Jubiläum inmitten der Krise

Ohne jeden Zweifel hat die Bürgerrevolution die politische Landschaft Ecuadors seit ihrem Beginn 2006 gründlich in Bewegung gebracht. Die traditionellen politischen Parteien scheinen endgültig in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht zu sein, und mit ihnen ein Konzept von formaler Demokratie, in der die Bevölkerungsmehrheit nicht repräsentiert war. Präsident Rafael Correa hatte eine Art Obama-Effekt ausgelöst: Er bewirkte, dass die Leute wieder Hoffnung entwickelten. Nicht nur auf eine Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation, sondern auch Hoffnung auf einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel, an dem es sich zu beteiligen lohnt. Hoffnung darauf, dass das kleine Andenland nicht nur seine Souveränität behaupten, sondern gar international wahrgenommen werden könnte – zum Beispiel mit radikalen Vorschlägen zu einer eigenständigen südamerikanischen Finanzarchitektur. Oder mit dem Yasuní-Projekt, bei dem die in einem besonders schützenswerten Teil des amazonischen Regenwaldes vermuteten Ölreserven nicht gefördert werden sollen, sondern stattdessen die Länder aus dem Norden für die ausgefallenen Einkünfte finanziell mit in die Pflicht zu nehmen.
Ecuador fand seinen Platz in einem von einer neuen Linken mehr und mehr übernommenen Kontinent und entwickelte in diesem Kontext eigenständige, interessante Visionen. Correa ist ein gebildeter Präsident, der auch den einfachen Leuten komplexe Sachverhalte in ihrer eigenen Sprache verständlich machen kann. Auf diesem neuen Selbstbewusstsein sollte die Nation neu gegründet werden, dafür wurde gegen den Widerstand der alten politischen und wirtschaftlichen Eliten eine neue Verfassung durchgesetzt, die im Herbst 2008 in Kraft trat.
Vor allem im Bereich der Sozialpolitik hat die Bürgerrevolution durchaus positive Ergebnisse vorzuzeigen: Die staatlichen Investitionen im Bildungs- und Gesundheitssektor sowie im sozialen Wohnungsbau sind im Vergleich zu den vorherigen Regierungen sprunghaft gestiegen. Auch die Infrastruktur des Landes wurde merklich verbessert, Straßen, Brücken, Flughäfen errichtet, wo vorher kaum ein Durchkommen war. Der Staat vergibt Kredite zu günstigen Konditionen und verteilt in einem gewissen Maß auch Grund und Boden an die Bäuerinnen und Bauern, wenn auch von einer grundlegenden Agrarreform nicht die Rede sein kann. Die Arbeitslosigkeit ist trotz der weltweiten Krise seit Januar 2007 nur um einen Prozentpunkt auf acht Prozent gestiegen – im Vergleich zu elf Prozent in Chile und 14 Prozent in Kolumbien – was Correa in seiner Festansprache als Erfolg wertete. Auch der Analphabetismus soll um drei Prozentpunkte zurückgegangen sein. Die gesamtwirtschaftliche Situation des Landes ist aufgrund der weltweiten Krise jedoch eher schlecht, die Mittelschicht verliert spürbar an Kaufkraft, und die offiziellen Armutsstatistiken stagnieren.
Bereits im Sommer hatte ein Skandal um Regierungsaufträge an die Firmen von Fabricio Correa, dem Bruder des Präsidenten, am Image des smarten Staatschefs gekratzt. Nun sind in nur zwei Monaten zusätzlich zur Energiekrise, die sich in den vor zwei Wochen vorerst eingestellten täglichen Stromrationierungen manifestierte, zahlreiche weitere politische Krisenherde entstanden: Im Dezember brach die indigene Dachorganisation CONAIE die Verhandlungen mit der Regierung über Bergbau, interkulturelle Bildung, das neue Wassergesetz und den Status indigener Regierungsinstitutionen ab und kündigte für das Frühjahr neue Aufstände an. Im Januar mobilisiert Jaime Nebot, der konservative Bürgermeister der Industriemetropole Guayaquil, zu Massenprotesten wegen Haushaltsstreitigkeiten zwischen der Zentralregierung und seiner Kommune. Auch ein Flügel der Gewerkschaften will am liebsten in den Generalstreik treten, weil die Regierung traditionelle Errungenschaften der Arbeiterschaft angreift, wie zum Beispiel das 13. und 14. Monatsgehalt – der erste Schritt zur schleichenden Abschaffung weiterer Errungenschaften, wie viele befürchten. Nun hat auch noch die Gattin des Generalstaatsanwalts, der eigentlich für eine moralisch erneuerte Justiz stehen sollte, eine junge Frau totgefahren und danach versucht zu flüchten. Woraufhin von der Generalstaatsanwaltschaft alle klientelistischen Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um ihr die anstehende Haftstrafe zu ersparen. Und schließlich hat Rafael Correa das internationale Vorzeigeprojekt seiner eigenen Regierung – die erwähnte Nichtausbeutung des Erdöls im Yasuní-Nationalpark als Abkehr von dem auf Rohstoffexport basierenden Entwicklungsmodell – vor kurzem eigenhändig erdrosselt.
Anstatt auf dem Weltklimagipfel von Kopenhagen einen UN-verwalteten Fonds ins Leben zu rufen, in den die Länder aus dem Norden ihr „Geld gegen Regenwald“ hätten einzahlen sollen – und damit vor der Weltöffentlichkeit ins Sachen Klimaschutz gut dazustehen – pfiff er seinen Außenminister Falconí in letzter Minute zurück und verhinderte so die Konkretisierung des Fonds. Wenige Wochen später verkündete er obendrein in seiner wöchentlichen Radioansprache, das in Kopenhagen von Falconí geführte Verhandlungsteam habe „beschämende Bedingungen“ ausgehandelt, die gar die Souveränität Ecuadors in Frage stellten. Deshalb werde man spätestens im Juni mit der Ölförderung beginnen, wenn bis dahin aus dem Ausland nicht mindestens die Hälfte des Geldes eingegangen sei, das durch die Einahmen durch die Erschliessung der Ölquellen zu erwarten sei.
KritikerInnen vermuten hingegen, der Präsident habe dem Druck der mächtigen Ölkonzerne nachgegeben, die ein Gelingen der ökologischen Initiative unbedingt verhindern wollen. Im Yasuní-Gebiet werden mit 846 Millionen Barrel 20 Prozent der ecuadorianischen Ölreserven vermutet, wenn auch nicht besonders hochwertiger Qualität. Nichts an den Bedingungen für den Fonds sei beschämend gewesen, ja die Geber aus dem Norden hätten nicht einmal am Verhandlungstisch gesessen, hält Alberto Acosta dagegen, einer der geistigen Väter der Bürgerrevolution und ehemaliger Energieminister Correas. Man habe sich vielmehr mit der UN-Agentur UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) auf die Mechanismen geeinigt, wie der zu schaffende Fonds verwaltet werden solle, und in dem entsprechenden Gremium habe Ecuador letztendlich die Mehrheit gehabt. Der Präsident habe mit seiner Wankelmütigkeit nun schon seit geraumer Zeit die konkrete Einrichtung des Fonds gebremst, in den die Gelder längst hätten fließen können.
Gleichzeitig machte die Regierung nie öffentlich, wie viele Länder mit welchen Summen bereits Zusagen gemacht hatten – unter anderen die Bundesrepublik, Spanien, Belgien, etc. Laut Roque Sevilla, dem nun zurückgetretenen Vorsitzenden der ecuadorianischen Verhandlungskommission, gab es bereits Zusagen in Höhe von ca. 49 Prozent der vereinbarten Gesamtsumme.
Sevilla erklärte auch, der plötzliche Kurswechsel von Correa sei auf Bedenken dessen juristischen Beraters Alexis Mera erfolgt. Von Alexis Mera wiederum ist bekannt, dass er auch schon Berater des rechtesten Präsidenten war, den die jüngere ecuadorianische Geschichte aufzuweisen hat: León Febres Cordero, dessen massive Menschenrechtsverletzungen während der 80er Jahre sogar die Einrichtung einer Wahrheitskommission in Ecuador im Jahr 2007 motiviert haben.
Alexis Mera ist eine der rechten Schlüsselfiguren in der weithin als links wahrgenommenen Regierung. Er, der als enger Vertrauter von Correa gilt, stand bereits im vergangenen Oktober im Kreuzfeuer der Kritik, als die Indigene Bewegung die Regierung nach einem Aufstand gegen das geplante Wassergesetz an den Verhandlungstisch gezwungen hatte. Damals hatte die Regierung Correa eine Reihe von runden Tischen zu Schlüsselthemen wie Bergbau, interkulturelle Schulbildung, Wasser und indigene Regierungsinstitutionen ins Leben gerufen. Es war das erste Mal seit seinem Amtsantritt, dass Correa von sozialen Protesten öffentlich zum Einlenken gezwungen wurde – insbesondere, weil bei den Demonstrationen im Amazonasgebiet ein indigener Lehrer zu Tode gekommen war.
Die ungestümen Äußerungen des Präsidenten im Zusammenhang mit dem Yasuní-Projekt führten nicht nur zum Rücktritt von Außenminister Fander Falconí und des gesamten Yasuní-Verhandlungsteams der Regierung, sondern auch zum endgültigen Bruch mit Alberto Acosta, der von der Zeitschrift Vanguardia als „das schlechte Gewissen eines Regimes“ bezeichnet wird, „das das ursprüngliche Programm von Alianza País (Correas Wahlbündniss, Anm. d. Red.) inzwischen von der anderen Straßenseite aus betrachtet.“ Mit Falconí und Acosta verliert Correa zwei seiner ergebensten und öffentlich angesehensten Mitstreiter aus dem linken Flügel von Alianza País. Auch wenn er in der Sache inzwischen halbherzig zurückgerudert ist und eine neue Verhandlungskommission für die Yasuní-Initiative geschaffen hat, dürfte die Glaubwürdigkeit Ecuadors im Hinblick auf die Umsetzung eines innovativen und nachhaltigen Entwicklungsmodells einen schweren Schlag erlitten haben.
Doch darüber hinaus stehen in Ecuador auch verschiedene Konzepte von Demokratie zur Debatte, was zu konstanten Spannungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen führt. Anstatt in sozialen Organisationen legitime Verhandlungspartner beim Aufbau eines neuen gesellschaftlichen Projekts zu sehen, wirft er Indigenen, Gewerkschaften und anderen legitimen Interessengruppen vor, sie würden eine eigene Agenda verfolgen und hätten das Gemeinwohl nicht im Blick. CONAIE, Gewerkschaften und linke Intellektuelle fordern dagegen, ihr ehemaliger Hoffnungsträger möge endlich das Versprechen einer wahrhaft partizipativen Demokratie einlösen, in der gesellschaftliche Mitsprache auf allen Ebenen und auf verschiedene Arten stattfinden kann.
Unterdessen denkt die politische Bewegung Alianza País darüber nach, wie sie sich in eine durchstrukturierte Partei umwandeln könnte. Im vergangenen Sommer wurden in einigen Landesteilen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ nach kubanischem Vorbild gegründet, eine „Organisierung von oben“, die bei vielen EcuadorianerInnen auf Ablehnung stieß. Generell scheint der Präsident den BürgerInnen in seinem politischen Projekt wenig mehr Souveränität als die Rolle von WählerInnen zuzuweisen. Noch sind dies nur Tendenzen – und es ist momentan schwer zu sagen, was die nächsten Monate Ecuador bringen werden. Die Regierung ist sich offenbar bewusst darüber, dass sie sich auf unsicherem Terrain bewegt. Daher versucht sie, an manchen Fronten zu beschwichtigen. So wurde zum Beispiel hinter verschlossenen Türen Zugeständnisse an die Indigenen gemacht, sodass diese vorerst von Mobilisierungen absehen wollen. Delfin Tenesaca, der neugewählte Sprecher der Indigenen aus dem Hochland, bringt auf den Punkt, was auch viele Linke denken: „Wir wollen nicht, dass Correa abtritt, aber wir wollen, dass er seinen Regierungsstil ändert.“
Manch einer geht auch davon aus, dass Rafael Correa der vertrackten Situation am liebsten durch einen neuen Wahlkampf entgehen will. Er selbst erwähnte bereits die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen einzuleiten, oder ein Referendum zum Yasuní-Projekt durchzuführen. Dies würde die Öffentlichkeit von manchen Problemen ablenken und Correa stünde wieder auf der Bühne, auf der er am besten glänzen kann.

„Pepe“ muss in die Stichwahl

Am 29. November kommt es in Uruguay zum Showdown. Dann müssen sich José „Pepe“ Mujica und Luis Alberto Lacalle einer Stichwahl stellen. Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 25. Oktober geht es laut den beiden Kandidaten nicht mehr vorrangig um links oder rechts, nicht um Frente Amplio gegen Blancos, sondern nur noch darum, wer der nächste Präsident aller UruguayInnen werden wird. Beide Lager packten schon am Wahlabend ihre Parteifahnen ein und legten sich die Nationalflagge über die Schulter.
Dass es an diesem Abend nicht klappen würde, war schon knapp zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale klar. Die euphorische Stimmung der AnhängerInnen der Frente Amplio (Breite Front), die sich an der Uferpromenade in Montevideo versammelt hatten, um ihren neuen Präsidenten „Pepe“ Mujica zu feiern, kippte abrupt. Nach dem deutlichen Anstieg der Umfrageergebnisse für die Mitte-Links-Koalition und einer ausgelassenen Feierstimmung in den letzten Tagen vor der Wahl, hatten fast alle mit einem Sieg im ersten Durchgang gerechnet.
Entsprechend lang waren die Gesichter von José Mujica und Danilo Astori, dem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, am Wahlabend. Die erste Reaktion des ehemaligen Tupamaros Mujica in der Pressekonferenz war eine trotzige Durchhalteparole: „Wir sind Kämpfer. Niemand hat uns jemals etwas geschenkt, niemals“. Wenige Momente später hatte er sich wieder gefasst und rief seinen AnhängerInnen in einer Mischung aus Ärger und Kampfeswillen zu: „Jetzt werden wir zeigen, dass das Unmögliche zu erreichen noch etwas mehr an Anstrengung kostet und dass es mit euch möglich wird. Nicht Pepe wird gewinnen. Wer gewinnen wird, bist du“. Die Unterstützung der Basis werden Mujica und Astori dringend benötigen, denn 40.000 Stimmen gingen dem Parteienbündnis seit 2004 verloren. Das seit Gründung der Frente Amplio im Jahre 1971 scheinbar nicht zu stoppende Wachstum der Linken in Uruguay ist zum Erliegen gekommen.
Für das Tandem Mujica-Astori stimmten am 25. Oktober 48 Prozent der WählerInnen, 50 Prozent plus eine Stimme wären zum Sieg im ersten Wahlgang notwendig gewesen. Die konservativen Blancos mit ihrem neoliberalen Kandidaten Luis Alberto Lacalle erreichten 29 und die rechtsliberalen Colorados mit ihrem Spitzenkandidaten Pedro Bordaberry 17 Prozent. Auf die Asamblea Popular (Volksversammlung), die 2006 von aus der Frente Amplio ausgetretenen linken Parteien und Bewegungen gegründet wurde, fielen 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, 2,5 Prozent machten ihr Kreuz bei der sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnenden Unabhängigen Partei. Insgesamt also fast ein Patt: die Hälfte der UruguayerInnen wählte links, die andere Hälfte rechts.
Eines ihrer Wahlziele aber hat die Linke schon erreicht. In beiden Kammern des uruguayischen Parlaments konnte sie ihre Mehrheit verteidigen. In der Abgeordnetenversammlung stellt die Frente Amplio zukünftig 50 von 99 ParlamentarierInnen, im Senat erreichte sie 16 von 30 Sitzen. Wenn das Team Mujica-Astori am 29. November gewinnt, kommt noch ein Sitz für Astori hinzu, da der Vizepräsident dem Senat vorsteht. Die Blancos haben hingegen auf ganzer Linie verloren. Trotzdem feierten sie sich am Wahlabend selbst als Sieger, denn letztlich hatten die meisten mit einem direkten Durchmarsch von Mujica gerechnet. Aber in allen 19 Provinzen des Landes haben sie Stimmen verloren. Die Colorados, die zweite der beiden rechten „Traditionsparteien“, die seit der Unabhängigkeit 1828 abwechselnd den Präsident stellten, konnten sich dagegen von ihrem historischen Tief von 2004, als sie nur 10,4 Prozent der Stimmen erreichten, erholen.
Vor diesem Panorama bleiben Mujica jetzt knapp vier Wochen Zeit bis zur Stichwahl, in denen er seine AnhängerInnen motivieren und möglichst viele Wechsel- und NichtwählerInnen gewinnen muss. Und er befindet sich durchaus im Vorteil. Zwar kündigte der Kandidat der Colorados, der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry, noch am Wahlabend seine Unterstützung für Lacalle an. Die Frente Amplio liegt jedoch über zwei Prozentpunkte vor der frisch vereinten Rechten. Die Anteile der beiden kleinen Parteien wird Mujica zu einem Teil für sich gewinnen können, auch wenn der harte Kern der Asamblea Popular lieber ungültig wählen wird, als für den „Verräter“ Mujica zu stimmen.
Mujica wird nun vor allem die Kontinuität der Politik des sehr populären amtierenden Präsidenten Tabaré Vázquez betonen. Seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, dem ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister (2005 bis 2008) Danilo Astori, wird in diesem Wahlkampf eine wichtige Rolle zufallen. Links der Frente ist kaum noch was zu holen, wie das Wahlergebnis der Asamblea Popular zeigt. Astori, der in der Regierung Vázquez für eine sozialdemokratische, wachstumsorientierte und US-freundliche Politik stand, genießt das Vertrauen der Wirtschaft und der Finanzwelt. Er wird vor der mit einem Präsidenten Lacalle drohenden Rückkehr zum Neoliberalismus der 1990er Jahre warnen. Allerdings steht auch Astori nicht für eine grundlegende Veränderung des Systems. Unter ihm werden wohl eher die kapitalistischen, marktorientierten Strukturen ausgebaut werden.
KritikerInnen innerhalb der Frente beobachten das eher beunruhigt. Sie werfen sowohl Mujica als auch Astori vor, zu wenig für eine wirkliche Umverteilung des in den letzten vier Jahren erreichten Reichtums getan und vor allem den Ausverkauf des Landes an multinationale Konzerne gefördert zu haben. Angesichts eines drohenden Wahlsiegs von Lacalle werden die internen KritikerInnen aber ausnahmslos Mujica und Astori unterstützen, zumindest bis zum 29. November. Auch die über 40.000 Stimmen aus der Mittelschicht, die vor allem in Montevideo verloren gingen, kann nur Astori zurückgewinnen.
Bei der Stichwahl, bei der wie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Wahlpflicht herrscht, ist zusätzlich mit zwei weiteren Phänomenen zu rechnen. Einmal werden WählerInnen der Frente, die zwar bei der Parlamentswahl ihre Parteiliste stärken wollten, „Pepe“ Mujica nicht wählen, da sie ihn für absolut nicht präsidiabel halten. Sie wollen sich international nicht von einem ungelernten Blumenzüchter und ehemaligem Stadtguerillero mit losem Mundwerk, der zudem ein schlechtes Spanisch spricht, repräsentiert sehen.
Auf der anderen Seite gibt es einige Sektoren der Nationalpartei und der Colorados, die zwar bei der Parlamentswahl die KandidatInnen ihrer Liste gewählt haben, aber auf keinen Fall bei der Stichwahl den ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle wählen werden. Ihre Ablehnung liegt vor allem darin begründet, dass in dessen Amtszeit von 1990 bis 1995 unzählige Korruptionsfälle öffentlich wurden und Lacalle den Vorwurf, sich persönlich bereichert zu haben, nie entkräften konnte.
Indirekt ist jedoch der ehemalige Tupamaro Mujica selbst sein gefährlichster Gegner. Immer wieder läuft er aus dem Ruder: Noch im September beschimpfte er die SozialistInnen und KommunistInnen innerhalb der Frente Amplio, holte zu einem Rundumschlag gegen den argentinischen Nachbarn aus und bezweifelte die Notwenigkeit einer unabhängigen Justiz. Allerdings ist sein Konkurrent Lacalle genauso unberechenbar: Im Wahlkampf kündigte der Besitzer mehrerer Eukalyptus-Plantagen an, die Sozialausgaben mit der Motorsäge zu kürzen, die Armen nannte er „Penner“ und wollte sie mit Sanitäranlagen beglücken, damit sie sich endlich einmal waschen können. Den bescheidenen kleinen Bauernhof von Mujica bezeichnete der Eigner mehrerer Häuser und Apartments in Montevideo und Punta del Este angewidert als „Höhle“. So könnten sich die beiden gegenseitig dabei unter die Arme greifen, einander zu diskreditieren. Die entscheidende Frage ist, wer von beiden es schafft, die nötigen Wählerstimmen zu mobilisieren.
Mujica kann dabei auf einige eindeutige Erfolge in der Bilanz der Linksregierung verweisen. In viereinhalb Regierungsjahren stieg beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt um 35 Prozent, es gab ein jährliches Wachstum von bis zu acht Prozent und eine Arbeitslosenquote von nur sieben Prozent Anfang 2009. Zudem stieg der Reallohn um 30 Prozent, der Mindestlohn wurde auf circa 140 Euro verdoppelt, der Bildungsetat fast verdreifacht und die Rechte der Gewerkschaften wurden deutlich gestärkt. Außerdem wurde ein Sozialministerium eingerichtet, das unter anderem einen Notstandsplan ins Leben rief, von dem zu Beginn der Regierung Vázquez circa 200.000 UruguayerInnen profitierten. Programme wie der Plan Ceibal, durch den über 360.000 GrundschülerInnen einen Laptop aus dem Projekt OLPC (One Laptop per Child) erhalten haben, werden international anerkannt und gelobt.
Ein wirklicher politischer und kultureller Wechsel in der uruguayischen Gesellschaft wurde jedoch nicht erreicht. Denn die Frente Amplio hat während der vergangenen Jahre ihre Integrationsfähigkeit verloren: Die tragende Säule des Wachstums der Linken in den letzten 25 Jahren, die Basiskomitees wurden entmachtet, von Partizipation gibt es keine Spur mehr. Der „Konsens im Dissens“ ist zerbrochen und eine (zwar noch eher marginale) organisierte Opposition links von der Frente Amplio ist entstanden. Zentrale Punkte im Programm des ältesten Linksbündnisses Lateinamerikas, eine Landreform, der (Wieder)Aufbau einer nationalen Industrie und eine anti-imperialistische Politik, wurden unter dem teilweise autoritär regierenden Präsidenten Vázquez nicht umgesetzt.
Inwieweit ein Präsident Mujica für einen Richtungswechsel eintritt, also zu den Prinzipien und Stärken der Frente Amplio zurückfindet, ist bei der politischen Unberechenbarkeit des „alten Anarchisten“, wie sich Mujica selbst nennt, völlig unklar. Außenpolitisch wird „Pepe“ sich sicher stärker seinen Kollegen Lula da Silva, Evo Morales und Hugo Chávez annähern. Und auch eine Verbesserung der Beziehungen zu Argentinien, die seit über drei Jahren wegen des Konflikts um die Ansiedlung einer Zellstofffabrik auf der uruguayischen Seite des Río Uruguay nahezu paralysiert sind, wird unter Mujica nicht lange auf sich warten lassen. Ob es aber auch wirtschafts- und sozialpolitisch einen „Linksruck“ geben wird, ist zu bezweifeln. Dass es dazu nicht kommt, dafür wird schon allein Danilo Astori sorgen, der nicht müde wird, die Erfolge der Regierung Vázquez zu betonen. Sein Einsatz wird im Falle von Mujicas Wahlsieg mit einer außerordentlichen Machtfülle belohnt werden.

