34 verschiedenen Banden in über 200 Gemeinden in 22 Departamentos des Landes aktiv sind. Aus vielen Städten und ländlichen Gemeinden wird berichtet, dass die Paramilitärs dort zu keinem Zeitpunkt ihre Kontrolle aufgegeben haben. Sie nutzten die Demobilisierung, um ihren Handlungsrahmen in legale Räume zu überführen und gleichzeitig die eigenen bewaffneten Gruppen zu konsolidieren. Es entstanden kleinere, aber unvermindert schlagfertige Todesschwadronen, die die Arbeit ihrer Vorgänger fortsetzen.
Die Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen zeichnen ein deutliches Bild der Lage: Im Schatten des Parapolítica-Skandals gibt es eine neue Welle der Gewalt gegen Menschenrechtsgruppen, soziale Organisationen und Opferverbände. Nachdem im Zusammenhang mit der Organisierung des weltweiten Gedenk- und Protesttages für die Opfer von Paramilitarismus und Staatsverbrechen am 6. März sechs Menschen ermordet, mehr als 50 Personen aus dem Kreis der OrganisatorInnen der Massendemonstrationen mit dem Tod bedroht und mehrere ihrer Büros überfallen wurden, reißt die Kette der Übergriffe nicht mehr ab. Die Águilas Negras gehen landesweit in die Offensive und schrecken nicht davor zurück, selbst diplomatische Vertretungen und MitarbeiterInnen staatlicher Programme auf ihre schwarzen Listen zu setzen.

Nach dem Referendum ist vor der Wahl

Das neue Jahr versprach im polarisierten Venezuela versöhnlich zu beginnen. Gut vier Wochen nach dem gescheiterten Referendum über die Verfassungsreform unterzeichnete Hugo Chávez am letzten Tag des Jahres 2007 ein weitreichendes Amnestie-Dekret. Es umfasst insgesamt 13 Delikte mit politischem Hintergrund, wobei die meisten mit dem Putsch im April 2002 und der Sabotage der Erdölindustrie am Ende desselben Jahres in Zusammenhang stehen. „Wir möchten ein Land, das Richtung Frieden marschiert”, begründete Chávez das Dekret. „Niemand wird mehr behaupten können, dass er ein politischer Gefangener sei“.
VertreterInnen der Opposition und die katholische Kirche hatten in den Wochen zuvor vehement gefordert, endlich die „politischen Gefangenen” zu amnestieren. Sie kritisierten das Dekret dennoch als „nicht weitreichend genug“ und „diskriminierend“. Da es nur für jene gilt, die sich der Justiz gestellt haben und außerdem nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit anwendbar ist, kommen nicht alle an dem Putsch und der Sabotage beteiligten Personen in den Genuss der Maßnahme.
Ansonsten begann das neue Jahr in Venezuela mit einigen politischen Veränderungen. Zunächst bildete Chávez wie erwartet sein Kabinett um. Insgesamt wurden 13 der 27 MinisterInnen sowie der Vizepräsident ausgetauscht. Entscheidender als diese personellen Änderungen, die in regelmäßigen Abständen stattfinden, ist aber die neu ausgerufene inhaltliche Richtung des bolivarianischen Prozesses. Chávez erkannte offen an, die Bevölkerung mit der im letzten Jahr geplanten rasanten Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems überfordert zu haben. „Ich bin dazu verpflichtet, das Tempo rauszunehmen“, verkündete er Anfang des Jahres in seiner TV-Show Aló Presidente. An den grundsätzlichen Zielen des Aufbaus eines partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts ändere sich aber nichts. Das Projekt werde bis auf Weiteres auf Grundlage der bestehenden Verfassung weitergeführt.
Chávez verkündete als neue Leitlinie seiner Regierungspolitik die als 3R bezeichneten Grundsätze „revisión, rectificación, reimpulso“ (Revision, Korrektur, Neuantrieb). Darauf aufbauend rief er in seiner Jahresansprache vor dem Kongress am 9. Januar das „Jahr der Lösungen“ aus. Die alltäglichen Probleme der VenezolanerInnen wie Inflation, Knappheit von Grundnahrungsmitteln, Unsicherheit, Korruption und Bürokratie sollen behoben werden. Das Jahr 2007 schloss Venezuela mit einer Inflationsrate von 22, 5 Prozent ab. Anvisiert waren zwölf. Der neue Finanzminister Rafael Isea kündigte an, die Inflation in diesem Jahr auf elf Prozent zu senken, ohne jedoch Sozialausgaben kürzen zu wollen. Da die Teuerungsrate allein im Januar dieses Jahres bereits bei 3,4 Prozent lag, dürfte dieses Ziel jedoch kaum erreicht werden. Auch wenn die Inflation in den 1990er Jahren durchschnittlich zwei- bis dreimal so hoch war und der Mindestlohn seit Chávez’ Amtsantritt schneller als die Inflationsrate gewachsen ist, stellt die rasante Geldentwertung gerade für die ärmeren Bevölkerungsschichten ein Problem dar. Ebenso wie die regelmäßige Knappheit von Grundnahrungsmitteln.

„Wir möchten ein Land, das Richtung Frieden marschiert”, begründete Chávez das Amnestie-Dekret.