Kasten:
Kein Ende der Straflosigkeit – Referendum gescheitert
Ebenfalls am 25. Oktober stimmten die UruguayerInnen in einem Referendum über die Annullierung des so genannten Gesetzes über die Nichtigkeit des Strafverfolgungsanspruchs des Staates für während der Militärdiktatur (1973 bis 1985) von Polizei und Militärs begangenen Verbrechen ab. 47 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für ein Ende der Straflosgkeit aus. Damit wurde jedoch eine Mehrheit verfehlt und das Gesetz bleibt weiterhin in Kraft. So wurde eine historische Chance verpasst, endlich die Verbrechen der Diktatur aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
1989 wurde schon einmal in einer Volksabstimmung über das 1986 verabschiedete Gesetz abgestimmt. Damals war die Angst vor einer Rückkehr des Staatsterrors innerhalb der Bevölkerung noch präsent. Und die damalige rechte Regierung unter Julio María Sanguinetti schürte diese Angst geschickt. Trotzdem stimmten schon damals 43 Prozent der UruguayerInnen für die Abschaffung des mit den Militärs ausgehandelten Gesetzes.
20 Jahre später hatten Angehörige von Opfern, Menschenrechtsorganisationen, Basiskomitees und Gewerkschaften zwei Jahre lang massiv für das „Ja“ gegen das von Juristen als verfassungswidrig eingestufte Gesetz mobilisiert. In einer Kampagne wurden Tür um Tür 340.000 Unterschriften für ein erneutes Referendum gesammelt. Das die Mehrheit diesmal so knapp verfehlt wurde, ist eine bittere Niederlage für die BefürworterInnen der Strafverfolgung.
Dafür machen sie auch die amtierende Linksregierung mitverantwortlich, der sie mangelnde Unterstützung vorwerfen. Weder der Präsident Tabaré Vásquez, der sich schon zu Beginn seiner Amtszeit gegen ein erneutes Plebiszit ausgesprochen hatte, noch José Mujica, der Präsidentschaftskandidat der Frente Amplio, engagierten sich in der Kampagne für das „Sí“ zur Aufhebung des Gesetzes. So ging die Initiative im Wahlkampfgetöse unter.
Dabei gab es nur sechs Tage vor der Wahl eine unerwartete Argumentationshilfe: Einstimmig erklärte der Oberste Gerichtshof das Gesetz für verfassungswidrig. Obwohl diese Entscheidung nur für den Fall der 1974 von Militärs ermordeten 24-jährigen Nibia Sabalsagaray, einer in der kommunistischen Jugend aktiven Lehrerin, gilt, war es doch eine wichtige Grundsatzentscheidung. Zudem wurde am 22. Oktober der ehemalige Diktator Gregorio Álvarez zu 25 Jahren Haft verurteilt. Eine komplett andere Ausgangssituation als 1989.
Die strafrechtliche Verfolgung aller Verbrechen von Polizei und Militärs in Uruguay lässt also weiter auf sich warten. Bei den wenigen Fällen, die während der letzten vier Jahre juristisch verfolgt wurden, machte Tabaré Vázquez von seinem präsidialen Recht Gebrauch, einzelne Fälle aus dem Gesetz über die Straflosigkeit herauszunehmen.
Und auch eine Debatte über die Post-Diktatur-Zeit in Uruguay und über ein demokratisches System, das auch die Menschenrechte zu seinen Grundlagen zählt und nicht nur die Spielregeln bei Wahlen beherrscht, steht insofern immer noch aus.
Die Frente Amplio kann mit ihrer wiedererlangten Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments das Gesetz einfach abschaffen. Dazu hatte sie schon seit März 2005 die Gelegenheit. Es wird spannend, ob „Pepe“ Mujica, so er denn zum Präsidenten gewählt wird, das unterstützen wird. Oder ob er wie sein Vorgänger der Meinung sein wird, dass es nicht um die Bewältigung der Vergangenheit, sondern um Versöhnung geht. Dass das eine ohne das andere zu haben ist, bezweifeln nicht nur die Menschenrechtsorganisationen und die Familienangehörigen der über 200 Verschwundenen in Uruguay, sondern zumindest auch 47 Prozent aller UruguayerInnen.

Unklares Profil

Das kolumbianische Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol (PDA) hat Ende September in öffentlichen Vorwahlen über seinen Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im Mai 2010 abstimmen lassen. Dabei hat der eigentliche Favorit und ehemalige Verfassungsrichter Carlos Gaviria mit 201.115 Stimmen gegen Gustavo Petro mit 220.912 Stimmen verloren. Der dritte Kandidat, Edison Lucio Torres, spielte nur eine Nebenrolle. Die Beteiligung blieb äußerst niedrig. Wahlberechtigt waren nicht nur Parteimitglieder, sondern alle der 28,7 Millionen ins Wahlregister eingetragenen KolumbianerInnen. Der Sieg Petros war überraschend, die folgenden Spannungen innerhalb der Partei allerdings vorhersehbar.
Gaviria gab seinen Parteivorsitz noch am Wahlabend ab und gab zu verstehen, er werde die Kampagne von Petro nicht aktiv unterstützen. Das PDA befindet sich nun in einem Spannungsverhältnis: In der Partei unterstützte man bisher mehrheitlich Gaviria, Petro ist nun aber offizieller Kandidat. Es geht dabei nicht nur um Personen, sondern um miteinander unvereinbare Programme. Auf eine/n neue/n Vorsitzende/n konnte sich die Partei bisher nicht einigen. Man unterstütze Petros Kandidatur aber einstimmig, ließ das Exekutivkommittee verlauten.
Gustavo Petro ist Ex-Mitglied der Guerilla M-19, die 1991, ermöglicht durch die neue Verfassung, ihre Waffen ablegte und als Partei ins Parlament einzog. Sie ist heute als sogenannte Vía Alterna (etwa Alternativer Weg) Teil des Bündnisses PDA.
Petros Projekt der convergencia (in etwa: Übereinstimmung, Zusammengehen) mit allen, die eine erneute Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Uribes bei den Präsidentschaftswahlen 2010 verhindern wollen, wird in der kolumbianischen Presse denn auch als das einer moderaten, demokratischen Linken bezeichnet. Sie könne eine tatsächliche politische Alternative zur Uribe-Koalition darstellen, ist der Tenor.
Die „Rechte“ innerhalb des PDA wird als fragmentiert bezeichnet und scheint von einzelnen bekannten PolitikerInnen abhängig zu sein, die des öfteren auch gegeneinander vorgehen. Dennoch hat diese Strömung seit Anfang des Jahres 2009 an Stärke gewonnen. Unter anderem hat sich dadurch die Zusammensetzung des Exekutivkommittees der Partei zu ihren Gunsten verändert. Ein traditioneller Klientelismus macht sich zudem auch in der PDA immer mehr bemerkbar.
Die „strategischen Allianzen“, die Petro vorschlägt, beziehen auch den Präsidentschaftskandidaten der Liberalen Partei, Rafael Pardo, und den ehemaligen Bürgermeister von Bogotá, Lucho Garzón, mit ein. Pardo hatte bis 2004 den rechtsgerichteten Präsidenten Uribe unterstützt, war danach aber in die Liberale Partei zurückgekehrt. Garzón war bis Mai 2009 Mitglied des PDA und hat mit zwei anderen ehemaligen Bürgermeistern im September die Grüne Partei „übernommen“, die Ende der 1990er Jahre vom prominenten Entführungsopfer Ingrid Betancour gegründet worden war. Er tritt ebenfalls als Präsidentschaftskandidat gegen Uribe an. Sogar uribistische Sektoren, die den Paramilitarismus ablehnten, sollten laut Petro unter Umständen als „demokratische Rechte“ Teil des Bündnisses sein. Vielen SenatorInnen, die Uribe unterstützen, werden aber gerade Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen vorgeworfen; gegen über 60 wird seit letztem Jahr strafrechtlich ermittelt. Heftige Diskussionen hat es deshalb bereits zwischen den Organisationen der Opfer des Paramilitarismus und Staatsterrorismus und Teilen der Partei gegeben, wenn auch Petro die bekannten Verbindungen zwischen PolitikerInnenn und Paramilitärs immer verurteilt hat. Die Frage, wie stabil und kohärent eine solche Koalition des Polo mit dem „traditionellen Sektor der Politik“ sein könnte, ist also angebracht.
Der ursprüngliche Favorit des PDA, Carlos Gaviria, warnte vor Bündnisverhandlungen ohne jede Vorbedingung: „Wir können nicht alles über Bord werfen, was wir aufgebaut haben, wenn wir Uribe wirklich schlagen wollen“. Man brauche auf jeden Fall einen eigenen Kandidaten des PDA mit klarem Profil, und dies war auch auf dem Parteikongress im Februar mit der Parteibasis diskutiert und beschlossen worden. Ohne die Forderung nach strukturellen Veränderungen in der Politik unterscheide sich der Polo nicht mehr von den traditionellen Parteien.
Gaviria war noch im Februar auf dem Zweiten Parteikongress zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 hatte er als Gegenkandidat zu Uribe mit 20 Prozent der Stimmen immerhin das beste Ergebnis der kolumbianischen Linken überhaupt erzielt. Er repräsentiert den linken Flügel innerhalb des Bündnisses, wie zum Beispiel die Unabhängige und Revolutionäre Arbeiterbewegung (MOIR) oder die Kommunistische Partei Kolumbiens und wird von Gewerkschaften und großen Teilen der sozialen Bewegungen unterstützt. Sie hoffen, dass mit dem PDA tiefgreifende gesellschaftlichen Veränderungen möglich werden, die mit den heutigen Herrschaftsverhältnissen in Kolumbien ausgeschlossen sind. Die kolumbianische Presse bezeichnet diese Strömungen in der Partei gern als „radikal“.
Das PDA jedenfalls hat an Glaubwürdigkeit verloren und es scheint nicht einmal sicher, ob sich die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen überhaupt überwinden lassen. Konnte man in den letzten Jahren noch feststellen, dass die kolumbianische Linke erstmals gemeinsam auftrat und damit als Alternative zur Rechtsregierung Uribes Erfolg hatte, ist dies jetzt ganz offensichtlich nicht mehr der Fall.
Das PDA gruppiert sich als Partei nicht mehr klar um ein gemeinsames politisches Programm mit klar definierten Zielen, sondern um eine Vielzahl verschiedener Tendenzen mit eigenen Interessen. Die politische Entwicklung der kolumbianischen Linken, die mit dem „Projekt“ PDA gestärkt werden sollte, wird dadurch gebremst. Der Elan, der angesichts der Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und bei den Regionalwahlen 2007 noch spürbar war, scheint verloren. Eher lässt sich von einer Krise des „linken Projekts“ sprechen. Besonders die Gewerkschaften und andere soziale Gruppen, die das Bündnis bisher mittragen, werden sich in einer „pragmatischen“ Neuausrichtung des PDA nur schwer wiederfinden.
Von der sozialen Basis hat sich die Parteispitze ohnehin entfernt. Indigene und andere soziale Organisationen hatten unabhängig vom PDA für den Oktober eine landesweite „MINGA popular“ mit Demonstrationen und Protestmärschen gegen die Regierung angekündigt, denen sich Studierende und SchülerInnen anschlossen. In Bogotá gingen circa 15.000 Menschen auf die Straße. Themen waren unter anderem der immer noch geplante Freihandelsvertrag mit den USA und die Assoziierungsabkommen mit der EU sowie die Politik der Regierung gegenüber den drei bis vier Millionen internen Flüchtlingen, die nicht in ihre Regionen zurückkehren können.
Währenddessen wird eine Wiederwahl Uribes im Jahr 2010 immer wahrscheinlicher. Schon die geringe Wahlbeteiligung bei den Vorwahlen der Opposition war für die Uribe-Koalition ein sehr positives Zeichen. Weder die Wirtschaftskrise und die steigenden Arbeitslosenzahlen, noch der Abhörskandal um den Geheimdienst DAS, der JournalistInnen, GewerkschafterInnen und MenschenrechtlerInnen ausspioniert hatte, konnten ihm etwas anhaben. Auch die bestürzenden Zahlen von bis zu 25.000 in den letzten 20 Jahren von Paramilitärs verübten Morden, die am 30. September von der Staatsanwaltschaft veröffentlicht wurden, waren in Kolumbien kaum eine Meldung wert. Da wird in den großen Medien eher die negative Berichterstattung über die venezolanische Regierung intensiviert. Noch weniger scheint das Abkommen über die Nutzung von sieben kolumbianischen Militärbasen durch die USA ein Problem zu sein oder der wieder aufgenommene Prozess gegen den Vizepräsidenten Francisco Santos, dem vorgeworfen wird, paramilitärische Todesschwadronen in der Hauptstadt mit aufgebaut zu haben.
Bisher hat das Oberste Gericht allerdings nicht das Referendum zur Verfassungsänderung anerkannt, das Uribe eine dritte Kandidatur ermöglichen soll. Das Gericht wird die Entscheidung wohl erst im Januar veröffentlichen; danach soll das Referendum stattfinden. Außerdem wird im Kongress über Änderungen am Wahlgesetz diskutiert; zum Beispiel über die Offenlegung der Herkunft von Wahlkampfgeldern. Interessanterweise wurde diese Diskussion von denselben SenatorInnen angestoßen, die sich eigentlich schon im Wahlkampf befinden. Sie verhielten sich so „wie Fußballspieler, die die Spielregeln ändern, wenn das Spiel schon angefangen hat“, urteilte die Wochenzeitung Semana. Dennoch scheinen die Wahlen so gut wie entschieden.

Der Widerstand ist weiblich

Zu Redaktionsschluss begannen die Verhandlungen zwischen den Putschisten und der legitimen Regierung von Präsident Zelaya unter Aufsicht der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) in Honduras‘ Hauptstadt Tegucigalpa. Viel versprechend sah es zum Auftakt der Veranstaltung nicht aus. Während die Putschisten mit „Pomp and Circumstances“ auftreten und sich von den gleichgeschalteten Medien feiern lassen, harrt der gewählte Staatschef in der brasilianischen Botschaft aus. Das honduranische Militär hat mehrfach Angriffe mit giftigen Gasen und Schallkanonen unternommen, um Druck auszuüben und den legitimen Präsidenten festzunehmen. Er ist abgeschnitten von seiner eigenen Beraterkommission, Leitungswasser und Elektrizität. Da nicht einmal Ärzten der Zutritt zu dem Botschaftsgelände gewährt wurde, gab es unter den „BewohnerInnen“ der Botschaft zwischenzeitlich gesundheitliche Probleme. Einem Telefoninterview mit Manuel Zelaya zufolge haben sie sich aber mittlerweile wieder erholt.
Seit seiner spektakulären Rückkehr am 21. September hat der Ende Juni abgesetzte und ins Ausland verschleppte Zelaya die von Militärs belagerte Zuflucht nicht verlassen können. Ein fairer Dialog sieht anders aus und die OAS läuft Gefahr, ihre letzte Autorität der Lächerlichkeit preis zu geben. Denn viele fragen sich, was denn eine zwischenstaatliche, insbesondere von den USA mit viel Geldern ausgestattete Organisation nützt, wenn sie nicht einmal in dem wirtschaftlich unbedeutenden Honduras einen Konflikt lösen kann?
Wie die aktuellen Verhandlungen aber auch ausgehen, in Honduras ist nichts mehr beim alten. Aus dem Widerstand gegen die reaktionären Putschisten hat sich eine soziale Bewegung entwickelt, wie es sie nie zuvor in dem mittelamerikanischen Land gegeben hat.
Und das Potential für einen sozialen Wandel wächst täglich. „Sie haben Angst vor uns, denn wir haben keine Angst vor Ihnen“, diese Zeile aus einem Lied der argentinischen Bardin Liliana Felipe avancierte zur Hymne der Volksbewegung gegen den Militärputsch. Längst geht es nicht mehr nur um die Rückkehr von Manuel Zelaya.
Jahrzehntelang schien Honduras politisch entleert, soziale Organisationen und Gewerkschaften waren in der Defensive und die politische Linke führte ein Schattendasein. Der Drang nach gesellschaftlicher Veränderung war dem Drang gen Norden gewichen, kaum ein Jugendlicher interessierte sich für die politischen Verhältnisse in seinem Land, sondern vielmehr für eine Zukunft in den USA.
Auffällig ist aber insbesondere die starke Beteiligung von Frauen an der Widerstandsbewegung. Die zentralamerikanischen Gesellschaften sind besonders vom Machismus geprägt, Frauen spielen im öffentlichen Leben nur eine Nebenrolle und leiden doppelt unter Armut und Unterdrückung. In Honduras haben Kleinbäuerinnen, Arbeiterinnen und Hausfrauen diesen Bann nun gebrochen, erobern die Straßen und Plätze und bieten den Putschisten die Stirn. „Sie leisten Widerstand, denn sie sind der Ungerechtigkeit, Gewalt, Ausbeutung, Erwerbslosigkeit überdrüssig. Sie sind es Leid, dass sich eine kleine Minderheit den Reichtum unter den Nagel reißt, während die große Mehrheit nichts hat“, sagte Alicia Reyes JournalistInnen des Jesuitensenders Radio Progreso.
Mit ihren bunten Schirmen kommen sie und bringen Farbe in die Demsonstrationen. Auch Geschmack bringen die Frauen mit: Tortillas, Brot und Käse tragen sie in ihren Taschen und verteilen diese unter hungrigen MitstreiterInnen. Viele Protestmärsche wurden überhaupt erst von Frauen initiiert, die kreativ den Widerstand bereichern. Vielerorts haben sie Solidaritätsnetze geknüpft. Zum Beispiel in Suazo Córdova de El Progreso im Departamento Yoro: Hier haben sie Kinderbetreuung organisiert, damit Mütter ihre Kinder nicht mit auf die Protestmärsche nehmen müssen, und Nachbarschaftskomitees zur Selbstversorgung.
„Ihr werdet schon sehen, was passiert, wenn ihr auf die Straße geht!“, lautet die gebrüllte Drohung der Putschisten. Schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren haben das zum Beispiel die Frauen in Comayagua. Wie überall im Land vertrieben Putschmilitärs dort gewaltsam Demonstrierende. Unzählige Verletzte und nach Schätzungen mindestens zwei dutzend Tote, so die Bilanz der brutalen Übergriffe der bis an die Zähne Bewaffneten. Aus Comayagua berichteten Opfer das erste Mal von organisierter sexueller Gewalt gegen Frauen. „Zuerst schlugen mich die Soldaten mit ihren Knüppeln, dann steckten sie mir diese zwischen die Bein und grölten `Ihr wilden Bestien!`. Sie lachten und sagten weiter: ´Das passiert, wenn Du auf die Straße gehst. Was suchst Du überhaupt hier`“, berichtete unter Tränen eine Frau im Interview mit Radio Progreso. „Gleich nach der Szene näherte sich ein Passant und sagte, er sei mit der Misshandlung einverstanden. Schließlich gehörten Frauen an den Herd“, sagte die Augenzeugin weiter. Frauen aus anderen Regionen berichteten von Vergewaltigungen durch Soldaten, die sich auf Protestmärsche stürzten. Auch in anderen mittelamerikanischen Staaten wie Costa Rica spielen Frauenorganisationen eine herausragende Rolle bei den Protesten gegen den Putschpräsidenten Roberto Micheletti.
Dieser versucht, das Land mit eiserner Faust zu unterwerfen und setzte für länger als eine Woche die Grundrechte per Notverordnung außer Kraft und machte alle oppositionellen Medien mundtot. So wurden unter anderem das putschkritische Radio Globo und der TV Sender Canal 36 geschlossen. Laut De-facto-Regierung haben beide ausschließlich das Ziel, zu Aufständen aufzurufen und somit die Nation zu destabilisieren.
Trotz dieser Verletzung der Menschenrechte unterstützte die Mehrheit der VertreterInnen der Wirtschaft und die Unión Cívica Democrática (UCD) das Dekret Michelettis. Sie sehen dies für notwendig, um Ruhe und Frieden wieder herzustellen und sind bereit, dafür selbst finanzielle Opfer in Kauf zu nehmen. Doch es meldeten sich auch kritische Stimmen aus Reihen zu Wort, die der Putschregierung bisher nahe standen. PolitikerInnen der Putschregierung, einige einflussreiche Geschäftsleute und der Vorstand des Colegio de Periodistas de Honduras (CPH) hatten sich gegen die Einschränkung der Bürgerrechte ausgesprochen. Auch verurteilte der oberste Gerichtshof das Dekret, denn es sieht dadurch den Wahlprozess in Gefahr, der für den 29. November geplant ist, und erklärte die Aktion Michelettis kurzerhand für verfassungswidrig. Micheletti hatte in einem vorangegangenen Gespräch mit dem Präsidenten des obersten Gerichtshofes, Jorge Rivera Avilés, bekannt gegeben, jeden gerichtlichen Entschluss zu akzeptieren und nahm das umstrittene Dekret nach nur neun Tagen wieder zurück. Er entschuldigte sich außerdem bei der internationalen Gemeinschaft und dem honduranischen Volk für seine Fehlentscheidung, die Rechte der Bürger einzuschränken. Dies ist wohl eher ein geschicktes Manöver. Die Repression gegen Medien und Demonstrierende wurde denn auch zunächst nicht gestoppt. Der Druck der Straße sowie der internationalen Politik und Solidaritätsbewegungen hat dennoch Wirkung gezeigt. Die Hilflosigkeit der De-facto-Regierung, die ohne Konsens im eigenen Lager zu handeln scheint, wird offensichtlich.
Das waren Michelettis Panikverordnungen, als er aus internationalen Medien am Morgen des 21. September erfuhr, dass es Präsident Zelaya geglückt war, in einer Nacht- und Nebelaktion in sein Land zurückzukehren und sein Hauptquartier in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa eingerichtet hatte. Vor dem Gebäude der Botschaft hielten während des Versammlungsverbotes nur bis zu 15 Personen Mahnwachen ab. Versammlungen von über 15 Personen galten nach dem Dekret vom 26. September als illegal und wurden mit Verhaftungen geahndet.
Nun mischt der Putschist aber vor allem wieder an einem Lack, der den für den 29. November angekündigten Wahlen einen demokratischen Anstrich geben soll. So soll das heute international isolierte Putschistenregime legitimiert werden. Internationale Freunde findet Micheletti dabei in der postfrankistischen spanischen Volkspartei PP und der deutschen FDP.
Die USA spielen in der Auseinandersetzung eine undurchsichtige Rolle. Es gibt Indizien, die für eine direkte Beteiligung am Putsch sprechen. So wurde Zelaya bei seiner Entführung von Putschisten am 28. Juni über die US-Militärbasis Palmerola in der Nähe von Tegucigalpa ausgeflogen, es gibt Berichte von Treffen zwischen Putschisten und US-Diplomaten vor diesem Termin. Auch macht das Szenario Sinn, dass der Putsch in Honduras ein gezielter Schlag gegen das von Hugo Chávez initiierte fortschrittliche Staatenbündnis Bolivarianische Allianz für die Amerikas (ALBA) sei. In Venezuala und Bolivien hatten Destabilierungsversuche nicht die gewünschte Wirkung, nun brach die Kette an ihrem schwächsten Glied. Andererseits schienen die Stunden des Schmusekurses mit den ALBA-Staaten bereits gezählt – kein Kandidat der großen Parteien wollte diesen nach den Wahlen im November fortsetzen. Auch nicht Elvin Santos, der Nachfolger von Manuel Zelaya in der Liberalen Partei (PLH).
Verbal unterstützt die Regierung von US-Präsident Barack Obama die rechten Umstürzler indes nicht, auch das ist ein Novum in Lateinamerika. Obama und seine Außenministerin Hillary Clinton müssen sich aber zumindest den Vorwurf gefallen lassen, dass sie das Thema sehr halbherzig behandeln und den Putsch nicht einmal eindeutig als solchen benennen.
In Honduras haben die Putschisten erreicht, dass sich die Reihen der sozialen Bewegung und ihrer Organisationen fest hinter Zelaya geschlossen haben. Das war bis zum 28. Juni nicht so. Der Großgrundbesitzer Zelaya war vor knapp vier Jahren als konservativer und unternehmerfreundlicher Präsident angetreten. Wie kein anderer Präsident seit dem Ende der Militärdiktatur 1980 hatte er sich für die Militärs stark gemacht und deren Haushalt sogar verdreifacht. Erst in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit näherte er sich den Ideen des venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez an, legte Sozialprogramme auf und erhöhte den Mindestlohn deutlich. Seine organisierte Anhängerschaft beschränkte sich auf einige Campesinoorganisationen und die Lehrergewerkschaft. Und auch sein Vorschlag für eine Volksbefragung darüber, ob es parallel zu den Wahlen im November ein Referendum über die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung geben solle, spaltete die soziale Bewegung bis zum Staatsstreich. „Zelaya muss wieder in sein Amt zurückkehren, damit wir eine Grundlage für einen weiteren sozialen Wandel in Honduras schaffen können“, sagen heute die allermeisten sozialen AktivistInnen. Nur eine kleine Minderheit der radikalen Linken lehnt jeden Bezug auf den gestürzten Präsidenten ab. Einigkeit besteht aber darüber, dass die neu entstandene soziale Bewegung ihre Unabhängigkeit bewahren muss. „Die traurige Geschichte der Bewegung in Honduras hat das immer wieder erlebt: Sie unterstützt einen vermeintlichen Volkshelden und steht am Ende alleine da“, sagte Matías Funes, Gründungsmitglied und ehemaliger Abgeordneter der links-sozialdemokratischen Partei „Demokratische Vereinigung“ (UD).
Erste Anzeichen solch einer Entwicklung scheint es auch heute zu geben: „Nach unseren Informationen bietet man Zelaya an, dass das eingefrorene Vermögen seiner Familie wieder aufgetaut wird und er aus öffentlichen Geldern für entstandenen Schaden entschädigt wird. Die AktivistInnen der sozialen Bewegung würden dann wieder einmal nichts bekommen“, sagte Dunia Motoya, Journalistin des alternativen Kommunikationszentrum COMUN am Tag vor Beginn der Verhandlungen. Viele Mitglieder der Anti-Putsch-Bewegung opferten ihre gesamte Habe für den Widerstand oder mussten sie auf der Flucht vor Häschern des Putschmilitärs zurücklassen. Schon die Teilnahme an Demonstrationen hat vielen materiellen Schaden zugefügt: AugenzeugInnen berichteten von der gezielten Zerstörung von Fahrzeugen, die in der Nähe des Veranstaltungsortes parkten, durch die Polizei.
Die Zukunft von Honduras ist offen, das Potenzial für eine wütende soziale Explosion groß. Klar ist nur, dass sich die Putschisten geirrt haben: Es irrten die Unternehmer, welche dachten, nach einer Woche herrsche Ruhe im Land; es irrte Kardinal Rodríguez, der sagte, die politische Waage der internationalen Gemeinschaft werde zügig zugunsten der Putschisten ausschlagen und es irrte das Militär, das dachte, es könne mit Hilfe der gleichgeschalteten Massenmedien einen Jubelsturm bei der Bevölkerung zu seinen Gunsten auslösen.
Inzwischen musste auch Micheletti von alten Positionen abrücken und zugeben, dass die Verschleppung Zelayas ein Fehler war. Kurz vor dem Eintreffen der Kommission versuchte er die Schuld an dem politischen Fiasko von sich zu weisen. So kündigte er an, die Verantwortlichen für Zelayas Verschleppung nach Costa Rica suchen und bestrafen zu wollen. Namen wurden von ihm nicht genannt. Doch lässt sich er ahnen, dass in Reihen des Militärs allen voran Armeechef Romeo Vásquez Velásquez Konsequenzen ziehen müssen. Dieser wiederum sagte in einem Interview, dass er als oberster Befehlshaber der Armee nur Anweisungen entgegen nimmt und ausführt. Die Putschisten ahnen, dass sie nichts mehr gewinnen können und betreiben Schadensbegrenzung.

Informationen und Erlebnisberichte zum Widerstand gegen die Putschisten gibt es im Internet unter:
http://hondurasblog.wordpress.com/

Chronik eines Putsches

24. März – Der honduranische Präsident Manuel Zelaya setzt für den 28. Juni eine unverbindliche Volksbefragung an. Die Bevölkerung soll gefragt werden, ob sie für die allgemeinen Wahlen am 29. November ein – dann verbindliches – Referendum über eine Verfassunggebende Versammlung wünscht. Die Staatsanwaltschaft sieht in diesem Akt Zelayas eine verfassungswidrige Handlung.
24. Juni – Der honduranische Kongress verabschiedet ein Gesetz, das vorsieht, Volksbefragungen ausschließlich bis zu 180 Tage vor Präsidentschaftswahlen zu erlauben.
28. Juni – Militärs nehmen Zelaya fest und fliegen ihn nach Costa Rica aus, Roberto Micheletti über nimmt die De-facto-Präsidentschaft.
2. Juli – Die Länder der Europäischen Union ziehen ihre BotschafterInnen aus Tegucigalpa ab. Die Putschregierung ruft den Ausnahmezustand aus.
5. Juli – Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) suspendiert die Mitgliedschaft Honduras‘. Zelaya versucht, auf dem Flughafen in Tegucigalpa zu landen. Die Putschregierung erteilt keine Landeerlaubnis, Militärs besetzen die Landebahn.
7. Juli – Barack Obama erklärt seine Unterstützung für die Rückkehr des Präsidenten. Zelaya trifft sich in Washington mit Hillary Clinton.
10. Juli – Der Präsident von Costa Rica, Oscar Arias beginnt zu vermitteln. Nach drei Verhandlungsrunden scheitern die Bemühungen.
15. Juli – Zelaya ruft die honduranische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Putschregierung auf.
20. Juli – Die EU suspendiert Finanzhilfen an Honduras in Höhe von 90 Millionen US Dollar.
24. Juli – Zelaya überschreitet die Grenze zwischen Nicaragua und Honduras, und zieht sich wieder zurück.
25. Juli – Auf einem Gipfeltreffen in Paraguay machen sich die Mitgliedsstaaten des Mercosur für die Wiedereinsetzung Zelayas stark.
28. Juli – Die USA suspendieren Visa von vier Mitgliedern der Putschregierung.
5. August – Militärs stürmen die Nationale Autonome Universität von Honduras (UNAH) und liefern sich Gefechte mit protestierenden StudentInnen.
12. August – Zelaya trifft Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien; die Putschregierung verhängt eine Ausgangssperre in Tegucigalpa.
22. August – Ein Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte bestätigt den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt, Verhaftungen und Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Putschregierung.
24. August – Der oberste Gerichtshof Honduras‘ spricht sich gegen die von Oscar Arias vorgeschlagene Wiedereinsetzung Zelayas aus.
25. August – Eine Delegation der OAS um Generalsekretär José Miguel Insulza kommt nach Honduras, um die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Die Delegation reist einen Tag später unverrichteter Dinge wieder ab.
31. August – In Honduras beginnt der Wahlkampf für die Wahlen am 29. November.
4. September – Nach seinem fünften Besuch in Washington erreicht Zelaya Sanktionen der USA gegen die Putschregierung.
8. September – Der IWF sperrt 163 Millionen US-Dollar, die für Honduras bestimmt waren.
12. September – Roberto Micheletti gibt an, dass die USA sein Visum suspendiert haben.
21. September – Der legitime Präsident Manuel Zelaya taucht überraschend in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa auf. In den nächsten Tagen setzt die Putscharmee Schallkanonen und Tränengas gegen die Botschaft ein.
26. September – Micheletti erlässt ein Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte. Das Dekret soll bis zu den Wahlen in Kraft bleiben.
4. Oktober – Roberto Micheletti gibt Fehler bei der Verhaftung von Zelaya durch Militärs zu.
05. Oktober – Aufgrund vielfältigen Drucks muss Micheletti das Dekret zur Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte wieder aufheben.
07. Oktober – Eine Delegation der OAS kommt nach Honduras, um erneut zu vermitteln.
08. Oktober – Die OAS Delegation reist ohne Ergebnisse wieder ab; Putschisten behaupten, Deutsche Hilfswerke (Brot für die Welt, Diakonie Katastrophenhilfe) finanzierten Proteste.