Während in gut sortierten Shopping Malls fast jede erdenkliche importierte Gourmetspeise erstanden werden kann, sind ausgerechnet Grundnahrungsmittel wie Milch, Zucker oder Mehl häufig nur zu üppigen Preisen auf dem Schwarzmarkt erhältlich.
Bei der Erklärung dieses Phänomens herrschen auf beiden Seiten des politischen Spektrums einseitige Erklärungsansätze vor. Laut Opposition sind die Engpässe schlicht durch die staatlich festgelegten Preise für zahlreiche Waren zu erklären. Die Regierung hingegen wirft den Lebensmittelkonzernen Spekulation und Hortung von Lebensmitteln vor. In diesem Zusammenhang schloss Chàvez zukünftige Enteignungen großer Konzerne nicht aus. Auch würden laut Regierung zahlreiche Waren illegal nach Kolumbien geschmuggelt, um sie dort zu deutlich höheren Preisen zu verkaufen. Daher wird im Grenzbereich jetzt verstärkt kontrolliert. Zudem soll die nationale Produktion deutlich angehoben werden. „Wir werden Venezuela zu einer wahren Supermacht in der Lebensmittelproduktion machen“, kündigte Chávez Mitte Januar anlässlich der Einweihung einer „sozialistischen“ Milchfabrik im Bundesstaat Zulia an. Ziel ist das Erreichen von Ernährungssouveränität. Noch immer werden jedoch etwa 70 Prozent der Lebensmittel importiert. Zwar ist die nationale Produktion in den letzten Jahren leicht angestiegen, noch kräftiger wuchs allerdings die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten.
Zur Verbesserung der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wurde jetzt eine „Flexibilisierung“ der Preisbindung angekündigt. Ob das Problem dadurch gelöst werden kann, ist aber fraglich. Der Preis für H-Milch wurde bereits im Dezember freigegeben, das Produkt ist aber immer noch rar.
Die Alltagsprobleme gilt es nicht zuletzt in Hinblick auf die Ende des Jahres stattfindenden Regionalwahlen rasch zu lösen. Voraussichtlich am 16. November sind die VenezolanerInnen dazu aufgerufen, GouverneurInnen sowie Abgeordnete der Regionalparlamente zu wählen. Ob die Wahl der BürgermeisterInnen zum gleichen Zeitpunkt oder erst im darauf folgenden Jahr zusammen mit den Kommunalwahlen stattfindet, ist noch nicht entschieden.
Die Wahlen sind von entscheidender Bedeutung für die politische Zukunft des Landes. Die Opposition, die bei den letzten Regionalwahlen mit Zulia und Nueva Esparta lediglich zwei Gouverneursposten erringen konnte, sieht sich seit Chávez’ Referendumsniederlage vom Dezember im Aufwind. Mindestens in zwölf der 24 Staaten des Landes will sie den Gouverneurssessel erobern und darüber hinaus möglichst viele regionale Abgeordnete und BürgermeisterInnen stellen, um so in Venezuela einen politischen Wandel einzuleiten. Erreicht werden soll dies durch ein Element, dessen Fehlen der Opposition in den letzten Jahren fast völlig den politischen Einfluss gekostet hat: die Einheit der anti-chavistischen Kräfte.
Symbolträchtig unterzeichneten zunächst neun Oppositionsparteien am 23. Januar dieses Jahres, dem 50. Jahrestag des Endes der Pérez Jímenez-Diktatur, ein gemeinsames Dokument mit dem Titel „Die Alternative für den Wandel“. Neben den beiden größten Oppositionsparteien Un Nuevo Tiempo (UNT) und Primero Justicia (PJ) sind unter anderem die in der politischen Versenkung verschwundenen beiden ehemaligen Regierungsparteien AD und Copei sowie die ehemaligen Linksparteien MAS und La Causa R mit von der Partie. In dem Dokument sind die strategische Ausrichtung sowie einige inhaltliche Punkte in Hinsicht auf die Wahlen aufgeführt. So will die Opposition ausschließlich gemeinsame KandidatInnen aufstellen. Auf der Basis von Konsens und Umfragewerten soll jeweils die Person antreten, der die größten Chancen zugeschrieben werden. Die jeweiligen Parteiinteressen sollen hingegen keine Rolle spielen und demokratische Vorwahlen nur dann stattfinden, wenn durch Umfragen kein eindeutiges Ergebnis ermittelt werden kann. UNT-Politiker Omar Barboza betonte, die Übereinkunft reflektiere den Wunsch der VenezolanerInnen nach Versöhnung und sei daher „keine Übereinkunft eines Grüppchens, sondern des ganzen Landes“.

Die Opposition sieht sich seit Chávez’ Referendumsniederlage im Aufwind.

Auf der anderen Seite sieht man dies wie erwartet anders. Bereits eine Woche vor der Unterzeichnung des Oppositionspapiers warnte Chávez davor, dass die Opposition im Falle weit reichender Wahlerfolge das Land destabilisieren würde. „Diese Wahlen werden von strategischem Charakter sein”, so der Präsident. Daher werden auch die chavistischen Kräfte gemeinsame KandidatInnen für die Wahlen aufstellen. Nach der Gründung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), die am 9. März diesen Jahres abgeschlossen sein soll, wird über die Auswahl der KandidatInnen entschieden werden. Hierzu ist geplant, gemeinsam mit Patria para Todos (PPT), der Kommunistischen Partei PCV und sozialen Gruppen den „Patriotischen Pol“ wieder zu beleben. Unter diesem Namen trat das heterogene Parteienbündnis an, das Chávez bei den Präsidentschaftswahlen 1998 unterstützte. Das genaue Prozedere der KandidatInnenauswahl soll auf einer Sitzung des Gründungskongresses der PSUV am 24. Februar beschlossen werden. Wie erfolgreich die neue Partei bei den Regionalwahlen abschneiden wird, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, ob die Parteibasis auch das letzte Wort bei der Auswahl der KandidatInnen spricht.

Die Spannungen zwischen chavistischer Basis und FunktionärInnen bleiben im Hinblick auf die Wahlen von Bedeutung.

Die aus politischen, sozialen und kulturellen Organisationen bestehende Basis des chavistischen Projekts pocht nämlich auf mehr Eigenständigkeit gegenüber der offiziellen Regierungspolitik. Am 18. und 19. Januar trafen sich in Caracas hunderte BasisaktivistInnen, um über die politische Linie jenseits des offiziellen Diskurses zu diskutieren. Viele AktivistInnen machen BürokratInnen und FunktionärInnen im Regierungsapparat direkt für die Niederlage beim Referendum im Dezember (mit)verantwortlich. Das zweitägige Treffen, das vor allem von der Nationalen Vereinigung Freier und Alternativer Medien (AMNCLA) und der Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora (FNEZ) organisiert wurde, endete mit der Vereinbarung, ein eigenes politisches Programm für die Weiterentwicklung des bolivarianischen Prozesses zu erarbeiten. Da die erste Wahlniederlage von Chávez im vergangenen Dezember durch die Enthaltungen der eigenen AnhängerInnen zustande kam, werden die Spannungen zwischen chavistischer Basis und FunktionärInnen auch im Hinblick auf die Wahlen im November von Bedeutung bleiben.

Cambas gegen Collas?

„Als ich klein war, zog mein Vater in den Krieg nach Santa Cruz, um gegen die cambas zu kämpfen“, erinnert sich Eguidio, ein auf die sechzig zugehender Bauer aus Cochabamba, einem jener bolivianischen Departamentos, die zwischen Hoch- und Tiefland liegen. Die HochlandbewohnerInnen Boliviens, die collas, so der Bauer, hätten damals den cambas im Tiefland das Arbeiten erst beigebracht, nachdem sie die Region bei Santa Cruz zur Räson gebracht hatten. Obwohl zwei Drittel des bolivianischen Territoriums im Tiefland des Amazonasbeckens liegen, war die bolivianische Identität lange Zeit auf die andine Kultur des Hochlandes beschränkt. Lange galt das Tiefland als entvölkert und wild. Bevölkerungsreich und kulturell entwickelt war nur das Hochland, in dem sich durch die Minenindustrie bereits im 16. Jahrhundert große Städte wie Potosí bildeten. Erst durch den Krieg im Chaco in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kam das Tiefland in das Bewusstsein der HochlandbewohnerInnen. Camba galt bis dato als Schimpfwort für die unzivilisierten indigenen TieflandbewohnerInnen.

Durch die Entdeckung von Gas- und Ölvorkommen im Tiefland änderte sich die Bedeutung der marginalisierten Region. Heute ist Santa Cruz neben La Paz die wichtigste Stadt Boliviens und eindeutiges Handelszentrum des südamerikanischen Landes. Durch zunehmende Migration aus dem Hochland infolge des Zusammenbruchs der Minenwirtschaft, lebt in dem Tieflanddepartamento Santa Cruz heute zudem ein relevanter Teil der Gesamtbevölkerung des Landes. Trotz dieser rasanten Entwicklung existiert die Feindschaft zwischen den collas im Hochland und den cambas aus dem Tiefland bis heute.
Dieser alte Gegensatz stellt in der aktuellen Auseinandersetzung um die Macht in Bolivien den Resonanzboden zwischen Opposition und der MAS-Regierung dar. Nachdem die Opposition die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht verhindern konnte, verabschiedeten die Tieflanddepartamentos am 15. Dezember vergangenen Jahres ihre Autonomiestatuten. Am gleichen Tag übergab die Verfassunggebende Versammlung in einem feierlichen Akt die neue Verfassung auf dem Plaza de Murillo in La Paz an Präsident Evo Morales. Die Opposition, die sich in der Form von zivilen Komitees als soziale Bewegung zu formieren versucht, pocht auf das Recht der Autonomie und sieht das Tiefland als ewig benachteiligte Region. Sie wollen, dass jedes Departamento über die eigenen Ressourcen selbst bestimmen kann und die Bevormundung durch die Zentralregierung in La Paz beendet wird.

Die Opposition pocht auf das Recht der Autonomie und sieht das Tief­land als
benachteiligte Region.

In der Tat war Bolivien lange Zeit ein zentralistisch regierter Staat. Die PräfektInnen der Departamentos wurden als StatthalterInnen direkt aus La Paz gesandt. Erst Gonzales Sánchez de Lozada, Evo Morales Vorgänger, verfügte, dass die PräfektInnen der Departamentos gewählt werden müssen. Momentan werden sechs der neun Departamentos von der Opposition regiert. So scheint es nur natürlich, dass sich die Opposition, nachdem das Scheitern der MAS Regierung bisher nicht erreicht werden konnte, in diese Regierungsbezirke zurückgezogen hat. Julio Prado, ehemaliger Berater von Evo Morales äußerte dazu, die Opposition suche dort nach neuen Möglichkeiten, weiterhin den bolivianischen Staat zu plündern. Die treibenden Kräfte hinter der Forderung nach departamentaler Autonomie sind in der Tat die alten Eliten. Nachdem ihnen die Felle in La Paz davongeschwommen sind, versuchen sie nun auf neuen Wegen, ihren Machtzerfall aufzuhalten oder gar die Macht zurückzuerobern. Es handelt sich um GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen, die alte, nahezu ausschließlich weiße politische Klasse Boliviens.
Die stärkste Dynamik hat die Opposition bisher in den Departamentos Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija entwickelt, wo sie geschickt versucht, mit einer Mischung aus Camba-Identität und sozialen Versprechungen einen Großteil der Bevölkerung für die Idee der Autonomie zu gewinnen. Denn hier besteht bis in die unteren sozialen Schichten hinein ein dumpfes Misstrauen gegenüber der Zentralmacht in La Paz.

Ob es der Opposition gelingen wird, mit dieser Strategie eine reale Spaltung des Landes herbei zu führen, ist noch offen. Als der Präfekt Rubén Costas in Santa Cruz im Dezember vergangenen Jahres die Autonomie verkündete, kam die Antwort von Präsident Evo Morales in Form von markigen Sprüchen und einem Aufruf zur Rebellion an die landlosen Bäuerinnen und Bauern in dem Tieflanddepartamento. Nach der ersten Aufregung kühlten die Gemüter vor dem anstehenden Weihnachtsfest aber wieder ab. Letztlich lud Evo Morales die Präfekten aller neun Departamentos zum Dialog über die strittigen Fragen. Nach anfänglichem Zögern willigten auch die oppositionellen Präfekten zu diesem Treffen ein. Insbesondere die drohenden Haushaltskürzungen der Präfekturen, die die Regierung im Haushalt für 2008 beschlossen hatte, verbesserten die Dialogbereitschaft. Morales hatte verfügt, dass 30 Prozent der direkten Steuereinnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft für eine neue Volksrente, der sogenannten Würdenrente, zur Verfügung gestellt werden soll. BolivianerInnen über 60 Jahre erhalten künftig eine Grundrente von rund 20 Euro im Monat. Geld, das vorher in die Haushalte der Präfekturen floss.

Ein Großteil der Bevölkerung will sich im Moment nicht in gewalttätige Auseinandersetzungen hineinziehen lassen.

So waren es die Kürzungen dieser Haushaltsmittel, die das erste Treffen im Präsidentenpalast beherrschten und zugleich deutlich machten, dass es trotz allem Geplänkel um Autonomie und Identität zumindest zwischen dem Präsidenten und den Präfekten zunächst um den schnöden Mammon geht. Dass es zwischen den Lagern bisher zu keiner Einigung kam, ist nicht verwunderlich. Anscheinend wollen beide Seiten den Machtkampf an den Urnen entscheiden. Mit drei Referenden erlebt Bolivien 2008 sein Superwahljahr. Evo Morales will seine politische Zukunft mit der neuen Verfassung verbinden. Die BolivianerInnen sollen 2008 abstimmen, ob sie ihn weiterhin als Präsidenten unterstützen. Des Weiteren soll über den strittigen Paragraphen in der neuen Verfassung abgestimmt werden, der den Landbesitz regelt. Hier geht es darum, ob zukünftig die Obergrenze von privatem Landbesitz auf 5.000 oder 10.000 Hektar pro Person beschränkt wird. Anschließend wird die gesamte Verfassung zur Abstimmung gebracht. Zeitgleich wollen die oppositionellen Tieflandprovinzen ihre Autonomiestatuten durch ein Referendum legitimieren lassen.
Bemerkenswert ist, dass es trotz der Befürchtung vieler BeobachterInnen und der unversöhnlichen Positionen zwischen MAS und Opposition bisher nicht zu größeren Spannungen oder gar gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Im Dezember gab es einige Attacken auf MAS-AktivistInnen in Santa Cruz und einen Bombenanschlag auf die Zentrale des Gewerkschaftsdachverbands in La Paz. Diese Provokationen, die wahrscheinlich auf das Konto rechter paramilitärischer Gruppen gehen, verpufften. Ein Großteil der Bevölkerung zeigt im Moment wenig Interesse, sich in gewalttätige Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen. So blieb es auch am Jahrestag der Zusammenstöße zwischen armer Landbevölkerung und städtischer Mittelschicht am 11. Januar in Cochabamba ruhig. Vergangenes Jahr verloren bei Auseinandersetzungen im Zentrum der zentralbolivianischen Stadt drei Menschen ihr Leben. Die Erinnerungsveranstaltungen in diesem Jahr hingegen verliefen friedlich.
Momentan machen dem Land zudem anhaltende Regenfälle zu schaffen. Das Tieflanddepartamento Beni steht zu fast zwei Dritteln unter Wasser. Präsident Evo Morales hat für die Region den Notstand ausgerufen und vorgeschlagen, den Dialog für die Zeit von 60 Tagen auszusetzen, um den Opfern der Hochwasserkatastrophe zu helfen. Die Regierung scheint darauf zu setzen, dass die Zeit für sie spielt. Und es kann gut sein, dass sie Recht behält. Schon jetzt gibt es eine Reihe von Maßnahmen, von der vor allem die armen Bevölkerungsschichten profitieren. So bekommt jede Familie, die ihre Kinder in die Schule schickt, seit einem Jahr pro Kind und Jahr 25 US-Dollar. Insbesondere für arme Familien, deren Jahreseinkommen zum Teil kaum 100 US-Dollar übersteigt, ist das ein guter Batzen Geld. Der Aufbau einer kostenlosen Gesundheitsvorsorge und die Einführung einer allgemeinen Rente sind weitere Maßnahmen, mit denen die Regierung vor allem die armen Bevölkerungsschichten zu überzeugen versucht. Neben den Armen will sich die Regierung nun auch verstärkt der Mittelklasse zuwenden und bei ihr für die neue Verfassung werben. Hier zeichnen sich Konturen einer Strategie ab, die die nationale Einheit über ethnische und Klassengrenzen hinweg betont, um damit eine weitere Zuspitzung der Frage um Autonomie zu vermeiden.

Wer hat die Macht in Bolivien?