// Zusammengestellt von Marius Zynga

Weitere Infos: http://voselsoberano.com/v1/

„Im Namen der Demokratie“

Am Morgen des 28. Juni standen die Militärs vor der Tür. Sie verschleppten Honduras‘ demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya und flogen ihn nach Costa Rica aus. Die Ereignisse wecken Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Zeiten. Anders als bei früheren Putschen waren die internationalen Reaktionen jedoch eindeutig: Die Europäische Union (EU) hat ihre Botschafter abberufen, die Vereinten Nationen (UNO), Lateinamerikas Regierungschefs und sogar US-Präsident Barack Obama fordern die Wiedereinsetzung des vom Militär gestürzten Zelaya. Damit ist dies der erste rechte Putsch in Lateinamerikas Geschichte, der offiziell nicht von den USA unterstützt wird. Im Untergrund bereite das legitime Kabinett Aktionen für Zelayas Rückkehr vor, während Militärs und Putschregierung weiter die Muskeln spielen lassen. Micheletti will den gewählten Präsidenten festnehmen lassen, sobald er die Grenze überschreitet. Dieser vom Kongress eingesetzte „De-Facto-Präsident“ hat unterdessen die demokratischen Rechte seiner Landsleute per Gesetz praktisch abgeschafft. Während der Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr gelten die verfassungsmäßigen Grundrechte nicht mehr.
Nach innen und außen versuchen die Putschisten indes das Bild zu vermitteln, dass sie die Lage unter Kontrolle haben und Ruhe auf den Straßen herrsche. So sind viele Telefonleitungen gekappt und die Medien vom Militär entweder gleich- oder abgeschaltet. Lediglich ein nationaler Radiosender und eine TV-Station berichten von den Massenprotesten gegen die Putschregierung. Auch einige lokale Radios, wie der Jesuitensender „Radio Progreso“, berichten kritisch und haben unter massiver Behinderung ihrer Arbeit und Repression durch das Militär zu leiden. In ihrer Berichterstattung konzentrierten sich die linientreuen Medien in Honduras und im zentralamerikanischen Ausland auf putschfreundliche Kundgebungen und die angebliche Verfassungsmäßigkeit des Machtwechels.
Keinen Weg in diese Medien finden die Massenproteste von Zehntausenden im ganzen Land gegen den Militärputsch und die systematische Verfolgung von GewerkschafterInnen und Linken. Bereits am ersten Putschtag wurde Gewerkschaftsführer Carlos H. Reyes von Soldaten zusammengeschlagen und zeitweilig verschleppt. Der Veteran der Arbeiterbewegung gehört der landesweiten Koordination des Volkswiderstandes an und soll bei den Präsidentenwahlen am 28. November als unabhängiger Kandidat antreten. Die dafür nötigen 45.000 Unterschriften hatten seine Unterstützer in nur drei Wochen gesammelt. Um ihrer Verhaftung zu entgehen, haben sich zahlreiche FührerInnen der Gewerkschaften und sozialen Bewegung in den Untergrund gerettet. Dennoch gibt es Berichte von Verhaftungen und Misshandlungen im ganzen Land. Soldaten töteten zum Beispiel einen jungen Demonstranten, der mit einigen Hundert PutschgegnerInnen das Eingangstor zum Telekomkonzern Hondutel besetzt hielt. Mit einem Fahrzeug fuhren die Mörder mehrmals über den Kadaver hinweg, um die Massen einzuschüchtern, berichten AugenzeugInnen. Wenig später verhafteten sie auch den Vorstandsvorsitzenden von Hondutel.
Die BefürworterInnen des Putsches nennen diesen indes ein „Manöver zur Rettung der Demokratie“, weil Präsident Zelaya mit seinem Vorstoß für eine rechtlich nicht bindende Volksbefragung gegen die geltende Verfassung verstoßen habe. Die WählerInnen sollten die Frage beantworten, ob sie damit einverstanden wären, wenn zeitgleich mit den Wahlen im November, per Referendum über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung abgestimmt würde. „Der Vorwand der Demokratierettung ist nichts Neues. Auch die rechten Militärputsche in den 1960er und 1970er Jahren in Lateinamerika wurden immer im Namen der Demokratie durchgeführt“, sagte der salvadorianische Sozialwissenschaftler Rafael Cartagena. Mit Besorgnis betrachtet er, wie die reaktionäre Wirtschaftselite auch in Zentralamerika wieder zum Mittel des Putsches greift. Die linke salvadorianische Tageszeitung CoLatino berichtete am Mittwoch, dass der Fraktionschef der ultrarechten salvadorianischen ARENA-Partei dem Präsident Mauricio Funes am Telefon mit einem Staatsstreich gedroht habe. Erstmals hatte mit Funes im März ein Kandidat der linken FMLN die Wahlen in El Salvador gewonnen.
Manuel Zelaya geht seit dem Putsch mit der Bourgeoisie seines Landes hart ins Gericht. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass er selbst Sohn einer gut situierten Großgrundbesitzerfamilie aus dem ländlichen Olancho in Zentralhonduras ist. Als Bilderbuchminister wurde er in der Vergangenheit für seine effiziente Amtsführung ausgezeichnet und von der UNO gelobt. Mit linken Äußerungen hatte er sich bis zu seinem Amtsantritt 2006 nicht verdächtigt gemacht. Mit Erstaunen mag die Ultrarechte zur Kenntnis genommen haben, dass sich der eher moderate Zelaya auch mit Beratern umgab, die einen linken politischen Hintergrund haben.
Angesichts der tiefen Krise seines Landes, nicht zuletzt wegen der Weltwirtschaftskrise, begann er sich Kreisen zuzuwenden, die die honduranische Politik stets ignorierte: Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Die meisten ließen sich auf diesen neuen Dialog ein, andere trauten dieser Politik indes nicht, denn Zelaya blieb ihnen Klassenfeind.
Auf der einen Seite begründete er eine politische Freundschaft mit Fidel Castro und Hugo Chávez und führte Honduras zur Mitgliedschaft in der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA). Den Mindestlohn erhöhte Zelaya um 60 Prozent und er legte eine Reihe neuer Sozialprogramme auf. Aber echte Mitspracherechte der ArbeiterInnen und ihrer Organisationen gab es nicht, ganz zu Schweigen von Ansätzen der Selbstverwaltung. Die Arbeitsbedingungen in den Maquiladoras (Billiglohnfabriken, Anm. d. Red.) blieb haarsträubend, gewerkschaftliche Rechte wurden ignoriert und Aktivisten ermordet. Frauenrechte und emanzipatorische Forderungen wurden ignoriert. Ein Linker ist Manuel Zelaya nicht.
Aber die Ultrarechte musste erkennen, dass sie diesen Präsidenten nicht unter Kontrolle hatte. Besonders die wachsende Nähe zu Kuba und Venezuela machte sie rasend. Anders als in den anderen Staaten Zentralamerikas sind die führenden Militärs in Honduras eng mit dem nationalen Kapital verflochten. Die Diktatur der stets von den USA ausgebildeten Führungsoffiziere endete offiziell mit der Verfassung von 1982. Damals änderten sie jedoch ihre Strategie und bauten ihre Macht im Wirtschaftssektor aus. Heute beherrschen sie nicht nur Zentralamerikas stärkste Militärmaschine, sondern sie bewegen Milliarden US-Dollar durch Verträge mit Unternehmen, deren stillen Teilhaber sie sind. Sie sind Mehrheitsaktionäre von TV-Stationen, Zeitungen, Zeitschriften und in der Agrarindustrie sowie Nutznießer der Privatisierung öffentlicher Betriebe. Ihre Verbündeten haben die Militärs in den ultrarechten Kreisen in Washington und im US-Auslandsgeheimdienst CIA. Den bekannten CIA-Mitarbeiter und Gründer der Todesschwadronen Billy Joya ernannte Micheletti zum „beratenden Minister“. Joya ist bekannt dafür, in den 1980er Jahren Folterungen und Mordaktionen im Land koordiniert und geleitet zu haben. Er war damals Mitglied des Geheimdienstbataillons 3-16 und erster Kommandant des reaktionären „Elitegeschwaders Luchs“, der berüchtigten Kobra-Aufstandsbekämpfungseinheiten.
Zur offenen Konfrontation zwischen Zelaya und dem Militär kam es in der Woche vor dem Putschsonntag. Der Präsident hatte den Oberkommandanten der Streitkfäfte, General Romeo Vásquez, abgesetzt, nachdem dieser sich geweigert hatte, die für die Volksbefragung notwendigen Wahlunterlagen auszuteilen. In diesem Konflikt kommt die wirkliche Macht des Militärs zum Ausdruck: Zum einen ist schon der Fakt bedenkenswert, dass das Wahlgericht Urnen und Register in Kasernen lagert. Zweitens hob der Oberste Gerichtshof die Absetzung von Vásquez umgehend wieder auf. Diese Entscheidung entsprach der Verfassung, denn in Honduras gilt nicht der Staatschef als höchste Autorität der Streitkräfte. Im Text von 1982 ließen sich diese verbriefen, dass der Oberkommandant nicht von zivilen Institutionen berufen oder abgesetzt werden darf.
Damit haben sie verfassungsmäßig ein System gefestigt, das seit dem Putsch von 1957 etabliert ist. Damals verärgerte der gewählte Präsident Ramón Villeda Morales von der Liberalen Partei (PLH) vor allem die US-Fruchtkonzerne mit seinem sachten Versuch einer begrenzten Agrarreform und sozialer Verbesserungen für die ArbeiterInnen. Mit Hilfe der USA putschte damals Oberst Oswaldo López Arellano. Die folgenden Jahre prägten aufgrund der Rolle der Fruchtkonzerne, genau wie im Nachbarland Guatemala, den Begriff der „Bananenrepublik“. Die honduranische Historikerin Ethel Garcias, Leiterin des Zentrums für lateinamerikanische Identität und Kultur, beschreibt dieses System: „Die Machtsituation von 1957 war die Basis für eine neue Struktur, die sich von selbst erneuert. Junge Soldaten wurden aufgebaut, in das System integriert. Nachdem sie die Militärakademie Francisco Morazan absolvierten, wurden sie auf die US-Militärkaderschmiede Escuela de las Américas in Panama geschickt. Die Erfolgreichsten beendeten ihre Ausbildung dann in Westpoint, USA, als Nachwuchs für die Militärdiktatur“.
Die Peitsche der Reaktion treibt in Honduras aber auch den Widerstand voran. Die zerstrittenen Organisationen der gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Linken arbeiten erstmals zusammen und rufen gemeinsam zu einem Generalstreik auf. Trotz aller Repressionen kommt es in den größeren Städten immer wieder zu Massenprotesten. Am eindrucksvollsten war aber der Aufmarsch hunderter bewaffneter Campesinos aus Olancho am Mittwoch. In Jeeps und Lastwagen hatten sie sich nach Tegucigalpa aufgemacht. Das Militär stoppte sie mit Straßensperren und beschoss die Reifen der Fahrzeuge. Dem Bericht eines Aktivisten zu Folge, waren die ungefähr 800 Olancho-Campesinos, die einen Ruf als wilde Kämpfer haben, mit Gewehren bewaffnet. Bei der Konfrontation ließen sie diese jedoch schweigen und zogen sich zurück. Fürs Erste. Aber die Situation ist explosiv. Der gleiche Aktivist berichtet zudem, dass sich im Karibikhafen La Ceiba die vierte Brigade der Infanterie gegen Michelleti gestellt hat und die Rückkehr von Präsident „Mel“ erwartet.
Vom internationalen Druck lässt sich die Putsch-Regierung bisher nicht beeindrucken. Das von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängte 72-Stunden-Ultimatum zur Wiedereinsetzung Zelayas hatte keinen Erfolg. OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza traf am 3. Juli in Tegucigalpa ein, um den Rückzug der PutschistInnen zu fordern. Am Abend des selben Tages verkündete Micheletti jedoch den Ausstieg Honduras‘ aus der Organisation, um einem zu erwartenden Ausschluss zuvorzukommen. Insulza konterte postwendend: Der Austritt sei rechtlich irrelevant, da „die Regierung für die anderen 34 Mitglieder der OAS und die internationale Gemeinschaft rechtlich gar nicht existiere“.

Liberale Komplizenschaft

So viel Geschlossenheit gab es selten. Der Putsch gegen die Regierung von Manuel Zelaya in Honduras, den die traditionelle Elite am 28. Juni mit Hilfe des Militärs durchführte, wurde weltweit einhellig verurteilt. Währenddessen versuchen wirtschaftsliberale GegnerInnen der fortschrittlicheren Regierungen in Lateinamerika einen Diskurs zu etablieren, der den Putsch nicht beim Namen nennt: Sie stützen die Position der De-Facto-Regierung unter Roberto Micheletti, wonach Zelaya verfassungsgemäß seines Amtes erhoben wurde. Die Fälschung von dessen Rücktrittsschreiben, die Militarisierung von Straßen und ausgewählten Medien oder die Suspendierung von Grundrechten scheinen da nicht zu stören.
Als wichtige Stichwortgeberin fungiert dabei die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung. In neoliberalen Kreisen des Subkontinents spielt sie als Kooperationspartnerin des Liberalen Netzwerkes in Lateinamerika (Relial) eine bedeutende Rolle. Der Mitarbeiter der deutschen Stiftung in Tegucigalpa, Christian Lüth, schrieb in seinem politischen Bericht am 28. Juni, dass Zelaya „mehr Täter als Opfer“ sei: „Seit Monaten provozierte der Präsident die Legislative und die staatlichen Institutionen mit einer nicht verfassungsgemäßen ‚Volksbefragung‘“. Nachdem Zelaya die Meinung der Bevölkerung zu einem Referendum über eine Verfassunggebende Versammlung einholen wollte, blieb „dem Kongress letztendlich keine andere Wahl, sollte eine Rückkehr zu Rechtsstaat und Verfassungsmäßigkeit in Honduras garantiert werden“. In einem späteren Bericht behauptete Lüth, es sei „mehr als fraglich, ob der Machtwechsel in Honduras überhaupt etwas mit einem Militärputsch zu tun hat“. Dieser Eindruck sei im Ausland durch die „ungeschickte“ militärische Aktion gegen Zelaya entstanden. Bestens dokumentierte Informationen über die Einschränkung der Pressefreiheit nach dem Putsch, hatte Lüth in einem Interview mit dem liberalen Blog Antibürokratieteam am 30. Juni als „frei erfunden“ bezeichnet. Gegenüber Springers Welt Online sagte er über die AnhängerInnen Zelayas: „Diese schießen auf die Polizisten, nicht umgekehrt, das hat es so noch nie gegeben; schon längst spekulieren hiesige Medien, dass Agitatoren aus Venezuela und Kuba dahinter stehen“.
Álvaro Vargas Llosa, liberaler Publizist und Sohn des Schriftstellers Mario Vargas Llosa, folgt einer ähnlichen Lesart: „Hinter dem Ganzen steckt offensichtlich Venezuela“, sagte er am 2. Juni dem spanischsprachigen Ableger von CNN. Zelaya habe sich dem „Club des Chavismo“ anschließen wollen und es darauf angelegt „eine militärische Reaktion zu provozieren, die ihn in ein Opfer der Demokratie verwandeln würde“. Der eigentliche Gewinner sei nun Hugo Chávez persönlich, weil er es geschafft habe, international seine Version der Ereignisse durchzusetzen.
Wenngleich derartige Interpretationen momentan Außenseiterpositionen darstellen, ist ihre Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen. Denn mit dieser Argumentation ließe sich aus liberaler Sicht in allen „links-regierten“ Ländern ein Putsch legitimieren, sofern die De-Facto-Kräfteverhältnisse in den politischen Institutionen dafür günstig wären. Schließlich lassen die beteiligten liberalen Akteure seit Jahren keine Möglichkeit aus, um linken Regierungschefs die vermeintliche Missachtung von Gesetzen und Konventionen anzukreiden. Gegenüber dem, was Chávez, Evo Morales oder Rafael Correa an „Autoritarismus und Totalitarismus“ vorgeworfen wird, muten die Beschuldigungen gegen Zelaya geradezu harmlos an. Sie beziehen sich präventiv vor allem auf das, was Zelaya in der Zukunft womöglich vorgehabt haben könnte.
Was die Friedrich-Naumann-Stiftung angeht, so lässt sich dort eine gewisse Enttäuschung über Zelayas Annäherung an linke Regierungen und soziale Bewegungen nicht verbergen. In einem Hintergrundpapier vom April dieses Jahres schrieb Christian Lüth über Zelaya rückblickend: „Sein Wahlprogramm glänzte voller guter Vorsätze und versprach einen genuin liberalen Regierungsstil.“

Klare Fronten vor der Präsidentschaftswahl

Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen, stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem 67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828 die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte, vom Volk gestoppt: „ … 1992, als die ganze westliche Welt von einer Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war, den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“ Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied. Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien. Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“ Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche „Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay, ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen, von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von „strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“. Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert, fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei, den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen. Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan. Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat, weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete, die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis „eigenartigem Land“.

Gefährliche Verwicklungen

Nur wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Dezember 2009 hat sich Boliviens extreme Opposition aus dem Tiefland sprichwörtlich ins eigene Knie geschossen. In den Morgenstunden des 16. April hatte eine Spezialeinheit der Polizei das Hotel Las Américas im Stadtzentrum der Oppositionshochburg Santa Cruz gestürmt, drei Männer getötet und zwei weitere verhaftet. Bei den Toten handelte es sich um Arpád Magyarosi (Rumäne), Michael Dwayer (Ire) und dem mutmaßlichen Kopf der Gruppe, Eduardo Rózsa Flores (kroatisch-bolivianischer Staatsbürger). Die unmittelbar ins Gefängnis der Hauptstadt La Paz überführten Festgenommenen sind Mario Tadic Astorga (kroatisch-bolivianischer Staatsbürger) und Elöd Tóazó (ungarischer Rumäne). Bei ihnen wurden laut Polizeiangaben neben automatischen Waffen und Granaten ausführliche Pläne und Organigramme gefunden, die Präsident Morales, Vizepräsident Álvaro García Linera, mehrere MinisterInnen und Kardinal Julio als Attentatsziele nennen. Wochen zuvor hatte es in Santa Cruz immer wieder Sprengstoffanschläge auf Regierungsmitglieder der Bewegung zum Sozialismus (MAS) gegeben, zuletzt einen Tag vor dem Polizeizugriff auf das Haus des Oberhauptes der katholischen Kirche in Bolivien, Kardinal Terrazas. Ziel der Gruppe sei zudem die Destabilisierung der Region und die Verunsicherung der Bevölkerung gewesen.
Die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeichnen derweil ein immer klareres Bild: Weite Teile der politischen Elite der im Tiefland gelegenen „Halbmond“-Region waren seit dem Morales-Sieg 2005 fest entschlossen, ihren faktischen Machtverlust auf zentralstaatlicher Ebene durch die Einführung departamentaler Autonomie mit allen Mitteln zu kompensieren, notfalls durch Krieg und Gewalt. Ihr Ziel der Abspaltung der Departamentos Santa Cruz, Tarija, Beni, Pando und Chuquisaca habe man laut Regierungskreisen durch die „Balkanisierung Boliviens“ angestrebt. Aus diesem Grund hatte Morales im September 2008 den obersten US-Gesandten Philip Goldberg des Landes verwiesen, der vor seinem Amtsantritt in La Paz ein hoher Funktionär im Kosovo war. Angesichts immer neuer Indizien müssen sich nun auch die mutmaßlichen Involvierten und radikalen Morales-Gegner wie Branko Marinkovic, kroatischstämmiger Millionär und Ex-Präsident des Unternehmerbündnisses Bürgerkomitee Pro Santa Cruz, der Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, sowie hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft vor der Justiz verantworten. Ihnen droht ein Verfahren wegen „Vaterlandsverrat und Sezession“ und mehrjährige Haftstrafen. Ein jüngst erlassenes Präsidialdekret erlaubt zudem die Beschlagnahmung von Besitz und Geld all derer, die des „Terrorismus, der Abspaltung und des bewaffneten Aufstandes« beschuldigt sind. Genau ein Jahr nach dem illegalen Autonomie-Referendum zur Annahme einer eigenen Departamento-Verfassung, das mit Geld, Personal und Know-how ausländischer Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus den USA und Europa vorangetrieben worden war, steht die Tieflandrechte heute mit dem Rücken zur Wand.
Mit Marinkovic zittern dutzende Mitglieder der oligarchischen Elite von Santa Cruz. Anlass für Sorgenfalten bereitet vor allem der geständige Kronzeuge Ignacio Villa Vargas, Ex-Chef der rechtsradikalen Jugendunion für Santa Cruz (UJC). Dieser beschuldigt die Crème de la Crème der Autonomie-UnterstützerInnen als alleinige Auftraggeber der aufgeflogenen Söldnertruppe. Präfekt Costas habe den Männern per Telefon je ein Haus versprochen, wenn sie Morales töten würden. Marinkovic persönlich habe in direkten Treffen eine Viertelmillion US-Dollar für die Bewaffnung von Milizen zur „Verteidigung von Santa Cruz“ versprochen. Andere Untersuchungsergebnisse über mögliche GeldgeberInnen führen direkt in die Industrie- und Handelskammer Santa Cruz (Cainco). Eindeutig bewiesen ist, dass der mittlerweile ins Ausland geflohene Cainco-Anwalt Alejandro Melgar Pereira in direktem Kontakt mit Flores stand. Er stellte die Verbindung her zu einem Mann, der diesen sein Auto verkaufte. Zudem bezahlte ein Berater der privaten Telekommunikationsfirma Cotas, Luis Alberto Hurtado Vaca, die Hotelrechnungen der Terroristen. In Cotas-Büros hielt sich Flores vor seinem Tod regelmäßig auf, wie Fotos zeigen. Auch entdeckte die Polizei hier ein Waffenarsenal mit Sprengstoff und Handgranaten. Das Unternehmerbündnis Cainco ist Sammelbecken der einflussreichsten Clans von Santa Cruz, denen auch Cotas gehört.
Noch Mitte April hatte Morales am Rande seines Hungerstreikes für ein von der Opposition im Senat blockiertes Wahlgesetz über eine eventuelle Gefährdung seines Lebens spekuliert: „Vielleicht sind meine Tage gezählt. Das Volk soll eines wissen: Wenn mir, Álvaro oder den Ministern etwas zustößt, dann war dies das Werk der faschistischen Rechten, die von der Botschaft der Vereinigten Staaten unterstützt wird“. Was sich damals nach kruder Verschwörungstheorie und paranoidem Verfolgungswahn anhörte, gründete allerdings auf handfesten Informationen bolivianischer Sicherheitsbehörden. Diese waren dem Söldner-Netzwerk seit Ende 2008 auf der Spur, kurz nachdem ein Putschversuch durch die oppositionellen Tiefland-Präfekturen im September 2008 gescheitert war. Damals hatten Präfekturangestellte und Mitglieder der UJC in einer konzertierten Aktion zentralstaatliche Verwaltungen, Flughäfen und Büros regierungsfreundlicher NRO besetzt, geplündert und angezündet. Trauriger Höhepunkt war am 11. September die Ermordung von mindestens 18 indigenen Bauern und MAS-Anhängern in Pando durch Milizen der Präfektur. Die Ausrufung des Kriegsrechts in Pando, die Loyalität der Streitkräfte zur MAS-Regierung, die besonnene Reaktion der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowie die breite internationale Rückendeckung vor allem durch die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) hatten das Land vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges bewahrt.
Ob Zufall oder nicht – nur wenige Tage vor den blutigen September-Ereignissen war der Kroatienkrieg-Veteran Eduardo Rózsa Flores in Santa Cruz eingetroffen. Der im Hotel getötete 49-jährige Flores ist ohne Zweifel eine schillernde Figur. Nach seiner Geburt als Sohn eines ungarischen Kommunisten und Malers in Santa Cruz lebte seine Familie in Chile, wo sie vor Militärdiktator Pinochet nach Budapest floh. Flores studierte später in der Sowjetunion, wurde laut eigenen Angaben „enttäuscht vom real existierenden Sozialismus“ und wandelte sich zum erbitterten Kommunistenfeind. Für den Top-Terroristen Illich Ramírez Sánchez (alias Carlos der Schakal) arbeitete Flores laut eigenen Angaben in den 1980ern als Übersetzer. Zunächst bei der katholischen Fundamentalorganisation Opus Dei aktiv, trat er später zum Islam über, in Ungarn war er Präsident einer islamischen Vereinigung. Anfang der 1990er Jahre ging er dann als Journalist für die BBC nach Kroatien, wo er sich schnell der separatistisch-nationalistischen Bewegung des später wegen Kriegsverbrechens angeklagten Ex-Präsidenten von Kroatien, Franjo Tudjman, anschloss. Hier gründete er eine internationale Freiwilligenbrigade, die im Kampf für die Unabhängigkeit Kroatiens bekanntermaßen auch von US-Beratern ausgebildet wurde, und die sich als Nachfolger der Ustascha betrachtete. Diese faschistische Terrortruppe tyrannisierte während des Zweiten Weltkrieges ganz Kroatien und ermordete in Kollaboration mit den Nazis Hunderttausende SerbInnen, Roma, Jüdinnen und Juden sowie AntifaschistInnen. Ein britischer Journalist beschuldigt Flores später der Ermordung zweier Kollegen, die kritisch über die professionellen „Freiwilligenbrigaden“ berichteten und die unter fragwürdigen Umständen erschossen wurden. Für seine Dienste erhielt „Kriegsheld“ Flores von Tudjman persönlich die kroatische Staatsbürgerschaft. Mitte der Neunziger kehrte er dann nach Ungarn zurück, wo er den Filmemacher und Poeten gab. Gegenüber einem Freund hatte er geäußert, er werde in Bolivien „gegen die kommunistische Regierung“ und für ein unabhängiges Tiefland Santa Cruz kämpfen. Es gelte, die „nationalsozialistischen Indianer zu stoppen“.
Auf der Suche nach militärischer Expertise suchte und fand Boliviens Rechte Schützenhilfe in Europa und Lateinamerika. Zwei Komplizen von Bandenchef Flores, der getötete Árpád Magyarosi und der in Haft sitzende Tóazó, waren bekannte Mitglieder der rechtsextremen Székely-Legion in Ungarn. Die von der Logia Secuiesti (LS) aufgestelle paramilitärische Organisation wurde 2002 vom ungarisch-rumänischen Rechtsextremen Tibor Révesz gegründet. Sie will die Region Székely, wo eine ungarische Minderheit lebt, gewaltsam von Rumänien abspalten. Der LS-Chef Révesz, der eine Sicherheitsfirma betreibt, die im Irak Aufträge für die US-Regierung und Ölfirmen ausführt, traf sich mit Flores im Dezember 2008 in Santa Cruz. Interessiert haben wird Flores vor allem die von der Sicherheitsfirma laut Geschäftsprofil angebotene paramilitärische Ausbildung für „Sicherheitspersonal und Geschäftsleute“. Trainingsmethode ist das nach außen unverdächtige, als Freizeitsport bezeichnete Militärspiel Airsoft, bei dem Nahkampf und Taktik mit ungefährlichen Waffen trainiert wird. Erst kürzlich hatten in Bolivien Fotos für Aufsehen gesorgt, bei denen Airsoft-Spieler in Kampfmontur und Santa-Cruz-Flagge posierten. Bekannt wurde zudem, dass Flores auf dem Gelände des internationalen Flughafen Víru Víru von Santa Cruz regelmäßig UJC-Mitglieder trainierte.
Aber auch in Lateinamerikas reaktionären Kreisen fanden die Morales-Gegner hilfsbereites Fachpersonal in Sachen Demokratiebekämpfung. Ende 2008 traf sich der umtriebige Flores mit dem Ex-Militärgeheimdienstler und Mitglied des rechtsextremen Soldatenbundes Caras Pintadas (Bemalte Gesichter) Jorge Mones Ruíz aus Argentinien. Soldaten der Caras Pintadas verdingten sich ebenfalls im Kroatien-Krieg, daher auch der Kontakt zu Flores. Ruíz hingegen war schon in den 1980er Jahren im Rahmen der berüchtigten Operation Condor für Bolivien zuständig, als Tausende linke Oppositionelle in ganz Südamerika von den Geheimdiensten der Militärdiktaturen systematisch verfolgt und umgebracht wurden. Allein in Argentinien zählt man etwa 30.000 Verschwundene. Zusammen mit der Witwe des argentinischen Leutnants Horacio Fernández Cutiellos, der 1989 bei einem Putschversuch von Militärs mit über 50 Toten ums Leben gekommen war, reiste dessen ehemaliger Kampfgefährte Ruíz direkt weiter nach La Paz, um dort den wegen des Pando-Massakers in Haft sitzenden Ex-Präfekten von Pando, Leopoldo Fernández, zu besuchen. Beide gaben sich dabei als Journalisten einer argentinischen Zeitung aus.
Ruíz ist zudem hochrangiges Mitglied des im Bürgerkriegsland Kolumbien sitzenden Rechtsbündnisses UnaAmérica, einer 2008 gegründeten Vereinigung von NRO aus Bolivien, Venezuela, Nicaragua, Paraguay, Argentinien und Brasilien, die massiv gegen die UNASUR-Linksregierungen agitieren. Finanziert wird UnaAmérica von Kolumbiens Rechten wie Miguel Posada Samper, Manager der Finanzgruppe Bolívar und Sicherheitsberater der Uribe-Regierung. Samper ist Vorsitzender der Vereinigung Wahrheit Kolumbien, hervorgegangen aus dem 1995 vom kolumbianischen Militär gegründeten Zentrum für soziopolitische Studien, das Vorwürfe kolumbianischer Menschenrechtsorganisationen von einer Zusammenarbeit mit den antikommunistischen Paramilitärs widerlegen sollte. Auch das Pando-Massaker sei entgegen der offiziellen Version, die von einer Untersuchungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt wurde, nicht von Präfekturmilizen verübt worden, sondern von der MAS-Regierung selbst, argumentiert UnoAmerica. Von UnoAmerica verläuft der Weg direkt in die USA: Gesponsert und gecoacht wird das kontinentale Rechtsbündnis von der neoliberalen US-Denkfabrik Heritage Foundation, der Entwicklungsbehörde USAID und der vom US-Kongress abhängigen Stiftung zur Demokratieförderung (NED). Dass auch Boliviens Tiefland-Opposition mit Geldern aus den USA rechnen konnte, belegen jüngst freigegebene Akten der US-Regierung. Über USAID pumpten die Vereinigten Staaten seit 2004 rund 100 Millionen Dollar nach Bolivien. Allein 2009 wurden 30 Millionen US-Dollar für die „Förderung von Demokratie, Dezentralisierung, Autonomie, politische Parteien der Opposition und Zivilgesellschaft“ im an Erdgas reichen Tiefland ausgegeben, so die US-venezolanische Journalistin und Rechtsanwältin Eva Golinger. Und auch aus Deutschland kommt Unterstützung. Die der FDP nahe stehende Friedrich Naumann-Stiftung ist Gründerin des Liberalen Netzwerkes Lateinamerika (RELIAL), dem die Stiftung Freiheit und Demokratie (FULIDE) aus Santa Cruz angehört und an dessen Spitze Branko Marinkovic steht. Damit nicht genug. Einziger Kooperationspartner der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Bolivien ist die Stiftung für Unterstützung des Parlaments und Bürgerlicher Beteiligung (FUNDAPACC), dessen Vorstandsmitglieder der erwähnte Pandos Ex-Präfekt Fernández sowie der ehemalige Senatspräsident José Villavicencio sind. Letzterer ist in einem UNASUR-Beweis-Video zum Pando-Massaker in eindeutiger Angriffspose zu sehen, laut schreiend: „Wenn Evo Blut will, dann soll er Blut bekommen“.

Dritte Amtszeit für Uribe?

Offen ausgesprochen hat er es nicht. Es sind sein diesbezügliches Schweigen und seine mehrdeutige Anspielungen, die den Verdacht nähren, dass der rechte Präsident Álvaro Uribe Vélez vorhat, für eine weitere Amtszeit zu kandieren. Nach aktueller Gesetzeslage dürfte der Präsident kein weiteres Mal kandidieren und in der ursprünglichen Fassung sah sie überhaupt nur eine Amtszeit vor. Doch die Vorzeichen für eine erneute Kandidatur Uribes mehren sich. In Sondersitzungen ließ Uribes Innenminister Valencia Cossio den Kongress über eine Volksbefragung abstimmen, die durch eine Verfassungsänderung eine dritte Legislaturperiode zulassen will. Dazu präsentierten im September letzten Jahres die OrganisatorInnen der geplanten Volksabstimmung über vier Millionen Unterschriften, die sich für ein Referendum aussprachen, und brachten das Vorhaben dadurch in den Kongress. Ende 2008 stimmte das Repräsentantenhaus zu und nun im Mai passierte es den zustimmungspflichtigen Senat trotz heftiger Vorwürfe der Opposition. Diese sprach von Stimmenkäufen und beanstandete die Einflussnahme des Innenministers, der bis zuletzt die Abgeordneten der Regierungskoalition auf das Vorhaben einschwor.
Überhaupt hat das Referendum von Beginn an für Aufsehen gesorgt. So sind der Finanzierung derartiger Initiativen gesetzliche Obergrenzen gesetzt, die die OrganisatorInnen jedoch zu umgehen wussten. Eigentlich liegt die Obergrenze bei 335 Millionen Peso (ca. 110.000 Euro) und einzelne Spenden dürfen nicht mehr als ein Prozent dieses Volumens ausmachen. Allerdings erhielten die Referendum-OrganisatorInnen von einer Asociación Colombia Primero (Vereinigung Kolumbien Zuerst) einen so genannten Kredit von 1.900 Millionen Peso. Dieser Kredit wurde wiederum überwiegend durch Spenden von Unternehmen aufgebracht, darunter zahlreiche Konzessionäre öffentlicher Infrastrukturmaßnahmen, welche ebenfalls ein Vielfaches über dem erlaubten Limit lagen. Pikanterweise sitzen die OrganisatorInnen des Referendums zudem teilweise im Vorstand von Colombia Primero. Alles deutet auf eine nur notdürftig durch das Gebilde zweier Vereinigungen verdeckte Einflussnahme kolumbianischer Wirtschaftskreise zugunsten des Präsidenten hin, unter offenkundiger Missachtung geltender Gesetze.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Recht gebrochen wird. Vieles erinnert an den so genannten Yidispolítica-Skandal, der fünf Jahre zuvor Uribe Vélez seine zweite Amtszeit ermöglichte. Im Juni 2008 wurde die einstige Senatorin Yidis Medina wegen Bestechung verurteilt, weil sie 2004 ihre Zustimmung für die damalige Verfassungsänderung verkauft hatte. Gegen die von ihr benannten Urheber, die damaligen Minister Diego Palacio und Sabas Pretelt, laufen dagegen noch die Ermittlungsverfahren. Bis heute ist daher umstritten, ob die erste Wiederwahl Uribes überhaupt rechtmäßig gewesen ist.
Doch derlei Bedenken interessiert die Mehrheit des kolumbianischen Kongresses wenig. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Volksbefragung rechtzeitig in den verbleibenden Sitzungen zu beschließen. Ganz einfach ist das nicht, denn anscheinend ist den OrganisatorInnen der Unterschriftensammlung ein Formulierungsfehler unterlaufen. Nach der ursprünglichen Fassung müsste der Präsident eine Amtsperiode lang pausieren und könnte erst 2014 wieder antreten. Das widerspricht natürlich dem eigentlichen Ansinnen, die Kontinuität der Regierung von Uribe zu gewährleisten. Deswegen werden zurzeit zwei unterschiedliche Versionen eines Referendums debattiert. Das Repräsentantenhaus beschloss den ursprünglichen Text, während ihn der Senat dagegen modifizierte, um eine sofortige Wiederwahl zu ermöglichen. Jetzt hat zunächst der Vermittlungsausschuss beider Kammern das Sagen darüber, welche der Versionen zugelassen wird. Dann entscheidet das Verfassungsgericht, ob das Referendum überhaupt abgehalten wird.
Die Zustimmung des Verfassungsgerichtes ist durchaus fraglich, denn eigentlich hatte es bei seiner positiven Entscheidung über eine zweite Amtszeit von Uribe eine dritte nachdrücklich ausgeschlossen. Aber damit ist bereits die derzeitige Problematik des Machtgleichgewichts im politischen System Kolumbiens aufgeworfen. Der Präsident hat das Recht, KandidatInnen für das Verfassungsgericht sowie den so genannten Procurador, zuständig für die Aufsicht von StaatsfunktionärInnen, vorzuschlagen. Für das Amt des Generalstaatsanwalts oder der Generalstaatsanwältin, dem staatlichen Ombudsamt und dem Vorstand der Zentralbank hat er sogar das alleinige Vorschlagsrecht. Im Verein mit einer Kongressmehrheit hat der Präsident damit Gelegenheit, diese Posten an loyale AnhängerInnen zu vergeben und je länger er im Amt bleibt, desto stärker kann die Regierung die Kontrolle ihrer eigenen Politik aushebeln.
Ein anschauliches Fallbeispiel ist die Besetzung des Verfassungsgerichtes selber. Im August 2007 wurde Mauricio González in den Magistrat berufen, der vorher als juristischer Sekretär für Präsident Uribe tätig war. Damit scheint die regierungsfreundliche Fraktion im Gericht gestärkt. Zumindest ist es seither in den Beziehungen zur Regierung auffällig ruhig geworden, denn in der Vergangenheit hatte das Gericht etliche Gesetze aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken für ungültig erklärt. Besonders in der ersten Amtszeit von Uribe war es heftigen Anfeindungen ausgesetzt als es die geschnürten Antiterrorismuspakete für ungültig erklärte, welche die Guerilla mithilfe von massiven Grundrechtseinschränkungen zu bekämpfen suchte, und dem autoritären Gebaren der Regierung somit Grenzen setzte.
Gegenwärtig macht der Regierung eher der Oberste Gerichtshof zu schaffen. Hintergrund ist der so genannte Parapolítica-Skandal, die systematische Zusammenarbeit von ParlamentspolitikerInnen und Paramilitärs, mit dessen Untersuchung das Gericht befasst ist und dessen Ende nicht absehbar ist (siehe LN 408). Er verdeutlicht zudem, was für eine politische Elite zusammen mit dem Präsidenten an die Macht kam: politische Kartelle, die ihre VertreterInnen mithilfe regionaler Abkommen mit den rechten Paramilitärs in den Kongress entsenden konnten.
Aber der Parapolítica-Skandal ist nicht Uribes einziges Problem. Während er seine erste Amtszeit strahlend mit Verweis auf seine Erfolge in der Guerillabekämpfung beenden konnte, ist seine Regierung nun immer mehr mit der eigenen Verteidigung beschäftigt. Im Februar, kam heraus, dass der direkt dem Präsidentenamt unterstehende Inlandgeheimdienst DAS jahrelang in illegaler Weise OppositionspolitikerInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen überwachte sowie Richter des Obersten Gerichtes, genau dem Gremium, das mit dem Parapolítica-Skandal befasst ist. Das Verhältnis zur Regierung ist grundsätzlich erschüttert und der Besuch eines UN-Sonderberichterstatters zur Überprüfung der Unabhängigkeit der Justiz ist im Gespräch. Inzwischen lud die Generalstaatsanwaltschaft vier ehemalige Direktoren des DAS vor und ermittelt ebenfalls gegen drei Mitarbeiter des Präsidentenpalastes. All diese Untersuchungen finden immer wieder im nächsten Umfeld von Uribe statt und oftmals scheint es als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis er selber belangt wird. Darüber hinaus gerät er in einem seiner zentralen Anliegen unter Druck: der Sicherheit. Nachrichten über extralegale Hinrichtungen durch das Militär, dem Wiedererstarken paramilitärischer Gruppen und die zunehmende Mordrate in den Großstädten Kolumbiens schmälern die Bilanz seiner Regierungspolitik. So kritisiert inzwischen selbst die traditionell regierungsfreundliche El Tiempo, die als größte Tageszeitung Kolumbiens durchaus Einfluss besitzt, eine mögliche erneute Kandidatur Uribes.
Allerdings muss für die Perspektive Kolumbiens gefragt werden, was der eigentliche Kern des Problems ist: Ein Verbleib von Uribe oder des Uribismus an der Regierung? Zahlreiche NachfolgekandidatInnen haben sich bereit erklärt, seine Politik ganz oder mit Abstrichen weiterführen zu wollen. Da PräsidentschaftskandidatInnen in Kolumbien bis zu den Wahlen ein Jahr lang kein politisches Amt ausüben dürfen, legte der Landwirtschaftsminister Andrés Felipe Arias, auch bekannt als „Uribito“, seine Geschäfte nieder. Drei Monate später folgte ihm der Verteidigungsminister Juan Manuel Santos. Ersterer profilierte sich mit heftigen Äußerungen gegen eine demilitarisierte Zone um Verhandlungen mit der Guerilla Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) aufzunehmen, letzterer war für die Bekämpfung dieser Guerillaorganisation zuständig. Sie hätten Gelegenheit in einem Umfeld zu regieren, in dem Gerichte und andere Kontrollorgane bereits mit loyalen Anhängern besetzt sind. Zudem wären sie von den Skandalen um die Person Uribe befreit. Ein neues Gesicht hätte also durchaus Vorteile. Ob die jüngste Kritik an Uribe von El Tiempo, die im Besitz des oligarchischen Santos-Clans ist, im Zusammenhang mit der Kandidatur des Clansprösslings Juan Manuel steht, ist allerdings unklar. Laut Umfragen liegt die WählerInnengunst jedoch deutlich beim gegenwärtigen Präsidenten, was durchaus verständlich ist, da Uribe einen personalisierten Regierungsstil pflegt. Eventuell hat er sich aber damit keinen Gefallen getan, denn nur er selbst kann mit Sicherheit die Fortdauer seiner Politik garantieren. Im Falle eines Wahlsieges der Opposition müsste er zumindest mit ernsthaften Untersuchungen der Verbindung seiner Regierung zum Paramilitarismus rechnen, ein Unterfangen, was er sicherlich verhindern möchte.
Doch ein optimistischer Blick auf die parlamentarische Opposition Kolumbiens fällt zurzeit schwer. Die Liberale Partei ist selber vom Parapolítica-Skandal betroffen. Zudem tendieren einige ihrer Abgeordneten immer wieder dazu, Uribe zu unterstützen. Einer ihrer aussichtsreichsten Kandidaten ist Rafael Prado, der anfänglich selber ein Anhänger des Uribismus war, sich jedoch später von ihm lossagte. Der linke Polo Democrático Alternativo scheint hingegen von internen Machtkämpfen geschwächt. Die Kommunistische Partei, die Fraktion des Senators Gustavo Petro sowie die des Bürgermeisters von Bogotá, Samuel Moreno, streiten in ihm um Einfluss und vernachlässigen darüber ihre Oppositionsarbeit. Etwas mehr Erfolg scheint laut Umfragen die unabhängige Kandidatur des ehemaligen Bürgermeisters von Medellín, Sergio Fajardo, zu versprechen; zumindest wenn er nicht gegen Uribe antreten müsste. Dabei gäbe es für eine neue Regierung in Kolumbien viel zu tun. Nach Jahren der Usurpation der politischen Macht gilt es den Einfluss der uribistischen Eliten zurückzudrängen, den Friedensprozess mit der Guerilla wiederaufzunehmen, die Rechte der Opfer des paramilitärischen Terrors zu verteidigen und einen sozialen Ausgleich im Land herbeizuführen. Diese Punkte eines oppositionellen Wahlprogramms geraten jedoch durch die personifizierte Debatte um eine Wiederwahl des Präsidenten in den Hintergrund.