„Wie schön wäre es, wenn wir Bolivien (…) mit einem neuen sozialen Pakt wirklich neu gründen können“, sagte Evo Morales Ayma vor beinahe zwei Jahren anlässlich seines Amtsantritts als Präsident Boliviens. Und vor den Augen der Welt, die an jenem Tag auf ihn gerichtet waren, erklärte der „erste indigene Präsident Boliviens“ und ehemalige Gewerkschafter und Kokabauer weiter: „Wir haben den großen Wunsch, unser Bolivien mit der Verfassunggebenden Versammlung zu verändern. Ich bin überzeugt davon, dass wir nach so vielen Jahren der Konfrontation endlich etwas ändern müssen, und ich bitte alle Bolivianerinnen und Bolivianer, an dieser Veränderung mitzuarbeiten.“
So verlieh der eben vereidigte Präsident endlich von offizieller Seite jener Forderung Ausdruck, die in den vorhergegangenen konfliktreichen Jahren auf Boliviens Straßen Form angenommen hatte: das verfaulte und diskreditierte politische System mittels einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) völlig neu zu organisieren. Doch Morales‘ Einladung an alle Bolivianerinnen und Bolivianer, an dieser Umgestaltung mitzuwirken, wurde von der Oligarchie des Landes und den ihr verbundenen Kreisen von vornherein ausgeschlagen. Stattdessen stand für sie schon vor den historischen Wahlen im Dezember 2005, aus denen die Bewegung zum Sozialismus MAS als klare Siegerin hervorging, fest, dass sie zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen und politischen Macht einen anderen Weg als den der Mehrheitsbevölkerung gehen müsse. Und während die sozialen und indigenen Bewegungen in Cochabambas „Wasserkrieg“ im Jahr 2000, im Kampf ums Koka und schließlich um den Export des Erdgases im Jahr 2003 den Ring um den Präsidentenpalast in La Paz immer enger zogen, wuchsen in den Regierungsbezirken des so genannten Halbmondes die Bestrebungen nach regionaler Autonomie. Spätestens seit der Vereidigung der MAS-Regierung verfolgt dieses Konglomerat aus GroßgrundbesitzerInnen, UnternehmerInnen und faschistoiden Politgestalten ein recht klares Programm: Die Regierung torpedieren wie und wo es nur geht, die Autonomie der im Osten des Landes gelegenen Regierungsbezirke stärken und mit allen Mitteln die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung verhindern.
Von letzterer befürchteten sie zu Recht die Ausarbeitung einer Verfassung, die ihren politischen und ökonomischen Interessen zuwider läuft. Die VV ist ohne jede Frage dank des permanenten Drucks der sozialen und insbesondere der indigenen Bewegungen zustande gekommen. Und die „Neugründung Boliviens“, die durch sie erreicht werden sollte, ist demzufolge stets als Neugründung „von unten“ verstanden worden. Insbesondere der im Jahr 2002 organisierte „Marsch für die Verfassunggebende Versammlung, die Souveränität des Volkes, für Territorium und natürliche Ressourcen“ verlieh der Forderung Nachdruck. Dabei waren es nicht zufällig die indigenen Gruppen und Organisationen aus eben jenen Regierungsbezirken des Tieflandes, die jetzt ihre Autonomiestatute verkündet haben, die damals von Santa Cruz aus nach La Paz marschierten und die Transformation Boliviens in einen „plurinationalen Staat“ forderten. Das, was Bolivien zur Zeit erlebt, ist auch als die rassistische und gewalttätige Antwort der weißen Oberschicht und von Teilen der verängstigten Mittelschicht auf die komplexen kulturellen und politischen Emanzipationsprozesse der indigenen Bevölkerung des Landes in den letzten Jahrzehnten zu verstehen – Prozesse, die mit der völligen Transformation des politischen Systems durch die VV eigentlich ihren Höhepunkt finden sollten.
Doch der MAS gelang es trotz der enormen Unterstützung der Mehrheitsbevölkerung für die Idee der Verfassunggebenden Versammlung nicht, den nötigen politischen Freiraum für eine wirkliche Neugründung Boliviens von unten zu schaffen. So erreichten die traditionellen rechten Parteien zum einen, dass das im März 2006 verabschiedete Gesetz zur Einberufung von den Wahlen der VertreterInnen der VV an ein Referendum über die Autonomie einzelner Regierungsbezirke gebunden war. Der in den vier Regierungsbezirken des Halbmondes Santa Cruz, Beni, Tarija und Pando angenommene Vorschlag zwang die Versammlung so von vornherein, sich mit dieser Frage zu befassen – und ermöglichte es den ultrarechten Delegierten, die Frage der regionalen Autonomien zu einem zentralen Streit- und Spaltthema der VV zu erheben.
Zum anderen, und sehr viel schwerwiegender noch, ließ die MAS sich in der Frage der Wahlmodalitäten für die Delegierten der VV auf einen faulen Kompromiss mit den traditionellen Kräften ein. Anstatt die von allen Basisbewegungen – und auch der MAS selbst – favorisierte Wahl von VertreterInnen sozialer Bewegungen, Stadtteilen und indigener Gemeinden zu ermöglichen, wurde die Aufstellung der KandidatInnen den so genannten „Bürgergruppen“, anerkannten „indigenen Völkern“ und vor allem den politischen Parteien vorbehalten. Zudem wurden die Sitze in der Versammlung nach Verwaltungsbezirken vergeben, was eine überproportionale Repräsentation rechter Parteien zur Konsequenz hatte. Aus der VV, deren Rolle man zudem als „Reformierung“ der bestehenden Verfassung anstatt als „Neugründung“ Boliviens definierte, wurde so eine ziemlich exakte Spiegelung des bolivianischen Parlaments, sowohl was ihre Zusammensetzung als auch was ihre Dynamik betrifft. Die Konsequenz daraus war nicht nur, dass die Oligarchie ihre politisch gut geschulten ParteitechnokratInnen in die Versammlung entsenden konnte – zudem konnten die VertreterInnen sämtlicher Basisbewegungen sich nur über die Listen der MAS oder anderer ihr nahe stehenden Parteien wählen lassen.
Die MAS, mit etwas über 50 Prozent der Sitze die weitaus stärkste Kraft in der VV, versuchte auf diese Weise von vornherein, die Dynamik der Versammlung zu kontrollieren. Diese Einbindung der sozialen Bewegungen in die parteilichen und staatlichen Kanäle beschränkt sich jedoch nicht allein auf die VV. Mit dem Anspruch, die „Regierung der sozialen Bewegungen“ zu sein, hat die MAS sukzessive eine Vielzahl antisystemischer, revolutionärer Bewegungen an ihr Regierungsprojekt gebunden, die auf diese Weise ihrer originär kritischen Komponente entledigt wurden. Die politischen Freiräume, die sich die Bevölkerung Boliviens in den letzten Jahren erkämpft hat, und die revolutionären und horizontalen Organisationsformen, die sich im Verlauf dieser Kämpfe gebildet hatten, werden nach und nach zugunsten eines politischen Projekts aufgegeben, welches stets peinlich genau darauf bedacht ist, im Rahmen der bürgerlichen Legalität zu operieren. Anstatt also radikal andere politische Organisationsformen – wie die Nachbarschaftsräte El Altos oder die in Cochabamba während des „Wasserkrieges“ entstandenen Strukturen – zu erarbeiten oder zu stärken, hat die derzeitige bolivianische Regierung die Institutionen des bürgerlichen Staates vollkommen unangetastet gelassen. So hat die Regierung Morales vier Wahlen in zwei Jahren abgehalten, und verglichen mit dem was vorher war, mag das löblich sein – doch tatsächlich sind die Entscheidungsmechanismen so vertikal wie eh und je.
Die Probleme, die sich hieraus ergeben, sind jedoch nicht bloß politik-theoretischer Natur. Denn gerade die Tatsache, dass die staatlichen Strukturen intakt geblieben sind, ermöglicht es den faschistoiden VertreterInnen der Oligarchie, ihre Machträume zu verteidigen oder sogar auszubauen. Die Institutionen des bürgerlichen Staates dienen jenen, die sie in Bolivien die letzten 50 Jahre über besetzt hielten – die Oligarchie bewegt sich in diesem System sehr viel agiler als die VertreterInnen der bisher von politischer Gestaltung ausgeschlossenen sozialen Gruppen. Zudem jedoch hat die MAS bislang weitgehend darauf verzichtet, die ökonomische Basis der Oligarchie – Großgrundbesitz und mächtige Firmen – zu attackieren.
Es scheint ein wenig, als sei die MAS selbst dem bürgerlichen Mythos aufgesessen, die Macht sei irgendwie im Präsidentenpalast oder Parlament zu Hause. Die traditionelle Elite des Landes hingegen weiß schon, wie sie auch, ohne sich durch Wahlen legitimieren lassen zu müssen, ihr politisches Programm realisieren kann. Da ihre Firmenmonopole nicht angetastet wurden, konnten die mächtigen Gruppen aus Santa Cruz die Preise der Grundnahrungsmittel künstlich steigern. Da sich sämtliche große Zeitungen und Fernsehkanäle weiterhin in ihrer Kontrolle befinden, haben sie die Möglichkeit, einen medialen Krieg gegen die Zentralregierung zu führen und außerdem die Existenz einer großen und breit gefächerten Opposition vorzugaukeln. Und die föderalen und munizipalen Regierungsstrukturen nutzen sie konsequent zur Wahrung ihrer Klasseninteressen und zur Durchsetzung ihrer separatistischen Ziele.
Die Bevölkerung Boliviens hat jedoch eine kämpferische Tradition. So nahmen, als nach der Revolution 1952 die Agrarreform ausblieb, die campesin@s die Enteignungen der Haciendas kurzerhand selbst in Angriff und zwangen die Regierung auf diese Weise zur Revolutionierung des Agrarsektors. Und natürlich gilt weiterhin, dass nicht der Staat das Subjekt der tief greifenden politischen Transformationen sein kann, sondern nur die Gesellschaft selbst. Ob im Rahmen der neuen Verfassung oder nicht – es wird auch künftig nicht die Regierung, sondern die organisierte Bevölkerung sein, welche das Problem mit der faschistoiden Oligarchie zu lösen hat.

Eiszeit zwischen Uribe und Chávez

Vertrauen ist die Basis von Vielem – ob Gefangenenaustausch oder Handelsbeziehungen. So sieht das auch Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Es gibt nur ein Problem: Das Vertrauen zu Kolumbiens Präsidenten Álavaro Uribe Vélez ist aus seiner Sicht nachhaltig gestört. „Mein Vertrauen in die kolumbianische Regierung ist gleich Null. Für Handelsbeziehungen ist Vertrauen nötig, doch das ist pulverisiert“, äußerte Chávez in Buenos Aires, wo nacheinander die Gründung der Banco del Sur und die Amtseinführung von Cristina Fernández de Kirchner gefeiert wurden. Chávez neigt zuweilen zu dramatischen Äußerungen und das verlorene
Referendum (siehe Artikel in dieser Ausgabe) hat seine Laune nicht gebessert. Doch seine Aussage hat durchaus ökonomisches Drohpotenzial: Seit Jahren importiert Venezuela mit ansteigender Tendenz Waren des täglichen Gebrauchs aus Kolumbien. Dabei ist Venezuela für Kolumbien der zweitgrößte ausländische Absatzmarkt, vor allem für Agrar- und Textilprodukte. Auf über fünf Milliarden US-Dollar beläuft sich das Handelsvolumen, doch Venezuela kann sich mit seinen Petrodollars seine Importeure aussuchen, während Kolumbien für seine Fertigwaren auf Märkte angewiesen ist, zu denen es bevorzugten Zugang hat, denn weltmarktfähig sind sie nur zu geringen Teilen. Chávez` Ankündigung, künftig in Brasilien auf Shopping-Tour zu gehen, hat Substanz: Brasilien hat eine ausdifferenzierte Industriestruktur und könnte für Kolumbien locker in die Bresche springen.
All das hat Álvaro Uribe Vélez wohl kaum bedacht, als er am 21. November zu später Stunde den Vermittlern Hugo Chávez und Piedad Córdoba die Befugnis zur Verhandlung eines humanitären Abkommens entzog. Die kurze Note, ohne vorherigen Anruf bei der kolumbianischen Senatorin oder dem venezolanischen Staatsoberhaupt, hatte einen harschen Schlagabtausch zur Folge: Chávez bezeichnete Uribe Vélez als einen „Lügner“ und „Handlanger des Imperiums“. Im Gegenzug warf ihm der kolumbianische Präsident vor, dass er das Land zum Opfer eines Terrorregimes der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) machen wolle. Venezuela fror daraufhin die diplomatischen Beziehungen ein und berief seinen Botschafter aus Kolumbien ab.
Dabei hatte die Vermittlung in den vorangegagenen drei Monaten Leben in die festgefahrenen Verhandlungen gebracht. Zuletzt war es vor über sechs Jahren, im Juni 2001, während der Friedensgespräche des Präsidenten Andrés Pastrana zu einem Gefangenenaustausch gekommen. Nach Abbruch der Gespräche und dem Amtsantritt von Uribe Vélez hatte die Regierung auf die militärische Bekämpfung der Guerilla gesetzt, um aus einer Position der Stärke heraus Bedingungen zu diktieren. Eine eigenständige Verhandlungsstrategie existiert nicht. Sie ist dem Primat staatlicher Souveränitätsansprüche unterworfen. Der letzte Versuch, einen humanitären Austausch anzuregen, scheiterte im Oktober 2006, als die Regierung nach einem Bombenanschlag auf eine Militärschule die Bemühungen abbrach.
Die rege Verhandlungsdiplomatie, die Chávez und Córdoba entfalteten, weckte daher Hoffnungen auf einen baldigen Gefangenenaustausch. Erstmalig spielten dieses Mal internationale Vermittler eine tragende Rolle. Neben Chávez ist es der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der sich für die Freilassung der Franko-Kolumbianerin Ingrid Betancourt einsetzt. Auf sein Betreiben hin begnadigte die kolumbianische Regierung im Mai den „Kanzler der FARC“, Rodrigo Granda.
Allerdings fällt ein Ausgleich bei den verhärteten Positionen im kolumbianischen Konflikt nicht leicht. Die Hauptschwierigkeit ist das Verlangen der FARC nach einem zeitweiligen Abzug des Militärs aus den Gemeinden Pradera und Florida im südlichen Departement Valle de Cauca und die Weigerung der Regierung, ihren bewaffneten Verbänden ein Gebiet zu überlassen. Außerdem fordern die FARC, dass die Guerilleros „Simon Trinidad“ und „Sonia“ in den Austausch mit einbezogen werden. Die beiden sitzen nach ihrer Auslieferung in US-Gefängnissen. Allerdings hält die Guerilla drei Angehörige privater US-Militärunternehmen gefangen, die Teil des Austausches wären. Zudem verlangt die Regierung von den freizulassenden Guerilleros, dem bewaffneten Kampf abzuschwören, was die FARC hingegen strikt ablehnt.
Was die Regierung dazu bewog, der Oppositionspolitikerin Córdoba und dem linksgerichteten Chávez Vermittlungsaufgaben zuzugestehen, ist nicht eindeutig. Wahrscheinlich rechnete sie sich nur Vorteile aus: Im Falle eines Scheiterns hätte man ihnen die Schuld zuschieben und bei Erfolg hätte die Regierung versuchen können, die Lorbeeren zu ernten. Ein Motiv von Chávez ist vermutlich, die regionale Zusammenarbeit bei Sicherheitsangelegenheiten zu festigen – ohne Mitwirkung der USA – und vielleicht einen internationalen Imagegewinn als „Vermittler“ zu verbuchen.