Keine Wahl für die Bevölkerung

Der enorme Popularitätsverlust der argentinischen Regierung wurde in der letzten Zeit immer deutlicher. Besonders bei den Industrieverbänden und der ArbeiterInnenbewegung schwand die Unterstützung für Cristina Kirchner. Deren massive Proteste und Straßensperrungen gegen die Erhöhung der Exportsteuern im Agrarsektor hatten die Regierung an den Rand der Regierbarkeit geführt. Zudem spitzt sich mit Verschärfung der Wirtschaftskrise und den zunehmenden Auswirkungen auf das südamerikanische Land die Situation auf dem Arbeitsmarkt immer mehr zu. Insgesamt gab es in den letzten Monaten mehr als 50.000 Entlassungen. Die Auseinandersetzungen zwischen UnternehmerInnenverbänden, Gewerkschaften und ArbeiterInnen nehmen stetig zu. Auf die politische Instabilität und die Wirtschaftskrise im Land reagierte Cristina Kirchner nun mit dem Vorziehen der Wahl von SenatorInnen und Abgeordneten von Oktober auf Juni dieses Jahres.
Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird derweil immer offensichtlicher. Die Vorverlegung der Parlamentswahlen und der Druck der UnternehmerInnenverbände, die bisher nur einen Konsens mit den regierungstreuen Gewerkschaften erzielt haben, war somit Auslöser für einen politischen Konflikt, der bis heute andauert. Daher haben einige Gewerkschaften den Vorschlag der Nationalen Industrieunion Argentiniens (UIA) angenommen, die Debatte über Gehaltserhöhungen, die eigentlich bereits im März stattfinden sollte, in die zweite Jahreshälfte zu vertagen.
Juan Lascurain, Präsident der UIA, begründete diesen Vorschlag mit den sich verschlechternden Produktionsbedingungen und erklärte, dass bestimmte Sektoren in Zukunft an Produktivität verlieren werden und es nicht mehr möglich sein werde, die Gehälter früherer Zeiten aufrecht zu erhalten. Im selben Sinne äußerte sich auch der stellvertretende Vorsitzende der UIA, Osvaldo Rial: „Es ist nicht der Moment, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen.“ An den so genannten paritarias, Verhandlungsrunden zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, werden normalerweise jedes Jahr ab März Gehaltserhöhungen für die ArbeiterInnen ausgehandelt, je nach Inflation und Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel. Angesichts der Krise und um Auseinandersetzungen mit sowie Proteste der ArbeiterInnen vor den Wahlen zu vermeiden, sind einige regierungstreue Gewerkschaften nun auf den Kurs der UIA eingeschwenkt.

Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien.

In einem im April erschienenen Bericht bekräftigte die UIA, dass die industrielle Produktion im Gegensatz zum Februar 2008 um 12,2 Prozent zurück ging. Die Regierung spricht hingegen lediglich von einem Rückgang von 1,5 Prozent und bezieht sich dabei auf Daten des Nationalen Statistikinstitutes INDEC. Der Rückgang der Produktion führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Der Konflikt zwischen UnternehmerInnen und regierungstreuen Gewerkschaften sowie ArbeiterInnen auf der anderen Seite dehnen sich auf immer mehr Sektoren aus: von der Automobilindustrie über das Bauwesen und die Metallindustrie bis hin zu den Tiefkühlwaren und der Schuhindustrie. Die Unternehmensgruppe Grupo Techint, der zahlreiche Ingenieurs- und Baufirmen angehören, traf beispielsweise eine Abmachung mit den regierungstreuen Gewerkschaften über eine Arbeitsstundenminderung von 50 Prozent und einen Gehaltsnachlass von 22 Prozent.
Ausbrechende Arbeitskämpfe gibt es momentan viele in Argentinien. In der Provinz Rio Negro streikten LehrerInnen 40 Tage für eine Gehaltserhöhung und die Verteidigung des öffentlichen Erziehungswesens. Sie wurden dabei vom Staatlichen UnternehmerInnenverband ATE sowie von ArbeiterInnen des Gesundheitswesens und der Justiz unterstützt. Die Angestellten der U-Bahn von Buenos Aires riefen angesichts der Drohungen und der Untätigkeit der regierungstreuen Leitung der Gewerkschaft UTA und des UnternehmerInnenverbandes der U-Bahn-Betriebe Metrovías, die ArbeiterInnen zu einem Referendum auf und gründeten eine neue Basisorganisation.
Laut dem Arbeitsministerium wurden in den ersten Monaten dieses Jahres Arbeits- und gewerkschaftliche Konflikte in insgesamt 125 Unternehmen im Ballungsraum Buenos Aires festgestellt. In der Provinz Córdoba reichten mehr als 100 Betriebe das so genannte präventive Krisenverfahren ein, ein administratives Vermittlungsverfahren, welches noch vor den Entlassungen und Absetzungen im Nationalen Arbeitsgesetz festgelegt wurde. Der Gewerkschaftsdachverband CTA bestätigte, dass es in Córdoba 9.000 Absetzungen sowie 10.000 Entlassungen und 5.000 erwerbslose ArbeiterInnen des Baugewerbes gab. 40 Prozent der ArbeiterInnen Argentiniens befinden sich in einer prekäre Situation: Schwarzarbeit, keine Sozial- oder Arbeitslosenversicherung. Und auch die Arbeitslosenorganisationen protestieren. Am 12. März zogen sie einem heterogenen massiven Demonstrationszug vor das Arbeitsministerium und forderten neben würdige Arbeit einen Plan für öffentliche Bauvorhaben und eine Unterstützung für alle Arbeitslose in Höhe von 540 Peso (circa 111 Euro).
Angesichts der prekären Lage vieler ArbeiterInnen und Erwerbslosen hat die Regierung Kirchner nur sehr bescheidene soziale und ökonomische Maßnahmen getroffen. Sie kündigte bis dato die Erweiterung der Sozialprogramme um zwei Milliarden Peso sowie die Schaffung von 1.000 Klein-Kooperativen für Arbeitslosenorganisationen an und hob die Rente um zwölf Prozent an. Cristina Kirchners Kommentar zu den sozialen Missständen beschränkte sich auf die Erklärung, dass „Jene, die mehr haben, den Rest der Gesellschaft unterstützen müssen.“ Nur so könne sozialer Frieden gewährleistet werden. „Ansonsten enden wir wieder wie Ende 2001.“
Die tiefe ökonomische und politische Krise Ende 2001 / Anfang 2002 in Argentinien, die das Jahrzehnt der Privatisierungen beendete und die die sozialen Ungleichheiten in Argentinien massiv verschärfte, brachte eine tiefe politische und repräsentative Krise mit sich – sowohl in Bezug auf politische Parteien als auch auf die traditionellen Gewerkschaften. Die schwachen Bündnisse, die seitdem aufgebaut wurden, unterstreichen diesen Zusammenbruch der politischen Konstellationen von damals. Die Unbeständigkeit und das ständige Auswechseln von PolitkerInnen und politischen Führungspersonen war auch Bestandteil der gegenwärtigen Regierung. Besonders deutlich wurde dieses Hin und Her der politischen AmtsträgerInnen, als der ehemalige Vizepräsident Julio Cobos aus seiner eigenen Partei UCR ausgestoßen wurde, als er das Regierungsvorhaben zur Erhöhung der Exportsteuern auf Agrarprodukte nicht unterstützte.
Wegen der massiven „Flucht“ von Mitgliedern der Regierung Kirchner aus den eigenen Reihen, wurden nun angesichts der bevorstehenden Wahlen eilig die KandidatInnenlisten gefüllt. So genannte candidatos testimoniales wurden sozusagen als Lückenfüller aufgestellt, das heißt, dass Personen auf den Listen für die Parlamentswahlen geführt werden, die bekanntermaßen die Regierung Kirchner unterstützen, aber nicht unbedingt der Partei angehören. Es ist klar, dass diese Personen nicht die Posten antreten werden, für die sie kandidieren. Mit diesem zwar legalen, aber deutlich demagogisch-opportunistischen Schachzug, versucht die Regierung, sich in einem Moment der ex- und internen Krise schnellstmöglich für die Wahlen aufzustellen. Genau wie in den Jahren 2003 und 2007 werden die diesjährigen Wahlen in einem internen Streit der Peronistischen Partei PJ ausgetragen, die immer mehr zersplittert. Diejenigen die schließlich die Posten übernehmen werden, sind den WählerInnen bisher gänzlich unbekannt. Diese geben sozusagen bloßen „Pappfiguren“ ihre Stimme.
Innerhalb der Opposition lassen sich für die anstehenden Wahlen neokonservative Bündnisse erahnen, die den UnternehmerInnenverbänden des Agrarsektors nahe stehen. Hier lassen sich Persönlichkeiten finden wie der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, oder Felipe Solá, ehemaliger Minister für Landwirtschaft und Fischerei unter der Regierung von Saul Menem und ehemaliger Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Oppositionelle Parteien aus dem linken Spektrum haben noch keine eigene Alternative und daher auch keine Chance durch Wahlen an die Macht zu gelangen.

Das Zerwürfnis zwischen der Präsidentin und den mächtigen Agrarverbänden Argentiniens wird immer offensichtlicher.

Am 25. Februar dieses Jahres veröffentlichte der Leiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, Leon Panetta, einen Bericht, in dem er ankündigte, dass die Weltwirtschaftskrise in einigen Ländern Lateinamerikas politische Instabilität hervorrufen könnte, „vor allem in Argentinien, Ecuador und Venezuela”. Angesichts dieser „Warnung” luden Präsidentin Kirchner und ihr Vize Jorge Taiana am 27. Februar den nordamerikanischen Botschafter Earl Anthony Wayne zur Erläuterung dieser Aussagen vor. Mitte März begannen daraufhin bekannte FernsehmoderatorInnen des Landes das argentinische Fernsehpublikum auf einen neuen öffentlichen Sicherheitsdiskurs einzuschwören, in dem öffentlich mit Aussagen wie „Wer tötet, muss sterben” für mehr Sicherheit gehetzt wird. Am 18. März riefen sie zu einer Demonstration auf dem zentralen Platz in Buenos Aires, der Plaza de Mayo, auf. Organisiert wurde die Demonstration von der Nichtregierungsorganisation Bessere Sicherheit, die von Constanza Gugliemi geleitet wird, Tochter des Generals Alejandro Gugliemi, dem vorgeworfen wird, während der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) an Vorgängen in dem geheimen Folterzentrum El Campito beteiligt gewesen zu sein.
Das Thema der Auseinandersetzungen zwischen den Agrarverbänden und der Regierung wurden vom aufsteigenden Sicherheitsdiskurs verdrängt. Angestoßen wurde dieser von Ex-Präsident Néstor Kirchner, der bei der Bekanntgabe der vorgezogenen Wahlen erklärte: „Argentinien muss die Regierbarkeit zurück erlangen.“ Am 27. März präsentierte die Regierung dann ihren neuen Plan für die Öffentliche Sicherheit. Der Minister für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte, Aníbal Fernández, sagte, dass der Plan sich im ersten Abschnitt auf 38 Gemeinden der Großräume von Buenos Aires, Mar del Plata, Bahía Blanca und Gran Mendoza konzentrieren würde. Der Plan beinhaltet die Bereitstellung von 400 Millionen Peso, die für neue Ausstattung, die Mitbestimmung der BürgerInnen und die Installierung von Kameras verwendet werden sollen. Außerdem werden mindestens 4.000 Mitglieder der Ordnungs- und Sicherheitskräfte, die aus dem Dienst entlassen worden waren, wieder eingegliedert. Noch wurde aber nicht bekannt gegeben, wer genau wieder in den Dienst zurück kehren wird. Menschenrechtsorganisationen protestieren gegen diese Maßnahme, da sie befürchten, dass ehemalige Mitglieder der Streitkräfte, die wegen Menschenrechtsverbrechen beschuldigt wurden, wieder aufgenommen werden könnten. Aníbal Fernández verkündete darüber hinaus die Schaffung von so genannten Städtischen Operationszentren COM, die „zentral dafür sein sollen, zu wissen was in allen Bezirken vor sich geht”.
In den ärmsten Provinzen des Landes Misiones, Chaco, Formosa und Corrientes, den am stärksten von Hunger und Denguefieber geplagten Gebiete, wurden im Rahmen dieses Plans schon 1.000 Browning-Pistolen mit Zusatzmagazinen verteilt. Der Justizminister kündigte gleichzeitig an, dass in Kürze nochmals 1.000 Pistolen nach Jujuy, Salta, Catamarca, Tucumán, Santiago del Estero, Río Negro und Chubut ausgeliefert würden. Außerdem sollen im gesamten Nordosten und Nordwesten Argentiniens Schießplätze gebaut und eine „fortwährende Ausbildung” der Polizei garantiert werden.
Die Ankündigung des Sicherheitsplans im Kontext einer sich verschärfenden sozialen Krise und von einer Regierung, die innerhalb so wie außerhalb ihres „Industriezusammenschlusses” an Legitimität verliert, kann nichts anderes zum Ziel haben, als den Status quo und die Regierbarkeit im Land aufrecht zu erhalten, um die Krise unbeschadet zu überstehen. Und wer in Zeiten der Krise, die Bevölkerung „in Schach halten“ muss und den „sozialen Frieden“ garantieren soll, kann in Argentinien vielleicht auf dieselbe Straffreiheit hoffen, die der ehemalige Präsident Fernando de la Rúa genießt. Dessen Verfahren wegen Mordes an fünf Demonstranten während der Massenproteste der Bevölkerung am 19. und 20. Dezember 2001 wurde am 7. April diesen Jahres vom Bundesrichter Claudio Bonadío eingestellt.

„Seit Manfredo weg ist haben wir Frieden“

„Die Jugendlichen für Demokratie droschen mit Nägelgespickten Schlagstöcken auf uns ein. Viele von uns trugen Hämatome und schwere Verletzungen davon“, erzählt Sergio. Er ist einer der Vorsitzenden der Jugendsektion der Bauerngewerkschaft FSUTCB in Cochabamba. Wir sitzen in der Hauptstadt des gleichnamigen Departamentos auf einer Bank vor dem Versammlungsgebäude der Gewerkschaft und lehnen das verlockende Angebot der Salteña-Verkäuferin ab: umgerechnet 15 Eurocent für eine der typischen gefüllten Teigtaschen. „Hier begann die Geschichte von Evo“, meint er, auf das Gebäude deutend. „Er kommt immer noch hierher zurück, dort oben hat er sein Büro.“ Schnell sind wir aber wieder beim ursprünglichen Thema: die offene Gewalt gegen Indigene und AnhängerInnen der Regierung. Obwohl das Ereignis mehr als zwei Jahre zurückliegt, ist die Erinnerung daran bei Sergio noch sichtlich frisch und lässt ihn wütend die Fäuste ballen. Am 11. Januar 2007 wurde eine Demonstration von Campesin@s von Horden sich als „weiß“ verstehender Jugendlicher attackiert, zwei Menschen wurden dabei getötet. „Wir wollten nur friedlich gegen die Politik von Manfred demonstrieren“, sagt er. Der mittlerweile abgewählte damalige Präfekt Manfred Reyes Villa unterstützte die Autonomiebestrebungen der Tieflandprovinzen ebenso wie (später) deren Ablehnung der neuen Verfassung. Er rief zu Demonstrationen „zur Verteidigung der Stadt“ auf, an welcher sich Mitglieder des Bürgerkomitees sowie der Jugendorganisationen Jugend Cochabambas und Jugendliche für Demokratie beteiligten. Mit Baseballschlägern bewaffnet gingen sie auf die Demonstration los. Während der gut zweistündigen Schlacht wurden hunderte Personen verletzt, mehrheitlich Campesin@s. „Mit dieser [eineinhalb Meter langen Eisenstange] habe ich zahlreiche Indios gefressen“, zitiert die argentinische Zeitung Revista Zoom einen Jugendlichen und zeigt ihn mit einem dicken Blutstreifen auf dem Hemd. „Cholo-Blut“, sagt er, stolz auf den Blutfleck weisend. Auf Flugblättern der Schlägergruppen waren die Forderung nach „Auslöschung der verfluchten Rassen“ und die Verteidigung der „ungemischten Rasse“ der BewohnerInnen von Cochabamba zu lesen. Ricachos nennt Sergio diese Jugendlichen aus der sich als weiß definierenden Mittelschicht, reiche hijitos de papá (Vatersöhnchen). Ihr Diskurs der „Verteidigung der Demokratie“ ist jenem der oppositionellen Gruppen des Tieflandes entlehnt, welche die Regierung des „Indios“ Evo Morales als autoritär, rassistisch und kommunistisch bezeichnen. Sämtliche Diskurse polarisieren den Gegensatz zwischen Regierung und Präfekten. Diese Polarisierung, die aus dem Kampf um die Veränderung alter Machtverhältnisse resultiert, lässt sich auch bei den meisten der so genannten zivilgesellschaftlichen Gruppen feststellen, darunter Vereinigungen wie die Jugendlichen für Demokratie. „Das sind Schlägertrupps“, meint Walter, der redefreudige Taxifahrer, der mich durch den ungeordneten Verkehr Cochabambas schleust. „Die hatte der Präfekt direkt organisiert und bezahlt. Die Bauern saßen einfach nur auf der Plaza de las Banderas, als sie kamen, mit Schlagstöcken bewaffnet; sogar Revolver hatten sie.“

Auf Flugblättern der Schlägergruppen war die Forderung nach „Auslöschung der verfluchten Rassen“ zu lesen.

Die Suche nach Spuren der damaligen Geschehnisse führt mich an den damaligen Schauplatz. Die Plaza de las Banderas liegt im Norden der Stadt. Die Fahnen der lateinamerikanischen Staaten flattern im Frühlingswind und am Brunnen in der Platzmitte waschen einige Frauen in andiner Tracht ihre Wäsche, sich und ihre Kinder. Ein vorbeieilender Anzugträger blickt abschätzig auf die kleine Gruppe. Zuerst sehe ich keine Anzeichen eines Denkmals für den so genannten „schwarzen Januar“. Erst beim nochmaligen Gang über den Platz fällt mir ein aus Spanplatten gezimmerter Pflock auf, in dem in acht Sprachen „Für den Frieden auf der Welt“ zu lesen ist. Daran kleben vertrocknete weiße Nelken an Klebestreifen. „Das haben Evangelisten aufgestellt“, erklärt mir der Gärtner, der sich gerade um die Blumenbeete auf der Verkehrsinsel kümmert. „Dort hinten gibt es noch ein Denkmal, dort haben sie einen Stein aufgestellt, für die Toten vom Januar.“ Froh über den Hinweis, denn alleine hätte ich besagten Rasenfleck bestimmt nicht gefunden, begebe ich mich auf die andere Straßenseite. Auf den nicht gerade prominent platzierten Stein wurden die drei Quechua-Gebote für gutes Verhalten gemeißelt: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht faul sein. Du sollst nicht lügen. Neben der Toten vom Januar 2007 erinnert das Denkmal auch an den 514 Jahre währenden Widerstand der indigenen Bevölkerung. Daneben sitzen auf einer Parkbank ein Mann und seine Frau, zwischen ihnen ein dickes braunes Fell. Ein Löwenfell aus Afrika sei das, erklärt mir der Mann, der sich als Carlos vorstellt. Wie das nach Bolivien komme? „Na, mit dem Flugzeug natürlich“, meint er trocken. „So wie du wahrscheinlich auch, und die anderen Europäer hier. Übeltäter sind das, mit ihnen sind schlechte Sitten in unser Land gekommen. Und jetzt glauben sie, sie seien die Herren hier, behandeln uns wie den letzten Dreck.“ Das Thema regt Carlos sichtlich auf, seine Frau sagt zwar nichts, nickt aber zustimmend. „Vor allem die Indígenas, die vom Land hierher kommen, wie die compañeras dort drüben“ – er zeigt auf die Frauen am Brunnen – „werden hier sehr schlecht behandelt. Indios sagen sie zu uns, nicht wahr?“ Carlos und seine Frau kamen selbst vor 30 Jahren aus einem Dorf am Titicacasee nach Cochabamba. „Und hier werden wir von den Europäern diskriminiert und beschimpft. So wie von diesen Jugendgruppen und dem Zivilkommitee.“
Diese Art von Schlägertrupps, die sich als Verteidiger der Demokratie bezeichnen, sind jedoch nicht auf Cochabamba beschränkt. Manche Medien sprechen von paramilitärischen Strukturen in der Region. Ansätze davon haben sich in Teilen des Halbmondes, dem aufgrund ihrer geografischen Anordnung so genannten abtrünnigen Departamentos, entwickelt und werden von den Präfekturen unterstützt. Diese werben junge Männer und großteils Jugendliche an und versprechen ihnen 100 Bolivianos (circa 9 Euro) am Tag. Zum Vergleich: Der Mindestlohn in Bolivien beträgt 577 Bolivianos im Monat.

Die UJC ist auch in Cochabamba gefürchtet: „Das sind auch so Schlägertrupps, Paramilitärs eigentlich“, erzählt Walter.

Die traurige Bilanz dieser Entwicklung sind dutzende Tote, hunderte Verletzte und eine Gesellschaft, in der es in manchen Regionen tödlich sein kann indigen auszusehen oder öffentlich die Regierungspartei zu unterstützen. In Sucre kam es im Mai 2008 zu Übergriffen gegen UnterstützerInnen der regierenden MAS-Partei. Indigene wurden auf offener Straße und unter Schlägen dazu gezwungen auf dem Boden kniend Parolen gegen Evo Morales zu wiederholen. In Santa Cruz griffen Anfang September des letzen Jahres Horden von Jugendlichen der Crucenischen Jugendunion (UJC) den „Plan Tres Mil“ an, eines der ärmsten Viertel der Stadt, das dank der Zuwanderung aus dem Altiplano die höchsten Wachstumsraten der Stadt zu verzeichnen hat. Die UJC ist auch in Cochabamba gefürchtet: „Das sind auch so Schlägertrupps, Paramilitärs eigentlich.“, erzählt Walter auf der Fahrt in die MigrantInnenviertel von Cochabamba. „Die gibt’s schon lange, die hat der Nazi Klaus Barbie organisiert. Der Unterschied ist, dass sie erst jetzt wirklich zum Einsatz kommen. So wie im Pando.“ In diesem im Amazonasbecken gelegenen Departamento spielte sich der bisherige Höhepunkt der Gewaltexzesse gegen die indigenen und kleinbäuerlichen Bewegungen ab: Am 11. September des vergangenen Jahres wurden nach minutiöser Planung durch die von der Präfektur unterstützten Gruppen in einem vorbereiteten Hinterhalt 18 Menschen massakriert und Hunderte zum Teil schwer verletzt. Gezielt wurden Institutionen von indigenen und bäuerlichen Organisationen angegriffen, Geschäfte von MigrantInnen aus dem Hochland zerstört und ausgeraubt. Auch gibt es Berichte über Notärzte, die Verletzte nicht behandeln wollten, weil sie collas, wie die HochlandbewohnerInnen genannt werden, seien. Unter den Toten waren auch drei Studierende der Pädagogischen Hochschule in Cobija (Hauptstadt von Pando), welche für ihr Studium aus Oruro und La Paz gekommen waren. Der für das Massaker verantwortlich gemachte Ex-Präfekt Leopoldo Fernández wurde kurz nach den Vorfällen verhaftet und wartet weiterhin auf seinen Prozess.
Die gewalttätigen Ausschreitungen haben eines gemeinsam: Sie richten sich mit wenigen Ausnahmen allesamt gegen Menschen, die ein indigen-bäuerliches Selbstverständnis haben und/oder sich für die derzeitige Regierung aussprechen. Der Rassismus gegen collas nimmt beängstigende Ausmaße an. Dies sieht auch die Interamerikanische Föderation für Menschenrechte (FIDH) so, die im letzten Jahr eine Untersuchungskommission ins Land schickte um die Geschehnisse zu untersuchen. Sie fordert von der bolivianischen Regierung die Ausarbeitung eines „Integralen Plans gegen Rassismus und rassistische Gewalt“. Die Kampagne gegen Rassismus und Diskriminierung, getragen von der nationalen Ombudstelle unter Vorsitz des Bürgerrechtlers Waldo Albarracín, läßt sich als eine erste Reaktion auf diese Forderung verstehen.
Unterdessen erhebt die Opposition immer wieder Anklage gegen die Regierung – die sich selbst als Vertreterin der indigen-mestizischen Mehrheit des Landes ebenso wie der Minderheiten versteht – und die regierungsnahen sozialen Bewegungen. Diese würden eine gegen MestizInnen und Weiße gerichtete rassistische Politik betreiben. Dabei hatte die „weiße“ Elite des Landes die Worte Rassismus oder Diskriminierung während ihrer Jahrhunderte langen wirtschaftlichen und politischen Dominanz in Bolivien nie in den Mund genommen. Und allein die Definition von „Mestize/in“ ist ein umkämpftes Terrain, die Angaben über die indigenen und mestizischen Anteile im Land variieren je nach Argumentation oder Umfrage. Dabei gehe es nicht um eine ethnisch-biologische Definition von Indigenität, erklärt der Soziologe Oscar Vega, Mitglied des Intellektuellenzirkels La Comuna in La Paz, dem auch Vizepräsident Alvaro Garcia Linera angehört: „Ethnizität ist im Projekt des sozialen Wandels in Bolivien eine politische Kategorie, und keine ethnische Zuschreibung. Wir hier in Südamerika haben alle eine mestizische Tradition, die Frage ist nur bis zu welchem Grad indigene Traditionen beibehalten oder wieder entdeckt werden. Das Indigene definiert sich nicht über die Hautfarbe, sondern über die Form der Organisation und politischen Partizipation. Es geht schließlich darum zu analysieren, welche Grenzen und Ausschlüsse eine Kategorie produziert.“ Die Kategorie Ethnizität ist eine zentrale Grenzlinie in der Geschichte Boliviens: „Seit Evo in der Regierung ist, ist es für uns viel besser geworden“, stellt Carlos fest. „Das ist es, was die Leute stört, dass ein „Indio“ Präsident ist. Aber wir Indígenas machen 60 Prozent der Bevölkerung Boliviens aus, darum müssen auch wir das Land regieren.“

„Das ist es, was die Leute stört, dass ein „Indio“ Präsident ist.”

So stolz die Elite des Tieflandes immer auf ihre wirtschaftliche Leistung verweist – ohne die Zuwanderung aus dem Hochland wäre der ökonomische Aufschwung der vor 50 Jahren noch aus unasphaltierten Straßen bestehenden, dörflich-landwirtschaftlich geprägten Tieflandregion nicht möglich gewesen. In Santa Cruz zum Beispiel haben laut dem Soziologen José Mirtenbaum etwa 65 Prozent der Bevölkerung ihre Wurzeln in den Hochlandprovinzen. Zwei wesentliche Entwicklungen prägten nachhaltig das demographische Bild Boliviens: Die Landreform im Zuge der Revolution von 1952, während der große Teile des bis dahin unerschlossenen Tieflandes mit Landlosen aus dem Altiplano besiedelt wurden, sowie die Krise des Bergbausektors 1984/85, die tausende MinenarbeiterInnen dazu zwang in den tiefer gelegenen Landwirtschaftsregionen eine neue Zukunft zu suchen. Der bolivianische Autor Víctor Vacaflores argumentiert, dass die massiven Bevölkerungsströme zwischen 1985 und 2000 vor allem der neoliberalen Wirtschaftspolitik dieser Jahre zuzurechnen ist.
Die meisten dieser neuen BewohnerInnen der aufstrebenden Städte leben unter sehr prekären Bedingungen in den marginalisierten Zonen am Stadtrand. Wie zum Beispiel im Stadtteil Villa Israel in der Zona Sud, dem südlichen Teil von Cochabamba. „Dort gibt es keine Wasserversorgung, die Versorgung über Zisternen ist viel teurer und zudem werden damit Krankheiten übertragen“, berichtet Carmen Ledo, Ökonomin an der Universität San Simón. Sie macht die fehlende Stadtplanung mit verantwortlich für die Probleme, mit denen die MigrantInnen zu kämpfen haben, und fordert von der Stadtverwaltung strukturelle Lösungen für die Gegensätze zwischen Norden und Süden. Das ebenso in der Zona Sud gelegene Valle Hermoso ist auch von seinen andinen BewohnerInnen geprägt: „Wir sind ja alle nicht von hier, sondern aus anderen Provinzen, aus anderen Dörfern“, sagt Yeshid Serrudo, Koordinatorin des Projektes zur Unterstützung und Begleitung von ArbeitsmigrantInnen nach Spanien. Das Projekt wird vom Centro Vicente Cañas durchgeführt, das in Valle Hermoso ansässig ist. „Vom Hochland und aus den Dörfern ziehen die Leute nach Cochabamba, und von hier migrieren viele weiter ins Ausland.“ Für Yeshid sind Gruppen wie die „Jugendlichen für Demokratie“ sehr ambivalent: „Das sind ja selber Migranten, und daher gibt es große Widersprüche in ihrem Diskurs. Zum Beispiel sagte einer der Studentenführer in Sucre: „Nein, ich habe nichts gegen Campesinos, meine Mutter ist selber pollera [mehrschichtiger Rock der traditionell gekleideten, indigen-bäuerlichen Frauen] , aber diese Indios…“, und begann mit seinem rassistischen Diskurs gegen Indígenas.“
Cochabamba liegt nicht nur geographisch zwischen dem mehrheitlich die MAS unterstützenden Hochland und dem oppositionellen Tiefland. Nach dem Referendum vom 10. August 2008 haben sich dort mit der Abwahl des Präfekten Manfred Reyes Villa die Kräfteverhältnisse geändert. Die detaillierten Ergebnisse zeigen allerdings, dass ein starkes Stadt-Land-Gefälle besteht. Die städtische Mittelschicht Cochabambas votierte mehrheitlich gegen den amtierenden Präsidenten sowie für Reyes Villa, während Morales in den ländlichen Gemeinden satte 91 Prozent Zuspruch bekam. Dies macht deutlich, aus welchem Umfeld Gruppen wie die Jugendlichen für Demokratie stammen.

„Seit Manfred weg ist, ist es hier ruhig“, sagt Carlos bestimmt.

Der letztjährige 14. September, der „Tag von Cochabamba“, führt mir die Situation in der Stadt eindrucksvoll vor Augen. An diesem Tag vor 198 Jahren hatte der erste große Unabhängigkeitskampf in Bolivien stattgefunden, wie mir dank der auf und ab gespielten Landeshymne nicht entgehen kann. Das ganze Zentrum steht im Zeichen der Feierlichkeiten, bei denen weder der interimistische Präfekt noch der Präsident höchstpersönlich fehlen dürfen. Die begeisterten Rufe: „Evo, das Volk ist mit dir“, lassen keinen Zweifel darüber, auf welcher Seite die Menschenmengen am Straßenrand stehen. Weitab der Feierlichkeiten jedoch treffe ich in der Zona Norte auf einen Lastwagen voller uniform gekleideter Jugendlicher, auf deren himmelblauen Poloshirts „Jugend Cochabambas“ zu lesen ist. Ich werde Zeugin eines interessanten Vorfalls. Auf ihre lauten Rufe: „Evo cabrón, Linera maricón“ („Evo Arschloch, Linera Schwuchtel“) antwortet eine elegant gekleidete, blonde junge Frau mit erhobener rechter Faust und einem energischen Ruf: „Evo sí“. Die Gruppe verstummt betreten und beeilt sich davon zu kommen, denn mit Widerspruch von einer weißen Frau, die von ihnen bestimmt als „eine der ihren“ identifiziert worden war, hatten sie wohl nicht gerechnet.
Dass diese Gruppen in Cochabamba seit dem Referendum ins Abseits geraten sind, bestätigen mir mehrere GesprächspartnerInnen. „Seit Manfred weg ist, ist es hier ruhig“, sagt Carlos bestimmt. „Der hat immer Demonstrationen organisiert, das Zivilkomitee und diese Gruppen bezahlt. Jetzt sind alle Probleme von der Straße weg.“ Dem stimmt auch Walter, der Taxifahrer, zu: „Er hat sich an uns allen bereichert und wurde dadurch der eichste Mann Boliviens wurde er dadurch. Jetzt ist er zum Glück weg, jetzt haben wir Frieden.“

*Namen von der Redaktion geändert

Von Rechts nichts Neues

Nach vier gewonnenen Urnengängen hintereinander muss sich Evo Morales um seine Wiederwahl im Dezember wohl nicht sorgen. Seit seinem historischen Sieg mit 54 Prozent im Jahr 2005 ist die aggressive, aber in sich zersplitterte Opposition immer wieder an der Fähigkeit der Regierung gescheitert, ihre AnhängerInnen in entscheidenden Momenten für ihre „Politik des Wandels“ zu mobilisieren.
So auch beim jüngsten Referendum, das die MAS mit 61,43 Prozent als eindeutigen Erfolg verbuchte. Gegen den Widerstand der Tiefland-Opposition konnte Morales ein Wahlversprechen von 2005 einlösen: Die legislative „Neugründung Boliviens“ durch eine erstmals in seiner Geschichte frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung. Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu vorherzusagen ist, wie sich die neue Magna Charta auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse im Land auswirken wird, so dürfte der hart erkämpfte Verfassungssieg Morales politischen Rückenwind für die Wahlen geben.
Zwar sind es noch zehn Monate bis zum Wahltermin im Dezember, der wegen der Annahme der „neuen politischen Staatsverfassung“ um ein Jahr vorgezogen wurde. Doch MAS-Senator Félix Rojas prophezeite jetzt schon siegessicher „80 Prozent Zustimmung, weil die Leute wissen, dass der Prozess des Wandels nur auf diese Art und Weise weitergeht“.
Dass die MAS es so erfolgreich schafft, eine hohe Mobilisierung und enge Bindung ihrer Wählerschaft an die Partei aufrechtzuerhalten, ist zum einen mit ihrem permanenten Lagerwahlkampf zu erklären. Dieser Politstil, der einer inhaltlichen Auseinandersetzung nicht immer zuträglich ist, übersteigert jeden Urnengang zur alles entscheidenden „Schicksalswahl“, bei der sich die Bevölkerung vor die Aufgabe gestellt sieht, unmittelbar über die Zukunft von Präsident Evo Morales zu bestimmen.
Doch ein populärer Präsident allein gewinnt keine Wahlen. Ein entscheidender Trumpf im Kampf um die politische Macht ist die breite Organisationsstruktur der MAS. Seit ihrer Neugründung 1995 hat die Partei ein gesamtbolivianisches nationales Profil entwickelt und es selbst in den entlegensten Gebieten – fern von TV, Radio und Zeitungen – verbreitet. Indem sie die Forderungen der sozialen Bewegungen aus Stadt und Land aufgriff und Allianzen mit Gewerkschaften des andinen Hochlandes wie der amazonischen Tiefebenen bildete, gelang der Partei eine in Bolivien nie da gewesene Vereinigung unterschiedlichster progressiver Strömungen.
Damit nicht genug. Mit Blick auf die Dezember-Wahl bündelt Morales nun weitere Kräfte. Im Januar 2009 stießen mit der mächtigen Regionalen Arbeiterzentrale El Alto (COR) und dem Nationalen Verband der Bergbau-Genossenschaften Boliviens (FENCOMIN) offiziell zwei weitere einflussreiche und mitgliederstarke Verbände zu der von der MAS propagierten „demokratisch-kulturellen Revolution“. Auch die altehrwürdige Arbeiterzentrale Boliviens (COB) hat sich mittlerweile zum „strategischen MAS-Partner“ erklärt. Um ihre außerparteiliche Unabhängigkeit zu wahren, ist sie jedoch der Regierungspartei bisher ebenso wie der regierungsfreundliche, indigenistische Nationalrat der Ayllus und Markas des Qullasuyu (CONAMAQ) nicht beigetreten.
Diesem breit verankerten Gesellschaftsbündnis hat Boliviens Opposition auf landesweitem Niveau wenig entgegenzusetzen. Vier Präsidentschaftskandidaten werden voraussichtlich gegen Morales antreten, alle aus dem moderat-bürgerlichen Lager. Prominentester Kandidat ist der Journalist und Ex-Präsident Carlos D. Mesa (2003 bis 2005), der mit seinem (noch nicht fertigen) Programm „niemanden angreifen“, den traditionellen Parteien aber zu einem Comeback verhelfen will. Mit „anderen politischen Akteuren“, vor allem ehemaligen MitarbeiterInnen aus seiner Zeit als Präsident, wolle er eine eigene Kraft aufbauen, so Mesa im Februar nebulös über die für März angekündigte Parteigründung. Morales Aussichten schätzt er „auf unter 50 Prozent“.
Der zweite altbekannte Kandidat ist Victor Hugo Cárdenas. Als erster indigener Vizepräsident verbündete sich der Ex-Gewerkschaftler 1993 mit Gonzalo Sánchez de Lozada während dessen erster Amtszeit (1993 bis 1997). Ihre damalige Privatisierungspolitik verursachte den totalen Ausverkauf Boliviens mit bekannten Folgen. Cárdenas wurde von indigenen Verbänden wiederholt als „nützlicher Indio“ der weißen Eliten bezeichnet und des „Verrats an seinen indigenen Wurzeln“ beschuldigt: Sein eigentlicher Geburtsname ist Choquehuanca Condolí. Dennoch will der Parteilose seinen Wahlkampf auf Aymara bestreiten.
Nach seinem dritten Platz bei den Präsidentschaftswahlen 2005 (7,8 Prozent) will es auch der Unternehmer Samuel Doria Medina erneut wissen. Der 1995 von linken Guerrilleros entführte Millionär war in den 90er Jahren Planungsminister sowie wirtschaftlicher Berater für Regierung und Weltbank. Während er seine politische Rolle in der neoliberalen Periode Boliviens (1986 bis 2005) zu verschleiern sucht, präsentiert er sich als Experte, der bereit sei, „mit jedem zusammen zu arbeiten, der Ideen für wirtschaftliche Lösungen im Land hat“. Der Burger-King-Betreiber und Schokoladenfabrikant will gegen „Armut und Arbeitslosigkeit“ kämpfen.
Aussichtsreichster Morales-Konkurrent ist der Bürgermeister der Bergbaustadt Potosí René Joaquino Cabrera. Der Jurist, der wie Morales aus einfachen Verhältnissen und einer indigenen Familie kommt, gilt als kompetenter und integrer Volksvertreter. Seine im Aufbau befindliche Partei Soziale Allianz (AS) werde, so verspricht er, neben Armutsbekämpfung „ein großes Vaterland ohne Konfrontation bauen“.
Die Tatsache, dass alle vier Präsidentschaftsanwärter aus dem Hochland kommen, verweist auf den demoralisierten Zustand der Tiefland-Opposition. Schien die Allianz der Autonomie-Bewegung aus Präfekten und Bürgerkomitees der Departamentos Santa Cruz, Beni, Tarija, Chuquisaca und Pando anfangs eine ernsthafte Bedrohung für die MAS-Dominanz zu werden, so bricht das Zweckbündnis aus BerufspolitikerInnen, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen derzeit immer weiter auseinander. Nachdem die MAS die Autonomieforderung, anstatt sie zu bekämpfen, mit in die Verfassung integriert hatte, fehlte dem „Halbmond“ ein eigenständiges Programm, um sich von der neuen Regierungslinie abzugrenzen. Das darauf folgende Umschwenken vom demokratischen Diskurs auf eine antikommunistische und rassistische Linie bis hin zum Gewaltausbruch im September 2008, als die radikale Halbmondtruppe Jugendunion Santa Cruz (UJC) staatliche Institutionen plünderte und in Brand setzte, hat in der Bevölkerung vor allem Missfallen provoziert. Mit dem „Massaker von Pando“ am 11. September, bei dem Präfektur-Angestellte aus Pando mindestens 18 Menschen töteten, verspielte der „Halbmond“ seine Chance auf demokratische Einflussnahme. Auch fehlt den Tieflandeliten eine in der Bevölkerung anerkannte Führungspersönlichkeit, was nicht zuletzt auf ihre antidemokratische Haltung zurückzuführen ist, die jede partizipative Debatte verhindert. So hinterlässt der Zerfall der bürgerlichen Parteien ein Vakuum, das bisher nicht gefüllt wurde. Morales kann´s recht sein.