Obwohl Venezuela der Hauptgegenspieler der USA auf dem Subkontinent und Kolumbien im Gegensatz dazu der Hauptverbündete ist, war die Beziehung der beiden Länder dennoch überwiegend kooperativ. Kolumbien und Venezuela bauen gemeinsam an einer Gaspipeline und bis vor Kurzem war selbst die Wiederbelebung der Andengemeinschaft denkbar. Das scheint nun endgültig der Vergangenheit anzugehören: Eine Rückkehr in die Andengemeinschaft schloss Chávez kategorisch aus, solange Uribe in Bogotá regiere.
Nach ihrer Autorisierung als Vermittlerin am 15. August diesen Jahres führte der Weg der linksliberalen Piedad Córdoba zunächst in die Gefängnisse Kolumbiens, um dort das Vertrauen gefangener Guerilleros zu suchen. Anschließend suchte sie das Camp des FARC-Sprechers „Raul Reyes“ auf, der einem Treffen mit dem venezolanischen Präsidenten zustimmte. Beim anschließenden Besuch in den USA traf sich Córdoba mit Vertretern des Außen- und Justizministeriums sowie demokratischen Abgeordneten, wo sie einen Besuch bei „Simón Trinidad“ erreichte. Dieser nahm daraufhin Abstand davon, Teil des Austausches zu werden und erleichterte somit die Verhandlungen.
Schließlich kam es am 8. November zur Zusammenkunft in Caracas. Im Palast Miraflores trafen Chávez und Córdoba auf den FARC-Vertreter Iván Márquez und gaben anschließend eine Pressekonferenz. Das Ergebnis: Die Vereinbarung einer Begegnung zwischen Venezuelas Präsidenten und dem FARC-Oberkommandierenden Manuel Marulanda in Kolumbien und die Verpflichtung, Lebenszeichen der Gefangenen zu überbringen.
Am 19. November flogen Chávez und Córdoba nach Paris, um mit Sarkozy zusammenzutreffen, allerdings ohne die versprochenen Lebenszeichen der Gefangenen. Nach dem Rückflug riefen sie ohne Absprache beim Oberbefehlshaber der kolumbianischen Armee, Mario Montoya, an. Das war der Anlass für Uribe Vélez, den beiden Vermittlern ihre Befugnis abzusprechen. Sie seien nur zum Kontakt mit ihm befugt gewesen, nicht aber zu Gesprächen mit anderen Funktionsträgern.
Nichtsdestotrotz ist der Anruf, wenn überhaupt, nur ein Verstoß gegen diplomatische Gepflogenheiten gewesen. Tatsächlich verwies der Präsident im Nachhinein darauf, dass die FARC nur an internationaler Anerkennung und nicht wirklich an einem Gefangenenaustausch interessiert seien. Ähnliches lässt sich allerdings für die kolumbianische Regierung behaupten. Sie ist nur dann am humanitären Abkommen interessiert, wenn er sich ohne politischen Gewinn für die FARC realisieren lässt.
Die Folge des abrupten Endes ist zunächst ein Verlust der entstandenen Vertrauensbasis. Die FARC sind zwar weiterhin zum Austausch bereit, aber sie werten den Abbruch als neuerliche Täuschung der Regierung. Auch Chávez und Córdoba bekräftigen ihre Bereitschaft zur weiteren Vermittlung, nur ohne Zusammenarbeit mit der kolumbianischen Regierung, wobei sie von den Angehörigen der Gefangenen unterstützt werden.
Nach Regierungsvorstellungen soll bei den Anstrengungen für ein humanitäres Abkommen die internationale Beteiligung begrenzt werden und die Regierung die tragende Rolle spielen. Die alleinige Zuständigkeit für Verhandlungen erhielt der Hochkommissar für den Frieden, Luis Carlos Restrepo, der sie diskret abwickeln soll. Die Vermittlerrolle soll nunmehr die katholische Kirche übernehmen. Zwar zählt Uribe Vélez weiterhin auf die Unterstützung Sarkozys, allerdings wird der französische Präsident als Verbündeter und nicht als Schlichter betrachtet. Eine eigenständige Vermittlungsinitiative ist in dieser Konstellation nicht mehr vorgesehen.
Zugleich trat der kolumbianische Präsident am 7. Dezember mit einem Vorschlag für ein demilitarisiertes Gebiet an die Öffentlichkeit. Allerdings ist er keineswegs neu. Die FARC dürfe dort nur unbewaffnet präsent sein, was einem Angebot von vor gut einem Jahr entspricht. Jedoch fordert die Guerilla ihre Anwesenheit in Waffen.
Damit sind die Verhandlungen wieder zu einem bekannten Punkt zurückgekehrt. Aber ohne erkennbare Initiative, die diese Positionen einander näher bringen könnte. Vielmehr haben sich die Bedingungen verschlechtert, denn das Misstrauen der Konfliktparteien hat neue Nahrung erhalten. Überdies liegt die öffentliche Aufmerksamkeit derzeit auf den Spannungen mit Venezuela. Damit ist das Bemühen um ein humanitäres Abkommen wieder einmal in den Hintergrund getreten und läuft Gefahr, erneut zu scheitern.

Historischer Pyrrhussieg

Damit hatte vor dem Urnengang kaum jemand gerechnet. Als Tibisay Lucena, die Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE), am 2. Dezember morgens um Viertel nach eins vor die Kameras trat, verkündete sie eine faustdicke Überraschung. Eine knappe Mehrheit der VenezolanerInnen hat gegen die von Präsident Hugo Chávez vorgeschlagene Reform von insgesamt 69 Verfassungsartikeln gestimmt, die Venezuela in einen „sozialistischen Staat“ umwandeln sollte. Bei knapp 56 Prozent Wahlbeteiligung stimmten demnach 50,7 Prozent der WählerInnen gegen Block A, der vor allem die von Chávez ursprünglich vorgeschlagenen 33 Artikel enthielt. Block B scheiterte mit 51,05 Prozent Gegenstimmen. Lucena bezeichnete das Ergebnis als „unumkehrbar“, auch wenn erst 88 Prozent der Stimmen ausgezählt seien. Damit konnte die Opposition in Venezuela einen historischen Wahlsieg erringen. Bei den elf vorherigen Wahlen und Referenden seit Chávez‘ Amtsantritt 1999 triumphierten stets die chavistischen Kräfte.
Unmittelbar nach der Verkündung des Ergebnisses trat Chávez besonnen und souverän vor die Kameras und scherzte über das gerade erlebte „Fotofinish“. Dann erkannte er das knappe Resultat an. „Ich ziehe vor, dass es so endet“, sagte er und beglückwünschte die Opposition, der er riet, friedlich zu feiern und in Zukunft der Gewalt abzuschwören.
„Ich danke sowohl jenen, die für meinen Vorschlag gestimmt haben, als auch jenen, die dagegen gestimmt haben“, so Chávez. Er betrachte die Abstimmung nicht als Niederlage, sondern als „Pyrrhussieg“ der Opposition. Die Reform sei nur „vorläufig“ gescheitert. Damit nahm Chávez direkt Bezug auf seinen 1992 gescheiterten Putschversuch. Damals war er durch das „vorläufige“ Eingeständnis seiner Niederlage im Fernsehen in Venezuela zum Helden avanciert.
Der Aufbau des bolivarianischen Sozialismus werde nun innerhalb der bestehenden Verfassung weitergeführt, so Chávez weiter. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen ein Jahr zuvor konnte die Opposition ihre Stimmenanzahl leicht steigern, während Chávez etwa drei Millionen Stimmen verlor. „Ich bin davon überzeugt, dass diese Personen nicht gegen uns gestimmt, sondern sich enthalten haben“, sagte Chávez, der das Referendum zur Abstimmung über seine Person hochstilisiert hatte.
In einem Fernsehinterview am folgenden Tag gestand Chávez eine Mitschuld an der Niederlage ein. „Ich habe bei der Wahl des strategischen Momentes, den Vorschlag zu machen, einen Fehler begangen“, sagte er. Seine AnhängerInnen seien „noch nicht reif“ für ein sozialistisches Projekt gewesen.
Die Opposition feierte die Ablehnung der Reform als Beginn einer neuen Ära. „Wir befinden uns in einem Prozess der Wiederherstellung der Opposition“, befand Teodoro Petkoff, einer der prominentesten Chávez-Kritiker. Ex-Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales forderte Chávez auf, eine Versöhnung im Land einzuleiten. „Venezuela muss die Wege des Dialoges eröffnen“, sagte er. Ismaél García, dessen sozialdemokratische Partei Podemos in der Nationalversammlung als einzige Partei nicht für das Reformprojekt gestimmt hatte, meinte, das Ergebnis spiegele das Entstehen eines dritten politischen Blockes in der venezolanischen Gesellschaft wider. Der ehemalige Verteidigungsminister. Raúl Isaías Baduel, der die Reform Anfang November überraschend als „Staatsstreich“ bezeichnet hatte, äußerte, bei der Abstimmung habe „weder jemand gewonnen noch verloren“. Er warnte jedoch davor, die geplanten Änderungen könnten nun durch Dekrete erfolgen und forderte die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung.
Vereinzelte Oppositionsstimmen, die behaupteten, das Ergebnis sei in Wahrheit deutlicher ausgefallen als vom CNE bekanntgegeben, wies dessen Rektor Vicente Díaz umgehend zurück. „Glaubt nicht die Mythen und Geschichten, die dem demokratischen Weg Venezuelas soviel Schaden zugefügt haben“, sagte Díaz, der als einziger der fünf RektorInnen des CNE offen mit der Opposition sympathisiert. Das Ergebnis sei vielmehr ein „Sieg der Demokratie“ und habe drei populäre Mythen der venezolanischen Politik entkräftet. Chávez sei kein Diktator, die Opposition nicht putschistisch und das Land könne seine Probleme nicht durch demokratische Mittel lösen.
Im chavistischen Lager herrschte zunächst Fassungslosigkeit, da niemand ernsthaft an einem Sieg beim Referendum gezweifelt hatte. Chavistische PolitikerInnen suchten in den Tagen danach nach den Gründen für die Abstimmungsniederlage und konnten dieser durchaus positive Seiten abgewinnen. „Es wurde bewiesen, dass unser Wahlsystem transparent ist, die Opposition hat letztendlich die Verfassung von 1999 anerkannt, und die radikalen Sektoren der Opposition werden geschwächt“, resümierte der chavistische Abgeordnete Luis Tascón. Der chavismo sei zwar weiterhin die maßgebliche politische Kraft des Landes, müsse jedoch in eine Phase der Reflexion eintreten. „Ohne Selbstkritik werden wir niemals in der Lage sein, eine Revolution voranzubringen“, so Tascón, der sich zudem für eine Reorganisierung der Vereinigten Sozialistischen Partei PSUV aussprach. Die sich noch immer in der Gründungsphase befindende Partei habe zu viele interne Probleme und verfüge über keinerlei Effizienz, um Wahlen zu gewinnen. Trotz über fünf Millionen registrierter AspirantInnen auf eine Mitgliedschaft in der PSUV hatten nur etwa 4,3 Millionen WählerInnen für die Reform gestimmt. Nach Meinung des ehemaligen Vizepräsidenten José Vicente Rangel sei die Reform zu komplex gewesen und habe die Bevölkerung verwirrt. „Die 33 von Chávez vorgeschlagenen Artikel wären genug gewesen“, so Rangel. Dass fast 50 Prozent der WählerInnen „trotz der medialen Attacken und der Desinformation“ für ein sozialistisches Projekt gestimmt haben, sei dennoch ein Erfolg. „So etwas ist noch nie irgendwo auf der Welt passiert“, sagte der Ex-Vizepräsident.
Sowohl PolitikerInnen als auch BasisaktivistInnen stimmen darüber überein, dass es nicht gelungen sei, Inhalte und Notwendigkeit der Reform gegen eine oppositionelle Medienkampagne zu vermitteln. So kursierten etwa Fernsehspots, in denen der Staat, ohne mit der Wimper zu zucken, eine kleine Fleischerei enteignet. In einer anonymen Zeitungsanzeige wurde sogar behauptet, mit der Reform würden Familien ihre Kinder an den Staat abgeben müssen.
Doch entscheidend für die Niederlage beim Referendum dürften vielmehr interne Ursachen gewesen sei. Schließlich hat der Chavismus zuvor jede Wahl und jedes Referendum gegen hetzerische Kampagnen der privaten Medien gewonnen. Dass es nicht gelungen ist, die drei Millionen zu Hause gebliebenen Wahlberechtigten zu überzeugen, die bei der Präsidentschaftswahl 2007 noch für Chávez gestimmt hatten, liegt neben inhaltlichen Gründen sicherlich auch an der Art und Weise, wie das Reformprojekt durchgesetzt werden sollte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1999 gingen die meisten Änderungsanträge von Chávez und der Nationalversammlung aus. Nur wenige wurden in einem wenig transparenten Partizipationsprozess direkt von der chavistischen Basis vorgeschlagen.
In den nächsten Monaten wird dem chavismo eine interne Diskussion über Gründe für die Niederlage und die Zukunft des bolivarianischen Projektes bevorstehen. Darin liegen durchaus Chancen für den Prozess. Dessen Zukunft wird sich vor allem daran entscheiden, ob es gelingt möglichst basisdemokratische Strukturen aufzubauen, die auch ohne die unumstrittene Führungsfigur Chávez weiterbestehen können. Denn sollte sich die Möglichkeit der unbegrenzten Wiederwahl innerhalb der nächsten fünf Jahre nicht doch noch umsetzen lassen, kann der Präsident bei den Wahlen 2012 nicht noch einmal kandidieren. Teile der abgelehnten Reform können zwar ohne Weiteres durch einfache Gesetze umgesetzt werden. Dazu zählt etwa das Sozialversicherungssystem für informell Beschäftigte, dessen Schaffung sogar von der Opposition unterstützt wird. Die Aufhebung der Wiederwahlbeschränkung erfordert allerdings in jedem Fall eine Reform der Verfassung. Diese ist jedenfalls – wie Chávez in seiner Rede in der Wahlnacht bereits durchblicken ließ – keineswegs vom Tisch. Zwar ist es dem Präsidenten laut Verfassung untersagt, innerhalb derselben Amtszeit noch einmal eine Initiative zur Reform der Verfassung auf den Weg zu bringen. Die Nationalversammlung oder 15 Prozent der registrierten WählerInnen haben allerdings die Möglichkeit dazu. So ließ Chávez bereits kurz nach dem Referendum durchblicken, was er sich wünscht: „Die Bevölkerung hat die Fähigkeit, meine Initiative aufzunehmen und zu verändern, damit sie einfacher zu verstehen ist“. Ein Schnellverfahren wie bei der gerade abgelehnten Reform ist dafür nicht nötig, da Chávez Amtszeit noch gut fünf Jahre dauert. Ein breiter Diskussionsprozess schon eher.