//Benjamin Beutler

Störgeräusche aus dem eigenen Lager

Am 7. Februar war es soweit. „Mission erfüllt!“ rief Evo Morales den Zehntausenden von BolivianerInnen zu, die trotz strömenden Regens zur offiziellen Verabschiedung der neuen Verfassung nach El Alto gekommen waren. Dann nahm der Präsident den versammelten Bürgerinnen und Bürgern einen Schwur auf die per Referendum verabschiedete Magna Charta ab. Den Schlusspunkt der Veranstaltung bildete eine gemeinsame Parade von indigenen und sozialen Bewegungen und dem Militär.
Doch auch an den in Bolivien mittlerweile üblichen Störgeräuschen im Einheitsjubel mangelte es nicht. Diesmal kamen sie allerdings weniger von den oppositionellen Präfekten als aus dem eigenen Lager. Denn die Regierung Morales sieht sich derzeit ob eines Korruptionsskandals in der schwersten Legitimitätskrise ihrer Geschichte. Nur zwei Tage nach dem Referendum über die neue Verfassung wurde der Direktor einer Firma namens Catler-Uniservice erschossen. Ihm wurde ein Koffer mit 450.000 US-Dollar entwendet, die nachweislich aus einer wenige Tage zuvor erfolgten Überweisung über viereinhalb Millionen US-Dollar des staatlichen Erdöl- und Erdgaskonzern YPBF an Catler-Uniservice stammten – für Arbeiten, die nicht einmal begonnen wurden. Polizeiliche Ermittlungen ergaben rasch, dass das Schmiergeld an Santos Ramírez, den Präsidenten der YPBF, gehen sollte. Evo Morales stellte sich zunächst hinter seinen langjährigen Weggenossen und engen Vertrauten Ramírez, doch die Beweislast drängte ihn schnell zum Umlenken. Während die Presse sich in investigativem Journalismus übt und jeden Tag neue Details über das Korruptionsnetzwerk innerhalb des staatlichen Unternehmens zu Tage fördert, versucht die Regierung, den Imageschaden so klein wie möglich zu halten. Ramírez wird nun der Prozess gemacht und Morales ordnete eine umfängliche Untersuchung an, „falle wer da falle“.
Das Projekt von Präsident Evo Morales hatte jedoch schon vor dem Auffliegen des Schmiergeldskandals einen Kratzer bekommen. So fiel die Zustimmung zur neuen Verfassung deutlich geringer aus als jene 80 Prozent, die Morales sich noch vor wenigen Monaten zum Ziel gesetzt hatte. 61,4 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für die Verfassung – dieses Ergebnis bedeutet auch einen Verlust von sechs Prozent gegenüber der Zustimmung, die „Evo“ im Abwahlreferendum im August letzten Jahres für sich verbuchen konnte. Das No nahm vor allem im Osten Boliviens zu.
Besonders schmerzen dürfte die bolivianische Regierung dabei die Entwicklung im departamento Pando. Im August hatte Morales dort noch knapp 53 Prozent Zustimmung für seinen Kurs bekommen. Nach einem Massaker an campesinos und SchülerInnen im September, für das der damalige Präfekt Leopoldo Fernández verantwortlich war, wurde der Ausnahmezustand über das departamento verhängt. Mittlerweile regiert dort ein von der Regierung ernannter Übergangspräfekt, Fernández und einigen Verbündeten wird der Prozess gemacht. Nun haben gerade einmal 41 Prozent der pandinos für den Verfassungsentwurf gestimmt – für das Projekt der Regierungspartei MAS (Bewegung zum Sozialismus) ein Verlust von ganzen zwölf Prozent.
Dieses Ergebnis ist jedoch weniger der Tatsache geschuldet, dass die Rechte politisch Profit aus den jüngsten Entwicklungen hätte ziehen können, als vielmehr der Enttäuschung vieler campesinos über die Verhandlung des Verfassungstextes zwischen Regierung und Opposition. So votierte, ebenso wie in Beni, Tarija und Santa Cruz, eine klare Mehrheit der Landbevölkerung in dem gleichzeitig stattfindenden Referendum über die Begrenzung des Landbesitzes für eine Maximalgrenze von 5.000 Hektar, wie sie von indigenen und campesino-Organisationen gefordert wurde. Doch der aus den Verhandlungen hervorgegangene und nun angenommene Verfassungstext besagt, dass diese Maximalgrenze nicht auf bereits bestehenden Großgrundbesitz angewandt werden darf. Nach anfänglicher Kritik erklärten zwar schließlich alle großen sozialen Bewegungen Boliviens ihre Unterstützung für die neue Verfassung – zumindest ein Teil der Basis jedoch hat der Kompromisslösung nun eine Absage erteilt.
Scheinbar kompromissbereit gebärdet sich hingegen die ultrarechte Opposition. Nach einer gemeinsamen Kampagne für das No zur Verfassung blieb Sabina Cuéllar, die indigene Präfektin Chuquisacas, mit ihrem Aufruf zur Missachtung des Volksvotums diesmal allein. Der Rest der Opposition – die Präfekten der im oppositionellen „Halbmond“-Bündnis organisierten Bundesstaaten inklusive – erkannten die Ergebnisse des Referendums an. Bloß interpretieren wollen sie diese auf ihre Weise.
Branko Marinkovic, scheidender Präsident des „Zivilkomitees“ von Santa Cruz, schickte kurz nach dem Verfassungsreferendum einen Brief an Evo Morales. Für ihn und seine GesinnungsgenossInnen offenbare das Abstimmungsergebnis demnach keine mehrheitliche Unterstützung für die neue Verfassung, sondern zeige, dass im Land „zwei Visionen“ existieren: „Einerseits die von Ihnen vorgeschlagene Vision, basierend auf dem kommunitären Sozialismus. Andererseits die Vision von uns Bürgern, basierend auf der Freiheit und den Autonomien“. Nun sei, so Marinkovic, die Zeit reif, einen „Pakt“ zwischen beiden Visionen zu schließen. In Bolivien hat dieses „Paktieren“ zwischen Eliten – und damit die Aufteilung der Macht- und Einflusssphären – eine lange Tradition, und die Botschaft des Zivilkomitees ist allen Beteiligten klar: Solange unsere ökonomische und politische Machtstruktur nicht angetastet wird, können wir sogar mit dem „kommunitären Sozialismus“ leben. Die Verhandlung des Verfassungstextes zwischen der MAS und der rechten Opposition im Oktober vergangenen Jahres stellte in dieser Hinsicht einen ersten und aus Sicht der autonomistas recht erfolgreichen Schritt auf dem Rückweg zur „paktierten Demokratie“ dar. Diesen Weg, so scheint es, wollen sie nun weitergehen.
Dass der „Halbmond“ nun leisere Töne anschlägt, hat jedoch noch andere Gründe. Zum einen durchlaufen sämtliche Zivilkomitees seit den Septemberunruhen interne Krisen. Insbesondere in Santa Cruz, Chuquisaca und Tarija distanzieren sich die gemäßigteren Flügel der Komitees zum Teil von der Gewaltstrategie der radikalen Führungsriegen und interne Machtkämpfe schwächen zunehmend die organisatorische Struktur. In Pando wurde die institutionalisierte Machtstruktur mit der Festnahme des Präfekten Leopoldo Fernández nachhaltig aufgebrochen.
Zum anderen ist spätestens seit der Verurteilung der von den autonomistas losgetretenen Gewalt durch die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) klar, dass den Präfekten der internationale Rückhalt für ihre bisherige Form des „Widerstands“ fehlt. Und schließlich dürfte auch der Regierungswechsel in den USA eine strategische Umorientierung mit sich bringen. Angesichts dieser Situation hat das Anliegen der bolivianischen Regierung, die Präfekten zwecks „Konstitutionalisierung“ der bislang illegalen Autonomiestatute an den Verhandlungstisch zu drängen, durchaus Aussichten auf Erfolg. Von ihrer Doppelstrategie wollen diese freilich vorerst nicht abweichen: Dem Prozess der Umverteilung der unproduktiven Ländereien der Latifundien begegnen die Zivilkomitees schon jetzt wieder mit Formen dessen, was sie „zivilen Ungehorsam“ nennen.
So steht die Regierung Morales einmal mehr am Scheideweg: Entweder sie setzt die Forderungen ihrer sozialen Basis nach radikalen Umwälzungen um – oder sie beugt sich dem Druck der Interessen der ökonomischen Eliten. Wahrscheinlich jedoch wird sie erneut versuchen, irgendeinen dritten Weg zu finden. Früher nannte man so etwas Sozialdemokratie.
//Börries Nehe

Ring frei für 2012

Er ließ sich nicht lange bitten. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses am 15. Februar erschien Hugo Chávez auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Miraflores. Sofern ihm dies seine Gesundheit gestatte und die Bevölkerung nichts dagegen habe, sei er nun bereits Vorkandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012, rief der venezolanische Präsident tausenden jubelnden AnhängerInnen entgegen. In seiner gut einstündigen Rede kündigte er unter anderem an, in diesem Jahr das bisher Erreichte konsolidieren und den Kampf gegen bestehende Probleme wie Unsicherheit, Korruption, Ineffizienz und Bürokratismus intensivieren zu wollen. Kurz zuvor hatten die WählerInnen mehrheitlich für die Änderung von fünf Verfassungsartikeln gestimmt. Damit ist es allen gewählten AmtsträgerInnen in Zukunft erlaubt, sich beliebig oft als KandidatIn aufstellen zu lassen. Maßgeblich ging es bei dem Referendum aber um die Person Chávez, der bei einer Niederlage nach dem Ende seiner zweiten vollen Amtszeit 2012 nicht noch einmal hätte kandidieren dürfen.
Nach Auszählung von 99,75 Prozent der abgegebenen Stimmen kam das „Ja“ auf 54,85 Prozent, während das „Nein“ 45,15 Prozent erreichte. Bei einer Wahlbeteiligung von gut 70 Prozent votierten somit über 6,3 Millionen WählerInnen für die Verfassungsänderung und fast 5,2 Millionen dagegen. Neben den Staaten Zulia, Táchira, Miranda und Nueva Esparta, wo die Opposition bei den Regionalwahlen im vergangenen November die Gouverneursposten erringen konnte, bekam die Option „Nein“ auch in Mérida eine Mehrheit. Im Staat Carabobo und dem Großraum Caracas gewann jedoch das „Ja“, obwohl die Opposition bei den Wahlen im November dort jeweils die Nase vorn hatte. Zum Sieg des Regierungslagers hat wohl auch die Versöhnung zwischen Chávez und den kleineren Bündnisparteien der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) beigetragen. Vor den Regionalwahlen hatte er PPT (Heimatland für Alle) und die PCV (Kommunistische Partei) noch scharf angegriffen und als konterrevolutionär beschimpft, weil sie in manchen Staaten eigene KandidatInnen aufgestellt hatten. Im Januar entschuldigte sich der Präsident für seine verbalen Ausfälle. Zudem war die Wiederwahlmöglichkeit auf Drängen von PPT und PCV auf alle AmtsträgerInnen ausgeweitet worden. Ursprünglich sollte sie wie in der gescheiterten, umfassenden Verfassungsreform 2007 nur für das Präsidentenamt gelten.
Das Oppositionsbündnis erkannte das Ergebnis an und wertete es als Indiz für einen Rückgang von Chávez‘ Popularität. Zuvor hatte es Spekulationen darüber gegeben, ob die Opposition das Ergebnis im Falle eine Niederlage überhaupt akzeptieren würde. Während Chávez und zahlreiche ihm nahestehende PolitikerInnen wiederholt betonten, dass sie sich dem Wählervotum unter allen Umständen beugen wollten, hüllten sich VertreterInnen der Opposition bis zuletzt in Schweigen. Der ehemalige Chávez-Unterstützer Ismael García von der Partei Podemos hob hervor, dass es der Opposition erstmals gelungen sei, mehr als fünf Millionen Stimmen zu bekommen. Er bat Chávez, sorgsam mit dem Erfolg umzugehen. David Smolansky kritisierte als Sprecher der oppositionellen Studierenden den „Machtmissbrauch der Regierung“ und die „Kriminalisierung der Studierendenbewegung“. Leopoldo López, der Ex-Bürgermeister von Chacao, beklagte, die Regierung sei medial stärker vertreten als die Opposition „Dies war eine Kampagne, in der David gegen Goliath angetreten ist und Goliath gewonnen hat“, sagte er. Die Regierung konterte mit dem Hinweis, die oppositionellen Medien hätten massiv für das „Nein“ mobilisiert. Tatsächlich standen der intensiven Wahlkampagne der Regierung die immer noch mächtigen privaten Medien gegenüber. Laut einer von der Nichtregierungsorganisation Observatorio de Medios veröffentlichen Studie, wiesen in den Wochen vor dem Referendum etwa drei Viertel der Medienbeiträge über das Referendum eine klare Tendenz zum „Nein“ auf.
Aus den Reihen der Opposition waren in den Tagen nach der Abstimmung aber auch ungewohnt selbstkritische Töne zu vernehmen. „Wir haben uns wie schlecht erzogene Kinder darauf beschränkt ‚Nein heißt Nein‘ zu sagen“, bemängelte der oppositionelle Bürgermeister des Hauptstadtdistriktes, Antonio Ledezma. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Traditionspartei Demokratische Aktion (AD), Henry Ramos Allup, forderte die Opposition dazu auf, Alternativen zu entwickeln, anstatt die Vorteile der Regierung für die Niederlagen verantwortlich zu machen.
In dem ungewöhnlich kurzen Wahlkampf hatte zuvor keine ernsthafte Debatte über die Vor- oder Nachteile der Verfassungsänderung stattgefunden. Die Regierung stellte die Verfassungsänderung als „Ausweitung der politischen Rechte“ dar, weil eine gute Amtsführung dann nicht mehr durch das Verbot einer erneuten Kandidatur nach zwei Amtszeiten beendet werden müsse. Die Opposition hingegen beschränkte sich darauf, das Referendum als Abstimmung für oder gegen eine „Präsidentschaft auf Lebenszeit“ darzustellen. In dieser eigenwilligen Interpretation des Rechtes auf unbegrenzt häufige Kandidatur klingt eines mit: Die Opposition weiß genau, dass sie aus heutiger Sicht nur dann eine Chance hat, wieder an die Macht zu kommen, wenn Chávez nicht noch einmal antreten darf. Dennoch feierten zahlreiche Oppositionsvertreter das Ergebnis als gute Ausgangsposition für die kommenden Wahlen und legten damit die zuvor verfolgte Wahlkampfstrategie sofort ad acta. Es spricht tatsächlich einiges dafür, dass die Opposition gestärkt aus der jüngsten Niederlage hervorgehen wird. Denn auch wenn am rechten Flügel der chavistas vielleicht einige heimlich das „Nein“ bevorzugt haben, können über fünf Millionen Stimmen durchaus als Erfolg für die Opposition verbucht werden. Ob daraus tatsächlich ein leichter Verfall von Chávez‘ Popularität abgeleitet werden kann, ist jedoch fragwürdig. Bei den Regionalwahlen im vergangenen November und dem gescheiterten Verfassungsreferendum von 2007 hatte sich der Präsident ähnlich stark ins Zeug gelegt und versucht, seine Popularität gezielt einzusetzen, ohne an den fulminanten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2006 anknüpfen zu können. Damals hatte Chávez 7,3 Millionen Stimmen bekommen. Beim Verfassungsreferendum 2007 waren es hingegen nur 4,3 Millionen, bei den Regionalwahlen 2008 immerhin fast 5,5 Millionen. Verglichen mit den beiden letzten Wahlergebnissen konnte das chavistische Lager somit wieder zulegen. Doch ist eine Zunahme der Bedeutung der Opposition in den nächsten Jahren unausweichlich. Dadurch, dass sie nun in immerhin fünf Staaten regiert, kann sie versuchen, sich den WählerInnen nicht nur als planlose Frontalopponentin ohne eigenes Projekt, sondern als politische Gestalterin zu präsentieren. Bei den Parlamentswahlen 2010 wird sie in jedem Fall einen bedeutenden Teil der Sitze in der Nationalversammlung gewinnen. Sollte sich der Ölpreis bis dahin nicht wieder erholt haben oder die Regierung bei den drängendsten Problemen des Landes keine Fortschritte erzielen, könnte die Opposition gar von der Parlamentsmehrheit träumen. Denn das Hauptproblem der chavistas dürfte wieder in der Mobilisierung der eigenen Leute liegen. Da sich die meisten VertreterInnen der Opposition mittlerweile von gewaltsamen Umsturzfantasien abgewendet haben und die Teilnahme an Wahlen und Referenden als primäre politische Option akzeptieren, werden sie sich in den nächsten Jahren als politische Kraft im Land festigen können.
Und so waren nach dem Referendum am 15. Februar auf beiden Seiten des politischen Spektrums auch Stimmen zu vernehmen, die einen politischen Dialog als Ausweg aus der sich weiter verfestigenden Polarisierung vorschlugen. „Wir müssen begreifen, dass die Opposition im politischen Panorama vorhanden ist“, sagte PPT-Generalsekretär José Albornoz. Der Vizepräsident der PSUV, Alberto Müller Rojas, schlug einen Dialog vor und bezeichnete die kommenden Parlamentswahlen als „wichtigen Meilenstein“, weil der geeignete Raum für politische Debatten das Parlament sei. Jorge Rodríguez, der chavistische Bürgermeister des Municipio Libertador in Caracas, sagte, es läge alleine an der Opposition, ob es Gespräche gebe oder nicht: „Die Brücke ist bereits gelegt, wir werden sehen, ob die Opposition sie überquert oder in die Luft sprengt“. Julio Borges von der rechten Oppositionspartei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit) zeigte sich prinzipiell zum Dialog bereit, knüpfte diesen jedoch an die Bedingungen, dass Chávez mit oppositionellen GouverneurInnen und BürgermeisterInnen kooperiere und das Problem der Kriminalität von allen Sektoren des Landes gemeinsam gelöst werde.
Chávez selbst zeigte sich zunächst skeptisch über die Vorschläge zum Dialog, obwohl er in seiner Siegesrede zumindest Andeutungen in diese Richtung gemacht hatte. Es werde „keinen Pakt mit der Oligarchie“ geben. Er forderte von der Opposition, die Bevölkerung zu respektieren und damit aufzuhören, erfolgreiche Regierungspolitiken wie die Sozialprogramme zu attackieren. Der ehemalige Vizepräsident José Vicente Rangel sprach sich anschließend hingegen für einen Dialog aus und betonte, dass die politischen Spannungen auf Dauer den Transformationsprozess im Land gefährden könnten. „Es ist möglich, in einem Land mit weniger Konflikten zu leben, ohne dass dies bedeutet, die Veränderungen zurücknehmen zu müssen oder Pläne und Projekte über Bord zu werfen“, sagte der allseits respektierte TV-Journalist.
Unabhängig von einer möglichen zukünftigen Stärkung der Opposition stehen dem bolivarianischen Prozess große Herausforderungen bevor. Bei sich verschlechternden Einnahmen aufgrund des fallenden Ölpreises muss die Regierungspolitik effizienter und die Wirtschaftsstruktur umgebaut werden. Durch das für die chavistas positive Ergebnis beim Referendum bleibt ihnen jetzt zwar eine vielleicht aufreibende Nachfolgediskussion erspart. Hugo Chávez gilt den meisten immer noch als einziger Garant für den Zusammenhalt des heterogenen bolivarianischen Lagers. Gleichzeitig zeigt das Ergebnis aber auch mehr denn je, dass unbedingt politische Strukturen gefestigt werden müssen, mit denen der Prozess auch nach der Ära Chávez vertieft werden kann. Sollte Chávez die Präsidentschaftswahlen 2012 gewinnen, bleiben den chavistas sechs weitere Jahre Zeit, um robuste Weichen für die Zeit nach ihm zu stellen. Die Grundfrage wird dabei nach wie vor sein, ob hierarchische Tendenzen von oben oder basisdemokratische Prinzipien von unten gestärkt werden.
// Tobias Lambert

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