CAFTA und basta?

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde Costa Rica Geschichte schreiben. Weltweit zum ersten Mal wurde über die Ratifizierung eines internationalen Freihandelsvertrages per Volksabstimmung entschieden, und kurz vor dem Referendum sah es tatsächlich so aus, als würden die CostaricanerInnen dem neoliberalen Entwicklungsmodell die Rote Karte zeigen. Mit minimalen Ressourcen, viel Engagement, Fantasie und allen internen Gegensätzen zum Trotz hatte eine regenbogenbunte Bewegung die scheinbar übermächtige Koalition aus der Regierung des Friedensnobelpreisträgers Oscar Árias, Wirtschaftseliten und linientreuen Massenmedien an den Rand der Verzweiflung gebracht. Von bürgerlichen Intellektuellen und wertkonservativen VerfechterInnen christlicher Sozialethik über Bauernverbände, Gewerkschaften, Umwelt- und Indígena-Organisationen bis hin zu schwullesbischen oder dezidiert sozialistischen Gruppen hatten sich VertreterInnen fast aller sozialen Schichten und politischen Orientierungen unter dem Banner des „Nein“ zu CAFTA vereint. Nur mittels einer massiven Angstkampagne und einer in ihrer Einseitigkeit die Grenze zur Manipulation überschreitenden Berichterstattung aller großen Medien konnten die BefürworterInnen sich mit knapper Not über die Ziellinie retten (vgl. LN Nr. 399/400 und 401). Beeindruckend war neben dem Mobilisierungserfolg an sich vor allem der facettenreiche und differenzierte Diskussionsprozess auf Basisebene in circa 300 im ganzen Land verteilten, lokal organisierten Patriotischen Komitees. Dass diese mit viel Mühe geschaffenen Räume, in denen für eine kurze Zeit eine Ahnung dessen zu spüren war, was demokratische Kultur außerhalb von Parlamenten und turnusmäßigen Wahlen bedeuten könnte, im Frust der Niederlage sogleich wieder in sich zusammenbrechen könnten, ist eine der Hauptsorgen vieler AktivistInnen.
Die vorher zu den Stärken der Bewegung zählende Vielfalt wurde nach dem Referendum schnell zu einem zentralen Schwachpunkt: Außer dem fragilen Konsens um die Ablehnung des Freihandelsvertrags gab es wenig, was die unterschiedlichen Strömungen zusammenhielt. Im Falle der Patriotischen Komitees bietet nach dem Wegfall dieses Verbindungselementes schon die für viele unglückliche Namensgebung Zündstoff für Konflikte. Gleichzeitig sehen sich alle, die den Widerstand noch nicht aufgeben wollen, der Diffamierung als ewige Neinsager und dem Vorwurf der Missachtung des Volkswillens ausgesetzt.
Die grundsätzliche Existenz der Komitees scheint allerdings nicht in Frage zu stehen. Direkt nach dem Referendum haben zwar viele Engagierte enttäuscht und ausgelaugt das Handtuch geworfen. Inzwischen steigen die Mitgliederzahlen aber wieder, auch wenn sie noch weit unter denen vor dem Referendum liegen. Nach einer Reihe von Treffen und Konsultationen wurden außerdem am 27. Oktober und 10. November die Nationale Versammlung der Patriotischen Komitees und eine 25-köpfige Gruppe aus regionalen VertreterInnen als Koordinationsinstanzen gegründet. Die Komitees scheinen vor allem zum Sammelbecken jener AktivistInnen zu werden, die nach neuen partizipatorischen Aktions- und Organisationsformen auf lokaler Ebene und jenseits fester thematischer und politischer Linien suchen.
Eine Neudefinition der eigenen Rolle, von Zielen und geeigneten Aktions- und Organisationsformen ist jedoch dringend notwendig. Mit den Worten von Soledad, die sich erst nach dem Referendum dem Komitee ihres Bezirks angeschlossen hat: „Wir möchten mehr als nur die ‚üblichen Verdächtigen’ erreichen. Dafür müssen wir uns Gedanken darüber machen, was die Komitees auf lange Sicht sein wollen, was für ein Land wir uns wünschen, mit welchen anderen Organisationen wir zusammenarbeiten können. Wichtig ist vor allem auch, wie wir die kommunale Basis zurückgewinnen können, mit welchen Themen sich die Menschen wirklich identifizieren können, welche sie in ihrem täglichen Leben berühren.“ Da die etablierten Massenmedien ihre Aufgabe als Räume pluralistischer und demokratischer Auseinandersetzung völlig missachten, steht die Frage nach geeigneten Kommunikationsmitteln zum Austausch über die einzelnen Kommunen und Regionen hinaus weit oben auf der Agenda.
Viel Zeit zum Sammeln bleibt allerdings nicht. Die Regierung versucht die aktuelle Erschöpfung und Verwirrung der Opposition für die schnelle Verabschiedung der Implementierungs-Agenda zu nutzen; dreizehn zusätzliche Gesetze, die teilweise für die Inkraftsetzung des CAFTA notwendig sind, teilweise aber auch über die Bestimmungen des Vertrages hinausgehen. Es geht dabei unter anderem um Regelungen zu geistigem Eigentum, den Schutz von VertreterInnen ausländischer Unternehmen sowie weitere Bestimmungen zur Öffnung der Versicherungs- und Telekommunikationssektoren für Privatfirmen.
Vor allem die geplante Öffnung der ursprünglich noch von der Privatisierung ausgenommenen Festnetztelefonie erregt viele Gemüter. Letztlich handelt es sich bei dieser Ausnahme aber um ein relativ bedeutungsloses Zugeständnis an die emotionale Bindung vieler CostaricanerInnen an ihre in solidarischer Anstrengung aufgebauten öffentlichen Institutionen. Die Gewinne, mit denen bisher eine Netzabdeckung von über 90 Prozent des Landes gegenfinanziert wurde, werden ohnehin in den Bereichen Mobilfunk, Internet und Firmennetzwerke erzielt, deren Freigabe für Privatunternehmen schon im CAFTA festgeschrieben ist. Größtenteils unkommentiert bleibt hingegen bisher ein potentiell weitaus bedeutungsvollerer Prozess: Vom 22. bis 26. Oktober fand in San José die erste Verhandlungsrunde über einen Assoziationsvertrag zwischen Zentralamerika und der Europäischen Union statt.

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